Heroinspaziert - Karina Meyer - E-Book

Heroinspaziert E-Book

Karina Meyer

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Beschreibung

Heiligabend 1993. Ich habe bewusst zu Heroin gegriffen, um funktionieren zu können. Es wurde zu meinem Medikament. Mein Universalglück in Pulverform. Damit wollte ich meine Ängste aber auch meine innere Leere in den Griff bekommen. Zweigeteilt. Einerseits versuchte ich im Berufsleben Fuss zu fassen, andererseits bestimmten Drogen meinen Alltag. Es war anstrengend, jahrelang im Spagat zu leben, je ein Bein in einer anderen Welt.

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Inhalt

Das erste Mal

Jenny

Haare im Staub

Schweden

Strassen von Stockholm

Heroinspaziert

Sommer in Bern

Einmal Paradies

Marek

Zürich und Sirma

Entzug in der »Zikade«

Therapie in der »Sennhütte«

Back home

Nackte Männchen

Mirjam

Tiefpunkt

MH meldet sich

Klingelnde Ginkgoblätter

Fröhliche Weihnachten!

Zweimal ein neues Leben

Ich kann fliegen

Glossar

Heiligabend 1993. Ich habe bewusst zu Heroin gegriffen, um funktionieren zu können. Es wurde zu meinem Medikament. Mein Universalglück in Pulverform. Damit wollte ich meine Ängste – aber auch meine innere Leere – in den Griff bekommen. Zweigeteilt. Einerseits versuchte ich im Berufsleben Fuss zu fassen, andererseits bestimmten Drogen meinen Alltag. Es war anstrengend, jahrelang im Spagat zu leben, je ein Bein in einer anderen Welt.

»Flaschengeist« Marillion – Script for a Jester`s Tear

Das erste Mal

»Haben Sie nicht kalt?«

Ich blicke auf. Vor mir steht ein Mann mittleren Alters, dichtem Schnauz und dafür umso weniger Haaren auf dem Kopf.

»Danke, geht schon«, murmle ich.

»Hören Sie, Sie können doch nicht hier auf der kalten Treppe sitzen.« Er scheint entrüstet, aber auch hilflos, wie er mich so von oben herab anschaut.

»Doch, kann ich. Ich sitze auf einer Zeitung.«

Der Mann weiss nicht, was er sagen soll, und so füge ich noch hinzu: »Mein Ex-Freund wohnt hier, im dritten Stock.«

»Entschuldigen Sie, aber warum sitzen Sie denn hier vor dem Haus und gehen nicht rein?«

Ich ziehe meine Pulloverärmel lang, um die Hände zu bedecken, und blicke wortlos zu Boden. Stille. Der Mann druckst herum, ich kann spüren, wie unangenehm ihm die ganze Situation ist. Umständlich nimmt er seinen Schlüsselbund aus der Jackentasche und öffnet seinen Briefkasten. Daraus entnimmt er diverse Broschüren und einige Umschläge, die er sich unter den Arm klemmt. Er steht da und zögert.

»Tut mir leid, das geht mich ja nichts an. Aber kommen Sie doch bitte mit rein. Es sind sicher Minusgrade hier draussen. Sie holen sich so eine Blasenentzündung.«

Wenn er wüsste, was vorgefallen ist, heute am Heiligen Abend. In ein paar Stunden ist Weihnachten. Das erste Mal schaue ich ihm gerade in seine Augen. In seiner Hand eine Aktentasche. Mephisto-Schuhe, wie sie Polizisten tragen, und eine offiziell wirkende Jacke. Er spürt, dass mein Blick daran hängen bleibt.

»Ich bin Tramführer. Endlich Schichtende.« Er lächelt unsicher.

Als ich nichts darauf antworte, fährt er fort: »Falls Sie mögen, biete ich Ihnen unverbindlich an, dass Sie sich bei mir aufwärmen können.«

Hartnäckiger Typ. Ich brauche kein Mitleid. Es geht mir gut, und zwar so gut wie nie zuvor in meinem Leben. Der Tramführer öffnet die Türe, wartet noch einige Augenblicke. Doch ich bleibe reglos sitzen. Bevor er sie hinter sich ins Schloss fallen lässt, sagt er: »Ich wohne im 4. Läuten Sie, wenn Sie etwas brauchen.«

Ich blicke zu ihm hoch und sage: »Danke.«

Die Kälte kriecht mir in die Knochen. Aber erstaunt stelle ich fest, dass sie mir dennoch nichts anhaben kann, es friert mich nicht im Geringsten. Eigenartig, dieses neue, unbekannte Gefühl, das sich in den letzten zwei Stunden in mir ausgebreitet hat.

Auf dem obersten Absatz der Treppe sitzend lehne ich mich nach vorne und umfasse meine Beine. Mein Ex wohnt nur ein Stockwerk unter diesem Tramführer. Wir haben uns vor Wochen getrennt. Es gibt nichts mehr zu sagen zwischen uns. Und doch sitze ich hier vor seinem Haus, weil ich sonst niemanden kenne, der in der Stadt wohnt. Ich komme vom Land. Am Licht in seinem Wohnzimmerfenster sehe ich, dass er zuhause ist. Kleiner, glitzernder Weihnachtsbaum und die vierte brennende Kerze am Adventskranz. Ich könnte bei ihm läuten, verwerfe den Gedanken jedoch gleich wieder. Dieses faszinierende Körpergefühl, ich möchte es für mich alleine auskosten. Angenehm weich fühlt es sich an. Wie in Watte gewickelt. Mitsamt meiner Seele, ruhig wie eine stille Wasseroberfläche. Meine Atemzüge ziehen sich in die Länge. Ein grossartiges Gefühl der Leichtigkeit, dieses Schweben im Nirgendwo. Ich bin nicht betrunken. Nicht bekifft. Erstaunlich klar meine Gedanken und federleicht. Entjungferte Vene, kommt es mir in den Sinn, und ich muss lächeln. Universalglück in Pulverform.

