Herr Patocki geht unter Leute - Horst Wambach - E-Book

Herr Patocki geht unter Leute E-Book

Horst Wambach

4,8

Beschreibung

Die Welt sei ohnehin eine unzumutbare Einrichtung, in der es sich, wenn überhaupt, nur zu leben lohne, wenn man sich der Kunst verschreibt, denkt Herr Patocki. Daher beschließt dieser ältere, etwas wunderlicher Junggeselle, sich in seine winzige Wohnung, hoch oben in der 23. Etage einer überdimensionalen Hochhausanlage zurückzuziehen und ein Leben in stiller Einkehr zu führen. Der Zufall aber will es, dass er auf einem seiner seltenen Spaziergängen zwischen den Hochhäusern einer hübschen, viel zu jungen Dame begegnet, die seinen Lebensentwurf gehörig durcheinander bringt. Durch sie gerät er in die Wirren des öffentlichen Lebens, bewirkt dabei ohne es eigentlich zu beabsichtigen vieles Gute und wird in der ganzen Hochhaussiedlung zu einer Berühmtheit. Die 40 kurzen Geschichten über Herrn Patocki sind Drama, Liebesgeschichte und Komödie gleichermaßen und führen den Leser ein in die eigentümliche Lebenswelt einer anonymen Hochhaus-Vorstadt, über die sich im Laufe der Erzählungen ein unwiderstehlicher poetischer Zauber legt.

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Über das Buch:

Die Welt sei ohnehin eine unzumutbare Einrichtung, in der es sich, wenn überhaupt, nur zu leben lohne, wenn man sich der Kunst verschreibt, denkt Herr Patocki. Daher beschließt dieser etwas wunderlicher Junggeselle ein Leben in stiller Einkehr zu führen. Der Zufall aber will es, dass er auf einem seiner seltenen Spaziergängen zwischen den Hochhäusern einer hübschen, viel zu jungen Dame begegnet, die seinen Lebensentwurf gehörig durcheinander bringt. Durch sie gerät er in die Wirren des öffentlichen Lebens, bewirkt dabei ohne es eigentlich zu beabsichtigen vieles Gute und wird in der ganzen Hochhaussiedlung zu einer Berühmtheit.

Die 40 kurzen Geschichten über Herrn Patocki sind Drama, Liebesgeschichte und Komödie gleichermaßen und führen den Leser ein in die eigentümliche Lebenswelt einer anonymen Hochhaus-Vorstadt, über die sich im Laufe der Erzählungen ein unwiderstehlicher poetischer Zauber legt.

Der Autor:

Geb. 1963 in Mainz, studierte an Johannes-Gutenberg-Universität Philosphie, Germanistik und Geschichte. Seit 2011 schreibt Horst Wambach in der Stadtteilzeitung „Elsa“. Aus diesen Texten ist der vorliegende Roman entstanden. Der Zweite Roman ist in Vorbereitung.

