Herzkönig - Annika Thierbach - E-Book
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Herzkönig E-Book

Annika Thierbach

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Beschreibung

VOR 700 JAHREN · EIN VERFLUCHTES SPIEL Die Pickdame und der Herzkönig. Eine verbotene Liebe und der Beginn eines Jahrhunderte langen, verdammten Spiels: "Mayda Mayda" Die Götter riefen die beiden Liebenden sowie 26 weitere Auserwählte aus vier Bezirken: Herz, Pick, Karo und Kreuz dazu auf, anstelle eines Krieges um die Herrschaft des Königreiches Mayda zu kämpfen und legten ihnen den Fluch der unendlichen Wiedergeburt auf. Diesen missbrauchte das Paar, indem es sich immerzu selbst tötete, um sich im nächsten Leben wiederzufinden und den F­ortschritt des Spiels zu behindern. Erzürnt begannen die Götter, die Seele der Pickdame in abscheuliche Körper zu pflanzen, um die Liebe der beiden zu zerstören. Doch der Herzkönig verliebte sich immer wieder in sie. Aber würde er ihre Seele auch als multiple Persönlichkeit im Körper eines Mannes lieben? GEGENWART · DER ANDERE IN MIR Robin Rostock trägt seit einem Unfall eine weitere Persönlichkeit in sich und wird deshalb in eine Nervenheilanstalt eingewiesen. Dort teilt er sich ein Zimmer mit Frederik, einem gewalttätigen Soziopathen, der sich selbst als Herzkönig bezeichnet. Robins anderes Ich zeigt ein eigenartiges Interesse an Frederik auf, anschließend findet Robin sich in den Fängen eines uralten, mysteriösen Spiels wieder. Und im Auge des Herzkönigs. Wem gilt dessen Liebe? Robin oder seiner anderen Persönlichkeit? Und ist es schlau, die Gefühle eines brutalen, bizepsgesteuerten Tyrannen zu erwidern? Spielt das überhaupt eine Rolle, wenn sie ohnehin alle sterben? Schmuckausgabe mit Bildern, Illustrationen, Zeichnungen und Glossar!

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Inhaltsverzeichnis

Prolog ♥ MAYDA

Doch dann geschah etwas, das alles veränderte: Inmitten von Blut, Tod und Schande erblühte eine verbotene Liebe.

1. Zug ♠ WILLKOMMEN IM BOTANIKUM

»Die wollen mich umbringen!« ... »Sie werden dich auch umbringen! Sie bringen uns alle um!«

2. Zug ♦ ABBILD DES ANDEEN IN MIR

Frederik drückte den Zigarettenstummel auf dem Boden aus und sagte gleichgültig: »Ich drück dir heute Nacht ein Kissen aufs Gesicht.« »Mit ›Careless Whisper‹ von George Michael im Hintergrund?«

3. Zug ♣ DER HERZKÖNIG

»

Du

bist der …« Es fiel ihm schwer, den Namen auszusprechen, weil er so überragend gut zu der finsteren, abstoßenden Gestalt auf seinem Bett passte. »… Herzkönig?«

4. Zug ♥ DAS MEDAILLON

Robin erlitt ein Herzstolpern, als Frederik begann, sich auszuziehen und den Blick auf einen erschreckend durchtrainierten Oberkörper freigab … Das Bild der blassen Haut, die sich straff um diese starken Muskeln spannte, ließ Robin schlucken.

5. Zug ♠ DAS SPIEL GEHT WEITER

Marias Fehlen war nach wie vor rätselhaft. Wieso war sie nicht zum Zug erschienen? So etwas hatte es noch nie gegeben!

6. Zug ♦ APFELSAFT, FISCH UND ROTWEIN

Und damit betätigte Robin den Pistolenabzug. Frederik über ihm zuckte zusammen, anschließend wanderten beide Augenpaare zu seinem Schritt, auf dem nun ein dunkelroter Fleck haftete.

7. Zug ♣ WUT

Aller Abneigung zum Trotz, konnte Frederik nicht leugnen, dass Robin ein gutaussehender Mann war. Ein verdammt gutaussehender Mann, der alle Vorgaben erfüllte, um als ideale Wichsvorlage für Frauen zu dienen.

8. Zug ♥ SEHNSUCHT

Robins Lachen ließ seine Nerven erzittern, seine Organe beben und das Blut in seinen Adern sieden. Mit einem Stolpern voran, begann sein Herz zu rasen. Seine Rippenbögen fühlten sich plötzlich wie ein viel zu enger Käfig an. Was war denn

jetzt

los?

9. Zug ♠ MARIA

… und Robin wurde dazu angehalten, die Person auf den Mund zu küssen, auf welche die Flasche zeigen würde. Als der Flaschenhals mit Neigung auf Frederik stehenblieb, legte sich ein dreckiges Grinsen auf seine Lippen.

10. Zug ♥ SPUREN

Damit brannte eine Sicherung in dem Herzkönig durch. Ruppig stieß er Robin gegen die Tür, packte seinen Hals und vereinnahmte seine Lippen grob und gierig.

11. Zug ♠ DIE BRÜCKE ZUM BÖSEN

»Das in Ihnen ist kein Fragment Ihrer Seele! Das ist etwas Anderes! Etwas von außerhalb, das sich bei Ihnen eingenistet hat! Etwas Böses!«

12. Zug ♦ KLOPF, KLOPF

Plötzlich drehte sie sich zu Robin um und legte damit nicht nur den Blick auf das blutverschmierte Messer in ihrer Hand frei, sondern auch auf , der mit weit aufgerissenen Augen regungslos am Boden lag. Blutüberströmt.

13. Zug ♣ BLUTENDE HERZEN SIEGEN NICHT

Er mochte raue Küsse, forsche Berührungen und Furchtlosigkeit. Letzteres bewies Frederik, als er mit seiner kalten Hand unter Robins Unterhose fuhr und zupackte.

14. Zug ♥ SCHERBEN

Einer von ihnen beiden würde in den kommenden Tagen ohnehin sterben, was sprach also schon gegen eine Affäre? Dennoch schob Robin der Gedanke an Maria immer wieder einen Riegel vor.

15. Zug ♠ BERÜHRUNGEN

Er war längst kein Prinz mehr, sondern ein König. Der Herzkönig. Und seine letzte Eroberung war Robin.

16. Zug ♦ MAYDA MAYDA

Stattdessen spielte Robin ein anderes Lied.

Epilog ♣ FÜR IMMER

Frederik Johann Alexander von Aros. Ein brutaler, rücksichtsloser Bastard, dessen Hände die Lakaien von Leid und Schmerz. Doch mit einem Herz so rein, dass er zurecht den Titel ›Herzkönig‹ trug.

GLOSSAR

GALERIE

NACHWORT

PROLOG

Doch dann geschah etwas, das alles veränderte: Inmitten von Blut, Tod und Schande erblühte eine verbotene Liebe.

Mayda. Ein Ort, über den sich viele Legenden ranken.

Die Geläufigste unter ihnen ist die der kleinen, halbmondförmigen Phantominsel, die einst mit wandelnden Namen auf zahlreichen Karten existierte, jedoch irgendwann auf mysteriöse Weise verschwand.

Sie sind alle gelogen. Die Wahrheit steht in diesen Zeilen geschrieben:

Mayda, oder von den Einheimischen auch ›Mau‹ genannt, war eine große, florierende Insel, die sich in fortschrittlicher Technik, Medizin und Wohlstand rühmte. Ein Reich, das sich aus vier Bezirken zusammensetzte, die je von einem Königspaar regiert wurden: Aros, Torek, Mechta und Oturi. Der Frieden zwischen den vier Bevölkerungsgruppen währte jedoch nicht ewig. Dem Rausch ihrer Macht unterlegen, gierten die Königspaare nach dem Land der anderen Bezirke, um alleinige Herrscher über ganz Mayda zu werden. Aus Freundschaft wurde Feindschaft, aus ergebnislosen Verhandlungen wurde Krieg.

Die Götter ließen ihn geschehen, sich einig, dass solch verdorbene Menschen keinen Platz auf dieser Welt verdienten.

Doch dann geschah etwas, das alles veränderte: Inmitten von Blut, Tod und Schande erblühte eine verbotene Liebe. Die Kronprinzessin von Torek und der Kronprinz von Aros verliebten sich ineinander. Ihre Liebe, geboren aus ihrem gemeinsamen Hass auf den abscheulichen Krieg, erzürnte die Königspaare. Aber die beiden waren mit ihrer Sehnsucht nach Frieden nicht allein. 26 weitere mutige Widersacher gründeten mit ihnen einen Widerstand, um die blutrünstigen Herrscher zu stürzen und das Leid zu beenden.

Die Götter jedoch hegten Zweifel an der Reinheit der Aufsässigen, schließlich wussten sie, dass keine Güte ewig währte. Drum riefen sie ein Spiel ins Leben, das anstelle des Kriegs über die Herrschaft von ganz Mayda entscheiden sollte: Mayda Mayda. Mit der Zuversicht, das Vergießen von unschuldigem Blut zu verhindern, ließen sich die 28 Rebellen darauf ein und traten als Repräsentanten ihres Bezirks gegeneinander an. Darin verkörperte das Symbol des Herz das Reich Aros, das Symbol des Pick das Reich Torek, das Symbol des Karo das Reich Mechta und das Symbol des Kreuz das Reich Oturi. Zusätzlich wurden ihnen unterschiedliche Ränge zugewiesen, in denen die 12 einfachen Bürger zu Soldaten wurden, die vier Ritter zu Assen, die vier Prinzessinnen oder Hofdamen zu Damen und die vier Prinzen zum König. Jeder Zug fand in einer magischen Kammer statt und unterlag strengen Spielregeln. Der Bezirk, der als Sieger hervorging, sollte die Herrschaft über ganz Mayda/ Mau erlangen. Ohne Krieg, ohne unschuldige Opfer.

