Herz und Hände - Yvonne Salmen - E-Book

Herz und Hände E-Book

Yvonne Salmen

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Beschreibung

Südfrankreich, um 1860: Adrien Laurent ist ein begnadeter, aber eigenwilliger Chirurg - mit einem Problem: Er sitzt im Gefängnis. Die Armee nutzt seine missliche Lage und nötigt ihn, sich als Militärarzt für die Kolonialkriege zu verpflichten. Dieselben rebellischen Eigenschaften, die ihn hinter Gitter brachten, sorgen in Algerien für regelrechten Tumult. Schließlich landet Adrien ungewollt als Feind Frankreichs bei den Aufständischen, obwohl er nur ein Ziel hat: Hier weg und zurück zu seiner Frau und den beiden kleinen Söhnen, die er schon so lange schmerzlich vermisst. Im Wahnsinn des Krieges hilft ihm sein angeborenes Talent, zu täuschen und zu tricksen. Und, was er niemals wollte: zu töten. Je mehr er sich selbst verrät, desto stärker drängen sich schemenhafte Erinnerungen auf. Basiert sein Leben von Anfang an auf Lug und Betrug?

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Autorenvita

„I am a writer, I don’t need to be normal.“

Diesen Leitsatz habe ich mir ausgesucht, weil in mir Welten zusammentreffen.

Einerseits bin ich geborene Geschichtenerzählerin: In meinem Kopf entstehen immer wieder neue Charaktere, entfalten sich, leben ihr Leben in dieser anderen Dimension, die dafür da ist, aufs Papier gebracht zu werden.

Andererseits liebe ich das Forschen nach Fakten: Ich gehe den Dingen gern auf den Grund, recherchiere und dokumentiere. Während meiner Ausbildung zur Diplom-Restauratorin jagte ich eifrig naturwissenschaftlichen und historischen Erkenntnissen nach.

So bin ich Schriftstellerin, Online-Redakteurin und Journalistin

in eins. Seit 2010 verdiene ich meinen Lebensunterhalt durch meine schreibende Tätigkeit. Ich werbe, informiere und erzähle Geschichten, ganz nach Auftrag. Manchmal aber auch nur für mich selbst, weil ich liebe, was ich tue - wie bei „Herz und Hände“.

Yvonne Salmen

einfach-die-richtigen-worte.de

Inhaltsverzeichnis

Part 1

Geschichtlicher Hintergrund

Das Herz

Colonel Blacardin

Adrien Laurent

Colonel Blacardin

Adrien Laurent

Eric Fabre junior

Adrien Laurent

Céline Laurent

Adrien Laurent

Eric Fabre junior

Adrien Laurent

Eric Fabre junior

Adrien Laurent

Eric Fabre junior

Kenan Khalid

Yann Niddard

Adrien Laurent

Kenan Khalid

Eric Fabre junior

Adrien Laurent

Eric Fabre junior

Kenan Khalid

Adrien Laurent

Loane d’Auxvilles

Eric Fabre junior

Adrien Laurent

Eric Fabre junior

Adrien Laurent

Gilbert d’Auxvilles

Eric Fabre

Adrien Laurent

Loane d’Auxvilles

Adrien Laurent

Eric Fabre junior

Adrien Laurent

Jean Thivron

Adrien Laurent

Alexandre d’Auxvilles

Adrien Laurent

Eric Fabre

Alexandre d’Auxvilles

Eric Fabre

Adrien Laurent

Colone Gustave

Jean Thivron

Eric Fabre

Adrien Laurent

Loane d’Auxvilles

Adrien Laurent

Yann Niddard

Adrien Laurent

Aariz Safar

Capitaine Benoît Posquelles

Adrien Laurent

Sayeda

Adrien Laurent

Eric Fabre

Muaz

Jean Thivron

Adrien Laurent

Muaz

Jean Thivron

Nuri

Adrien Laurent

Aariz Safar

Nuri

Jean Thivron

Adrien Laurent

Sayeda

Jean Thivron

Benoît Posquelles

Eric Fabre junior

Adrien Laurent

Eric Fabre junior

Khalil

Adrien Laurent

Benoît Posquelles

Eric Fabre junior

Gilbert d’Auxvilles

Adrien Laurent

Sayeda

Part 1

Das Herz

Geschichtlicher Hintergrund

Der Traum von Afrika war für Frankreich vorerst ausgeträumt, als Napoleon Bonaparte im Jahr 1799 Ägypten wie ein getretener Hund verließ. Er ließ die Reste seiner geschlagenen Truppe schmählich zurück.

Unter Napoleon III., im zweiten französischen Kaiserreich, begann eine neue Phase der aggressiven Kolonialpolitik. Während Algerien schon seit 1830 über Jahrzehnte hinweg unerbittlich in die Knie gezwungen wurde, ging es 1854 im Senegal erst richtig los. Das Ziel war ein zusammenhängendes Gebiet namens Französisch-Westafrika.

Die Medizin erlebte zur Mitte des 19. Jahrhunderts umwälzende Veränderungen. Robert Liston führte zum ersten Mal öffentlich eine Narkose durch, Joseph Lister leistete Pionierarbeit in der antiseptischen Medizin. Listers Lehre von den Keimen, inspiriert durch Louis Pasteur, stieß allerdings auf breite Skepsis. Das alte medizinische Establishment gab nicht so schnell das Heft aus der Hand.

Zu Beginn der 1860er gerät ein junger Chirurg zwischen alle Fronten. Sein rebellischer Charakter bringt ihn ins Gefängnis und von dort aus in den Krieg nach Afrika. Was er schon lange ahnte, wird immer gewisser: dass er noch besser tricksen und töten als Leben retten kann. Liegt der Grund dafür in seiner Kindheit, an die er sich kaum erinnert?

Das Herz

Seine Finger schlossen sich um das warme, aber leblose Herz.

Es fühlte sich glatt an und feucht, wie etwas Lebendiges, das nur einen Moment lang ruht. Aber das war eine Täuschung, denn diese Ruhe würde ewig sein, das Herz bald schon erkalten, sich zersetzen, zu einer breiigen Masse werden. Wenn jetzt kein Wunder geschah.

Er wog das Herz in der Hand, drückte es sanft, dann etwas fester. Schließlich ließ er es wieder los, fasste Mut und begann, es rhythmisch zu pressen und wieder loszulassen, das Schlagen eines lebendigen Organs imitierend. Schließlich schob er auch die zweite Hand in den engen Brustkorb und bearbeitet das Herz mit gleichmäßiger Kraft.

»Erinnere dich«, sagte er. »Das bist du, das ist deine Arbeit, du musst sie noch ein paar Jahre tun.«

Die Frau auf dem Tisch war noch jung, vielleicht jünger als er selbst. Sie war mit aufgeschlitztem Brustkorb gefunden worden, halb verblutet hatte man sie ins Krankenhaus gebracht. Er hatte die verletzten Adern gefunden und abgeklemmt, das Blut und erste Gerinsel mit den Händen aus der Brust geschaufelt. Doch ihr Herz hatte einfach aufgegeben.

Zuerst ein heftiges Kammerflimmern, ein Zucken, wie bei einem qualvoll sterbenden Tier.

Jetzt nichts mehr.

Nur noch seine Hände, die das Herz bewegten, um die Erinnerung anzuregen, daran, wie es war, zu leben und zu schlagen. Was um ihn geschah, interessierte ihn nicht, er fühlte nur dieses Organ und den Rhythmus seines eigenen Herzens, an dem er sich orientierte.

Druck, Entspannung, Druck, Entspannung.

Keine Antwort, nur unbewegte Stille.

Doch er blieb dabei, ohne Pause, ein unendlicher Takt.

Dann spürte er plötzlich Bewegung, ein leises Rucken, wie ein Erwachen. Ein erster Schlag, zaghaft noch. Der Nächste kam schon kräftiger – und jetzt arbeiteten sie gemeinsam, das Herz und seine Hände, als gehörten sie auf magische Weise zusammen.

Die ganze Zeit über war es in ihm ruhig gewesen, doch jetzt begann er, leicht zu zittern. Er konnte nicht anders als den Kopf zu heben und in das Gesicht der Frau zu sehen. Es war von fragiler Schönheit, doch bleich und starr.

Er fragte sich, ob sie jemals wieder lächeln oder sprechen würde.

Es gab noch so viel zu tun.

Colonel Blacardin

Ein kahler Raum, nur ein Tisch in der Mitte und zwei Stühle aus kaltem Metall. Kein Fenster, aber zwei Gittertüren. Durch eine von ihnen betrat Colonel Blacardin das Zimmer, geführt von einem Gefängniswärter.

»Setzen Sie sich bitte, er kommt gleich«, sagte der Mann zu ihm und machte eine Geste in Richtung der ungemütlichen Stühle. Blacardin nahm Platz, legte die Akte vor sich auf den Tisch und sein Begleiter zog sich zurück, um gleich darauf die Tür von außen wieder abzusperren.

Der Offizier wandte sich noch einmal der Akte zu, blätterte darin herum und ging die wichtigsten Informationen über den Häftling durch. Nach einigen Minuten schlug er die Mappe zu und blickte zu der noch immer geschlossenen zweiten Tür, hinter der sich nichts regte. Ungeduld machte sich in ihm breit.

Es dauerte noch weitere Minuten, bis er auf dem Gang hinter der Tür Schritte vernahm. Der Gefangene wurde von zwei Wärtern hereingeführt, der junge Mann trug Hand- und Fußfesseln. Die Handfesseln waren zusätzlich an einem Gürtel fixiert. Es handelte sich um keinen Gewalttäter, deshalb schien dies ungewöhnlich, doch Blacardin war der Hintergrund für diese Sicherheitsmaßnahme bekannt und er wusste, es machte Sinn.