Inhalt

Einleitung

Herr Patocki tritt in ein Fettnäpfchen

Herr Patocki macht ein gutes Geschäft

Herr Patocki im Gottesdienst

Herr Patocki fasst einen Entschluss

Das Spiel beginnt

Der Knopf mit der Delle

Nahendes Unheil

Herr Patocki rastet aus

Herr Patocki wird gerügt

Der lachende Hut

Das Chorkonzert

Patockis beflügelter Heimweg

Der Name der Geigerin

Patockis erste Chorprobe

Zwei nachdenkliche Herren

Aristoteles und der Archivar

Das vorläufige Ende der Welt

Patockis großer Auftritt

Ein Brief von Louis

Die kleine Mäh und die Philosophie

Herr Patocki im Delirium

Der Liebesbrief

Herr Patocki kommt zurück

Herr Patocki rappelt sich auf

Onkel Patockis Märchenstunde

Ein Lahmacun für die kleine Mäh

Das Sommerfest

Eva am Baum der Erkenntnis

Herr Hohner schafft Ordnung

Herr Patocki begibt sich in ein Bordell

Herr Hohner folgt einer Vision

Die kleine Prinzessin

Herr Hohner hält eine Rede

Bregovics Garten

Bregovics Prüfung

Der verschwundene Pfarrer

Die Mitgliederversammlung

Janosch im Wasser

Der Dahingegangene

Schwermut

Angelikas Fest

Nachwort

Einleitung

Meine erste, wenn auch nur indirekte Bekanntschaft mit Herrn Patocki machte ich, als ich meiner Lebensgefährtin im 11. Obergeschoss des Hochhauses in der Elsa-Brändström-Straße einen Besuch abstattete, um ihr einen Blumenstrauß zu überreichen. Da dies mein erster Besuch bei Kathrin war, kannte ich mich in diesem Gebäudekomplex noch nicht aus und war auch nicht mit den Merkwürdigkeiten dieses Hauses vertraut. Schon auf der Feuerwehrzufahrt war mir ein Mann aufgefallen, der schimpfend eine Schippe mit Pferdeäpfeln vor sich her trug. Dies war der Hausmeister Alois, wie mir Kathrin später erklärte, der seit einiger Zeit höchst ungehalten darüber war, dass einer der Bewohner den Aufzug dazu benutzte, sein Pferd darin zu beherbergen. Als ich wenig später in der Eingangshalle auf den Aufzug wartete, wunderte ich mich über eine Hausbewohnerin, die ein Heubüschel in den Händen hielt. Ich bemerkte recht wohl die skeptischen Blicke, mit denen sie meine Blumen musterte. Schließlich wollte sie wissen, ob ich etwa beabsichtigte Hermine damit zu füttern. Ich verneinte ohne zu verstehen. Dann öffnete sich die Aufzugstür. Ich traute kaum meinen Augen, als dahinter ein weißes Pony zum Vorschein kam. Das Tier sah uns neugierig an und schien durchaus daran gewöhnt zu sein von den Hausbewohnern gefüttert zu werden. Die Dame schien es sogar besonders gut mit dem Tier zu meinen und hielt ihm unter kindlichem Zureden das Heu vor die Nase, nicht ohne noch einmal einen abschätzigen Blick auf meinen Blumenstrauß zu werfen. Ich zögerte noch die Kabine zu betreten, als Hermine geradewegs in meinen Blumenstrauß biss und selbstzufrieden damit begann die schönsten und zartesten Blütenblätter zwischen ihren Kiefern zu zermalmen. Sofort wies mich die Dame durchaus nachdrücklich darauf hin, dass Zierblumen Pferden nicht zuträglich seien. Ich zeigte mich einsichtig, bedauerte den Vorfall vielmals und machte mich auf die Suche nach dem Treppenhaus, um zu Fuß in die 11. Etage hinauf zu steigen.

Kathrin ließ sich von der Enttäuschung darüber, dass ich mit leeren Händen vor ihrer Tür erschien, nichts anmerken. Doch da ich meinen Blumenstrauß unter schwierigen Bedingungen und nicht unerheblichem Zeitdruck erworben hatte und mich zu unrecht um meine höflichen Absichten gebracht sah, berichtete ich ihr, was im Aufzug geschehen war. Kathrin lachte.

»Einfach abgebissen?«, fragte sie und füllte unsere Weingläser.

Dann erzählte sie mir die Geschichte, wie Hermine in den Aufzug gekommen war. Das Pony gehöre einem Kind, das in der 23. Etage bei einem gutmütigen Sonderling wohne. Dieses Mädchen habe das Pferd von einem anderen Hausbewohner geschenkt bekommen, nachdem dieser, ein arroganter Schnösel im Übrigen, wie Kathrin betonte, den Hund dieses bedauerlichen Geschöpfs mit seinem Auto überfahren hatte. Dieser Schnösel sei überdies ein ganz unangenehmer Zeitgenosse, der sich ständig beschwere und in aller Öffentlichkeit behaupte, der Gesang des Elsa-Chors verursache Lackschäden an seinem Porsche.