Aber auch die Götter selbst waren verdorben. So ließen sie die Spielzüge nicht unmittelbar nacheinander stattfinden, sondern immer im Abstand von zwei Jahrzehnten und zogen somit das Spiel über Jahrhunderte in die Länge.

Die grausamen Herrscher Maydas/ Maus starben, die Völker gingen unter, der Kontinent versank im Meer, und der Name verschwand von allen Weltkarten. Doch die 28 Rebellen waren weiterhin dazu verurteilt, das kranke Spiel weiterzuspielen.

Der Tod war kein Entkommen vor dem grausigen Spiel. Starb ein Kontrahent außerhalb des Spielfelds, egal ob durch Unfall, Krankheit, Mord oder Selbstmord, wurde er wiedergeboren und musste weiterhin als Teilnehmer am Spiel agieren. Den Rebellen wurde also der Fluch der unendlichen Wiedergeburt auferlegt.

Und genau das wurde den Göttern zum Verhängnis. Die Pick-Prinzessin und der Herz-Prinz wollten ihre Liebe zueinander nicht aufgeben. So kam es, dass sie sich jedes Mal, in der Nacht vor dem nächsten Spielzug, töteten. Das hatte zufolge, dass die beiden Liebenden stets wiedergeboren wurden und sich erneut fanden, um ihre Liebe bis zum nächsten Stichtag weiterzuleben. Wieder und wieder. Ein Teufelskreis war geboren und hinderte das Spiel von jeglichem Fortschritt.

Die Götter, die ihre eigenen Spielregeln nachträglich nicht mehr anfechten konnten, erzürnten und versuchten seither, die Liebe der beiden zu zerstören. So pflanzten sie die Seele der Pick-Prinzessin in einen Körper mit einem anderen Gesicht, im Glauben, dass der Herz-Prinz sich nicht in ein fremdes Antlitz verlieben würde. Doch genau das tat er. Infolge dessen wurden die Mittel der Götter grausamer, und sie kleideten Marias Seele in zunehmend schändliche Leiber. Demnach fand sich ihre Seele in Körpern mit defekten Sinnen wie Blindheit und Taubheit wieder, gefolgt von Körpern ohne Lauffähigkeit, schweren Verbrennungen bis hin zu Verstümmelungen. Und doch erblühten die Gefühle der beiden füreinander immer wieder. Denn eines konnten die Götter nicht verändern: ihre Seele. Seelen waren unantastbar.

Die Liebe der Prinzessin und des Prinzen wurde zu einem Fluch, und solange sie existiert, kann das Spiel nicht beendet werden. Da die Götter ihre eigens erschaffenen Spielregeln selbst nicht umgehen oder ändern können, müssen sie zu ihrer letzten Waffe greifen.

Das ›Mayda Mayda‹ wird kommen.

1. ZUG

WILLKOMMEN IM BOTANIKUM

»Die wollen mich umbringen!« ... »Sie werden dich auch umbringen! Sie bringen uns alle um!« A

Robin starrte aus dem Fenster des Autos. Ein tiefgrauer Wolkenteppich bedeckte den Himmel und ergoss sich mit dichtem Regen. Besser hätte das Wetter sein Gemüt nicht widerspiegeln können.

Hier saß er nun, auf dem Rücksitz des knurrenden Audi Q8 seiner Mutter und fragte sich ein Mal mehr, wie es dazu hatte kommen können, dass er gerade auf dem Weg in eine Nervenheilanstalt war. Er hatte sein Möglichstes getan, um das zu verhindern. Hatte seinen Psychologen belogen und allen eine gesunde Mentalität vorgegaukelt. Doch entweder war Robin ein miserabler Schauspieler, oder seine Verfassung war schlechter, als er sich eingestehen wollte. Dr. ›Wir wollen nur das Beste für dich‹ hatte ihm Medikamente verschrieben, die Robin vehement verweigert hatte. Er hielt nichts von diesem Synapsengift, das nur noch mehr Schaden anrichtete … Gut, damit hatte er wohl doch nicht alles Erdenkliche getan, um zu verhindern, dass er, seine Mutter Ellen und ihr Freund Simon nun mit 50 km/h über die Landstraße zu einem Irrenhaus fuhren. Es waren übrigens 100 km/h zugelassen, Ellen schindete also Zeit.

Robin war volljährig, doch aufgrund seines ›geistlichen Zustandes‹ hatte Dr. ›Mein intellektuelles Gequatsche basiert auf wissenschaftlichen Studien‹ seine Mutter zu seinem Vormund auf unbestimmte Zeit ernannt. Mit anderen Worten: Er hatte nichts gegen seine Einweisung ausrichten können, und das machte ihn wütend. Nicht nur, weil er diese Maßnahme für unsagbar übertrieben hielt. Er fühlte sich degradiert, denunziert, für unzurechnungsfähig erklärt! Niemand konnte voraussagen, wie lange sein Aufenthalt in der Klinik andauern würde und ob diese Maßnahme überhaupt erfolgversprechend war. Er war sich ziemlich sicher, dass er geschädigter aus dieser Nervenheilanstalt zurückkehren würde, als er es jetzt war. Ausschließlich von anderen psychisch kranken Menschen umgeben zu sein, war ein Erfolgsversprechen für eine ausgereifte Depression, inklusive mehreren Jahren Garantie!

Offen gestanden hatte Robin sich noch nie ernsthaft mit psychischen Erkrankungen auseinandergesetzt, da sich sein Weg nie mit Betroffenen gekreuzt hatte.

Bis vor acht Wochen.

Der 19-Jährige lehnte seinen Kopf an die kühle Scheibe und fixierte seine Augen auf einen leeren Punkt am schmutzigen Himmel. Die Bäume schwebten geräuschlos an ihnen vorbei, und die Pflanzen neigten ihren Kopf zum Boden.

Simon plauderte seit ihrem Aufbruch ununterbrochen. Und obwohl Robin wusste, dass er das tat, um die bis zum Zerbersten angespannte Stimmung aufzulockern, hätte er sich gerne seine Kopfhörer aufgesetzt. Simons helle, aufdringliche Stimme traf stets einen Nerv von Robin, der ihn zum Zähneknirschen oder Schnauben trieb. Aber er verzichtete auf die Musik und ertrug das ermüdende Gebrabbel, weil seine Mutter ihn darum gebeten hatte. »Es ist schon schlimm genug, dass du auf unbestimmte Zeit in eine Klinik musst. Da möchte ich nicht, dass du während unserer letzten gemeinsamen Minuten auch noch abwesend bist«, hatte sie vor ihrer Abreise gesagt.

Ellen schaffte es, die Fahrt, die laut dem Navi noch weitere 37 Minuten hätte dauern sollen, auf 48 Minuten zu strecken. Dann rollten sie auf dem großen Hof der Nervenheilanstalt namens ›Botanikum‹ ein, benannt nach dessen üppigen Gartenanlagen. Laut Webseite der Einrichtung zählten dazu zahlreiche Lauben, diverse Gärten und ein Labyrinth, alles bis auf das letzte Blatt gepflegt – von den Patienten. »Die Pflege und die Gestaltung der Gartenanlagen fördern den Umgang mit Verantwortung und das Empfinden von Kreativität unserer Patienten«, stand dort geschrieben.

Robin unterdrückte seinen Impuls, sich aufzulehnen und tat es ein Mal mehr, nachdem der Motor verstummte. Nur noch das Prasseln der Regentropfen und Robins innere Stimme, die ihm sagte: »Das ist kein Traum«, waren zu hören.

»Sooo, da wären wir nun«, sagte seine Mutter.

Das war das längste »So«, das sie je von sich gegeben hatte. Ellen war kein prall gefülltes Lexikon mit Worten für emotionale Abschiedsreden, und Robin hätte das eh als überdramatisiert empfunden. Drum stieg er seufzend aus dem Auto und holte seine beiden Taschen aus dem Kofferraum. Bevor sie losgefahren waren, hatte er das als zu viel empfunden. Aber jetzt, als er seine Augen ein Mal mehr über das riesige Bauwerk im romantischen Stil schweifen ließ, erschien ihm seine ›Ausstattung‹ plötzlich als viel zu wenig.

Simon nahm ihm eine Tasche ab und schwang sie über seine Schulter. Das hatte in seiner Vorstellung vermutlich besser ausgesehen, denn seine drahtige Statur bebte unter dem Gewicht des Gepäcks. Ellen gab kein besseres Bild ab: Sie stand unter einem Regenschirm, auf dem ein großes Logo ihrer Firma prangte, und strich ihr teures Anzugkostüm glatt. Robin gab sich mit dem Hochschieben seiner Sweatkapuze genügsam und nahm die Details des Gebäudes in sich auf.