Der Insasse war in die übliche schlichte Gefängniskleidung gehüllt, seine Haare millimeterkurz. Das Foto, das Blacardin von General Taubert erhalten hatte, zeigte einen nicht einmal dreißigjährigen Arzt in weißem Kittel mit ungezähmten Locken und einem entspannten Lächeln. Manche Chirurgen tauschten derzeit ihre schwarze Kleidung in helle ein, als Signal, dass ihr Geschäft weniger blutig geworden war. Es handelte sich bislang nur um eine kleine Bewegung, aber nach allem, was Blacardin in Erfahrung bringen konnte, schien in ihr die Zukunft zu liegen.

Dass den jungen Mann die beinahe zwei Jahre im Gefängnis verändert hatten, war zu erwarten – und ein einziger Blick in dieses Gesicht verriet, dass Blacardin mit seiner Vermutung richtig lag. Der Mann wirkte verschlossen, er hielt zunächst den Blick gesenkt und ließ sich von den Wärtern zum zweiten Stuhl bringen. Erst als er sich gesetzt hatte, schaute er dem Offizier ins Gesicht.

»Guten Tag, Doktor Laurent«, sagte Blacardin. »Mein Name ist Colonel Blacardin.«

Der Arzt antwortet mit einem kurzen Nicken und stieß im nächsten Moment mit einer sehr bewussten Bewegung die Füße gegen den Tisch, sodass die Ketten klirrten. Blacardin erkannte eine kaum verheilte Platzwunde an der Augenbraue und bemerkte auch, dass der Mann blass und angeschlagen war. Alles in allem konnte man ihn für einen gewöhnlichen Straftäter halten, dem die Gefängnisluft nicht gut bekam. Doch Blacardin wusste es besser: Der Doktor stand ganz oben auf seiner Rekrutierungsliste, General Taubert hielt große Stücke auf seine Fähigkeiten.

Er richtete den Blick auf die beiden Wärter. »Ich habe die Erlaubnis des Direktors, mit ihm allein zu sein.«

»Ja, Monsieur«, erwiderte einer von ihnen. »Laut Anweisung zwanzig Minuten. Sollten Sie früher fertig sein, reicht ein kurzer Zuruf.«

»Danke für Ihre Kooperation.«

Damit zogen die Wärter sich zurück und Blacardin hatte seinen Gesprächspartner für sich. Dieser saß weiterhin stumm da, nahm aber sofort Blickkontakt auf, als der Offizier sich ihm wieder zuwandte.

Blacardin wählte mit seinem Ansinnen den geraden Weg. »Doktor, wir haben von Ihnen gehört und sind an Ihrer Mitarbeit interessiert.«

Der Gefangene zeigte ein süffisantes Lächeln. »Da müssen Sie sich noch ein paar Jahre gedulden, ich bin hier nicht abkömmlich.«

»Wir können Sie abkömmlich machen, aber das kommt ganz auf Sie und Ihr Entgegenkommen an.«

Doktor Laurent wirkte nicht interessiert. »Wer ist wir?«, fragte er, seine Langeweile zur Schau stellend.

»Die militärische Abteilung unter General Taubert, zuständig für den Personalnachschub der afrikanischen Kolonien.«

»Da will ich nicht hin«, kam es sehr abrupt. »Das können Sie gleich vergessen.«

»Hören Sie doch erst einmal zu, ich komme nicht mit leeren Händen.«

Er hatte bei diesem Mann nicht mit einem leichten Einstieg gerechnet, aber er wusste, wie groß die Zwangslage war, in der sich sein Gegenüber befand. Selbst wenn Doktor Laurent jetzt noch blockierte, konnte sich das in den nächsten paar Minuten ändern. Und ein bisschen glaubte Blacardin sogar, in der Miene des Arztes eine Ahnung davon zu erkennen.

»Sie haben durch Ihre Inhaftierung viel mehr verloren als nur ein paar Jahre Freiheit. Man hat Ihnen die Approbation entzogen, Sie dürfen niemals wieder Ihren Beruf ausüben. Ich weiß, dass Sie das sehr schmerzt.«

Es regte sich etwas hinter der Fassade, der erste Nerv war getroffen. Doch der Mann war nicht willens, das zuzugeben. »Ich ziehe für Sie nicht in den Krieg, um wieder praktizieren zu dürfen. Abgesehen davon, dass die Entscheidungsgewalt über meine Approbation nicht bei Ihnen liegt.«

»Wir haben uns in dieser Hinsicht rückversichert: Wir können die Entscheidung erheblich beeinflussen.« Er machte eine kurze Pause, musterte seinen Gesprächspartner, einen begabten Chirurgen, der durch seine Eskapaden nicht nur seine Karriere, sondern sein ganzes bisheriges Leben zerstört hatte. Doch der junge Mann wollte sich nicht regen, obwohl er gewiss innerlich kämpfte. Es bedurfte noch eines weiteren Hebels.

»Ihre Familie steht seit fast zwei Jahren so gut wie mittellos da, Doktor«, begann Blacardin von neuem. »Der soziale Status Ihrer Frau und Ihrer Kinder hat sich marginalisiert. Ihr Freund und Mentor Doktor Fabre senior hat finanzielle Unterstützung angeboten, doch Ihre Frau nimmt sein Geld nicht an. Sie schrubbt sich lieber in einer Wäscherei die Hände blutig und lässt sich von niemandem helfen, vermutlich weil sie nicht möchte, dass andere unter ihrem Ruf leiden.«

Das schreckte den Gefangenen sichtlich auf. »Sie hat sich öffentlich von mir distanziert«, sagte er. »Und um eine Scheidung der Ehe gebeten.«

Blacardin schüttelte den Kopf. »Ich schätze, Sie haben das von ihr verlangt, als Sie verurteilt wurden. Jedenfalls steht hier in der Akte, dass Sie rigoros jeden Besuch zu Ihrer Frau ablehnen, wie auch jeden anderen Besucher. Sie aber hat den Kontakt zu Ihnen gesucht.« Er klopfte mit den Fingerknöcheln auf die vor ihm liegende Mappe. »Ihre Frau steht weiterhin zu Ihnen und lebt deshalb im Elend.«

Doktor Laurent blinzelte, als er erwache er soeben aus einem Traum. Dann verzog er das Gesicht. »Colonel Blacardin,«, sagte er, »wenn Sie mich in dieser Sache anlügen, dann verhalten Sie sich massiv unfair.«

Der Offizier lehnte sich vor, fixierte den Mann mit einem intensiven Blick. »Doktor, Sie haben keine Scheidungspapiere erhalten, nicht wahr? Es dauert nicht einfach lange, Sie wird sich nicht von Ihnen trennen. Ich lüge nicht, Ehrenwort.«

Das tat dem jungen Doktor weh, ohne Zweifel. Der Offizier sah den Schmerz seines Gesprächspartners mit Genugtuung, so kam er seinem Ziel schon deutlich näher. Fehlte nur noch die Lösung für dieses Problem.

»Sie können in den nächsten Jahren nichts zum Lebensunterhalt Ihrer Familie beitragen«, stellte er fest. »Und Sie können von Ihrer jetzigen Position aus auch das Ansehen Ihrer Frau nicht wiederherstellen. Es sei denn, Sie gehen auf unser Angebot ein. Dann erhalten Sie einen wirklich guten Sold, mehr als Sie vorher im Hospital verdient haben. Ihre Familie wird sich in einer anderen Stadt niederlassen können, als Offiziersgattin wäre Madame Laurent eine geachtete Person. Wir garantieren eine großzügige Versorgung auf zehn Jahre, wenn Sie uns mindestens vier Jahre in den Kolonien dienen. Im Anschluss finden wir neue Einsatzmöglichkeiten für Sie.« Er fügte an dieser Stelle ein kurzes Lächeln ein. »Sie werden nach den ersten vier Jahren sicher öfter mal zu Hause sein.«

»Wenn ich dann noch lebe«, ergänzte der Gefangene, der jetzt immerhin emotional in das Gespräch eingebunden war. Die gelangweilte Distanz hatte Blacardin erfolgreich zerschlagen.

»Ja, das ist ein gutes Thema«, stimmte der Offizier ein. »Wenn Sie dienstunfähig verwundet werden oder vor Ablauf der zehn Jahre sterben, ist für Ihre Familie weiter gesorgt. Bis zum offiziellen Dienstende. Das heißt, Ihre Frau und Ihre Kinder sind für eine Dekade abgesichert.« Er hielt inne und fügte dann betont an: »Natürlich nur, falls Sie uns nicht stiften gehen oder sich sonstige schwere Verfehlungen leisten.«

»Ich bin gut in schweren Verfehlungen«, gab der Mann fast schon trotzig zurück. »Das wird für beide Seiten eine Lotterie, wahrscheinlich ohne Hauptgewinn.«

Blacardin wischte diese Bemerkung mit einer Geste fort. »Wir schätzen Ihren Nutzen höher ein als die Gefahr. Wir brauchen dort unten jemanden, der außerhalb geschlossener Bahnen denkt – und dass Sie das können, haben Sie gründlich bewiesen.«

Er brauchte keine besonders gute Beobachtungsgabe, um zu bemerken, dass auch dieser Pfeil saß. Seine außerordentliche Experimentierfreudigkeit hatte diesen Arzt ins Gefängnis gebracht, darum war die Herausforderung wie für ihn wie geschaffen. Nur wollte sein Gesprächspartner sich nicht so schnell geschlagen geben, obwohl es deutlich in ihm arbeitete.