Kathrin entzündete ernstlich verärgert eine Kerze und stellte den Topf mit dem Essen neben einer leeren Blumenvase auf den Tisch. Außerdem sei dieser... dieser Wichtigschiss so vermessen gewesen, sie zu einer Spritztour in seinem lächerlichen Porsche einzuladen. Ich lobte verlegen das unvergleichlich köstliche Gericht und behauptete beiläufig, dass ich mich noch drei Mal zu dem Floristen unweit der Bushaltestelle begeben hätte, um neue Blumen zu besorgen, die aber jedes Mal von diesem unersättlichen Gaul zerstört worden waren.

Dieser Großkotz, fuhr Kathrin fort, ohne darauf einzugehen, habe sich danach im Stadtteiltreff eingeschmeichelt, indem er seinen Porsche für die Belieferung des Brotkorbs zur Verfügung gestellt und dem einfältigen Herrn Bregovic eine Stelle als Schaffner vermittelt habe und sei, aufgrund eines lachhaften Gutmenschentums, das er bei sich entdeckt zu haben glaubt, neuerdings sogar dazu übergegangen Busfahrkarten und Räucherstäbchen unter die Scheibenwischer von Luxuswagen zu stecken und dazu deren Felgen mit einem Ringschloss zu versperren. Glücklicherweise sei er unlängst bei einer dieser Aktionen festgenommen worden und säße wenigstens für die nächsten drei Monate da wo er hingehöre, nämlich hinter Schloss und Riegel! - Natürlich tadelte ich derlei revolutionären Übereifer auf das Entschiedenste, gab aber zu bedenken, dass den Schnösel womöglich gutgemeinte Absichten zu seinem Handeln veranlasst haben mochten...

Jedenfalls haben Kathrins Erzählungen schon damals mein Interesse geweckt für das Kind mit dem Pferd und den Sonderling, bei dem es wohnte, und für den Schaffner und natürlich auch für den Schnösel. Und so ist der Entschluss in mir gereift ihre Geschichte aufzuschreiben und sie nun, da Herr Patocki nicht mehr bei uns ist, gleichsam als Erinnerung an diesen sonderbaren Mann, in der Zeitung des Stadtteiltreffs zu veröffentlichen. Doch ich greife den Ereignissen voraus...

Herr Patocki tritt in ein Fettnäpfchen

André Patocki sei schon immer hier gewesen, berichteten mir die Alteingesessenen. Schon seit Anbeginn habe er bei stillem Trunke auf einem großen Stein im Gonsenheimer Wald stumm und freundlich in sein Weinglas gelächelt und gegen Mittag zuweilen mit einem tiefen Seufzer immer wieder das eine Wort gesagt haben: „Herrlich, herrlich!“

Viel später baute man dann die Siedlung um ihn herum, mit Hochhäusern und Tiefgaragen, und so musste er seinen sonnigen Felsen verlassen und in eine winzige Wohnung in der 23. Etage einziehen. Zuerst soll er ein wenig beleidigt gewesen sein. Als er aber auf den Balkon hinaustrat und seinen Blick über die Rheinebene und den Taunus schweifen ließ, brachte er wieder sein tief empfundenes „Herrlich!“ hervor, das wir schon alle kennen, obgleich keiner so genau wusste, was er damit meinte: den Wein, die Landschaft, sein Leben oder die Welt überhaupt.

Außer dem Wein liebte Herr Patocki auch die Opern Richard Wagners, was seinen neuen Nachbarn so großen Verdruss bereitete, dass sie ihm einen Kopfhörer schenkten und dazu ein Buch von Schopenhauer. Und dann barg Herr Patocki noch eine andere, stille Liebe in seinem Herzen, die Liebe zu einer Geigerin, die er an langen Winterabenden hatte spielen sehen, zusammen mit einem Klarinettisten und einem Akkordeonspieler, in den warm erleuchteten Räumen des zwischen den Hochhäusern angesiedelten Stadtteiltreffs. Zwar drang durch die großen Fenster die Musik nur ganz gedämpft bis an sein Ohr, doch war es ihm vollkommen unmöglich geworden, auf seinen Spaziergängen einen anderen Weg einzuschlagen, als vorbei an diesem Ort, in der Hoffnung, sie wieder spielen zu hören.