Es war ein ehemaliges Herrenhaus, an dessen Dimension nicht viel fehlte, um als Schloss betitelt werden zu können. Zwei kleinere Gebäude, vermutlich die ehemaligen Residenzen der damaligen Köche, Gärtner und Haushälter, schmiegten sich links und rechts an das Hauptgebäude. Die großen, prunkvollen Fenster waren in perfekter Symmetrie in die alten aber gut erhaltenen Mauern eingelassen und reihten sich über drei Stockwerke. Allerdings waren die der beiden oberen Etagen mit Gittern versehen. Die Gargoyles – Statuen mit dämonischen Fratzen –, die stumm in den Regen brüllten, taten überdies auch nicht gut darin, das Gesamtbild freundlicher zu gestalten. Und auch den verzierten Säulen, den offenen Gängen und der schweren Laterne im Eingangsbereich, die im Wind verräterisch baumelte, konnte Robin nichts abgewinnen. Er mochte Minimalismus. Prunk wie dieser war für ihn eine Reizüberflutung.

Im Dauerlauf hasteten er, Ellen und Simon zur großen doppelflügeligen Eingangstür, die von zwei leeren Fackelhaltern eingerahmt wurde. Kaum hatten sie die oberste Treppenstufe erreicht, öffnete sich ein Türflügel und gab den Blick auf eine ältere Frau mit strengem Blick und gestrafften Schultern frei. Jedes ihrer Haare saß an der richtigen Stelle, ihre Kleidung war faltenfrei, und ein üppiger, abgenutzter Rosenkranz flüsterte zu Robin: »Lauf!«

»Sie sind die Familie Rostock?«, fragte sie, ohne auch nur einen Gesichtsmuskel zu bewegen.

Ihre Stimme klang kälter als ihre ausdruckslose Mimik aussah und kälter, als sich der Regen auf der Haut anfühlte.

Robins Mutter ergriff das Wort: »Ja. Ich bin Ellen, das ist Simon und das ist mein Sohn Robin.«

Um die wässrig blauen Augen der Frau rankte sich ein Spinnennetz aus Falten, die ihrem Blick noch mehr Härte verliehen. Ohne jegliche Emotion in ihrer Mimik starrte sie Robin an, dann drehte sie sich plötzlich in einer schnellen, sauberen Bewegung um und marschierte mit den Worten: »Folgen Sie mir« von dannen.

»Schönen guten Tag auch«, murmelte Simon genervt, wofür er sich einen Kniff und einen mahnenden Blick von Ellen einholte.

Robin fand, dass Simon Recht hatte und ließ es sich nicht nehmen, zunächst das Foyer des Gebäudes zu studieren. Es war, wie zu erwarten, unnötig groß. Sowohl der Boden als auch die Wände bestanden aus naturbelassenem Gestein, von der hohen Decke hing ein schwerer Kronleuchter herab, und um die Rezeption am Raumende erhoben sich jeweils links und rechts Treppen, die im oberen Stockwerk zusammenliefen. Wie unnötig. Wofür brauchte man zwei Treppen, wenn man nur eine benutzen konnte? Robin schnaubte genervt. Wenigstens hingen hier keine Gemälde von reichen Gestalten herum, und auf rotes Samt und protziges Gold wurde immerhin auch verzichtet.

Die Luft hier drin war nicht viel wärmer als draußen, aber erfüllt von einem angenehmen, mineralischen Duft alten Gemäuers – nicht dieser ›Altes Haus-Muff‹.

Die Absätze von der gehetzten Frau klangen wie die Explosionen eines entfernten Feuerwerks. Das nährte ein Mal mehr Robins Drang, die ganze Situation mit einem hysterischen Lachen zu kommentieren und dieses Höllenhaus sofort wieder zu verlassen. Gleich im Anschluss rief er sich jedoch zur Vernunft auf. Möglicherweise schwang er die Peitschen seiner negativen Gedanken zu enthusiastisch? Vielleicht war die therapeutische Maßnahme sogar hilfreich für ihn? Immerhin konnte er nicht leugnen, dass er sich seit dem Unfall tatsächlich verändert hatte …

Mit zur Ordnung gebrachten Gefühlen folgte er der überaus freundlichen Frau, woraufhin seine Mutter und Simon ihm hinterhermarschierten wie Entenküken ihrer Mutter. Sie durchquerten einen Flur, der nicht weniger an Größe geizte, dafür aber an Prunk etwas sparsamer war. Etwas kurios erschienen Robin jedoch die Bilder, die an den Wänden angebracht waren. Kunst lag ja bekanntlich im Auge des Betrachters, doch in diese Motive reihten sich Abbildungen von finsteren, mageren Gestalten mit weit aufgerissenen Augen und Mündern ein, denen gegenüber ›der Schrei‹ von Edvard Munch noch freundlich wirkte. Andere Bilder wiederum zeigten nichts weiter als wirre Linien, die wie von Kindern gemalt erschienen. Robin vermutete, dass es sich bei diesen Werken um die der Patienten handelte. Wenngleich das gegenüber den ›Inhaftierten‹ hochherzig erschien, war es das für Besucher umso weniger.

Die Frau führte die Gruppe in ein Büro, dessen Einrichtung einen starken Kontrast zu der gotischen Empfangshalle darstellte. Das Mobiliar erschien hier schlicht und abgenutzt, dafür war alles sauber und überaus ordentlich. Nackte Mauern waren tapezierten Wänden gewichen, und an ihren Füßen haftete nun ein Stoffteppich, dessen strenger Geruch Robin seit dem ersten Atemzug Kopfschmerzen bereitete. Über dem Pult, auf dem alles penibel sortiert war, prangte ein nicht zu klein geratenes Kruzifix, das jedem Eintretenden verdeutlichte, welcher Glaube in diesen Mauern vorherrschte. Für Robin, der überhaupt nicht gläubig war, hatte das etwas Unbehagliches an sich.

Die vier Anwesenden nahmen Platz, die Frau mit den dunklen Schatten unter den Augen Ellen, Simon und Robin gegenüber. Wortlos öffnete sie eine Mappe, die sie sich bereits auf dem Schreibtisch zurechtgelegt hatte, während der Regen weiterhin wütend gegen die Fenster prasselte.

»Mein Name ist Rosali Hentfort«, sagte sie und warf gleich im Anschluss einen strengen Blick in Robins Richtung.

In ihren wässrig blauen Augen lag eine Mahnung, die deutlich ihm galt. Offenbar war sie sich dessen bewusst, dass ihr überaus liebevoll klingender Vorname ein starker Kontrast zu ihrem frostigen Auftreten war. So war sie vermutlich entsprechenden Spott derer gewohnt, die ihn zum ersten Mal hörten. Ihr Handeln war jedenfalls geglückt, denn Robin hatte immerhin schmunzeln wollen. Das schluckte er, zusammen mit einem unausgesprochenen Fluch, hinunter. Er fand, dass sie mehr wie ein ›Darth Sidious‹ aus ›Star Wars‹ von George Lucas aussah, und ihr Verhalten sprach auch nicht gegen den Titel.

»Dass Sie die mir vorliegenden Dokumente allesamt abgezeichnet haben, heißt für mich, dass Sie sich mit den Therapien und den Hausregeln einverstanden erklärt haben«, führte sie mit heiserer Stimme weiter aus.

»Korrekt«, antwortete Ellen.

»Dann darf ich Sie jetzt um eine letzte Unterschrift bitten. Im Anschluss dürfen Sie sich voneinander verabschieden, dann werde ich Herrn Rostock zu seinem Zimmer führen.«

Na ja, eigentlich war das nicht ganz korrekt. Sowohl Robin als auch Simon, Ellen und sein Vater empfanden so manche therapeutische Vorgehensweise in diesem Haus als maßlos übertrieben.

Das Therapiesystem des Botanikums sah wie folgt aus: Die Patienten wurden vor Beginn ihrer Behandlung in drei Schweregrade ihrer Erkrankung unterteilt und in einem entsprechenden Stockwerk untergebracht. Die ›Stufe I‹ räumte den Patienten nach dem Tagesprogramm uneingeschränkte Bewegungsfreiheit ein. Für sie galt lediglich die Regel, bis 22:00 Uhr wieder im Gebäude sein. Patienten der ›Stufe II‹ durften sich nur auf dem Gelände der Einrichtung bewegen und dieses nur mit einer Genehmigung verlassen. Das sah Robin bereits kritisch. Aber das war nichts im Vergleich dazu, dass diesen Patienten auch noch die Nutzung eines Smartphones untersagt wurde! Um mit Angehörigen sprechen zu können, ›durften‹ sie ein Mal die Woche für zehn Minuten ein Telefon benutzen. Unter Aufsicht natürlich. Und es existierte im Übrigen nur ein Einziges im ganzen Gebäude. Aber auch das ließ sich noch toppen: Alle Fenster und Balkone der Zimmer des zweiten und dritten Stockwerks waren mit Streben versehen, und die Zimmertüren wurden über Nacht verriegelt! Das wurde als ›Präventionsmaßnahme zur Vorbeugung von Suizidversuchen‹ bezeichnet. Also wer das nicht mit einem Knast assoziierte, gehörte zurecht in Behandlung!

Und dann war da noch ›Stufe III‹. Patienten, die jede unbeobachtete Minute einem Suizidversuch widmeten oder eine Gefahr für andere darstellten. Sie wurden wortwörtlich weggesperrt, mit bestialischen Medikamenten vollgepumpt und rund um die Uhr betreut.

Robin war der ›Stufe II‹ zugewiesen worden.

Also nein, er war nicht mit seiner Freiheitsberaubung und der Isolation einverstanden, aber seine Mutter hatte die Dokumente unterschrieben und tat es augenblicklich ein zweites Mal.