Er gab stur zur Antwort: »Afrika ist nicht Frankreich. Ich will mich nicht an Ihrem Unrecht beteiligen.«

Auf diese Diskussion wollte Blacardin sich nicht einlassen. Er wusste aus Erfahrung, dass er den Mann längst im Netz hatte. Die Druckmöglichkeiten waren in diesem Fall einfach zu effektiv, als dass sich sein Gegenüber mehr als ein hilfloses Zappeln erlauben konnte. Andere Ärzte, die nicht so weit oben auf seiner Liste standen, stellten aufgrund ihrer bedeutend besseren Verhandlungsposition viel schwierigere Brocken dar. Im Gegensatz dazu hatte Blacardin sogar einen zweiten jungen Doktor mit an Bord, wenn dieser Dominostein hier nun fiel.

»Afrika ist Ihre einzige Chance, zu entkommen«, sagte der Offizier. »Alles andere können Sie nicht beeinflussen. Sie haben es aber in der Hand, Ihren Landsleuten dort drüben das harte Leben zu erleichtern.«

Doktor Laurent erwiderte nichts, sondern er senkte den Blick und schaute auf seine gebundenen Hände im Schoß. Auch Blacardin entschloss sich, zu schweigen. Im Grunde war hiermit vorerst alles gesagt.

Es dauerte ein paar Minuten, bis der Gefangene wieder den Blickkontakt suchte. »Ich bin in keinem guten Zustand«, sagte er. »Ich brauche dringend eine Pause.«

Darauf hatte Blacardin eine geschäftsmäßige Antwort. »Sie erhalten eine ärztliche Untersuchung und die Erholungszeit, die nötig ist. Erst dann folgt eine mehrmonatige Intensivausbildung, damit Sie sich im Ernstfall verteidigen können, und danach die Verschiffung nach Algerien. Sie haben Gelegenheit, sich vor der Abreise von Ihrer Familie zu verabschieden.«

»Nehmen Sie das nicht als Zusage«, stellte sein Gesprächspartner klar. »Ich werde es mir überlegen.«

Der Offizier nickte. »Sie haben bis morgen Zeit, dann komme ich zurück und nehme Sie entweder mit – oder Sie wandern wieder in Ihre Einzelzelle und schlagen sich weiter mit diesen Ketten rum.«

In der Miene des Häftlings erkannte Blacardin Verwunderung darüber, dass die Entlassung so zügig vonstattengehen konnte. Der General wollte diesen Doktor dringend haben, und das schlug sich automatisch auf die Geschwindigkeit nieder. Der junge Mann war ein höchst ungewöhnlicher Kerl, er hatte den größten Teil seines Lebens in einem Hospital verbracht, nicht als Patient, sondern im Schlepptau des leitenden Arztes. Man sagte, er habe ein unerklärlich feines Gespür für das Richtige – und dazu eine glückliche Hand.

Blacardin rief die Wärter herbei, das Gespräch war deutlich unter der 20-Minuten-Marke geblieben. Der Häftling stand erst auf, als die beiden Männer ihn wieder flankierten. Wahrscheinlich durfte er sich sonst nicht vom Platz bewegen. Diese Behandlung schnürte dem jungen Arzt gewiss die Luft zum Atmen ab, ganz zu schweigen davon, dass er ohne Frage auch körperliche Züchtigung erlebte.

Doktor Laurent hatte sich im Gefängnis durch sein Verhalten keine Freunde gemacht und er würde auch beim Militär eine harte Nuss bleiben. Doch sie hatten genügend Druckmittel gegen diesen Mann zur Hand, damit die neu gewonnene Freiheit nicht ausartete.

Adrien Laurent

Zurück in der Zelle blieb Adrien mitten im Raum stehen und regte sich nicht, während einer der Wärter ihn nach versteckten Gegenständen abtastete. Der andere hielt dabei die Waffe auf ihn gerichtet: ein Vorgehen, das nach den letzten Vorkommnissen zur Normalität geworden war. Einige Stellen an seinem geschundenen Oberkörper reagierten empfindlich auf die Berührungen, doch es war besser, keinen Laut von sich zu geben und den Schmerz zu ignorieren.

Im Anschluss an die gründliche Untersuchung löste der Mann seine Handschellen von dem Metallring an der Taille. Sofort legte Adrien die noch immer aneinandergefesselten Hände auf den Kopf, wie man es von ihm verlangte. Er kam sich dabei schon vor wie ein dressierter Hund. Die Fußfesseln nahm der Wärter ganz ab, dann zogen sich seine Bewacher ohne ein Wort zu sagen zurück.

Adrien hatte nie stillere Zeiten erlebt. Seine dritte Einzelhaft war die längste von allen, sie dauerte nun schon vier Wochen. Er hatte jeden Tag und jede Nacht davon in diesem engen Raum verbraucht. Es gab eine Matratze, ein verdammtes Loch im Boden, das einen Abort darstellen sollte, und eine Wasserschüssel zum Waschen, die einmal in der Woche neu befüllt wurde. Ein kleines Gitterfenster ließ ihm immerhin die Möglichkeit, Tageslicht zu erhaschen und ein bisschen nach draußen zu schauen. Allerdings gab es nicht viel mehr zu sehen als eine graue Mauer und etwas Himmel.

Seiner Bitte um ein Buch wurde nicht entsprochen und auch Schreibmaterial enthielt man ihm vor. Es gab nichts, womit er sich beschäftigen konnte. Er war mittlerweile dazu übergangen, einen Teil der Zeit mit Selbstgesprächen zu füllen, um nicht wahnsinnig zu werden. Doch das gefiel dem Mann nicht, der auf dem Flur Wache ging – Adrien stand mit ihm auch so schon nicht auf gutem Fuß. Nach einigen Ermahnungen, still zu sein, gab es regelmäßig Prügel: auch ein Symptom seines neuen Alltags.

Seine Gegenwehr fiel verhalten aus, weil er sich nicht noch härtere Strafen einhandeln wollte. Hier allein gegen die Stille und die Bösartigkeit eines Sadisten kämpfen zu müssen, genügte ihm vollauf.

Doch schon morgen konnte die Welt für ihn ganz anders aussehen, ohne Arrest und ohne Fesseln. Wenn er sich entschied, zu gehen, dann sprach nichts dagegen, hier und jetzt einen würdigen Abschiedsgruß zu hinterlassen.

Adrien schaute hinunter auf seinen Hosenknopf, den einzig verfügbaren, festen Gegenstand, den er in die Hand nehmen konnte. Er hatte mehr als genug Zeit, sich mit dem Rücken zur Tür auf die Matratze zu setzen und den Knopf abzulösen. Danach musste er die Hose irgendwie mit Hilfe des gelösten Nähgarns und einiger aus dem Stoff gezupfter Fäden zusammenzuflicken, sodass sie oben blieb. Im Knoten war er geübt, das war Teil seines Handwerks.

An dieser kleinen Geschicklichkeitsarbeit würden ihn nicht einmal die Handschellen hindern, und danach musste er nur noch auf die Abenddämmerung warten, um möglichst viel Schatten im Raum zu haben. Es durfte nur nicht zu spät werden, denn wenn es dunkel wurde, trat irgendwann die Nachtschicht an und sein spezieller Freund legte sich zur wohlverdienten Ruhe.

Die Fummelei ging ihm gut von der Hand, und während er noch damit beschäftigt war, wurde ihm schmerzhaft bewusst, wie sehr er sich nach einer richtigen Aufgabe sehnte. Das Militär war ihm zuwider, ebenso wie die Besatzungspolitik seines Landes. Doch in den Kolonien gab es immerhin etwas für ihn zu tun. Er schaffte es schon jetzt nicht mehr, hier herumzusitzen, ohne sich Dummheiten auszudenken. Und wenn seine Gedanken dann noch zu Céline und den Kindern wanderten, dann konnte er womöglich auch gleich irrewerden, trotz aller Selbstgespräche.

Nachdem er mit seiner Arbeit fertig war, blieb er eine ganze Weile sitzen und starrte aus dem Fenster, das sich ein Stück weit über seinem Kopf befand. Wolkenschatten bewegten sich über das Gemäuer, mehr Bewegung gab es dort draußen nie zu sehen. Allmählich wurde der Tag grauer, der Himmel zog sich zu, der Abschied der Sonne geriet zum tristen Schattenspiel.

Adrien entschied sich spontan für den Dichter Coppée und begann seinen geplanten Monolog, laut genug, damit die Worte durch das vergitterte Türfenster weit in den Gang drangen.

Ich sprach zur Taube: Flieg’ und bring im Schnabel

Das Kraut mir heim, das Liebesmacht verleiht;

Am Ganges blüht’s, im alten Land der Fabel.

Die Taube sprach: Es ist zu weit.

Ich sprach zum Adler: Spanne dein Gefieder,

Und für das Herz, das kalt sich mir entzog,

Hol einen Funken mir vom Himmel nieder …«

Ein kräftiges Klopfen an der Tür: »He, Adrien, hast du noch nicht genug? Du sollst dein Maul halten!«

»Der Adler sprach: Es ist zu hoch.

Da sprach zum Geier ich: Reiß aus dem Herzen

Den Namen mir, der drin gegraben steht,

Vergessen will ich lernen und verschmerzen.

Der Geier sprach: Es ist zu spät.«

»Was soll das dumme Zeug? Du weißt doch, dass dir das Theater nicht gut tut.«

»Ich sag’s dir nochmal, wie immer«, gab Adrien zurück. »Ich kann nicht anders.«

»Ich kann gleich auch nicht mehr anders«, war die böse Antwort.

»Sag mir etwas, das du lieber magst als Coppée. Gib mir eine Chance.« Natürlich kannte dieser Schwachkopf dort draußen weder diesen noch einen anderen Dichter.