Mit den Fingern befühle ich die Kratzer auf meiner Wange. Das getrocknete Blut ist fast weggerieben. Es sind wie Kratzer einer scharfen Katzenpfote. Eine Katze mit rot lackierten Krallen. Meine Mutter mit ihren perfekt manikürten Nägeln. Kratzspuren in meinem Gesicht – und das an Heiligabend.

»Komm endlich runter zu uns! Wir feiern Weihnachten und du sperrst dich wieder in deinem Zimmer ein. Öffne sofort diese verdammte Türe!« Ich hörte das Schnauben meiner Mutter und schwieg.

Sekunden später riss sie mit ihrem Übergewicht, ihrer ganzen Wucht, die Zimmertüre aus den Angeln. Die Verzweiflung der letzten Monate stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie stürmte auf mich los und kriegte mein Haar zu fassen. Ein Gerangel auf dem Bett, ich wehrte mich mit Händen und Füssen, die Mutter über mir, dann diese Kratzer, quer über meine rechte Wange und die Lippen. Blutgeschmack im Mund. In mir schrie es nur, zuviel, weg von hier!

Nachdem sich die Mutter schnaufend auf die Matratze gesetzt hatte, stand ich auf, packte die Lederjacke und meine Tasche. Dann rannte ich los. Überall leuchtete es an den geschmückten Fenstern. Überall Licht und Wärme und Feiern auf die Ankunft eines Mannes, an den ich nicht mehr glauben konnte. Kein Schnee dieses Jahr. Nur ein Nieselregen, der meine Brille beschlug. Mit eingezogenem Kopf lief ich bis zum Bahnhof und nahm dort den Zug in die Grossstadt. Einige Jugendliche zogen lachend durch die Waggons und an mir vorbei. Sie kamen aus einer anderen Welt.

Dieses Mal wurde eine Grenze überschritten. Die Sorgen der Eltern und meine eigene schwere Seele kollidierten wie ein Autocrash. Ich brauchte etwas zum Herunterkommen, und wenn es nur für die nächsten Wochen wäre. Etwas zum Überleben. In mir das Gefühl, als würde ich lautlos in ein langes und endloses Rohr schreien. Es musste ein Ende haben.

Zwei Monate zuvor:

Mit 19 Jahren habe ich das Gymnasium verlassen. Ich bin schulmüde. Wieso diese Ausbildung weiterführen, wenn ich später sowieso nicht studieren will? Also mache ich ein Praktikum in einem Spital als Pflegehelferin. Ich verrichte die niedrigsten Arbeiten, die auf einer solchen Station nötig sind: Tischchen der Patienten und Blumenvasen putzen, Betten beim Austritt eines Patienten neu beziehen, Wäsche zusammenlegen, Teekannen verteilen.

Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich nie auf die Idee gekommen, mich zu einem solchen Praktikum anzumelden. Ich habe mich wieder einmal überschätzt. Langeweile. Die Zeit kriecht dahin, die äussere Leere vermischt sich mit der Leere in mir drinnen. Ich dachte, ich könnte einen Einblick erhaschen in eine neue und interessante Welt. Doch ich muss darum kämpfen, um nur einmal bei einer Arztvisite dabei sein zu dürfen.

Die Arbeit ist keine Ablenkung, die Unterforderung verschlimmert meinen Gefühlszustand nur noch mehr. Knapp die Hälfte der Praktikumszeit habe ich nun schon geschafft, darunter aber auffällig viele Absenzen, die sich häufen. Schon einmal wurde ich zur Abteilungschefin kommandiert und gefragt, wieso ich so oft fehle. Starke Menstruationsschmerzen, tiefer Blutdruck mit Schwindel, einfach nur krank, das sind meine Ausreden. Ich weiss, was sie denken. Dieses Mädchen ist instabil, unzuverlässig, unmotiviert. Dabei ist mir selber nicht klar, warum ich mich so fühle. Jeder Tag scheint wie eine Wundertüte zu sein. Ich weiss nie, mit welcher Stimmung ich am Morgen aufwachen werde.

Etwa mit 14 Jahren habe ich das erste Mal das Gefühl, dass etwas nicht stimmt in meinem Kopf. Es scheint, als würde mir ein Filter im Gehirn fehlen. Einer, der all das Erdrückende aufhalten kann, sodass es mir nicht mehr nahe geht. Ich bin am Leiden. Alles tut mir leid. Die Kriegsopfer auf diesem Planeten, die Soldaten, die sich gegenseitig töten, ohne dass sich etwa an der Situation ändert. All die unterernährten Kinder in den Drittweltländern. Und auch hier bei uns: Die Menschen in ihrer Einsamkeit, obwohl sie sich unter anderen befinden. Jeder gefangen in seinem Körper. Jeder Tag das gleiche traurige Schauspiel, überall auf dieser Welt. Ich halte es nicht mehr aus, die Nachrichten im Fernseher anzuschauen. Dieses Leid, ich kann und will es nicht mehr mitansehen müssen. Passiv. Ohne eine Hilfe sein zu können. Ich habe das Gefühl, dass ich zu viel sehe. Ich höre zu viel. Rieche und schmecke und denke zu viel.