Robins Gemütszustand kletterte noch eine weitere Sprosse auf seiner emotionalen Leiter tiefer. Irgendwie hatte er die ganze Zeit gehofft, dass Ellen es sich im letzten Moment doch anders überlegen und ihn von diesem unheilvollen Ort wegbringen würde. Stattdessen musste er nun seine Wertsachen abgeben, und eine Viertelstunde später sah Robin mit einem Gemisch aus Sehnsucht und Wut seiner Mutter und Simon hinterher, wie sie eilig durch den Regen in Richtung Auto eilten.

»Herr Rostock, bitte folgen Sie mir«, sagte Darth Rosidious in einem schroffen Ton.

Der junge Mann blieb jedoch so lange an der Eingangstür stehen, bis der protzige Q8 seiner Mutter vom Nebel, der dicht über der Landstraße waberte, verschlungen wurde.

»Bitte merken Sie sich eines, Herr Rostock: In diesen Mauern werden die Anweisungen der Therapeuten nicht wiederholt.«

Der 19-Jährige wandte sich von der grauen Einöde ab und fing den eisigen Blick der Frau auf. Die Falten an ihren Augen wirkten wie ein Geflecht aus pechschwarzen Adern.

»Das ist ja kein Abschied für immer! Was stellen Sie sich so an?«, herrschte sie ihn an.

Robin verfügte über eine brillante Eloquenz und dazu die wertvolle Eigenschaft, jegliches Schamgefühl in seinem Gehirn zu deaktivieren, wenn man ihn anfocht. So entgegnete er kratzbürstig: »War es nicht? Ich habe mich schon gewundert, warum ich meine Kuscheltiere nicht mitnehmen durfte.«

»Benehmen, Herr Rostock!«

Sie hatte ihre schaurige Stimme so laut erhoben, dass der 19-Jährige leicht zusammengezuckt war. Die Tatsache, dass so eine Furie auf psychisch kranke Menschen losgelassen wurde, fand er doch äußerst diskussionsbedürftig. Jeder depressive Mensch würde nach einem Gespräch mit ihr Löcher in seiner Seele davontragen.

»Sie sind eine Therapeutin und keine Erzieherin, oder? Ich werde Ihnen schon keine Probleme bereiten, wenn Sie mir keine machen.«

Robin hatte die richtige Klangkulisse in seine Worte gelegt: Nicht zu schüchtern, nicht zu laut, aber mit einer gewissen Drohung versehen.

»Wollen Sie sich mit mir streiten?!«

Robins Geduld neigte sich dem Siedepunkt. So konnte sie unmöglich mit Patienten umspringen! Er war hergekommen, um Heilung zu erfahren, und nicht, um derart gescholten zu werden! Was war eigentlich ihr Problem?!

»Sie haben doch angefangen!«, rechtfertigte er sich. Ehe die Furie sich noch tiefer in ihre eigens erschaffene Spirale dieser … was auch immer das hier war, verlor, lenkte Robin den Fokus zurück auf die eigentliche Thematik: »Sie wollten mir mein Zimmer zeigen, nicht?«

Die Adern unter dem faltigen Hals vor ihm zuckten nervös, die Gurgel hüpfte ein Mal, dann entgegnete die Frau mit gesenkter Stimme: »Mir nach.«

Mit einem bedeutungsträchtigen Seufzer folgte Robin Darth Rosidious zurück in die Haupthalle. Dort marschierte sie mit kerzengeradem Rücken, an dem man ein Lineal hätte anlegen können, die linke Treppe hinauf und ließ sich vom Korridor verschlingen. Robin hatte beinahe Mühen, mit ihr Schritt zu halten, schließlich fand er, dass es ihm durchaus zustand, sich den Ort, an dem er die nächsten Wochen oder Monate verbringen würde, anzusehen.

Auch hier waren Boden, Wände und Decke aus naturbelassenem Stein gefertigt. Statt mit einfachen, energieeffizienten Lampen wurden die Korridore mit Leuchten erhellt, die an kitschigem Prunk nicht geizten. Mal von seiner Abneigung gegenüber überflüssigen Ornamenten, geschwungenen Linien und wirrem Schnickschnack abgesehen, fand Robin, dass diese protzigen Teile nicht mal ausreichend Licht erschufen.

Plötzlich beschlich ihn der Gedanke, dass Frau Hentfort, Darth Rosali von Sidious, in einem Sarg schlief und gegen Nacht so richtig in Fahrt kam. Anders konnte er sich diese Person nicht mehr erklären.

Auf einmal bog eine Gruppe junger Menschen in den Korridor ein. Die drei waren erschreckend jung. Robin schätzte sie nicht älter als 15 oder 16 Jahre. Dass derart junge Menschen die Hilfe eines solchen Ortes beanspruchen mussten, stimmte ihn nachdenklich.

»Wieso seid ihr nicht in der Gruppentherapie?!«, schnauzte Darth Rosidious das Trio an.

Augenblicklich legte sich Entsetzen über die Gesichter.

»Emily geht’s nicht gut«, sagte ein Mädchen. »Dr. Wolf meinte, wir sollen sie in den Ruheraum bringen.«

»Aber dafür braucht sie doch nicht zwei Begleiter! Einer reicht!«

All die unausgesprochenen Flüche, die sich die drei nicht auszusprechen wagten, konnte Robin deutlich in ihren Gesichtern und den Bewegungen ihrer Lippen erkennen. Mies gelaunt machte das blonde Mädchen kehrt, um dem Jungen die alleinige Begleitung der pausbäckigen Emily zu überlassen. Ihre Sommersprossen verliehen ihr etwas Niedliches.

Als die beiden Robin erblickten, glätteten sich ihre Gesichtszüge augenblicklich, und Robin wusste nicht, wie er das deuten sollte. Als sie ihn passierten, machte der Junge jedoch eine unmissverständliche Handbewegung, die sagte: »Bleib ruhig«, während Emily theatralisch ihre Augen verdrehte.

Ah, so war das also. Robin verkniff sich ein Schmunzeln und ließ sich von Darth Rosidious zu seinem Gemeinschaftszimmer führen, das er fortan mit einem anderen Patienten teilte. Dort drückte sie ihm einen Chip in die Hand, welcher die Tür öffnete.

»Der wird weder verliehen noch verloren!«, ermahnte sie ihn. »Für heute sind Sie vom Therapieprogramm befreit, um erst mal anzukommen und sich einzurichten. Ihr Zimmerkamerad wird Sie durch das Gebäude führen und Ihnen die Therapiepunkte erklären, sobald er wieder da ist. Das allgemeine Therapieprogramm liegt auf Ihrem Schreibtisch, Ihren persönlichen Therapieplan bekommen Sie noch. Essen gib es jeden Abend um 18:00 Uhr.«

»Ich bin laktoseintolerant«, klärte Robin sie auf und wartete gespannt darauf, welche Beleidigung sie ihm dafür an den Kopf knallen würde.

»Das ist mir bewusst, ich habe Ihre Unterlagen gelesen. Wir bieten milchfreie sowie glutenfreie, vegane, schweinefleischfreie und histaminarme Speisen an. Das steht in unserer Hausordnung.«

Da war sie, die Schelte.

»Die ist sehr lang, nehmen Sie mir das bitte nicht krumm.«

»Selbstredend«, entgegnete sie frostig. »Wir sehen uns um sechs. Und machen Sie keinen Unfug!«

Ohne seine Antwort abzuwarten, wandte sie sich von ihm ab und marschierte den Korridor hinab wie eine gerufene Soldatin. Dennoch rief Robin ihr hinterher: »Bis um sechs!«, und es hatte so viel gespielter Enthusiasmus darin gelegen, dass er sich das nicht mal selbst abgekauft hätte.

Nach einem verächtlichen Schnauben öffnete er die Zimmertür – Szenarien, in denen der Chip nicht reagierte und er entweder aus- oder eingesperrt war, fädelten sich augenblicklich in seinem Kopf zusammen –, und vor ihm tat sich ein Bild auf, das nicht zum Rest des Gebäudes passte. Anstatt einem (Alb-)Traum von Gotik und Romantik, erstreckte sich vor ihm ein Raum, der als Musterfoto für die Webseite einer Jugendherberge herhalten konnte. Der Boden war mit hellem Laminat ausgelegt, der vom Sonnenlicht grünlich ausgeblichen war, und die Wände waren mit weißer Raufasertapete versehen, die an zahlreichen Stellen von Patienten abgepiddelt worden war. Für den üblichen ›Dein Aufenthalt kostet deine Eltern einen Spottpreis, also komm mit den Silberfischen klar, du verwöhntes Balg!‹-Charme sorgte die minimalistische Einrichtung. Die setzte sich aus einem Bett – Moment, nur eins? –, einem Schreibtisch mit Stuhl, einem Kleiderschrank und einer Garderobe zusammen. Auf der rechten Seite befand sich eine Tür, die zu einem Badezimmer führte. Der Geruch des Zimmers schrie förmlich nach den vielen Seelen, die hier drin bereits gehaust hatten. Abgestanden, verbraucht, verlebt.

Nach einem Seufzer stellte Robin seine beiden Taschen ab und schlenderte lustlos in Richtung Balkon, der, wie zu erwarten, mit Eisenstreben versehen war – Sie warfen unheilvolle Schatten ins Rauminnere. Als er nach dem Griff der Balkontür greifen wollte, hielt ihn ein unerwartetes Bild auf: Zu seiner rechten Seite tauchte plötzlich ein schmaler Gang auf, der sich hinter dem Bett versteckt hatte. Der führte in einen weiteren, identischen Wohnbereich, nur gespiegelt! Hier fand sich die gleiche Einrichtung vor. Außerdem war deutlich zu erkennen, dass hier jemand lebte. Schmutzige Stiefel standen vor dem ungemachten Bett, und überall lagen benutzte Kleidung und leere Lebensmittelverpackungen herum – hauptsächlich von Süßigkeiten. Und doch gähnten stellenweise Staubschichten in die Leere. Auf dem Schreibtisch zum Beispiel.