»Halt einfach den Mund.«

Adrien streckte die Beine auf der Matratze aus, senkte den Kopf, schloss die Augen. Dann begann er mit dem nächsten Gedicht.

»Du armer Verbannter, du hofftest einst,

Wie die Zukunft dir sollte sein,

Als noch ihre Hand in der deinen lang

Wie ein Vogel zitternd und klein,

Als deine ganze Seele erfüllt

Von dem Feuer so wonniger Art …«

»Diesmal hole ich den Stock. Du merkst es dir sonst nicht.«

»Dein Herz nur umschlossen ihr liebliches Bild

Wie eine Blume so zart!

Nun ist sie dir ferne und alles liegt

Im Grau dir, was einstmals so hell!

Du weißt, dass treues Erinnern verfliegt

Wie ein Vogel leicht und so schnell.«

Adrien stockte. Die Worte wühlten vieles in ihm auf, das er zu begraben versucht hatte. Aber nun war er schon so weit gekommen, da konnte er das Gedicht auch bis zum Ende sprechen. Seine Stimme war dabei nicht mehr halb so fest wie vorher, aber er schaffte es bis zum letzten Wort.

»Schon schlägt des Zweifels Flügel dein Herz,

Haucht Ruhe und Glauben fort;

Die Liebe stirbt in der Trennung Schmerz,

Wie eine Blume verdorrt.«

Danach wurde es sehr still, während die letzte Strophe wie ein Hall durch seine Seele zog. Nach einigen Sekunden wurde ihm bewusst, dass er weiter reden musste, um nicht womöglich den Wachmann zu vergraulen. Also begann er einen Monolog über die chirurgische Wunddesinfektion mit Karbolsäure, den er bewusst sachlich hielt, um sich nicht weiter emotional zu verstricken.

Die Tür flog auf und Adrien warf einen Blick über die Schulter, um gleich darauf in ein grimmiges Gesicht zu sehen. Er kannte nicht einmal den Namen dieses Mannes, der ihn schon viermal auf ungemütliche Weise besucht hatte. Es lohnte sich wahrscheinlich nicht, danach zu fragen.

»Was sollst du tun, wenn jemand den Raum betritt?«, bellte der Wärter. Er hielt wie versprochen einen Stock in der Hand, der ziemlich stabil aussah. Adrien stand auf, stellte sich neben das Bett und legte seine gefesselten Hände auf den Kopf. Dabei hielt er die Rechte mit dem Knopf darin zur Faust geballt.

Dem Mann, der ihm in dem kleinen Raum nah gegenüberstand, entging dieses Detail nicht. Die Wärter waren aus Erfahrung darauf fixiert, nach seinen Händen zu schauen und ihn immer wieder nach Gegenständen zu durchsuchen.

Der Mann drohte mit dem Stock. »Was hast du da?«, wollte er wissen. Und dann, im knappen Befehlston. »Die Arme nach vorn und die Hände auf!«

Adrien gehorchte nicht. »Ich habe einen Krampf«, sagte er. »Ich kriege die Hand nicht auf.«

Die Miene vor ihm verzerrte sich, der Mann hob den Knüppel. »Red nicht so einen Mist! Mach die Hand auf und zeig her, sonst kriegst du das Ding hier an den Kopf.«

Einen einzigen Faustschlag hatte Adrien bislang ins Gesicht erhalten, die Schläge konzentrierten sich sonst auf Rücken, Oberkörper und Beine – und das immer mit den blanken Fäusten, nicht mit dem Stock. Hier drin schien es verpönt, Insassen gegen den Schädel zu schlagen oder mit harten Gegenständen zu verprügeln, wahrscheinlich, um möglichst keine Toten zu produzieren. Aber würde dieser Wärter sich dauerhaft an die Regeln halten? Einmal hatte er sie bereits gebrochen, und mit diesem harten Knüppel konnte er Adrien diesmal den Schädel brechen.

Er beschloss, es nicht darauf ankommen zu lassen und deshalb nicht zu lange zu zögern. Er hob mit Schwung die Hände vom Kopf, streckte sie aus und öffnete gleichzeitig die Faust, sodass der Knopf nach hinten geschleudert wurde, dort irgendwo im Schatten auf den Boden prallte und hörbar davonrollte.

»Scheiße, was ist das?«, fragte der Wärter gehörig erschreckt. Er wusste sehr genau, mit welcher Art von Dingen Adrien hier im Haus erwischt worden war. Und auch, dass ein übergriffiger Mithäftling bereits deutliche Reue spürte.

Die Augen des Mannes tasteten einen Moment lang die Dunkelheit hinter Adrien ab, und genau diese kurze Ablenkung hatte Adrien gebraucht. Mit nur einem Schritt war er bei dem Wärter, umgriff dessen Nacken mit vier Fingern und rammte die Daumen beidseitig gegen die Halsschlagadern. Die sensiblen Stellen fand er blind, und er wusste auch, welche Kraft es brauchte, den Blutstrom abrupt zu stoppen. Die Kette der Handschellen spannte sich zwar vor dem Hals des Mannes, übte aber keinen Druck aus.

Der Wärter hatte nicht einmal Zeit, zu realisieren, was passierte. Er trat sofort weg, der Stock fiel ihm aus der Hand und Adrien hielt von einer Sekunde zur nächsten sein ganzes Gewicht in den Händen. Die nächsten Augenblicke waren schwierig, denn Adrien durfte die Adern nicht zu lange blockieren. Und er wollte den Wärter, der schlaff in seinem Klammergriff hing, auch nicht fallenlassen, obwohl ihm jetzt schon die Arme zitterten.

Seine Gesundheit war angeschlagen von der Einzelhaft, den Schlägen und der reduzierten Bewegung. Angewidert dachte er ausgerechnet in diesem Augenblick auch an das mehr als schlechte Essen.

Er musste sich arg zusammenreißen, um jetzt nicht zu patzen. Er legte den Mann vorsichtig am Boden, ab, zählte dabei die Sekunden und zog so schnell es ging die Daumen wieder fort. Danach hatte er nicht einmal Zeit zum Durchatmen. Er durchwühlte mit flinken Fingern die Taschen des Wärters, fand zwei Schlüssel und verließ die Zelle, während er den Erwachenden schon hinter sich nach Luft schnappen hörte.

Die Tür war zugefallen, doch unverschlossen. Adrien befand sich im nächsten Augenblick auf dem Flur. Er sperrte von außen das Schloss zu und hatte den Wärter damit festgesetzt. Dann hielt er Ausschau nach Jacques Zelle: Jacques war seines Wissens der einzige andere Insasse in Einzelhaft, zu seiner Tür musste der zweite Schlüssel gehören. Hinter einem der vergitterten Fenster entdeckte er das bekannte Gesicht und schloss die Zelle zügig auf. Der Häftling dort drinnen bedachte ihn mit dem gewohnt dümmlichen Blick. Er musste sich nicht dauerhaft mit Handschellen herumplagen, die waren Adrien vorbehalten.

»Was machst du denn hier, Doktor?«

»Willst du raus?«, fragte Adrien zurück und postierte sich mit einem Lächeln im Türrahmen.

Der Mann nickte heftig. »Aber klar.«

»Bitte, da draußen ist niemand«, sagte Adrien und wies auf den Gang.

Jacques zeigte ein breites Grinsen, pirschte sich zur Tür und Adrien machte ihm Platz, indem er in die Zelle trat. Der andere Häftling stutzte. »Willst du nicht mit?«

»Ich bin nur scharf auf deine schöne Zelle, Jacques. Viel Glück.«

Kopfschüttelnd verließ der Kerl den Raum: Seine Zelle war genauso ungemütlich wie jede andere Einzelzelle auch. Adrien schlug von innen die Tür zu, schloss ab und warf beide Schlüssel durch das Gitterfenster hinaus auf den Flur. Dann machte er es sich auf Jacques stinkender Matratze bequem, während er auf die Geräusche dort draußen lauschte.

Jacques war leider zu dumm, zu wissen, dass er hier nicht einfach rausspazieren konnte, nur, weil die Zelle offenstand und sich kein Wärter auf dem Gang aufhielt. Aber für ein bisschen Aufruhr würde er schon sorgen, zumindest konnte er ganz gut zuschlagen und gab erst auf, wenn er k.o. ging.

Doch bevor der Flüchtende für hörbares Chaos sorgte, erklang ein furchtbares Geschrei aus Adriens Zelle. Er vernahm wilde Flüche und Verwünschungen und lächelte still in sich hinein.

Im nächsten Moment brach auf der anderen Seite der erwartete Lärm los, Männerstimmen schrien, irgendetwas schepperte laut zu Boden, dann läutete die Alarmglocke auf dem Hauptgang. Das Theater hielt eine ganze Weile an, sowohl hüben als auch drüben. Als an Jacques Front die Wellen abebbten, kam der eingesperrte Wärter nebenan erst richtig in Fahrt. Seine Kollegen, die jetzt mit dem Entflohenen im Schlepptau den Einzelzellentrakt betraten, kapierten, dass hier noch einiges mehr nicht stimmte. Es begann eine interessante Diskussion mit wirren Mutmaßungen, die auch Adriens Namen enthielt.

»Was zum Teufel stimmt hier nicht? Romain, wo steckst du?«

»Adrien hat mich eingesperrt! Ich stecke in seiner Zelle.«

»Der Doktor? Der ist auch raus?«

»Wieso? Habt ihr ihn nicht geschnappt?«

»Wir haben Jacques! Wo ist der Doktor?«

»Lasst mich hier raus! Wenn ich den Irren erwische …«

»Romain, er hat die Schlüssel mitgenommen, hier ist alles zu.«

Der Prügler hieß also Romain, stellte Adrien fest.