Immer führte sein Weg vorbei an diesem Ort, aber heute, wo die schöne Geigerin anwesend sein sollte, fand Herr Patocki eine grell erleuchtete Baustelle vor. Bretter und Farbtöpfe standen umher, wo er einst der Musik in stiller Entrückung gelauscht.

»Ach!«, dachte er und stieß mit seinem Spazierstock verhalten auf den Betonboden. Im Inneren der Räumlichkeiten war man gerade dabei ein gewaltiges Möbelstück vor die Fensterwand zu rücken. Unter den Handwerkern erblickte Herr Patocki auch die Geigerin. Er erschrak, als er ihrer ansichtig wurde, ganz so, als sei er bei etwas Verbotenem ertappt worden. Er suchte nach einem Vorwand für sein Herumlungern hier draußen im Kalten und so versenkte er sich ostentativ in die Lektüre einer Ausgabe der ELSA-Zeitung, die an der Glastür aufgehängt war.

»Die bauen da einen Adventskalender, der die ganze Fensterfront ausfüllt«, sagte plötzlich eine Stimme.

Ein Mann mit Koteletten und einem runden Gesicht, auf dem eine verchromte Brille saß, stand neben ihm und las ebenfalls in der aufgehängten Zeitung. Herr Patocki lüftete seinen Hut. Gesellschaft kam ihm jetzt sehr recht. Man wandte sich wieder der Zeitung zu. Ein Rock ‚n‘ Roll-Abend wurde darin angekündigt, mit Songs aus den 50er und 60er Jahren.

»Sehen Sie einmal, da macht einer den Elvis. Den Elvis! Also Elvis ist ja schon schlimm genug, aber dann auch noch von Gunsenum! Hahaha, das muss ja die Hölle sein!« Herr Patocki wollte mit diesen Worten eine vertrauensvolle Atmosphäre schaffen und klopfte deswegen seinem Mitleser geradewegs auf die Schulter (obwohl er sonst ein stiller, fast schüchterner Mensch war). Die Geigerin war in einem der hinteren Räume verschwunden. Der Herr mit der schweren Brille fiel etwas in sich zusammen und wies Herrn Patocki darauf hin, dass dieser Elvis bereits mehrfach im Radio zu hören gewesen war. Die Geigerin kam wieder zum Vorschein, sagte etwas zu dem Akkordeonisten, dem, von ihren Worten abgelenkt, der Akkuschrauber aus der Hand fiel.

»Was Sie nicht sagen!«, meinte Herr Patocki beiläufig. Und dann geschah etwas Ungeheuerliches: die Geigerin sah aus dem Fenster, durch das noch unfertige Gerüst des Adventskalenders hindurch nach draußen. Ihr Blick traf auf ihn, André Patocki, auf ihn und seine ganze unwichtige Existenz und zwar mit voller Wucht.

»Vielleicht schauen Sie sich das Konzert einfach mal an!«, sagte der freundliche Mann an seiner Seite und stopfte einen weißen, bunt bestickten Hemdkragen unter seine Lederjacke, in die er sich fest vermummte. Es wehte ein kalter und feuchter Wind.

»Lassen Sie sich dieses Ereignis nicht entgehen. Sie werden es auf keinen Fall bereuen!«

Herr Patocki lüftete seinen Hut, aber die Geigerin war schon längst mit etwas anderem beschäftigt. Herr Patocki sackte in sich zusammen.