Und jetzt mit knapp 20 Jahren fühle ich mich uralt und müde, niedergedrückt vom Weltenschmerz. Im Spiegel erblicke ich meinen Körper, den ich höchst kritisch betrachte: Zu dünn, kleine und feste Brüste – »Sport-Möpse«, wie ein guter Freund einmal sagte, und einen leicht abstehenden Po. Angefreundet habe ich mich einzig mit meinen langen, fast schwarzen Haaren und den grünen Augen. Auch meine flatterhafte Seele scheint von der Silberschicht hinter Glas reflektiert zu werden. Meine Erwartungen habe ich hoch gesteckt. So hoch, dass sie von Anfang an zum Scheitern verurteilt sind. Doch ich halte daran fest. Sie machen mich unruhig, rastlos. Es ist das Gefühl eines Tigers, der in seinem Käfig hin und her geht.

Es gibt Tage, an denen bin ich dermassen aufgedreht, dass ich nicht mehr weiss, wie ich diese immense Energie herauslassen soll. Ich komme mir vor wie ein Hund, die Nase am Boden, nervös einer Spur folgend, die er nicht kennt. Auf der Suche nach etwas, was noch ausserhalb seiner Reichweite liegt. Ein wandelnder Blitzableiter, der andere anstachelt, verrückte Dinge zu unternehmen. In diesen Momenten fühle ich mich als der Liebling aller in meinem Freundeskreis, der Klassenclown, die Unterhalterin. Und dann schlägt die gute Stimmung plötzlich um. Lachend und Sprüche reissend verwandle ich mich innerhalb kurzer Zeit in ein Häufchen voller Angst. Kalter Schweiss auf der Stirn und der Wunsch, mich zurückzuziehen. Und wenn ich dann alleine bin, senkt sich die Leere über mich. Diese wechselnden Zustände kommen wie ein Überfall und sind so unberechenbar. Was stimmt denn nicht mit mir?

In meinem Dorf verkehre ich seit Jahren mit Jugendlichen aus der evangelischen Gemeinschaft. Alle aus meinem Freundeskreis wurden nach christlichen Normen erzogen und sind mehr oder weniger gläubig. Meinen Eltern aber ist die Kirche egal. Diesen Unterschied fühle ich. Ich bin anders. Und alles muss ich immer infrage stellen. Ungläubiger Thomas.

Die ganze Teenager-Zeit verkehre ich nie mit den falschen Leuten oder in einem Umfeld, das einen schlechten Einfluss auf mich hat. Niemand in unserer Gruppe raucht, und Alkohol ist wie Drogen überhaupt kein Thema.

An einem Infoabend meiner Jugendgruppe wurden einmal zwei ehemalige Drogenabhängige eingeladen, die jeweils ihre Lebensgeschichte erzählten. Sie redeten von einem Leben im Sumpf, von Abhängigkeit und Geldproblemen. Von kriminellen Handlungen, die daraus resultierten und von der Gleichgültigkeit, die die Drogen bei einem anrichteten. Entsetzen in den Gesichtern meiner Kollegen. Aber ich konnte die beiden verstehen. Der Wunsch nach einer Flucht in jene Drogenwelt. Nach Wärme und Geborgenheit. Diese beiden Männer hatten aus Neugier damit begonnen, nichts überlegend und dumm. Wenn ich zu Drogen greifen würde, dann bewusst als Hilfsmittel, als Krücke, um die schlimmste Zeit zu überstehen. Danach könnte ich immer noch einen Entzug machen und aufhören damit. Es ist nur eine Frage des Willens.

Ich stecke in einem Dilemma. Einerseits will ich meine Emotionen leben, seien sie auch noch so extrem. Andererseits schreit es in mir nach Ruhe und Vergessen. Die Mauer, die ich um meine Seele gezogen habe, ist hoch und mit Stacheldraht garniert. Ich will es doch nur allen recht machen. Aber diese heile andere Welt ist einfach zu weit weg.

Ich suche nach einem Mittel, das mich funktionieren lässt. Ewas, mit dem ich all die Erwartungen, welche an mich gestellt werden, erfüllen kann. Und etwas, das einem ein gutes Gefühl schenkt.

Nie habe ich mir Gedanken darüber gemacht, mir irgendwo Hilfe zu holen. Angebote gibt es sicher in unserer Gegend. Doch niemand wird je meine innersten Gefühle nachvollziehen, niemand den Schmerz wirklich verstehen können. All diese Therapeuten verrichten nur ihre Arbeit. Vielleicht hören sie einem mit voller Aufmerksamkeit zu, doch am Feierabend packen sie ihre Sachen und fahren nach Hause. Führen dort ihr beschauliches Leben und stecken die vielen Gespräche während des Tages einfach weg.

In mir aber schreit es, dass mir jemand richtig zuhört, jemand, dem ich nicht gleichgültig bin. Jemand, der nicht nur versucht, mich zu verstehen, sondern es auch tatsächlich tut. In meinem Innersten weiss ich, dass mir nie ein anderer Mensch diesen Wunsch wird erfüllen können. Ich fühle mich zutiefst einsam in diesem Irrgarten, auf der Suche nach mir selbst.