»Ist der Doktor an uns vorbeigelaufen, während wir mit Jacques beschäftigt waren? Wie kommen die beiden überhaupt hier raus?«

»Jacques war nur seine Ablenkung, um selbst hier rauszukommen!«

»Verdammt, holt mich hier raus! Ich krieg den Kerl schon, und dann …«

»Jérôme, lauf los, schlag nochmal Alarm! Der Doktor ist noch unterwegs, wer weiß, was er wieder anstellt …«

Kam wirklich niemand auf die Idee, durch das Fenster in Jacques Zelle zu schauen?

Schnelle Schritte, eine Tür und noch einmal der Alarm, anhaltender als zuvor. Adrien konnte aufgrund des Lärms kein Wort mehr verstehen, doch schlussendlich musste jemand die Schlüssel auf dem Boden gefunden haben, denn seine Zellentür ging auf und einer der Wärter schaute herein. Adrien kannte den Mann als gutmütig und recht schlau, doch diese Situation überraschte ihn sichtlich.

»Was zum …!«, entfuhr es dem Wachmann.

Adrien stand auf und legte die Hände auf den Kopf. Er ließ sich nicht anmerken, dass irgendetwas ungewöhnlich war.

Der Wärter wollte misstrauisch wissen: »Ist das eine Art Spiel?«

»Was?«, fragte Adrien verständnislos zurück.

Ein weiterer Mann kam herein, gefror kurz zur Salzsäule und zog dann seine Waffe.

Der erste Wärter brüllte nach draußen: »Alarm aus! Der Doktor ist hier!« Ob ihn bei diesem Lärm jemand hörte, war schleierhaft. Und dann, an Adrien gewandt: »Bleib besser genau so stehen und rühr dich nicht. Ich komme jetzt zu dir und befestige deine Hände. Dann müssen wir reden.«

Es waren nur zwei kurze Schritte bis zu ihm, dann wies der Mann Adrien an, die Hände langsam runterzunehmen und schon waren die Handschellen wieder am Gürtel befestigt. »Jetzt runter auf den Boden, hinsetzen und sitzenbleiben. Dann erzählst du mir, was hier los ist.«

Dort draußen war der Lärm noch nicht verebbt. Der Mann mit der Waffe brüllte mehrmals zur Tür hinaus, dass sie den Doktor hatten, doch es dauerte eine Weile, bis die Botschaft ankam und endlich Ruhe einkehrte. Adrien setzte sich wie befohlen auf den Boden, der Wärter blieb neben ihm stehen.

Allmählich kehrte Ruhe ein, die Entwarnung war endlich durchgedrungen. Verschiedene Leute schauten kurz zur Zelle hinein, versicherten sich, dass alles in Ordnung war. Adriens Wächter warf einem von ihnen den Schlüssel für die andere Zelle zu und bat darum, den eingesperrten Kollegen freizulassen. An der Tür stand weiterhin der Wärter mit der gezogenen Waffe.

»Was soll dieses Verwirrspiel?«, fragte ihn der Mann, dessen schmutzige Schuhe nun in Adriens Blickfeld gerieten.

Adrien wollte nicht zu ihm hochblicken wie ein Untergebener, darum hielt er den Kopf gesenkt. »Ich habe nichts getan«, sagte er.

»Nein, du bist durch Zauberei hier hineingeraten, oder? Und hast nichts davon bemerkt.«

»Ich habe nichts getan«, betonte Adrien abermals.

»Mach es mir nicht so schwer, wir kennen uns doch inzwischen.«

Darauf antwortete Adrien nichts mehr. Auch wenn dieser Mann sich ihm gegenüber nie unfair verhalten hatte, lag keine Vertrauensbasis vor.

»Du hast einen Gefangenen freigelassen und einen Kollegen eingesperrt. Du bist uns eine Erklärung schuldig«, ließ der Wärter nicht locker.

Er war ihnen gar nichts schuldig, wieso auch?

»Ich will dazu nichts sagen.«

»Das ist sehr unklug, denn wir müssen das aufklären, und wenn du nicht mit uns redest, müssen wir dich zwingen. Dazu habe ich aber keine Lust.«

Adrien erwiderte wieder nichts, der Wärter gab ein Seufzen von sich. »Sind das Machtspiele?«, wollte er wissen. »Um andere Leute dumm aussehen zu lassen? Lohnt sich das? Für immer mehr Strafen und Beschränkungen?«

»Ich gehe morgen«, sagte Adrien.

»Wohin?«

»Hier raus. Ihr habt nur noch ein paar Stunden, um euch zu rächen.«

Gerade in diesem Moment betrat jemand Neues den Raum und ein kurzer Blick nach oben bestätigte Adrien, dass nun Romain aus der Nachbarzelle eingetroffen war. Das unvermeidliche Thema Rache rückte damit ein ganzes Stück näher.

Die Antwort seines jetzigen Gesprächspartners ging aber in eine andere Richtung. »Hier geht es nicht um Rache, sondern darum, wie wir friedlich miteinander zurechtkommen. Dafür müssen wir diese Auswüchse in den Griff kriegen.«

Romains Gesichtsausdruck zeigte jedoch genau das Gegenteil. Der Prügler riss sich aber vorerst noch zusammen, brüllte nicht sofort los. Er trat neben seinen Kollegen, sodass Adrien nun noch ein weiteres Paar unsauberer Schuhe vor sich hatte.

»Er hat mir die Luft abgedrückt, als ich bei ihm nach dem Rechten sehen wollte«, hörte Adrien Romains mühsam in Zaum gehaltene Stimme. »Danach hat er mich in die Zelle eingeschlossen.«

Ja, du hast Luft in den Adern, dachte Adrien. Das hat ganz sicher Auswirkungen auf dein Gehirn.

»Geht es dir gut?«, fragte der Kollege.

»Alles in Ordnung so weit. Ich möchte das mit ihm klären.«

»Sollten wir nicht lieber den Direktor …«

»Später. Kein Häftling darf unsere Autorität so untergraben, das müssen wir sicherstellen.«

Adrien konnte sich eine Bemerkung nicht verkneifen: »Dann benimm dich wie ein Mensch, du Affe.«

»Siehst du, was ich meine?«, fragte Romain seinen Kollegen mit nun unverhohlener Wut. »Er kennt keinen Respekt.«

»Für Schläge gibt es keinen Respekt«, gab Adrien abermals zurück, noch immer mit gesenktem Kopf.

»Ich lege dir jetzt die Fußfesseln an und dann führen wir eine intensive Unterhaltung«, sagte Romain und aus seiner Stimme war deutlich herauszuhören, wie wenig es ihm ums Reden ging. Der andere Mann brachte keinen Einwand mehr.

»Mach, wie du willst. Aber er muss hinterher noch zum Direktor, also halt dich im Zaum.«

Romain holte die Kette hervor, die er schon bei der vorherigen Konfrontation am Gürtel hängen hatte. Daneben hatte er den Schlagstock angebracht, der jetzt noch lose herunterbaumelte. Adrien beobachtete still, wie der Mann sich niederkniete, um seine Fußgelenke zu fixieren. Der Wärter stellte die Fessel so eng, dass Adrien damit nicht laufen konnte. Er wollte ganz offensichtlich ein möglichst wehrloses Opfer.

Als Romain mit seiner Arbeit fertig war, griff er Adrien am Arm und zog ihn hoch. »Es dauert nicht lange«, sagte er zu seinen beiden Kollegen. »Dann könnt ihr ihn mitnehmen.«

Mit Adrien sprach der Mann kein Wort mehr, die intensive Unterhaltung sollte allein der Knüppel führen. Adrien war darauf vorbereitet, dass es wehtun würde, mehr als sonst. Angst zeigen wollte er jedoch um keinen Preis, auch wenn sein Herz nun deutlich schneller schlug und er sich wünschte, das Schlimmste sei bereits vorüber. Er stand aufrecht und sah dem Mann stur entgegen, der nun den Stock von seinem Gürtel löste und diesen anhob. Romains Miene zeigte deutliche Vorfreude, jetzt würde er es sehr viel leichter haben.

»Nicht an den Kopf«, warnte ihn sein Kollege aus dem Hintergrund. »Drei, vier Schläge sollten reichen.«

Der Mann ließ ein hässliches Lächeln sehen. »Ja, das sollten sie.«

Dann holte er aus und schlug zu, die Wucht seines Zorns im Nacken.

Adrien erkannte zu spät, wohin der Schlag ging, er versuchte noch, sich zu krümmen, die Hände zu schützen, aber seine Reaktion kam zu spät. Der Stock krachte gegen die Finger seiner rechten Hand, mit einem bösen, dumpfen Geräusch. Die Knochen wurden regelrecht zwischen dem Metallgürtel und dem harten Knüppel zermalmt. Im ersten Moment spürte er keinen Schmerz, doch dann raste die Pein durch seine Nervenbahnen und er ahnte, dass dieser Mann ihm mit einem einzigen Schlag mehrere Fingerknochen gebrochen hatte.

Adrien beugte sich vornüber und ging gleichzeitig in die Hocke, um seine Hände zu verbergen, damit sie kein weiterer Hieb treffen konnte. Der Wärter schlug aber nicht mehr zu, sondern trat kräftig nach ihm und traf sein Knie. Adrien fiel auf den Rücken und rollte sich auf dem Boden zusammen, mit dem Gedanken allein bei seinen Händen, die so wertvoll für ihn waren.

Der Mann beugte sich nun über ihn und zeigte ihm ein weiteres böses Grinsen.