»Meine Band „The Sound Dogs“ ist schon seit 1999 zusammen, natürlich nicht von Anfang an in dieser Besetzung. Steht alles auf meiner Homepage.«

»Nein danke, ich höre vorwiegend Wagner.«

Auf dem Heimweg zu seiner Stube hoch oben in der 23. Etage blieb Patocki noch einmal stehen. Langsam erholte er sich von dem ersten Schreck. Netter Mensch eigentlich, dieser... dieser... An irgendetwas Belangloses zu denken, beruhigte seine Nerven jetzt sehr. Dann aber, als ob ein Blitz in ihn gefahren wäre, wandte sich Herr Patocki um. Aber die Lichter im Stadtteiltreff waren erloschen und der Elvis von Gunsenum verschwunden.

Herr Patocki macht ein gutes Geschäft

»Nein, das ist nicht der Schornsteinfeger!« flüsterte eine junge Frau zu dem Kind, das über ihren Schultern hing und mit einem Finger auf Herrn Patocki zeigte. Die beiden waren ihm auf dem Zebrastreifen entgegen gekommen. Herr Patocki begriff nicht sofort. Er war auch etwas in Eile, weil er es für seine Pflicht hielt, die Straße bereits überquert zu haben, solange die Ampel noch grün war. Dennoch drehte er sich noch einmal um. Das Kind sah ihn noch immer mit großen Augen an. Er lüftete seinen Zylinder und stolperte dabei fast über die Bordsteinkante.

Patocki beeilte sich seine Wohnung in der 23. Etage zu erreichen, in der er sich schon seit vielen Jahren eingenistet hatte, um ein Leben in stiller Einkehr zu führen. Seine Einsamkeit hatte begonnen, nachdem er sich vorgenommen hatte, nur noch Erhabenes zu sagen, und seitdem man ihm ein Buch von Schopenhauer geschenkt hatte, hielt er die ganze Welt für eine unzumutbare Einrichtung, in der es sich nicht im Geringsten zu leben lohnte. Außer, wenn man sich der Kunst verschrieb. In der Kunst allein war Trost zu finden, fand Herr Patocki, und so hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, täglich eine Oper zu hören. So kam es auch, dass er sich für den einzig glücklichen Menschen hielt inmitten eines Ozeans aus Not und Elend.

Er erreichte die leer geräumte Eisdiele. Man hatte sich schon an die mit verblassenden Papiertischdecken zugehängten Fensterflächen gewöhnt. Doch jetzt in der Dämmerung erschien ihm die ganze Einkaufspassage wie die verlassene Kulisse eines staubigen Westernstädtchens. Der Wind wehte eine Plastiktüte durch die Gasse. »Hic transit gloria mundi!«, dachte Herr Patocki. Ein Hund kam ihm entgegen. Es war ein hellbrauner, freundlicher Hund mit einem Indianerhalsband. Er durchsuchte die Plastiktüte nach etwas Essbarem. Patocki kniete sich hin und rief den Hund zu sich. Der Hund blickte sich kurz um und lief davon. Patocki sah ihm nach. Erst jetzt bemerkte er die Versammlung vor den Türen des Stadtteiltreffs. Von dort her drang auch ein gedämpfter Rhythmus zu ihm und der flirrende Klang einer Geige. Herr Patocki kniete selbstvergessen auf dem kalten Boden und lauschte. Dann entschloss er sich zu den Menschen zu gehen. Mühsam zog er sich an seinem sich biegenden Spazierstock empor. Vielleicht war es auch in diesem Moment, als sich der erste gelbe Schmetterling einfand und beständig um seinen Zylinder herum flatterte.

Drüben im Stadtteiltreff spielte die Geigerin und die anderen beiden Herren. Als Herr Patocki näher kam, endete gerade ein Stück und das Publikum klatschte. Es waren viele Kinder anwesend, wohl wegen des Adventskalenders, der die riesige Fensterfläche ausfüllte. Ein Schachtelwerk aus Holz mit 24 bunten Vorhängen, anmutig beleuchtet von hunderten Lämpchen. Einige der Vorhänge waren bereits emporgezogen, doch Herr Patocki hatte keinen Sinn für die Kleinodien, die dort in den Kästen zu sehen waren. Denn jetzt sah er sie wieder, die Geigerin, die ihm schon so oft zu langen und bedeutenden Überlegungen Anlass gegeben hatte.