Das Konzept des Doppelzimmers war überraschend gut durchdacht. Die beiden Innenbereiche wurden durch einen schmalen Gang miteinander verbunden sowie abgetrennt. Somit wurde Geselligkeit mit Privatsphäre vereint. Was von beidem Robin bevorzugte, würde sich noch zeigen. Denn sein Mitbewohner machte schon einen äußerst vielversprechenden Eindruck …

Robin führte seinen gewohnten Griff in die Hosentasche aus, um sein Handy hervorzuholen, aber der Griff ging ins Leere. Er schnaubte genervt und regte sich ein weiteres Mal darüber auf, dass Patienten seiner Stufe ihr Smartphone abgeben mussten. Was für ein Schwachsinn! Das kam einer absoluten Isolation gleich! Er verstand zwar, dass ein Teil der Therapie darin bestand, die Patienten von ihrem Konsum loszulösen, damit sie sich dem Hier und Jetzt gewahr wurden, aber feste Nutzungszeiten hätten auch gereicht!

Sein Tagesablauf sah für die nächsten Wochen oder Monate wie folgt aus:

08:00 Uhr: Gemeinsames Frühstück

08:45 Uhr: Morgenvisite, bei der das Gemüt und der bevorstehende Tag besprochen wurden

09:30 Uhr: Beginn des wochentagabhängigen, individuellen Programms

12:00 Uhr: Kochen und Backen von den zu diesem Dienst eingeteilten Patienten

13:00 Uhr: Gemeinsames Mittagessen

14:00 Uhr: Fortsetzung des therapeutischen Tagesprogramms

16:00 Uhr: Freizeitbeschäftigung

17:00 Uhr: Kochen und Backen von den zu diesem Dienst eingeteilten Patienten

18:00 Uhr: Gemeinsames Abendessen

19:00 Uhr: Abwasch und Wäsche von den zu diesem Dienst eingeteilten Patienten

22:00 Uhr: Alle Patienten mussten im Gebäude sein

00:00 Uhr: Abriegelung der Türen aller Patientenzimmer

Der Therapieplan wurde für jeden Patient individuell angefertigt und beinhaltete folgende Aktivitäten:

Ergotherapie, in der gemalt und gebastelt wurde

Muskelrelaxationsübungen nach Jacobson oder Thai Chi für den körperlichen Ausgleich

Qigong oder Klangschalentherapie für den inneren Ausgleich

Musiktherapie, die sich aus zwei Teilen zusammensetzte: dem Lauschen der Klänge und der eigenständigen Bedienung eines Instruments nach Wahl.

Zudem musste jeder Patient zwei Sporttherapien ausführen, die er aus folgendem Angebot wählen durfte: Fußball, Basketball, Schwimmen, Boxen, Badminton und Krafttraining.

Wandern, Kochen und Backen oder Theater (auch hier durfte man wählen)

Gruppentherapie und Einzeltherapie

Optional: Gottesdienst

Und auch für die Patienten gab es Pflichten, um das Verantwortungsempfinden zu stärken. Die Dienste wurden täglich bis wöchentlich neu zugewiesen:

Die Gartenanlagen mussten gepflegt werden.

Es gab einen Wäsche- und Abwaschdienst, einen Putzdienst, einen Koch- und Backdienst und den sogenannten ›Taxidienst‹, der bedeutete, dass alle Patienten um 21:50 Uhr aus den Gärten eingesammelt und ins Gebäude gebracht werden mussten.

Jeder Patient musste eine variierende Weile lang die Hausfarbratten Bob und Marley pflegen.

Der Haushund Daisy musste von zwei Patienten der Stufe I drei Mal täglich Gassi geführt werden.

Alle Patienten, die sich zu zweit ein Zimmer teilten, waren gleichzeitig einander Genossenschaftsschwestern oder -brüder. Sie trugen mit Verantwortung und Sorge für das Wohlergehen ihrer Mitbewohner sowie die Aufsicht über deren Einhalten der Hausordnung.

Robin legte seinen Kopf in den Nacken für einen schweren Seufzer.

Der Regen wurde immer lauter. Zornige Windböen klatschten die Wassertropfen regelrecht gegen die Fensterscheiben, als wollten sie sicherstellen, dass sie niemand vergaß. Das unheilvolle Rauschen ließ die alten Mauern erzittern und erinnerte an das alte Störgeräusch eines nicht empfänglichen Fernsehsenders.

Mit einem Gemüt so grau wie das Unwetter, verließ Robin das Zimmer wieder und begann durch das Gebäude zu wandern, auf der Suche nach (Über-)Lebenden. Der 19-Jährige wusste sich auch ohne Gesellschaft zu beschäftigen, doch das beinhaltete meistens ein Smartphone, Sportbälle oder Werkzeuge. Aber in diesem Vorhof zur Unterwelt gab es nichts von all dem.

Robin öffnete keine der geschlossenen Türen, die er passierte, weil er befürchtete, die dahinter stattfindenden Thera piesitzungen oder dort abgehaltenen Séancen zu unterbrechen. »Plötzliches, impulsives Handeln kann bei manchen Patienten möglicherweise Panikattacken oder Hysterie auslösen«, hatte seine Mutter ihm mit auf den Weg gegeben. Auch wenn er sich der Richtigkeit ihrer Aussage nicht sicher war, hielt er es für nicht vergeudet, ihr zu folgen.

Irgendwann nahm er die Melodie von Klaviertasten wahr. Obwohl sie alles andere als harmonisch klang – das war ganz klar die Fingerführung eines Anfängers – folgte er ihr zu einer geschlossenen Doppeltür. Robin liebte Kompositionen am Klavier, wofür seine Freunde ihn nicht selten mit einem skeptischen Blick verspottet hatten. Jetzt waren sie alle tot …

Plötzlich heulte das Klavier auf. Die Person an dem Instrument schlug wild auf die Tasten ein und schrie hysterisch auf.

Robin zuckte zusammen, und sein Herz trommelte auf einmal hart gegen seinen Brustkorb, als fühlte es sich zwischen den Rippen gefangen. Ihm wurde klar, dass jegliche Pein, die in Filmen oder Serien akustisch dargestellt wurde, weit von dem Horror dieser Geräuschkulisse hier entfernt war! Weil das hier echt war! Seine Instinkte rieten ihm zur Flucht, doch stattdessen kam der Horror zu ihm: Auf einmal schwang die Tür vor ihm auf und gab den Blick auf einen Mann mittleren Alters frei, der sich gewaltsam aus den Armen zweier Therapeuten zu befreien versuchte. Sein wildes Haar sah aus, als wäre es seit längerer Zeit nicht mehr gewaschen worden, und sein Bart wirkte ebenso verwildert. Der Fremde gab ein verwahrlostes Bild ab. Sein Gebrüll, das durch keine Tür mehr gefiltert wurde, hallte nun im Flur wider und gab Robin eine Vorstellung davon, wie Dämonen klangen, würden sie eine Stimme besitzen.

Als der Mann Robin erblickte, verstummte er plötzlich. Mit weit aufgerissenen Augen, in denen nichts als blanker Wahnsinn lag, und einem Grinsen, das eine lückenhafte, fleckige Zahnreihe entblößte, begann der Verrückte auf einmal zu reden: »Die wollen mich umbringen! Die wollen mich umbringen!« Seine Worte klangen zittrig und heiser vom Geschrei. »Sie werden dich auch umbringen! Sie bringen uns alle um!«

Daraufhin brach er in ein hysterisches Gelächter aus, das noch lange in Robins Kopf vorhielt, nachdem die Therapeuten den Mann weggebracht hatten.

Der 19-Jährige verharrte eine Weile erstarrt am Fleck. In seinem Kopf herrschte ein Augenblick lang Stille, als wäre sein Gehirn trockengelegt worden. Nachdem er sein Nervenkostüm wieder glattgestrichen hatte, nahm er einen tiefen Atemzug.

Vor dem Unfall hatte Robin sich nie mit psychischen Erkrankungen befasst, weil es keine Betroffenen in seinem Leben gegeben hatte. Dementsprechend war sein Wissen über den Umgang mit psychisch Kranken sehr beschränkt und von Vorurteilen belastet. Aber wenn er sich einer Sache gewiss war, dann die, dass sich das in den kommenden Wochen ändern würde. Und, dass er diese Nervenheilanstalt geschädigter verlassen würde, als er sie betreten hatte.

»Hey!«

Robin zuckte regelrecht zusammen. Offenbar hafteten noch immer Rückstände des Schreckens in seinen Knochen. Er drehte sich um und fand ein paar blassblaue Augen, die ihn aus zusammengepressten Lidern anstarrten. Es war der Junge, der vorhin das Mädchen namens Emily in den Ruheraum gebracht hatte. Ein viel zu langer, blonder Pony rahmte sein rundes Gesicht ein und versuchte offenbar, die Akne auf seiner aschfahlen Haut zu verdecken. Auf seinem viel zu engen T-Shirt prangte ein Zelda-Logo in Neonfarben, und seine Chucks im Schachbrettmuster hatten ihre besten Tage bereits hinter sich. Robin schätzte ihn auf um die 15 bis 17 Jahre.

»Oh, sorry! Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte der Fremde und hob beschwichtigend seine Hände.

»Ich … Nein, schon okay«, entgegnete Robin.