»Vielleicht reicht auch ein einziger Schlag«, sagte er. »Aber weine nicht, deine Karriere ist sowieso versaut.«

Adrien konnte nichts erwidern, ihm waren alle Worte geraubt.

Der Kollege meldete sich von hinten mit deutlichem Vorwurf in der Stimme. »Das hätte es nicht gebraucht.«

»Doch, das hat es«, gab Romain angriffslustig zurück. »Um seine Arroganz zu stoppen.« Er stieß Adrien mit dem Fuß an. »Wahrscheinlich bist du jetzt ein Krüppel, Herr Doktor.«

In Adriens rechter Hand tobte ein Feuerwerk. Er spürte, wie das Blut in ihr pochte und die Haut sich spannte. Doch er schaute sich die Verletzung nicht an, zu groß war die Angst vor dem, was er sehen würde. Er rollte sich sogar noch mehr zusammen, verkrampfte sich regelrecht und vergrub das Gesicht zwischen Knie und Brust.

Schritte näherten sich, jemand hockte sich neben ihn.

»Adrien«, hörte er die Stimme des anderen Wärters. »Ich hole dir den Arzt. Du bekommst gleich Hilfe.«

»Ja, sicher«, meldete sich Romain. »Unser Arzt hat doch auch schon die Nase voll von ihm. Er darf die Krankenstation nicht mal mehr betreten, selbst wenn er kurz vorm Sterben ist.«

Ja, er hatte es sich mit dem Gefängnisarzt gründlich verdorben. Aber der konnte seine Finger ohnehin nicht wieder zusammenflicken, selbst wenn er wollte. Und sogar das grundsätzliche Wollen stand infrage.

Er blieb zusammengerollt liegen, sagte kein Wort, schloss sogar noch die Augen und hoffte, dass dies hier ein Alptraum war. Die Tür nach draußen hatte sich ganz kurz einen Spalt breit geöffnet, aber jetzt schien sie für alle Zeiten verschlossen.

Colonel Blacardin

Der Anblick war ein unvermuteter Schock.

Die rechte Hand des jungen Chirurgen war vollständig geschwollen, rot und blau verfärbt, die Finger gekrümmt. Doktor Laurent schaute selbst nicht auf die Hand, die er erst nach mehrfacher Aufforderung durch den Gefängnisdirektor vor sich auf den Tisch gelegt hatte. Er blickte auf seinen Schoß und schwieg. Bis jetzt hatte er noch kein einziges Wort gesprochen, nicht einmal zur Begrüßung.

Blacardin richtete die Augen auf den Gefängnisarzt, der ebenfalls mit am Tisch saß. Es handelte sich um einen älteren Herrn namens Doktor Martin, der sichtlich keine Sympathien für Adrien Laurent hegte.

»Wie sieht Ihre Prognose aus, Doktor?«

»Ich habe keine«, gab der Arzt zu. »Die Hand ist zu stark geschwollen, um sie zu untersuchen. Ich schätze, dass Mittel- und Zeigefinger gebrochen sind, vielleicht auch weitere Knochen. Im schlimmsten Fall sind es Trümmerbrüche, die Art der Gewalteinwirkung spricht jedenfalls dafür. Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass er eine Behinderung zurückbehält.«

Blacardins Blick wanderte weiter zum Direktor, einem bärtigen Mann in mittleren Jahren. »Wer macht so etwas bei Ihnen?«, fragte er ihn. »Und aus welchem Grund?«

Der Direktor hob kurz abwehrend die Hand. »Colonel, Sie haben die Akten gelesen. Dieser Häftling sorgt immer wieder für Ärger. Er hat in der Vergangenheit mehrmals die Krankenstation bestohlen, sich eine Waffe angeeignet, einen Mithäftling betäubt und zu Tode erschreckt. Gestern verhalf er einem Gewalttäter fast zum Ausbruch und sperrte einen unserer Wärter ein. Im Verlauf ist es zu einem Handgemenge gekommen, daraus resultiert die Verletzung.«

Blacardin wandte sich an Adrien Laurent, der ihn weiterhin nicht ansah.

»Doktor Laurent, gibt es von Ihrer Seite überhaupt eine Bereitschaft für eine disziplinierte Zusammenarbeit? Sie können Ihre Zeit auch für immer im Gefängnis verbringen, ob hier oder später bei uns. Nachschlag ist jederzeit möglich, und Sie scheinen ja danach zu betteln.«

Die Antwort kam leise, deutlich demütiger als gestern.

»Wenn Sie mich noch wollen, Monsieur, dann werde ich für Sie mein Bestes geben.«

»Wir brauchen Ihren festen Willen und Ihre Funktionsfähigkeit«, entgegnete Blacardin. »An beidem bestehen Zweifel.«

Der junge Arzt schaute ihn noch immer nicht an. »Ich bin Beidhänder, Monsieur«, sagte er. »Vielleicht ist der Verlust nicht ganz so groß.«

Blacardin wandte sich wieder an den Direktor. »Stimmt das? Davon wusste ich nichts.«

»Ich auch nicht«, gab der Mann zu. »Aber ich kann bestätigen, dass er ungewöhnlich geschickt ist. Nur: Ein einhändiger Chirurg wird Ihnen trotzdem wenig nutzen.«

»Na,«, meinte Blacardin, »die Hand ist ja noch da. Jedenfalls sehe ich sie noch.« Er überlegte kurz. »Ich schlage einen Test vor, Doktor. Wenn mir Monsieur Directeur ein Kartenset, oder besser sogar zwei davon, besorgt, dann schauen wir, wie es um Ihre Funktionsfähigkeit steht.«

»Mh«, machte der Direktor und sah dabei skeptisch aus. »Im Gemeinschaftsraum könnte so etwas liegen.« Er wandte sich um und schickte einen Wärter los, nach Karten Ausschau zu halten.

Colonel Blacardin versuchte noch einmal, mit dem jungen Arzt ins Gespräch zu kommen. »Bis die Karten da sind, muss ich von Ihnen ein Versprechen haben, Doktor Laurent. Und dafür sollten Sie mir in die Augen sehen.«

»Was möchten Sie, Monsieur?«, fragte Doktor Laurent und regte sich nicht.

Den Offizier beschlich allmählich der Verdacht, dass dieses unterwürfige Verhalten und die Vermeidung des Blickkontakts nicht auf Freiwilligkeit beruhten. Er wandte sich deshalb nun doch wieder den anderen beiden Herren zu. »Ich möchte Sie beide bitten, uns allein zu lassen. Ich brauche ein Gespräch unter vier Augen. Lassen Sie mir die Karten reinreichen, sobald sie da sind.«

Der Direktor und der Gefängnisarzt nickten. Sie sahen wirklich nicht so aus, als gingen sie mit Bedauern; das schnelle Ende des Termins schien ihnen sogar sehr genehm. Die Verabschiedung fiel entsprechend knapp aus, dann war Blacardin mit seinem Gesprächspartner wieder allein.

Noch immer rührte der junge Mann sich nicht, seine verletzte Hand lag vor ihm auf dem Tisch, die andere Hand auf dem Schoß. Sie hatten ihn losgebunden, damit er die Verletzung zeigen konnte. Damit wirkte er ohnehin alles andere als kampfbereit.

»Sie sind bei unserem letzten Gespräch ganz anders aufgetreten«, begann Blacardin nun. »Provozierend, ablehnend, angriffslustig. Das passte viel besser zu Ihrem Charakter. Was ist nun los? Haben Sie mit Ihrer Hand auch Ihren Mut verloren?«

»Sie werden beide Hände noch schlimmer zurichten, Monsieur, wenn Sie mich nicht mitnehmen. Heute noch.«

Damit hatte Blacardin nicht gerechnet. »Sie haben gedroht, Sie zu verkrüppeln, verstehe ich das richtig?«

Doktor Laurent nickte mit weiterhin gesenktem Kopf.

»War das Doktor Martin?«

Noch ein Nicken. Die Frage nach der Rechtmäßigkeit solcher Maßnahmen stellte sich an dieser Stelle nicht, im Gefängnis passierten solche Dinge: Fluchtversuch, Prügelei … Es lohnte kaum, nachzufragen.

Auch beim Militär waren zumindest die Mannschaftsgrade nicht immer davor gefeit, außerhalb der Feindbegegnung und an jedem Gericht vorbei Schaden zu erleiden. So war der Lauf der Dinge.

»Es ist Ihnen sicher bewusst, dass ich Sie nicht aus Mitleid mitnehmen werde. Sie müssen mich überzeugen, dass Sie von Nutzen sind und dafür schauen Sie mir jetzt sofort in die Augen.«

Der junge Doktor hob langsam den Kopf und schaute ihn an. Er wirkte verunsichert, beinahe ängstlich. Diese Leute hatten ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt, und wahrscheinlich war genau das nötig, um diesen Kerl in Zaum zu halten. Blacardin entschied sich, auf dieselbe Karte zu setzen.

»So, jetzt geben Sie mir Ihr Wort, dass Sie bei uns diese Spiele lassen, und zwar für alle Zeiten. Sie werden gehorchen und den Ihnen zugewiesenen Dienst verrichten. Ansonsten liefere ich Sie genau bei diesem Gefängnis wieder ab und überlasse Sie Ihrem Schicksal.«

Doktor Laurent zögerte nur kurz. »Ich verspreche es, Monsieur.« Sein Blick blieb gerade, er versuchte nicht, auszuweichen. Der Mann schien es ehrlich zu meinen, auch wenn ihn das nicht für alle Zeiten vor dummen Gedanken schützte.