Ein kleines Mädchen war keinen Millimeter von der Seite der Geigerin gewichen und hatte ihr staunend beim Spielen zugehört. Der Klarinettist schenkte der aufmerksamen Zuhörerin eine Visitenkarte. Die Kleine untersuchte das Kärtchen von allen Seiten. Und dann, gleichsam als Zugabe des Trios, erklangen die wohl schönsten Töne, die Herr Patocki je in seinem Leben gehört hatte. In einer berückenden Fülle des Wohllautes entströmte der Violine ein Kinderlied. Herr Patocki kannte dieses Lied. Er kannte es aus einem Märchenfilm, an dessen Ende die Prinzessin auf einem Schimmel durch eine verschneite Landschaft reitet. Er fand diese Musik so unaussprechlich schön, dass er weinen musste. Es waren aber genussreiche Tränen. Tränen voller Sehnsucht und schwermütigem Neid. Patocki blieb noch lange hier draußen stehen inmitten der Festgesellschaft, die sich allmählich aufzulösen begann. Etwas fernab kniete eine junge Frau vor einem Mädchen, das mit einer vergilbten Reclam-Ausgabe des Tannhäuser in der Hand auf Herrn Patocki zeigte. Die Frau nahm das Kind fest in den Arm und blickte etwas gereizt zu Patocki herüber. Der merkte aber von all dem nichts. Selig betrachtete er das Kärtchen, das er diesem Kind gerade mit der ganzen Kühnheit eines schüchternen Mannes hatte entlocken können. Immer wieder las er den Schriftzug: »schall&rauch«.

Als er sich auf den Heimweg machte zu seiner Junggesellenbehausung hoch oben in der 23. Etage, ritt lautlos eine Prinzessin auf einem Schimmel über den verschneiten Parkplatz. Es war inzwischen Nacht geworden und ein gelbes Wölkchen aus Schmetterlingen flatterte um seinen großen Hut.

Herr Patocki im Gottesdienst

»Hallo, Herr Patoki!«, rief eine Frauenstimme. Herr Patocki wandte sich erstaunt um und die Schmetterlinge, die seit einiger Zeit um ihn herum flatterten, flogen hoch in die Luft, als er seinen Zylinder lüftete. Eigentlich hatte er nur einen kurzen Spaziergang unternehmen wollen, vorbei am Stadtteiltreff, wie es seine Gewohnheit war.

»Hallo, Herr Patoki!« rief die Stimme noch einmal. »Kommen Sie! Der Gottesdienst fängt gleich an.«

Eine kleine Gruppe mitteilsam gestimmter Seelen weilte vor dieser verheißungsvollen Glastür. Herr Patocki zögerte zuerst, dann folgte er der Stimme, begab sich zu den Leuten und alle gemeinsam betraten jenen Raum, den er schon so oft zu betreten nicht gewagt hatte. Die Stühle waren im Kreis aufgestellt und eine Kerze brannte vor einem Holzkreuz, das an der Wand angelehnt war. »Ich bin Frau M.«, sagte die Frau, die ihn so freundlich herbei gerufen hatte und klopfte ihm mit verschmitzter Miene auf die Schulter. Sie nahmen beide Platz. »Sind Sie heute zum ersten Mal hier im Stadtteiltreff?« Patocki nickte. Die Situation, in die er geraten war, begann ihn zu überfordern. Sein brausendes, von widersprüchlichen Gedanken hypertrophiertes Gemüt war gewohnt, die Einwirkungen der äußeren Welt stets unter Berücksichtigung aller in Frage kommender Aspekte zu verarbeiten, oder anders ausgedrückt: er war etwas langsam im Geiste. Und so saß er ganz verschüchtert da und wagte kaum zu fragen, warum man ihn hier überhaupt kannte. »Mit Verlaub«, sagte er plötzlich zu Frau M., konnte sich aber zu einer weitergehenden Erklärung nicht entschließen.