Heiligabend, Grossstadt:

Mit dem Zug in der Stadt angekommen, mache ich mich auf direktem Weg ins Gassenzimmer. Ich habe mich informiert und weiss, dass dort mit harten Sachen gedealt wird. Ohne lange suchen zu müssen, finde ich den berüchtigten Ort. Ein offensichtlich Drogensüchtiger quatscht mich sofort nach Geld an, kaum komme ich um die Ecke. Ich beachte ihn nicht und gehe auf den Platz vor der Baubaracke. Sie ist weiss und ziemlich gross und steht etwas abseits an einer Seitenstrasse mit wenig Verkehr. Auf dem Vorplatz bin ich plötzlich umringt von über einem Dutzend Leuten, die zum Teil laut schreiend herumstehen. Einige sitzen auf dem Gehsteig am Boden und rauchen, andere tauschen Geld gegen verschiedene Arten von Drogen. Ich stelle mich etwas abseits an einen Holzzaun und beobachte die Szene. Eine fremde Welt. Wenn ich habe, was ich will, dann haue ich ab, so schnell es geht.

Eine Zigarette rauchend schaue ich mich um. Ich muss jemanden finden, der mir hilft. Jemand, der sich gut damit auskennt und mich nicht über den Tisch zieht. Neben dem Eingang zur Baracke sehe ich einen langhaarigen, dünnen Mann. Er steht da und scheint in seiner Brieftasche das Geld zu zählen. Ich sehe ihm an, dass er schon jahrelang süchtig sein muss, seine Kleidung ist schlampig und er wirkt nicht sehr gepflegt. Das ist er. Ich warte, bis er seine Brieftasche wieder in der Jacke versorgt hat, dann atme ich einige Male tief ein und aus. Es braucht eine Weile, bis ich all meinen Mut zusammengerissen habe, dann gehe ich auf ihn zu und frage geradeheraus:

»Machst du mir einen Schuss für 50 Franken?«

»Wie bitte?« Ungläubig guckt er mich an.

»Machst du mir einen Heroin-Schuss für 50 Franken?« Ich weiss nicht, wie teuer das Zeug ist, denke aber, dass es reichen wird.

»Sag mal spinnst du! Hau ab, Mädel.« Er dreht den Kopf weg.

Ich hake nach. »Für 50. Nur für einen Schuss, den Rest kannst du behalten.«

Der Typ nimmt mich am Arm und zieht mich zu sich hin. Etwas freundlicher sagt er: »Hör mal, ich fixe keine jungen Mädchen an. Du hast hier nichts verloren. Geh am besten einfach wieder.«

Doch so leicht lasse ich mich nicht abwimmeln. Ich versuche es erneut. »Wenn du es mir nicht machst, dann frag ich halt jemand anderen hier.« Demonstrativ drehe ich mich um und schaue zu einer Gruppe von Leuten, die etwas weiter wegsteht.

Der Typ seufzt und schüttelt den Kopf. »Frag ja nicht diese Losers dort drüben. Die nehmen dich auseinander, Frischfleisch wie du. Dann lass es lieber mich machen.«

Bingo, denke ich mir.

»Du bist echt krank, weisst du das?« Er zieht an seiner Zigarette und kramt dann nach etwas in seiner Jackentasche. »Und ich mach es nur, wenn du mir den Filter gibst.«

Welchen Filter? denke ich, sage aber: »Ja, geht klar.« Ich schaue ihn entschlossen an.

Der Typ dreht mit seinen Fingern die Glut aus der halb gerauchten Zigarette und steckt sie sich dann hinter das Ohr. Zusammen gehen wir in die Baubaracke und hinten in einen Raum. An einer freien Stelle des langen Tisches, der aussieht, als wären wir beim Friseur, setzen wir uns hin. Alles ist sauber und aufgeräumt. Allerlei Becher und kleine Schalen stehen darauf. Darin befinden sich steril verpackte Einwegspritzen, Nadeln und Desinfektionsmittel. Bei der Blutabnahme beim Arzt sieht es ähnlich aus.

»Gib mir zuerst die Kohle«, sagt er kühl.

Ich lege ihm die 50 Franken auf den Tisch. Rasch steckt er das Geld ein. Mit flinken Fingern bereitet er auf dem Tisch aus, was es benötigt, um mir hoffentlich die Schmerzen der Seele zu nehmen. Einen Kaffeelöffel und einen Zigarettenfilter, von dem er mit seinen Zähnen ein Stückchen abreisst. Danach ein Säckchen mit weissem Pulver, das aussieht wie Zucker. Der Löffel ist schmutzig und ich fühle mich davon abgestossen, lasse mir aber nichts anmerken. Dann zieht er ein kleines Papierbriefchen hervor, das er vorsichtig öffnet. Ein wenig hellbraunes Pulver ist drauf zu sehen und ich weiss, dass es Heroin ist. Fasziniert schaue ich ihm bei seiner Handlung zu.

»Für was brauchst du das weisse Pulver da?«

Der Typ streut eine Prise davon in den Löffel. »Ist Ascorbinsäure. Löst den Sugar auf.« Er redet leise und ich höre an seiner Stimme, dass ich besser ruhig sein soll.

Nachdem er genügend Wasser dazugegeben hat, geht es schnell. Mit einem Feuerzeug kocht er die flüssige Mischung auf, bis sie eine klare dunkelbraune Farbe annimmt. Dann legt er das Stück Zigarettenfilter in den vollen Löffel. Mit der Spritze drückt er darauf und zieht langsam die ganze Flüssigkeit auf.

»Binde dir den Arm ab.«

»Womit denn?« Verständnislos blicke ich ihn an.