»Das gerade eben war Frank, der schwierigste aller Patienten«, führte der Junge aus. »Jedes Mal, wenn die Therapeuten seine Medikamente absetzen, wird er … so.« Ferner fügte er hinzu: »Irgendwann gewöhnt man sich aber an seine Ausbrüche.«

»An so etwas gewöhnt man sich? Willst du mich verarschen?«

Auf einmal spannte sich der Körper des anderen an, ganz so, als hätte ihn eine plötzliche Angst ergriffen. Oder Zorn?

»Achte unbedingt auf deine Wortwahl«, hatte seine Mutter ihm geraten. »Begriffe aus deinem alltäglichen Sprachgebrauch können psychisch kranke Menschen verletzen. Du weißt nicht, welche Bedeutung sie für sie haben. Das Gleiche gilt auch für die Betonung. Der Klang der Stimme kann eine Aussage komplett verändern. Also drück dich stets bedacht aus.«

Hatte der Junge seinen letzten Satz etwa als Provokation aufgefasst?

Augenblicklich überkam Robin der Drang nach einem ›Meine Güte, jetzt stell dich nicht so an!‹-Seufzer, und das beschwor gleichauf die Worte von Simon herauf, der ihm zu dieser Haltung nahegelegt hatte: »Ärgere dich nicht über die Sensibilität psychisch kranker Menschen. Ihre Empfindlichkeit ist ein Aushängeschild dafür, wie schlecht es ihnen wirklich geht. Deine Freunde kochen und backen für dich schließlich auch mit laktosefreier Milch, oder?«

Robin hatte Simon immer für ein Vorzeigeexemplar aus einem ›Zum Spießer in drei ganzheitlichen Schritten!‹-Katalog gehalten. Aber mit diesen Worten hatte er tatsächlich einen Pfeil in Robins Achillesferse gerammt und ihm seine eigene Oberflächlichkeit vor Augen geführt.

So rief sich der 19-Jährige zu mehr Achtsamkeit auf und fügte bemüht hinzu: »Das war nicht persönlich gemeint. Es fällt mir nur schwer, zu glauben, dass das zu irgendeiner Form von Alltag für mich werden kann.«

»Oh, nein, alles gut!«, winkte sein Gegenüber ab und hatte offensichtliche Mühe, den Blickkontakt aufrechtzuerhalten.

Obwohl Robin nicht sehr versiert im Lesen anderer Leute war, war er sich sicher, dass der Junge seine aufgebrachte Reaktion leugnete. Aber Robin ging nicht weiter darauf ein, denn er wusste nicht, wie viele scharfe Klingen unwissentlich in seinen Worten lauern mochten.

Dieses Maß an Rücksicht war wirklich eine Herausforderung …

»An Orten wie hier ist alles anders, und vieles davon ist gar nicht so schlecht, glaub mir«, fuhr der Junge fort. »Jeder hier hatte mal seinen ersten Tag, und ich kann mir vorstellen, was gerade in dir vorgeht.«

Jedes Mal, wenn der Blonde glaubte, dass Robin wegsah – und das tat er nicht –, wanderten seine Augen über Robins Körper, und das nicht gerade im frivolen Sinne. Wenn ihm die Gesichtszüge des anderen nicht so fremd wären, wäre Robin sich sicher gewesen, dass da etwas Abweisendes in seinem Antlitz lag.

»Ach ja? Und welche Vorteile bringt so eine Nervenheilanstalt mit sich?«, fragte Robin.

»Die Menschen hören dir aufrichtig zu. Damit meine ich: Sie hören dir wirklich zu. Du kannst du selbst sein, ohne zu fürchten, missverstanden, ausgegrenzt oder angezweifelt zu werden. Hier sagt dir niemand: »Stell dich nicht so an!« oder: »Anderen geht’s so viel schlechter!« oder: »Komm von deinem Egotrip runter, und fang an zu leben!«

»So etwas hat dir schon mal jemand an den Kopf geworfen?«, empörte Robin sich.

»Ja, der erste Ex-Freund meiner großen Schwester. Er war auch der Meinung, dass Menschen mit Behinderung oder Frauen keine gesonderten Parkflächen auf Parkplätzen zustehen, weil sie für dieses Recht auch die ›gleichen Leistungen‹ erbringen sollen. Diese Aussage ist ein Widerspruch an sich.«

Robin spürte, wie ihm die Fassung entglitt. Wie konnte man jemandem etwas derart Widerwärtiges vorhalten? Leute wie dieser Ex-Freund gehörten in keine Nervenheilanstalt, sondern in eine Synapsenheilanstalt! Nur existierten auf diesem Gebiet noch keine erfolgversprechenden Therapien, weil die Menschheit sich lieber damit befasste, die künstliche Intelligenz zu fördern, anstatt die natürliche.

»Solche Aussagen wirst du hier niemals hören. Das Problem ist nur, dass diese seelische Freiheit ein Ablaufdatum hat. Man kann nicht ewig hierbleiben. Jeder Patient jenseits der Stufe III wird irgendwann wieder entlassen, und viele fürchten sich regelrecht davor, wieder der engstirnigen, intoleranten Welt jenseits dieser Mauern zum Fraß vorgeworfen zu werden. Aus diesem Grund kehren viele Patienten hier regelmäßig ein und aus.«

Robin begegnete dem ehrlichen Einblick in das Botanikum mit gemischten Gefühlen. Auf der einen Seite bekam er eine neue Sicht auf diese Einrichtung und ihre Bedeutung für die Patienten – er wusste, dass er bis zu seiner eigenen Einweisung stets ein von Klischees belastetes Bild über Nervenheilanstalten gehabt hatte. Auf der anderen Seite jedoch, war da die beunruhigende Gewissheit, dass der Effekt der Therapien nur von begrenzter Dauer war. Wenngleich die Mauern des Botanikums Schutz versprachen, durfte das Ziel nicht in einer ›Erholungskur in einem Schutzbunker‹ liegen, sondern darin, die Patienten so weit zu stärken, dass sie sich den Schattenseiten der Welt behaupten konnten. Aber das sagte sich so leicht …

»Ich bin übrigens Dominik«, stellte sich der Kleinere vor. »Du bist der Neue, hm?«

»Das klingt so, als hätte sich das bereits herumgesprochen.«

»Hier gibt es nie leere Zimmer. Sobald einer entlassen wird, kommt auch schon der Nächste. Du bist in Zimmer 2.38, oder?«

»… Ja.«

Dominik presste seine schmalen Lippen zu einer flachen Linie, und Robin wusste nicht, was das bedeutete.

»Dann teilst du dir dein Zimmer mit Frederik.«

»Vermutlich?«

Wie es schien, war Dominik besser über Robins Einweisung aufgeklärt, als er selbst.

Daraufhin zog der Blonde plötzlich seinen Mund kraus, als hätte er in eine saure Zitrone gebissen.

»Gibt es irgendetwas, was ich über diesen Frederik wissen muss?«, fragte Robin ihn daraufhin.

»Frederik ist eigentlich ein Patient der Stufe I. Weil zum Zeitpunkt seiner Einweisung jedoch kein Zimmer im ersten Stock mehr frei war, wurde er im zweiten Stock untergebracht. Na ja, Frederik ist …« Er seufzte. »Ich meine, er ist nicht leicht. Er ist launisch und nimmt keine Rücksicht auf die anderen.«

Was schon ein Widerspruch zu Dominiks ›Hier ist jeder für jeden da‹-Utopie war.

»An Regeln hält er sich auch nur nach Lust und Laune. Niemand hier kommt mit ihm klar, und er will auch nicht, dass jemand mit ihm klarkommt. Die einzigen Ausnahmen sind seine Cousine und ihr Freund.«

»Die sind zusammen hier?«

»Ja, es sind einige Mitglieder dieser Familie hier. Alle im gleichen Alter, ziemlich rebellisch, aufbrausend und abgeschottet vom Rest der Patienten. Halten ständig irgendwelche okkulten Rituale zusammen ab und legen Tarotkarten und so. Ich meine, ich habe keine abfällige Meinung über esoterische Praktiken. Jeder soll tun, was ihn glücklich macht. Aber …«

»Aber was?«

Dominik trat einen Schritt näher an Robin heran, als wollte er sichergehen, dass niemand anderes ihn in diesem leeren Korridor hören konnte: »Man sagt, dass Frederik, Katharina, Carolina und Caspar in ihren Karten den Tod vorhergesehen haben. Zwei Tage später hat sich Frederiks ehemaliger Zimmergenosse umgebracht.«

Robin erschauderte.

»Was?!«

»Frederik ist gef… Provozier ihn einfach nicht, okay? Halt dich am besten von dieser ganzen Familie fern.«

Und damit hatte sich die soeben erst aufgeklarte Aussicht auf seine Zeit hier wieder verdunkelt. Gab es Beweise dafür, dass es ein Suizid gewesen war? Oder hatte dieser Frederik vielleicht nachgeholfen, um seine Deutung der Tarotkarten zur Realität zu machen? Nein, so weit würde niemand mit einem gesunden Menschenverstand gehen! Aber ›gesund‹ war auch wieder so ein diskussionsbesessener Begriff …

Vielleicht polierte Dominik aber auch Tatsachen mit Lügen auf, um Robin zu kränken? Denn irgendwie ließ ihn der Eindruck nicht los, dass der Blonde ihn nicht ausstehen konnte.

Robin seufzte stumm – bloß nicht laut!