»Was ich Sie schon immer einmal fragen wollte, Herr Patoki« flüsterte Frau M., »haben diese Schmetterlinge irgendeine Bedeutung?« Der Pfarrer hatte sich erhoben, trat an den Altar und sprach: »Wir singen nun das Lied Nr. 7511293«

Alle blätterten in ihren Gesangbüchern, während der Organist auf dem Keyboard sakrale Akkorde anstimmte.

»Mit Verlaub, ich heiße Patocki, wie Trotzki, nur mit Pa«, sagte Patocki verlegen.

»Psssst!«.

Flache winterliche Sonnenstrahlen schoben sich wie honigfarbene Balken durch das Fenster und brachten die goldene Inschrift auf der Stola des betenden Pfarrers zum Glühen. Das milde Licht, die Orgelmusik und die meditative Stimmung der Versammelten schläferten Herrn Patocki ein. Er sah nach draußen. Der Nachbar mit dem Schlittenhund stand etwas abseits vor der Tür und rauchte. Ganz oben auf einem der Balkone des Hochhauses schüttelte eine Frau ein Bettlaken aus, das sich heftig unter dem Wind blähte. Der Pfarrer brach eine Hostie über der Schale und begab sich zu den Gläubigen. Das Laken breitete sich vor dem Balkon aus und riss die Frau mit sich über die Brüstung, aber sie stürzte nicht in die Tiefe. Sie schwebte dahin wie ein Engel und dann, in einer leichten Wendung, als entböte sie ihrem Zuhause ein letztes Lebewohl, öffnete sich das Tuch und eine Böe trug sie zu den oberen Sphären empor, wo selbst die am höchsten fliegenden Vögel sie nicht mehr erreichten.

Frau M. riss Trotzki den Hut vom Kopf, als der Pfarrer mit Hostie und Kelch vor ihm stand.

»Was ist denn?« fragte Patocki erschrocken. Es dauerte einige Zeit, bis er verstanden hatte, dass er die Hostie nehmen und in den Kelch tunken sollte. Patocki war ganz verwirrt, entschuldigte sich allseits für seine Unwissenheit in religiösen Dingen, wies auf die Philosophie Schopenhauers hin, was aber in dieser Situation keinen rechten Sinn ergab, und schüttelte verzweifelt die Hand der Frau M..

Dann sagten alle »Amen« und setzten sich wieder. Als sich aber die Gemeinde zu einem letzten Lobgesang erhob, schämte sich Herr Patocki sehr und zwei der Schmetterlinge, die um ihn herumgeflattert waren, fielen leblos auf seine Schulter und zerstoben zu einem glitzernden Wölkchen, noch bevor sie den Boden erreicht hatten.

Nach dem Gottesdienst (die Ersten hatten ihre Jacken schon in der Hand) wandte sich Frau M. an den Pfarrer, bat ihn um Verständnis für die Zerstreutheit ihres Nachbarn, zuckte dabei die Schultern und betonte, dass es ihr selbst unerklärlich sei, wie dieser sonst so kunstsinnige Mann während eines so erhebenden und in jeder Hinsicht gelungenen Gottesdienstes hatte einschlafen können.

»Der Herr gibt es den Seinen im Schlaf«, antwortete der Pfarrer, »...wie es schon im Psalm 127,2 heißt. - Sagen Sie ihrem Nachbarn, dass er ruhig wieder kommen kann, um unter Gottes schützender Hand sein gesegnetes Mittagsschläfchen zu halten. Er ist herzlich eingeladen.«

Dann sahen beide aus dem Fenster. Herr Patocki war mit hastigen, etwas hüpfenden, o-beinigen Schritten, die Arme seitwärts abgespreizt, auf dem Weg nach Hause zu seiner winzigen Wohnung hoch oben in der 23. Etage.

Herr Patocki fasst einen Entschluss