Er greift über den Tisch und zieht einen Gummischlauch zu sich, wirft ihn mir hin. Nachdem ich ihn über dem Oberarm festgezogen habe, packt er mein Handgelenk. Mit einer Hand fährt er grob über meinen Unterarm, klopft dann ein paarmal darauf. Fährt wieder mit seinen dreckigen Fingern auf und ab und flucht. »Du hast ja keine richtigen Venen, Mädchen.«

Nach einer Weile scheint er in meiner Armbeuge einen passenden Punkt gefunden zu haben. Er desinfiziert die Stelle mit einem Alkoholtupfer. Als er zusticht, schaue ich gebannt auf meinen Arm. Der Typ zieht die Spritze ein wenig auf und ich sehe, wie mein Blut durch die Nadel hineinfliesst. Es entsteht eine dunkelrote Gewitterwolke, als es sich in der Spritze mit der bräunlichen Mischung vermengt.

»Voilà«, murmelt er. Er lockert den Gummischlauch und lässt die Lösung langsam in meine Ader fliessen. Vorsichtig zieht er die Nadel heraus und legt einen Tupfer auf meine Armbeuge.

»Drück fest darauf «, höre ich ihn noch sagen. Dann fängt es an. Unter meiner Schädeldecke kribbelt es. Hinten im Hals schmecke ich etwas nie zuvor Gekanntes. Ein enorm euphorisches Pulsieren steigt mir wie ein Orgasmus in den Kopf und verschlägt mir den Atem. Bald darauf verebbt es jedoch. Jetzt kommt Wärme. Sie fliesst mir wohlig aus meiner Körpermitte und breitet sich langsam in mir aus. Ich werde sanft umarmt und angehoben, die Schwerkraft verliert ihre Wirkung. Und ich spüre, dass alles gut ist jetzt. Ich bin angekommen.

»Alles okay, Mädel?«

Der Blick verschwimmt. Schwere Augenlider und der Wunsch, sie jetzt gleich zu schliessen.

»Hey!« Ich werde an der Schulter geschüttelt und versuche, das Gesicht vor mir scharf zu stellen.

Konzentriert fokussiere ich seine Augen. »Jaja. Danke dir.« Ich lasse alles liegen, stehe auf und sehe noch, wie der Typ rasch die Sachen wieder einsteckt. Mit seinen schmutzigen Fingern klaubt er das feuchte Stück Zigarettenfilter aus dem Löffel. Dann gehe ich zur Tür.

»Hallo! Deine Sachen!«

Ich drehe mich langsam um, nehme meine Jacke und Tasche und begebe mich nach draussen in die Kälte. Und es ist wunderbar. Wärme im Dezember. Ich spüre den kalten Wind nicht, der durch die Strassen fegt. An den holzigen Hag gelehnt schliesse ich erleichtert meine Augen. Fernes Stimmengewirr, das Geschrei der Leute ist in den Hintergrund gerückt. Plötzlich kommt in mir das Bedürfnis auf, zu gehen, mich zu bewegen. Ich schultere meine Tasche und entferne mich von der Baubaracke, auf dessen Vorhof die Junkies schreien. Wie auf einem türkischen Basar.

Das Bild vor mir verschwimmt wieder. Tunnelblick. Ich kann kaum mehr als zwei Meter weit sehen. Blinzelnd stolpere ich die Strasse entlang. Ich überquere sie und dann erscheint der Randstein des Gehsteigs vor mir. Langsam hebe ich den Fuss, doch irgendetwas hält ihn zurück. Im Zeitlupentempo sehe ich die Teerstrasse näher auf mein Gesicht zukommen. Ich kann mich noch mit den Händen leicht auffangen. An der Stirn spüre ich einen Druck und dann etwas Nasses. Ich fasse hin und sehe Blut auf meiner Hand, mein Blut. Eigenartig, ich spüre überhaupt keinen Schmerz. Vorsichtig rappele ich mich wieder auf.

Es mag eine Stunde vergangen sein, in der ich quer durch die Stadt wanke. Ohne Richtung und ohne Ziel. Meine Füsse tragen mich in das Quartier, in dem mein Ex-Freund wohnt. Die Wirkung des Stoffes lässt langsam nach. Der Tunnelblick ist weg. Genauso die schweren Augenlider. Geblieben ist die wohlige Wärme und ein Wattegefühl im ganzen Körper.

Jetzt sitze ich auf dieser Zeitung und bin mir unschlüssig, ob ich beim Tramführer läuten soll oder nicht. Die Kälte wird nun doch langsam fühlbar. Meine Finger kann ich kaum mehr bewegen. Ich spüre die eisige Luft, wie sie unter meiner Jacke meinen Rücken hinaufsteigt. Hier draussen übernachten ist unmöglich. Nach Hause zu meinen Eltern will ich nicht. Umständlich stehe ich auf, meine Beine sind steif wie Streichhölzer. Mit dem Finger gehe ich die Namensschilder durch. Da, das muss er sein. Es kann nicht schaden, wenn ich mich ein wenig bei ihm aufwärme. Ich drücke auf die Klingel. Nur einige Sekunden später ertönt der Summer und ich öffne die Türe.

»Du kannst hier schlafen, ich bringe dir noch eine dickere Decke.« Er legt einen frischen Kissenbezug und danach eine Steppdecke neben mir auf das Sofa.