Er wusste nicht, wo er den ersten Spatenstich setzen sollte, um nach Wahrheit und Lüge zu graben. Der sicherste Weg, den er bislang gehen konnte, verlief zwischen: »Vertraue nicht gleich jedem« und »Misstraue nicht gleich jedem.«

Obwohl es aufgrund des Unwetters ausgesprochen düster war, hafteten tiefschwarze Schatten an ihren Füßen, die an der farblosen Wand hinaufkletterten. Robin überkam plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden und suchte einen Blick in seinem düsteren Ebenbild. War es denn überhaupt sein eigener Schatten? Oder war es der eines anderen?

Seit dem Unfall mied Robin jedwede spiegelnde Oberfläche, Fotografien von sich oder sonstige Darstellungen seiner selbst, weil er seither nicht mehr sichergehen konnte, wer zurückstarrte …

»Ich werde auf mich aufpassen«, versprach Robin wahrheitsgemäß.

Seine Stimme wurde von dem hohen Raunen des tosenden Regens begleitet.

»Wo lagern die hier eigentlich die konfiszierten Sachen?«, fragte er daraufhin.

»Im Lager neben dem Hauptbüro.«

»Und wo ist das?«

»Neben dem Hauptbüro.«

Robin schnaubte stumm.

»Was du nicht sagst«, entgegnete er mit von Ungeduld erschaffener Härte. »Gibt es eine Zimmernummer oder muss ich ›Maps‹ fragen?«

Dominik zögerte einen Moment, und Robin interessierte es jetzt nicht, ob das daran lag, dass er von Robins unerwarteter Schlagfertigkeit überrascht war, oder, ob es daran lag, dass er sich bemühte, Robin nicht mit seinem blanken Arsch ins Gesicht zu springen.

»Nummer zwei«, entgegnete der Blonde monoton.

»Und darauf kann ich mich verlassen?«

»Wieso nicht? Glaubst du, ich lüge?«

Die Aggression des anderen prallte an Robin ab, weil er die Konversation mental bereits verlassen hatte und Pläne für einen Einbruch in besagten Raum schmiedete. Die Szenarien, die sich augenblicklich in seinem Kopf zusammenmengten, pinselten ein schmutziges Lächeln in sein Gesicht.

»Das finden wir raus. Komm mit.«

Jeglichen Gedanken an die unheilvolle Begegnung mit Frank bereits vergessen, drängte Robin zum Aufbruch, wurde aber von einem »Warum soll ich mitkommen?« am Fleck gehalten. Unbeeindruckt packte er den Kleineren am T-Shirt, um ihn mit sanfter Gewalt mit sich zu ziehen.

»Weil ich einen Türsteher brauche. Jetzt komm!«

Dominik schob Robins Hand weg, folgte ihm aber anstandslos. Das lag daran, dass Robins Eilschritt sowie sein Grinsen, das dem eines Kindes glich, wenn es im Begriff war, Blödsinn zu treiben, überzeugend auf den grummeligen Link wirkten. Robin wurde nachgesagt, über eine ansteckende Heiterkeit zu verfügen, die ihn zu einem gern gesehenen Gast und Freund machte.

Nur zwei Korridore später jedoch ging der Blonde voran, da er sich besser auskannte und Robin sich in den Bildern der unbekannten Umgebung verlor.

Eine zu einem Spalt offenstehende Tür, durch die ein schwacher Lichtstrahl gleißte, der wie ein fehlgesetzter Pinselstrich in dem grauen Gemälde aussah, weckte seine Aufmerksamkeit. Neugierig trat er heran, während Dominik fast schon um die nächste Ecke in diesem Irrgarten an gleich aussehenden Korridoren gebogen war. Robin stieß die Tür mit seiner Fußspitze auf. Mit einem lauten Knarzen, das ungefähr dem Jaulen von ›Chewbacca‹ aus ›Star Wars‹ gleichkam, gab sie den Blick auf das atemberaubende Gefilde eines Putzraums frei. Enttäuscht schloss er zu Dominik auf.

In den Mauern des Botanikums begegneten sich mehrere Epochen. Die weitläufigen Gänge, die von nackten Gesteinswänden getragen und von einer hochliegenden, abgerundeten Decke geschlossen wurden, erschufen die Atmosphäre eines Schlosses. Der mineralische Duft hingegen erinnerte an eine Tropfsteinhöhle, während Gerätschaften wie PC‘s und ein hochwertiges Alarmsystem die Moderne repräsentierten.

»Sind eigentlich alle Therapeuten so charmant wie Frau Hentfort?«, fragte Robin irgendwann.

»Nein, nur sie ist so. Die verliert sich häufig im Jähzorn, wenn sie von Gott schwadroniert, was irgendwie widersprüchlich ist. Die anderen Therapeuten sind alle ganz nett.«

»Wo du das ansprichst … Ist das hier eine gläubige Einrichtung?«

»Nein, die Glaubenszugehörigkeit wird jedem selbst überlassen. Ich meine, hier kehren häufig Homosexuelle ein, die von der Familie verstoßen wurden und/ oder durch die Hand unserer ach so aufgeschlossenen Gesellschaft Leid erfahren haben – willkommen im 21. Jahrhundert! Deren Offenheit für Religion ist da etwas beschränkt, wie du sicher verstehst …«

»Ich habe das Gefühl, dass hier so einige grausige Geschichten auf mich zukommen werden.«

»Worauf du dich verlassen kannst.«

Robin straffte sein Gehör und schulterte wachsam seinen Blick, um sicherzustellen, dass sie nicht verfolgt wurden. Denn was er anstrebte zu tun, würde ihm wahrlich keine heiligen Lobpreisungen einbringen. Endlich blieb Dominik vor der gesuchten Tür stehen und sagte: »Hier ist das Lager.«

Robin trat an die Tür heran und ging in die Knie, um einen prüfenden Blick auf das Türschloss zu werfen. Mit erfahrenen Augen tastete er das Verriegelungssystem ab und suchte nach Schwachstellen, die er ausnutzen konnte. Dass er rasch fündig wurde, überraschte ihn dann doch etwas. Anstatt einem Sicherheitsschloss fand er einen einfachen Profilzylinder mit einem S-förmigen Schlüsselloch vor. Für seine talentierten Hände war das keine Hürde, sondern eine Einladung mit Luftkuss. Das war eine leichte Aufgabe für seine Werkzeuge: Stifte aus gehärtetem Titan. Robin trug sie als Pseudo-Ohrringe immer an seinen Ohren. Eine lange Zeit und reichlich Praxiserfahrung hatten ihn dazu gebracht, Länge und Durchmesser genauestens zu optimieren, um zwei Maße zu erarbeiten, die das größte Spektrum an zu knackenden Schlössern abdeckten. Diese hatte er dann extra anfertigen lassen.

Selbstverständlich war Robin nicht stolz auf seinen Ausrutscher in die Kleinkriminalität aus seinen Jugendtagen, das bedeutete jedoch nicht, dass er sich sein Talent für Einbrüche nicht weiterhin zu Nutze machen konnte.

»Aber Hauptsache, 15 cm dicke Sicherheitstüren an unsere Zimmer anbringen«, raunte er.

Die konnte er mit seinen Titanstiften jedenfalls nicht öffnen …

»Hast du jetzt vor, die Tür zu knacken, oder was?«

Robin liebte die Ironie in den Stimmen der Unwissenden.

»Nein, nicht jetzt. Ich muss erst herausfinden, zu welcher Uhrzeit hier am wenigsten Betrieb ist.«

Der 19-Jährige erhob sich aus seiner Hocke und fing Dominiks Blick auf, in dem sowohl Skepsis als auch Verblüffung lagen.

»Meinst du das jetzt ernst?«

»Ja, und das bedeutet, dass ich dir einen Vertrauensvorsprung gebe. Verpetz‘ mich nicht!«

Dominiks Antlitz nahm nun gänzlich den Ausdruck des ›Du hast nen Schaden!‹-Gedanken an.

»Gibt es etwas, was ich dir aus dem Raum besorgen kann?« »Willst du dir mein Schweigen erkaufen?«

»Ja«, entgegnete Robin schonungslos. »Und?«

Sein Gegenüber starrte ihn wieder aus schmalen Augen an und äußerte seine Zweifel: »Du glaubst ernsthaft, dass du da reinkommst?«

»Lass es mich mal so sagen: Ich weiß, was ich tue.«

Die Lider des pummeligen Links waren inzwischen so schmal, dass Robin sich ernsthaft die Frage stellte, ob er überhaupt noch etwas sehen konnte.

»Bist du ein Krimineller oder so etwas?«

Nach einem Seufzer begann Robin, sich zu erklären: »Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich 15 war, weil meine Mutter mehr mit ihrer Arbeit verheiratet war als mit meinem Papá. Und dann hat sie sich auch noch direkt diesen Lutscher da angelacht. Da bin ich abgerutscht … Aber das liegt in der Vergangenheit. Es waren bloß Kleindiebstähle und ne Menge Alkohol, mehr nicht. Ich war nie gewalttätig!«

Auf einmal erweichten sich Dominiks Gesichtszüge, als hätte man ein Schwert gesenkt, das man ihm zuvor bedrohlich an die Kehle gehalten hatte. Wie kam Robin plötzlich auf diesen Vergleich?

»Deshalb bist du hier?«, wollte der Blonde wissen.

»Ich … Nein. Ich bin aus einem anderen Grund hier.«

»Und, möchtest du darüber reden?«

Plötzlich wusste Robin nicht mehr, wie er diese Konversation fortführen sollte. Dominiks radikaler Gemütswandel rief Skepsis in ihm hervor, der ihn an einen Schneideweg führte.