»Wie kommen Sie überhaupt auf so viel Blödsinn? Langeweile?«

Dieser Mann wirkte nicht bösartig, eher im Gegenteil. Und dass er eine hohe Intelligenz besaß, daran bestand kein Zweifel. Sich immer wieder selbst ins Aus zu befördern, konnte nur eine seltsame Allüre sein. Im schlimmsten Fall führte so etwas aber dummerweise schnell ins Grab.

Die Antwort kam etwas schwach. »Ich mag es nicht, wenn man mich schlecht behandelt.«

»Dann gewöhnen Sie sich ganz schnell daran«, gab Blacardin zurück. »Sonst …«. Es klopfte an der Tür und ein Wärter trat ein, der zwei Kartensets auf den Tisch legte. »Danke. – Sie können sich vorstellen, wie der Satz weitergeht, Doktor Laurent.«

Der Arzt nickte.

»Dann kommen wir jetzt zum zweiten Teil. Sie zeigen mir nun, was Sie können. Haben Sie schon einmal etwas von Kartenhäusern gehört?«

»Ich kenne das.«

»Schon eins gebaut?«

»Nein, Monsieur, das hat sich nicht ergeben.«

»Gut.« Blacardin schob ihm ein Set zu und zog das andere zu sich heran. »Ich baue jetzt ein Kleines, nur, um das Prinzip zu zeigen. Ich schätze, dass ich das ziemlich gut kann.«

Er lehnte zügig immer zwei Karten aufrecht gegeneinander und konnte kurz darauf schon die waagerechte Ebene auflegen. Das nächste Stockwerk wurde etwas kniffliger, aber auch dieses stand nach wenigen Sekunden. Blacardin hatte schon einige von diesen Häuschen gebaut und ihm ging kaum noch etwas schief.

Doktor Laurent sah schweigend zu und stellte keine Fragen. Der Offizier hatte bislang noch nie einen Kandidaten auf diese Weise gestestet, doch ungewöhnliche Situationen erforderten nun einmal ungewöhnliche Mittel.

Er riss sein Kartenhaus wieder ab und stapelte die Karten ordentlich aufeinander. Dann erklärte er: »Wir brauchen sieben Ständer in der unteren Etage, sechs darüber, dann fünf, dann vier. Bis alle Karten verbaut sind. Sie werden das nicht üben und allein Ihre linke Hand benutzen. Ich nutze beide Hände. Sind Sie schneller als ich, dann nehme ich Sie mit. Falls Sie patzen, bleiben Sie hier. Es gibt nur eine einzige Chance, keine Wiederholung.«

Blacardin wusste selbst, wie hart diese Regeln waren. Doch General Taubert erhoffte sich hier einen besonderen Fang, und wenn der Mann nur halbe Kraft brachte, dann war er das Risiko nicht wert. Ein notorischer Regelbrecher ohne speziellen Nutzen war im Knast deutlich besser aufgehoben, und wenn sie ihm dort alle Knochen brachen.

Der Offizier studierte die Miene seines Gegenübers, in der sich noch immer eine gewisse Angst spiegelte. Doch der junge Mann versuchte sichtlich, seine Emotionen im Zaum zu halten und sich auf die Herausforderung zu konzentrieren. Er schaute zu seinem Kartenstapel, zog die Augenbrauen zusammen und legte die linke Hand locker auf die Karten.

Blacardin beschloss, ihn noch einmal kurz abzulenken, um ihm eine ernsthafte Frage zu stellen.

»Sie haben vor einigen Wochen einem Wärter die Waffe gestohlen, aber niemanden bedroht. Was sollte das?«

Der Doktor schaute ihn kurz an. »Ich wollte wissen, ob ich sie kriegen kann.«

»Sie hätten sich den Weg freischießen können, hier raus.«

Adrien Laurent zeigte ein flüchtiges Lächeln. »Ich weiß gar nicht, wie das geht. Ich hatte nie vorher eine Pistole in der Hand.«

»Haben Sie es überhaupt nicht probiert?«

Er zuckte die Achseln. »Nein. Das wollte ich nicht.«

Blacardin deutete auf die Karten. »Lassen Sie die Karten liegen, wenn Sie ein Problem haben, auf Menschen zu schießen. Afrika ist kein Spielplatz. Dort können Sie mehr verlieren als nur Ihre Hände.«

Der Doktor sah wieder zu den Karten und hob zwei davon ab, mit einer fast flüchtigen Bewegung. Innerhalb eines Lidschlags klemmte eine zwischen Mittel- und Zeigefinger, die andere zwischen Mittel- und Ringfinger. »Fangen wir an, Monsieur?«, fragte er.

Blacardin nahm ebenfalls zwei Karten in die Hand. »Gut, also los.«

Der Offizier gab seinem Gegner keinen Vorsprung, sondern begann direkt mit dem Aufbau. Und es lief hervorragend, nichts wackelte oder fiel auseinander. Er merkte, dass es ihm nichts ausmachte, diese Runde zu gewinnen und den Mann hierzulassen. Er fand den Kerl sympathisch, vielleicht hatte er durchaus eine Chance verdient – aber ihn durch Mogelei zu retten, fiel ihm im Traum nicht ein.

Mit einem kurzen Blick stellte er fest, dass der Doktor ihm auf den Fersen war, und das nötigte ihm Respekt ab. Sechs stabile Stützen hatte sein Gegner mit der Linken errichtet, jetzt kam die Siebte. Blacardin machte sich aber schon an die nächste Ebene, und es sah nicht so aus, als könnte Doktor Laurent noch beschleunigen. Er handhabte die Karten zwar mit erstaunlichem Geschick, doch eine Hand blieb trotzdem nur eine einzige Hand.

Blacardin konzentrierte sich wieder auf seine Aufgabe, er kam weiterhin schnell voran. Als er die dritte Ebene erreichte, schaute er noch einmal auf und sah, dass sein Gegenüber überraschend doch noch aufgeholt hatte. Aber in diesem Moment verrutschte dem Doktor eine Karte um nur wenige Millimeter und die Stütze, die er gerade baute, stürzte ein, riss zwei weitere Stützen um und brachte das restliche Haus ins Wanken. Der junge Mann stieß die Luft durch die Nase, in seiner Miene spiegelte sich deutlich der Schock. Der Bau blieb stehen, doch jetzt war der Rückstand unaufholbar.

Das war es dann wohl, dachte Blacardin und wandte sich seinem eigenen fragilen Bauwerk zu, das kurz vor der Fertigstellung stand. »Es tut mir leid um Sie«, sagte er mit ehrlichem Bedauern und stellte mit Leichtigkeit eine neue Stütze auf.

Er merkte, dass der Doktor nicht aufgab, sondern weitermachte: Ein reiner Akt der Verzweiflung, hier gab es nichts mehr zu holen. Beinahe rechnete Blacardin damit, dass sein Gegner gegen den Tisch treten würde, im Versuch, sich womöglich noch zu retten. Doch das blieb aus, ein so niedriges Niveau schien nicht seine Sache, auch wenn für ihn sehr viel auf dem Spiel stand.

Blacardin hatte jetzt nur noch zwei Karten übrig, die er aneinanderlehnen musste. Er legte seine rechte Hand auf den Tisch und griff mit der Linken zu: Wie schwierig war es überhaupt, diesen kleinen Handgriff allein mit der schwachen Hand auszuführen? Er wollte es einmal versuchen, um ein Gefühl dafür zu bekommen.

Das erste Problem, das sich ihm stellte, war, die beiden Karten in der Hand voneinander zu trennen, denn sie wollten partout aufeinander kleben. Und dann musste er sie an den oberen Kanten wieder zusammenführen, während sie unten auseinanderbleiben sollten. Ohne Übung musste er erst ein System dafür finden, und das kostete wertvolle Zeit. Er brachte die beiden Karten zum Stehen, leider aber nicht stabil genug, sodass sie wieder wegrutschten. Sie fielen beide flach auf die oberste Ebene, schwer wieder aufzunehmen, ohne dabei womöglich Schaden anzurichten. Schnell und konzentriert griff er mit beiden Händen zu und richtete das kleine Kartendreieck wieder auf, ohne dass dabei etwas passierte.

Blacardin blickte nach vorn und war einen Moment lang perplex: Auch der Doktor wurde gerade fertig, er hatte den uneinholbaren Rückstand eingeholt – nur zwei Sekunden zu spät. Adrien Laurent schaute gleich darauf ebenfalls hoch und erkannte, dass seine Mühen knapp umsonst gewesen waren. Der Offizier las den Augenblick in seiner Miene ab, als die hoffnungsvolle Erwartung in Enttäuschung und dann in Angst umschlug.

»Wie haben Sie das gemacht?«, fragte Blacardin.

Sein Gegenüber senkte schnell wieder Kopf. »Es tut mir leid, Monsieur. Ich habe Ihre Erwartungen nicht erfüllt.«

»Genau«, bestätigte der Offizier und riss sein eigenes Kartenhaus wieder ein, um gleich darauf nach den Wärtern zu rufen. Obwohl es ihm leidtat, musste er zu seinem Wort stehen. »Sie können ihn wieder mitnehmen, ich brauche ihn nicht.«

Doktor Laurent verfiel wieder ins Schweigen. Er wartete an seinem Platz, bis die Wärter seine Hände fixiert hatten und bereit waren, ihn abzuführen. Trotz seiner misslichen Lage unternahm er keinen Versuch, Blacardin umzustimmen oder gar zu betteln.

Der Offizier wollte so schnell wie möglich hier raus, denn er spürte eine Regung, die ihm gar nicht gefiel. Seine feste Maxime war, zu seinem eigenen Wort zu stehen, und das sollte sich auch heute nicht ändern.