Der Tramführer wohnt alleine. Ich schaue mich um. Auf dem Beistelltisch vor mir liegt eine Zeitschrift. Bangkok Klongs. Eine Zeitung aus Thailand? Klongs nennt man die Kanäle dort. Ich nehme sie in die Hand und blättere einige Seiten durch. Die Zeitung ist in englischer Sprache verfasst. Auch in der Wohnung sehe ich stumme Zeugen aus Asien: Statuen, ein grosser Fächer, ein farbenfrohes Batiktuch an der Wand. Der Tramführer ist also einer der Männer, die alleine nach Thailand reisen. Ich kann ihn mir gut in einem karierten Hemd vorstellen, mit Sandalen und seiner Halbglatze. Wie er durch die Bangkok-Viertel schlendert, auf der Suche nach einer der Thai-Frauen, die in einigen Restaurants unter dem Tisch sitzen und ihm einen blasen.

Er ist zurück im Wohnzimmer und stellt mir eine Tasse mit Jasmin-Tee auf den Beistelltisch. Entschuldigt sich für die Unordnung.

»Du kannst duschen gehen, wenn du möchtest. Hier sind Tücher. Und da, nimm das Hemd. Ich habe leider keine Nachtwäsche für Frauen«, schmunzelt er.

Mit den Sachen verschwinde ich im Bad. Lange lasse ich heisses Wasser über meinen Kopf und meine Schultern laufen. Ich spüle die Reste des getrockneten Blutes aus meinem Gesicht und den Handflächen und seife mich dann langsam ein. Mein Blick bleibt an meiner linken Armbeuge hängen. Die Einstichstelle ist kaum noch sichtbar. Ich schliesse die Augen und weiss, jetzt hab ich’s getan. Nie habe ich mit einer solchen Wirkung gerechnet, es übertrifft alle meine Erwartungen. Es wird nicht dabei bleiben, das ist klar. Ich muss nur aufpassen, dass die Dosis stimmt. Alleine die Menge macht, dass es kein Gift ist, hallo Paracelsus.

Dann ziehe ich mir das viel zu grosse, blauweiss gestreifte Hemd vom Tramführer über und fühle mich dankbar. Schlechte Menschen leihen einem keine Hemden.

Er wünscht mir eine gute Nacht und verschwindet im Schlafzimmer. In die Decke gehüllt zünde ich mir eine Zigarette an und öffne das Wohnzimmerfenster. Es ist spät und unter mir, genau untenan, ist jetzt mein Ex und wird wohl TV schauen. Einem plötzlichen Impuls folgend gehe ich zum schnurlosen Telefon und wähle die Nummer. Trotz der Kälte stehe ich am offenen Fenster und beuge mich so weit es geht hinaus, denn ich will es unten im 3. Stock läuten hören. Und tatsächlich, das Telefon eine Etage tiefer klingelt, ich höre es durch die Fensterscheibe.

»Ja?« Diese gewohnte Stimme.

Ich bleibe still.

»Hallo? Wer ist da?«

Ich lasse noch einige Sekunden verstreichen, dann hänge ich auf. Mit einem befriedigenden Gefühl schlüpfe ich auf dem Sofa unter die Steppdecke und sinke sofort in einen traumlosen Schlaf.

Die Sonne scheint mir ins Gesicht, als ich aufwache. Ein Moment vergeht, bis ich mir bewusst werde, wo ich bin. Ich fühle mich etwas belämmert, aber ansonsten so gut wie seit Ewigkeiten nicht mehr.

Auf dem Flur sehe ich die halbgeöffnete Schlafzimmertüre. Ich stecke den Kopf hinein. Der Tramführer ist nicht da. Leichtfüssig gehe ich in die Küche und habe das Gefühl, auf Wolken zu schweben. Aus dem Kühlschrank nehme ich die Milchtüte und setze mich an den Küchentisch. Bald sehe ich den Zettel darauf liegen: »Falls du gehst, bitte Schlüssel in den Briefkasten. Schönen Tag.« Dir auch, denke ich, ziehe mich an und schliesse dann die Haustüre hinter mir. Das gestreifte Hemd habe ich in meine Tasche gestopft.

»Jenny« Black Sabbath – Cross of Thornes

Jenny

Die Stiefel an die Wand schlagend befreie ich meine Schuhe vom Schneematsch, der an den Sohlen klebt. Zum zweiten Mal bin ich in dieser grossen Baubaracke. Hier drinnen ist es angenehm warm. Ich gehe an die Theke, fasse ein Stück Brot aus dem Korb und schenke mir einen Becher Sirup ein. Alles ist kostenlos. Die Angestellten, meist Sozialarbeiter und freiwillige Helfer, kochen jetzt um die Winterzeit jeden Tag einen Topf Suppe, aus dem man sich bedienen kann.

Ich schaue mich nach einem freien Platz an einem der runden Tischchen um, aber die paar wenigen sind besetzt. An einem sitzt eine kleine Frau mit etwas gelockten, braunen Haaren, die ihr bis fast zur Hüfte fallen. Sie ist vornübergebeugt und in ein Kreuzworträtsel vertieft, klopft immer wieder mit ihrem Stift auf den Tisch und flucht zwischendurch. Ich setze mich ihr gegenüber. Die Frau blickt nicht auf.

Erst als ich eine Zigarette aus dem Päckchen angle und das Feuerzeug einen klickenden Ton macht, fragt sie mich: »Hast du mir auch eine?«

Ich halte ihr das Paket hin, und sie holt sich eine der letzten Zigaretten heraus. Nach einiger Zeit schiebt sie das Heft mit dem Kreuzworträtsel von sich und pafft den inhalierten Rauch nach oben zur Decke. Ihre Wangen sind eingefallen, ihre ganze Figur dünn. Trotzdem wirkt sie auf eine eigenartige Weise anziehend.

Ich blicke mich im Raum um. Der Typ vom letzten Mal ist nicht da. Es bringt nichts, wenn ich hier auf ihn warte. Zudem weiss ich seinen Namen nicht. Ich muss jemand anderen finden, der mir hilft.

Der Zeitpunkt scheint mir passend, um die Frau zu fragen: »Hast du zufällig etwas?«

»Was suchst du denn?«

»Sugar.«

»Nee, hab ich nicht. Da musst du schon Louis fragen.«

Es wird kaum der Typ sein, der mir letztes Mal geholfen hat.

»Und wo ist Louis?«, frage ich die dünne Frau.

»Muss draussen sein.«

»Zeigst du ihn mir?«

Sie lacht und sagt: »Du bist nicht oft hier, was? Sieht man dir gleich an.« Dann steht sie auf und mit einer Kopfbewegung deutet sie mir, ihr zu folgen.

Draussen stehen zwei Typen in Lederjacken an den Holzzaun gelehnt. Die Frau spricht einem der zwei etwas ins Ohr, der mich daraufhin anblickt und mich zu sich winkt.

»Wie viel brauchst du denn?«, fragt mich dieser Louis.

»Für 80«, sage ich etwas scheu. Inzwischen habe ich herausgefunden, wie teuer der Stoff im Schnitt ist.

»Einen halben Sack kann ich dir machen.« Das sind 2,5 Gramm und reicht für mehrere Male. Schnell wechseln Geld und ein Plastiksäckchen den Besitzer.

»Danke«, murmle ich und will wieder in die Baubaracke gehen.

Doch da hält mich die Frau am Ärmel zurück. »Und was ist mit mir?«

Fragend schaue ich sie an.

»Ich habe dir vermittelt, also kriege ich was ab.«

Ich bin etwas verstört und nicke nur. Die Frau muss wieder lachen und schüttelt verständnislos den Kopf. »Du bist wirklich nicht von hier. Ein Landei, nicht wahr? Eine Messerspitze voll reicht.« Dann stellt sie sich mir zur Seite und legt einen Arm um meine Taille. »Jetzt hör mal, wenn du magst, kannst du zu mir kommen, dann haben wir unsere Ruhe. Ich muss sowieso mit meinem Hund Gassi gehen.«

Irgendwie ist mir dieses Angebot nur recht, denn ich will nicht schon wieder an diesen langen Tisch, wo all die anderen um mich herum mit Nadeln und Löffeln hantieren.

Wir gehen zu Fuss durch ein Quartier, welches mir völlig unbekannt ist.

»Ich bin übrigens Jenny.« Die dünne Frau trippelt mit kleinen Schritten neben mir her. Als wir beide kurz stehen bleiben, um uns Zigaretten anzuzünden, bemerke ich erneut ihre feinen Hände. Mir tut die Frau leid, die eine grosse Klappe zu haben scheint, um ihre Zierlichkeit zu kompensieren. Vor allem aber, um sich auf der Gasse durchschlagen zu können. Jeder schaut für sich, aber man tut sich zusammen, wenn es für beide einen Vorteil bringt. Mit diesen Gedanken beschäftigt stiefle ich hinter Jenny die zwei Stockwerke zu ihrer Wohnung hoch.

Während sie den Schlüssel in das Schloss steckt, fängt hinter der Türe plötzlich ein tiefes Gebelle an. Das muss ein riesiger Hund sein, denke ich noch, da werden wir schon von einem belgischen Schäferhund umzingelt, der sich kaum mehr beruhigen kann, dass Frauchen endlich wieder nach Hause gekommen ist.

»Das ist King. Ist ein ganz Lieber.« Jenny tritt in die Wohnung, während ich in die Knie gehe und dem Hund die Hand hinhalte. Dieser leckt sie ab und schnuppert an meiner Wange, sodass ich kichern muss. Das grosse Tier folgt Jenny zur Küche, wo diese gerade den Inhalt ihrer Handtasche auf den Küchentisch leert. Abgebrochene Zigaretten, steril verpackte Spritzen und Nadeln, Kondome, einige Feuerzeuge und eine Menge anderer Kram kommen zum Vorschein. Jenny geht zur Spüle und wäscht einen schmutzigen Kaffeelöffel kurz unter dem Wasser ab, bevor sie ihn auf den Tisch legt.

»Hier«, meint sie zu mir. »Wenn du für uns beide einen parat machst, dann geh ich kurz mit King raus. Ich spendiere dir das nächste Mal was, versprochen.«

Ich verstehe nicht ganz. Etwas verwirrt schaue ich Jenny an. »Ich kann das nicht.«

Mit einem schiefen Blick meint sie: »Was kannst du nicht? Es ist ja alles da, was du brauchst.«

»Ich habe das noch nie selber gemacht«, schäme ich mich beinahe zu sagen.

Jenny murmelt etwas vor sich hin. »Dann warte halt auf mich. Mach’s dir bequem. Welcome home.«

Ich sitze am Tisch und blicke auf all die Utensilien vor mir. Was mache ich hier eigentlich? Will ich das wirklich? Ja. Dieses Gefühl war es mir mehr als wert. Aber ich schaffe es nicht, mir selber einen Schuss zu machen. Sie muss mir dabei helfen. Und irgendwie vertraue ich dieser Jenny. Es sieht nicht so aus, als ob sie mich verarschen will.