Adrien Laurent

Sie brachten ihn nicht zurück in die Zelle, sondern in einen anderen, ebenso kleinen Raum, den er noch nicht kannte. Das Zimmer war abgelegen und es gab hier nur einen Stuhl sowie einen schweren Eichentisch. Dort stellten sie die Fußfesseln eng, setzten ihn hin und hießen ihn, zu warten.

Nach kurzer Zeit kam der Gefängnisarzt Doktor Martin herein, gefolgt von zwei Wärtern. Einer von ihnen war Romain, der andere hieß Didier. Die drei zeigten entschlossene, fast grimmige Gesichter, während Adrien am liebsten davongelaufen wäre. Jetzt hatte ihn die Angst gepackt, und sie war nicht mehr abzuschütteln. Was ihn erwartete, schien ihm schlimmer als der Tod.

Sie sprachen nicht mit ihm.

Didier richtete eine Waffe auf Adrien, Doktor Martin löste die verletzte rechte Hand aus der Fessel und legte sie auf den Tisch. Adrien wollte sie am liebsten wieder fortnehmen, doch damit würde er den Lauf der Dinge nur verzögern und er wollte jetzt so schnell wie möglich hier durch.

Den Rest seines Lebens würde er als Invalide verbringen, nur, weil seine Gefühle ihm einen Streich gespielt hatten. Die Angst hatte ihm für einen kurzen Moment die Konzentration geraubt, ihn nervös werden lassen. Schon war es geschehen, sein Kartenhaus lag in Trümmern und mit ihm seine Zukunft.

Er schaute zu Didier, der seinen Blick fest erwiderte. Dieser Mann würde ihm nicht den Gefallen tun, ihn bei Gegenwehr zu erschießen. Er würde ihn zusätzlich verletzen, wahrscheinlich an der Schulter oder am Arm, denn diese Körperteile boten das beste Ziel. Und Doktor Martin würde ihn nicht wieder zusammenflicken, sondern ihn nur am Leben halten, sodass er im schlimmsten Fall mehr als nur die Hände verlor.

Romain hatte wieder seinen Schlagstock dabei, der Arzt trat zurück und überließ ihm das Feld.

»Zeig Mut«, sagte Romain. »Wenn du die Hand wegziehst, binden wir sie fest.« Tatsächlich waren in der Tischplatte Eisenhaken eingelassen.

»Tu’s einfach«, antwortete Adrien und versuchte dabei, gelassen zu wirken. Ob ihm das gelang, war zweifelhaft. Er fühlte sich wie auf seiner persönlichen Schlachtbank.

Doktor Martin stand am Rand und beobachtete die Szene, als sei es von Nutzen, hier einen Arzt dabei zu haben. Wahrscheinlich wollte der Mann sich nur daran ergötzen, den Widersacher leiden zu sehen, der ihn bestohlen und beleidigt hatte.

»Ich möchte dir vorher noch etwas sagen«, meinte Romain. »Du kommst hiernach nicht auf die Krankenstation. Die bleibt weiter für dich geschlossen, auch wenn du ohnehin nichts mehr klauen kannst. Deine Einzelzelle ist dein dauerhaftes Zuhause, dort solltest du endlich das Maul halten und gehorchen. Sonst haben wir noch mehr für dich auf Lager, weil der Herr Direktor nun auch keine Geduld mehr mit dir hat.«

»Du wirst nichts mehr von mir hören, Romain«, erwiderte Adrien. »Du hast mich besiegt, einen Mann in Fesseln. Herzlichen Glückwunsch.«

Romain störte sich nicht daran, er hob den Stock und schlug mit voller Kraft zu. Doch Adrien war nicht so abgebrüht, er zog die Hand fort, die mit bösen Schmerzen protestierte. Der Knüppel drosch auf die Tischplatte und hinterließ dort eine ansehnliche Delle.

»Verdammter Feigling!«, schimpfte Romain. Doch Adrien wusste: Dafür musste man nicht feige sein. Doktor Martin kam schon heran und gemeinsam ketteten sie beide Hände an den Tisch.

Jetzt war die Flucht vorbei.

Adrien beschloss, hinzusehen und nicht die Augen zu verschließen. Er wollte das Ende seines Lebens mitbekommen, das endgültige Ende aller Wünsche und Hoffnungen. Romain und Doktor Martin nickten sich zu, dann ging der Wärter wieder in Position. »Das war’s dann«, sagte Romain, holte aus und dann trat der Direktor in den Raum.

»Wie weit sind Sie?«, fuhr der Mann dazwischen. »Hören Sie auf!«

»Nicht weit genug«, war Romains Antwort und Adrien sah ihm deutlich an, wie sehr er diese Unterbrechung hasste.

»Doktor Laurent hat einen weiteren Termin«, sagte der Direktor und warf einen Blick auf Adriens Hände. In seiner Miene spiegelte sich Erleichterung, als er erkannte, dass noch kein Schlag gefallen war.

Adrien jedoch konnte keine Erleichterung spüren, ihm wurde plötzlich schwindelig und übel. Jetzt schloss er die Augen und versuchte, durchzuatmen, was ihm mehr schlecht als recht gelang. Er spürte, wie jemand die Fesseln wieder abnahm, aber rühren konnte er sich nicht. Erst musste er sich irgendwie wieder fassen.

»Hoch, Doktor«, befahl der Direktor. »Ihr Besuch wartet.«

»Ich brauche … einen Moment«, brachte Adrien heraus, bevor ihn eine Welle von Übelkeit überrollte. Seinen Mageninhalt hielt er nur noch mit Mühe unter Kontrolle und er bezweifelte, ob ihn die zittrigen Beine überhaupt tragen würden. Er wusste, dass er unter Schock stand, die emotionalen Turbulenzen forderten ihren Tribut.

»Aufstehen, Sie müssen jetzt los!«

Als er nicht reagierte, packten ihn die Wärter und hievten ihn hoch. Sie schleppten ihn mehr zum Besucherraum, als dass er selbst ging, doch unterwegs erholte er sich immerhin ein Stück.

Colonel Blacardin saß diesmal nicht am Tisch, er stand mitten im Raum, als sie Adrien hereinbrachten und auf dem Stuhl absetzten. Adrien fühlte sich kaum in der Lage, zu kommunizieren, aber jetzt war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für einen Zusammenbruch. Falls es eine neue Chance für ihn gab, musste er sie ergreifen, koste es, was es wolle. Er versuchte, sich gerade zu halten und den Offizier anzusehen, den irgendetwas hierher zurückgetrieben hatte. Der Mann setzte sich noch immer nicht, sondern stellte sich ihm gegenüber an den Tisch und runzelte die Stirn.

»Doktor Laurent, wie geht es Ihnen? Zeigen Sie Ihre Hände.«

Adrien hob erst die Linke, dann die Rechte von seinem Schoß, und zeigte sie vor. Die rechte Hand fühlte sich nach all dem Schmerz nun taub an, als sei sie gar nicht mehr vorhanden.

Der Offizier, der bisher noch nie auch nur den Anflug eines Lächelns gezeigt hatte, lächelte nun leicht. »Das sieht gut aus«, meinte er. »Eigentlich wollte ich zu meinem Wort stehen und Ihnen keine weitere Chance gewähren. Aber das wäre nicht richtig. Ich habe schließlich schon weit schlimmere Versager gesehen.« Nun zog er sich seinen Stuhl heran und nahm gemächlich Platz, um Adrien intensiv zu mustern. »Sie sind angeschlagen, aber nicht aus dem Rennen«, stellte er fest. »Selbst wenn Ihre rechte Hand nicht mehr vollständig verheilt, werden Sie uns von Nutzen sein.«

»Das werde ich, Monsieur«, sagte Adrien, dankbar über das Rettungsseil, dass dieser Mann ihm bot. Und wenn es nun ausgerechnet das Militär war, dem er dienen musste, dann würde er versuchen, auf seine Weise das Beste daraus zu machen.

Der Offizier schüttelte den Kopf. »Lassen Sie ab jetzt dieses Monsieur beiseite, für Sie bin ich nun mon Colonel. Ich habe einen Haufen Papiere mit, die Sie mir gegenzeichnen werden, und dann gehören Sie offiziell als Rekrut der französischen Armee an. Fort Saint-Jean wartet auf Sie.«

Eric Fabre junior

Er stand auf, als Adrien durch die Tür trat, und schaute ihm stumm entgegen. Sein Bruder sah wirklich mitgenommen aus, blass und zerschlagen. Die rechte Hand war geschient und verbunden, die Haare viel zu kurz. Es war nicht üblich, Gefängnisinsassen den Kopf zu rasieren, doch aus irgendeinem Grund hatte man Adrien seiner wilden Locken beraubt.

Und dann dieser Ausdruck in seinem Gesicht, so verschlossen, fast schon hart. Zwei Jahre Gefängnis waren eine lange Zeit, die vieles veränderte, vielleicht sogar zu viel. Aber Eric war hier, um das lose Ende des Fadens wieder in die Hand zu nehmen, dass Adrien ihm zurückgelassen hatte. Sie würden die nächsten Herausforderungen gemeinsam durchstehen.

Adrien blieb abrupt stehen, sah ihn an. Er hatte wirklich nicht damit gerechnet.

»Man sagte mir, dass du hier bist«, erklärte Eric ihm und versuchte es mit einem Lächeln. »Also habe ich auf dich gewartet. Wie war es?«

»Warum bist du hier?«, fragte Adrien zurück, ohne das Lächeln zu erwidern.

»Aus demselben Grund wie du.«

»Du gehst da nicht rein.« Adrien wies auf die Tür, aus der er gerade gekommen war.

»Ich war da schon da drin, heute Morgen. Und ich wette, ich habe bei der Musterung besser abgeschlossen als du«, meinte Eric