Wieder zurück mit King setzt sie sich neben mich an den Tisch und bereitet für uns beide jeweils eine Spritze vor. Zuerst macht sie sich den Druck, dann nimmt sie meinen Arm in die Hand und streicht sanft darüber. »Du hast ja wirklich fast keine Venen. Könnte schwierig werden.«

Ich lehne mich im Stuhl zurück. Doch schon beim ersten Versuch schafft sie es. Bevor sie die Nadel herauszieht, habe ich bereits wieder diesen einzigartigen Geschmack und das Pochen im Hals. Das Glücksgefühl schwemmt alle meine Gedanken fort. Und nur Sekunden später gleite ich in ein warmes, ruhiges Meer.

Wir beide liegen im einzigen Zimmer auf einer Matratze am Boden und schauen uns ein Fotoalbum an. Jenny zeigt mir Bilder von sich und ihrer Schwester aus früheren Zeiten. Wohl und geborgen höre ich ihr zu, wie sie mir von ihrem Leben erzählt. King döst zu unseren Füssen. Dann fängt dieses Gefühl des Hängens wieder an, gegen das ich mich nicht wehren kann. Meine Augen fallen mir fast zu. Ich habe Mühe, sie offenzuhalten, weil ich mir gerne noch mehr Fotos von Jenny anschauen will. Doch es geht nicht. Der Stoff tut seine Wirkung. Kurz bevor ich den Kopf auf meine Arme lege, sehe ich, dass Jenny schon weggetreten ist, mit den Fingern noch eine Seite des Fotoalbums haltend.

Plötzlich schrecke ich auf. Wie spät ist es? Ich muss nach Hause. Ich rüttle Jenny, doch diese ist nicht wach zu kriegen. Sie lallt nur einige Worte. Rasch packe ich meine Sachen zusammen. Es wird mir auf den letzten Zug ins Dorf reichen, wenn ich mich beeile.

Kurz bevor ich aus der Wohnung gehe, fragt Jenny: »Du gehst schon? Sehen wir uns wieder?«

Ich nicke. Jenny müht sich, aufzustehen und wankt zur Türe.

»Tschüss, bis morgen!«, rufe ich und muss mich am Geländer festhalten, als ich die Treppe hinunterlaufe.

Es sind nun schon etliche Male, dass ich mir im Gassenzimmer etwas besorgt habe und nachher zu Jenny ging. Zusammen können wir für weniger Geld eine grössere Menge kaufen. Jenny hat mich auch angeleitet, wie ich es mir selber machen muss. Jetzt bin ich nicht mehr abhängig von irgendjemandem.

Ich bin und fühle mich immer noch als eine Aussenseiterin, und das will ich auch bleiben. Ich will mich nicht identifizieren mit den Junkies hier, dem Abschaum der Gesellschaft, denjenigen, die ganz unten angekommen sind. Schon nur, dass ich manchmal mit meinem Motorrad angefahren komme, macht mich in meinen Augen zu etwas Besserem.

Tage später, als ich nach der Arbeit im Spital auf meine Suzuki steige, fühle ich die Kälte gleich zu Beginn durch meine Jeanshosen und die Handschuhe. Ich beginne zu zittern und habe Schweissausbrüche am Hals und am ganzen Oberkörper. Es fühlt sich an, als würde ich krank werden. Die Nervosität tut das übrige und verstärkt das negative Gefühl noch mehr. Doch ich weiss, dass es nichts mit einer Erkältung zu tun hat. In zwanzig Minuten bin ich dort, sage ich mir immer wieder. Ich halte vor dem nächsten Geldautomaten und nehme mir hundert Franken. Das muss reichen. Mit steifen Fingern ziehe ich meinen Schal enger um meinen Hals und fahre dann auf die Autobahn.

Bei der Baubaracke angekommen, besorge ich mir etwas und mache mich danach eilig auf den Weg zu Jenny. Doch niemand öffnet auf mein Klingeln. Gerade kommt ein älterer Mann aus der Türe und mir gelingt es, in den Hausflur zu treten. Ich steige in den zweiten Stock und läute bei Jenny. Die Glocke ist ausgeschaltet. Hinter der Türe höre ich King bellen, aber keiner öffnet. Mit der ganzen Faust hämmere ich gegen die Holztür, der Hund bellt nur noch lauter. Nach einer halben Ewigkeit höre ich, wie der Schlüssel langsam im Schloss gedreht und die Türe einen Spalt breit geöffnet wird. Ich warte einen Augenblick, dann schiebe ich sie ganz auf. King beruhigt sich sofort, als er mich erkennt, und leckt meine Hand. Ich blicke ins Wohnzimmer und sehe Jenny, die in eine Decke gewickelt auf ihre Matratze zurück schlurft.

»Schliess die Tür hinter dir!«, ruft sie genervt. Ich mache sie zu und setze mich dann neben sie. Sie schlottert an ihrem ganzen mageren Körper. Ihre langen Haare sind fettig und zerzaust, sie blickt mir nicht in die Augen.

»Was ist denn los?«, frage ich sie.

»Ach, das Übliche. Hatte zu wenig Kundschaft gestern, es hat mir nicht gereicht bis heute.« Sie mummelt sich in ihre Decke ein.

»Ich hab dir was mitgebracht.« Ich lege das volle Papierbriefchen vor Jenny auf die Matratze.

Sie nimmt es in die Hand und blickt mich fragend an. »Für mich?«

»Ja, wir können es uns teilen.«

Jenny fängt plötzlich zu schluchzen an und im nächsten Moment fällt sie mir um den Hals. »Danke dir vielmals! Du bist meine Rettung! Ich bin auf Entzug und konnte nicht raus. Konnte so auch keinen Typen reinholen und kein Geld machen.«