»Ich wollte dir nicht zu nahe treten, sorry«, sagte der Blonde auf einmal.

Robin hasste dieses Wort. ›Sorry‹ war so ein Arschloch-Begriff, der noch nicht mal nach einer Pseudo-Entschuldigung klang! Nichts war geheuchelter, als dieses scheinheilige Wort, das mehr als offensichtlich aussagte, wie scheißegal dem Sprechenden das Anliegen des anderen war.

Dennoch beschloss Robin, seine Geschichte zu teilen. Er wusste, dass dieses ›In-sich-Hineinfressen‹ äußerst gefährlich für die Psyche sein konnte.

»Vor acht Wochen war ich mit den Jungs unterwegs«, fing er an zu erzählen. »Wir waren auf dem Rückweg zur Uni, als so ein Bastard uns die Vorfahrt genommen hat ... Keiner hat überlebt, außer ich.« Robin spürte augenblicklich die Wut in sich ausbrechen. »Ich bin zwei Wochen später in einem Krankenhaus wieder aufgewacht. Aber nicht allein. Seit dem Unfall habe ich eine zweite Persönlichkeit in mir. Ihn.«

2. ZUG

ABBILD DES ANDEREN IN MIR

Frederik drückte den Zigarettenstummel auf dem Boden aus und sagte gleichgültig: »Ich drück dir heute Nacht ein Kissen aufs Gesicht.« »Mit ›Careless Whisper‹ von George Michael im Hintergrund?« A

Bilder von rot gefärbten Verbänden, Blumensträußen mit Besserungswünschen und Apparaturen zur Herzrhythmuskontrolle hielten Vorherrschaft. Robin sah die Einrichtung des Zimmers auf der Intensivstation vor sich, als hätte er sie erst am Vortag verlassen. Er erinnerte sich an den eigenartigen Geschmack, als man den Schlauch aus seinem Mund entfernt hatte, und hörte noch immer die Hilfeschreie der Alzheimerpatientin, die den Gang runter gelegen hatte. Und er konnte ebenso den Schrecken heraufbeschwören, den er empfunden hatte, als er das erste Mal nach dem Unfall in den Spiegel gesehen hatte …

»Wow, das … das tut mir leid«, hörte er Dominik sagen. »Echt, das … wow.«

Robin ließ sich von der Stimme des anderen wieder in die Gegenwart zurückholen.

»Ich habe die Fotos von Max‘ Auto gesehen, Dominik. Es war zusammengepresst wie eine Ziehharmonika. Es misste kaum mehr anderthalb Meter. Max, Tobi, Danni und Tom sind bis zur Unkenntlichkeit zerquetscht worden. Und dann bin da ich, mit zwei gebrochenen Rippen, einem gebrochenen Arm, einer zerstörten Niere und einer Gehirnerschütterung. Polizei und Ärzte sagen, das sei ein unerklärliches Wunder. Na ja, bis auf die Sache mit dem Anderen, der fortan in mir lebt. Die Therapeuten meinen, er wäre eine Manifestation eines unaufgearbeiteten Traumas aufgrund der Scheidung meiner Eltern. Der Scheidung meiner Eltern! So ein Bullshit!«

»Das klingt übel.«

Robin sammelte seine entgleitenden Nerven wieder ein.

»Wann immer der Andere in mir zum Vorschein kommt, bekomme ich nichts davon mit. Manchmal komme ich an Orten zu mir, ohne zu wissen, wie ich dort hingelangt bin«, führte er weiter aus. »Meine Mutter sagt, er, also er, wäre gruselig. Obwohl wir das selbe Gesicht haben, erkennt sie ihn immer sofort, weil meine Augen dann angeblich so matt wirken. Sie sagt, es wäre, als würde sie einen Fremden anstarren.«

Dominik wirkte plötzlich hoch interessiert, und Robin wusste nicht, ob ihn das freuen oder beleidigen sollte.

»Und wie ist er? Ich meine, wie verhält er sich? Sagt er Dinge, die du nicht sagen würdest?«

»Meine Mutter und Simon sagen, dass er nicht viel redet. Stattdessen beobachtet er sie immerzu. Und er ist … sorglos. Aber nicht auf eine positive Art und Weise, verstehst du? Er schlendert herum und pfeift immer wieder das selbe Lied. Ein Lied, das ich nie zuvor gehört habe oder zumindest vergessen habe. Sogar mein Vater meint, er wäre unberechenbar.«

Dominik sortierte das Gehörte in seine geistliche Kartei ein.

»Verfügt der Andere in dir auch über besondere Fähigkeiten, die du selber nicht beherrschst? Solche Fälle gibt es! Ich habe mal von einer Frau gelesen, deren andere Persönlichkeit Spanisch gesprochen hat, obwohl ihr eigentliches Ich das nicht konnte.«

Das klang doch etwas sehr weit hergeholt. Dennoch zögerte Robin, weil ihm zu der gestellten Frage tatsächlich etwas Zutreffendes einfiel.

»Er scheint eine höhere Schmerztoleranz zu haben als ich. Er ist trotz Verbänden, Gips und OP-Wunden durch die Krankenhausflure spaziert, als wenn nichts wäre. Ich muss dir nicht sagen, wie das für mich war, nachdem ich wieder zu mir gekommen bin. Dieses Arschloch.«

Es kletterte nur ein leises »Wow« über Dominiks Lippen, während seine nun großen Augen suggerierten, dass er gedanklich in Szenarien anwesend war, die er zum Glück nicht selbst erlebt hatte.

Sie schwiegen einen Moment, den Robin für einen tiefen Atemzug nutzte.

»Hm, vielleicht haben die Therapeuten mit dieser Manifestationssache nicht ganz Unrecht? Also im Ansatz zumindest«, überlegte Dominik laut. »Es gibt Menschen, die infolge eines einschlagenden Ereignisses eine weitere Persönlichkeit entwickelt haben, quasi als Schutzmechanismus und zur Aufarbeitung des traumatischen Erlebnisses. Und als sie das Trauma überwunden haben, ist die andere Persönlichkeit wieder verschwunden. Vielleicht ist deine multiple Persönlichkeitsstörung aufgrund des Autounfalls entstanden? Ich meine, wie soll ich sagen … Ein Auto kann man ersetzen, Menschen nicht. So etwas überwältigt man nicht so einfach, und schon gar nicht in acht Wochen. Vielleicht ist das die Methode, mit der dein Hirn versucht, das Ganze zu verarbeiten?«

»Ja, davon habe ich auch gehört …«, widersprach Robin ihm nicht und suchte endlich wieder den Blick des anderen. »Hör zu, wann immer ich mich eigenartig verhalten sollte: manisch, hysterisch, unheimlich, dann mach dir bitte bewusst, dass das nicht ich bin, okay?«

Der pummelige Link zuckte mit seinen Schultern und entgegnete: »Okay.«

Robin saugte seine Lungen bis zum Anschlag mit Sauerstoff voll und blies die Luft wieder aus, als wollte er den Anderen in sich damit aus seinem Körper rauspusten.

»Und, weshalb bist du hier?«, wollte Robin wissen.

Dominiks Augen schoben sich wieder zu schmalen Schlitzen zusammen. Nach einer kurzen Weile sagte er dann schließlich: »Sieh mich doch an.«

Offenbar glaubte der Blonde, dass der Satz ein Anstoß für die Antwort sei, aber Robin verstand ihn nicht.

»Und?«

Daraufhin hob Dominik seine Hände, als wenn er nicht fassen könnte, dass der 19-Jährige Trottel das Offensichtliche übersah.

»Ich bin hässlich wie die Nacht!«

Robin legte seine Stirn in Falten und wartete auf eine Ergänzung zu der getätigten Aussage, um sie zu begreifen. Doch Dominik fügte nichts hinzu.

»Wie … Du bist in einer Nervenheilanstalt, weil du glaubst, dass du hässlich bist?!«

»Ich bin in einer Nervenheilanstalt, weil mich jeder hässlich findet! ›Gollum‹, ›Yeti‹, ›Speckbomber‹ oder ›Beleidigung an das menschliche Auge‹ sind noch die harmlosen Namen, mit denen man mich anspricht.«

Robin fehlten die Worte. Seine Mitmenschen behandelten Dominik derart abartig, weil sie sein Gesicht nicht mochten? Überall auf dem Planeten herrschte Hungersnot, Armut, Gewalt gegen Homosexuelle und Frauen, politische Ungerechtigkeit, Krieg, steigende Rohstoffknappheit, Massenrodung der Wälder und serielle Ermordung von Tieren. Aber diese Intelligenzallergiker machten lieber das Gesicht eines anderen zu ihrem Problem? Was stimmte mit der Menschheit nicht?

Robin fand, dass Mobbing jeglicher Art ausschließlich von Narzissten und Menschen mit geringem Intelligenzquotienten ausgeübt wurde. Und blöderweise vermehrten sich intellektuell Minderbemittelte auf diesem Planeten wie Ungeziefer.

In regelmäßigen Abständen erlaubte sich Robin Phasen, in denen er Medienberichte mied, weil er es einfach nicht ertrug, jeden Tag lernen zu müssen, dass wieder eine Frau vergewaltigt und/ oder getötet wurde und der Täter nach zwei Jahren Haft wieder auf freiem Fuß war. Dass Menschen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Religion und ihres Geschlechts Grundrechte entzogen wurden. Dass Kinder entführt wurden. Die Welt entwickelte sich entweder rückwärts oder an den falschen Stellen vorwärts. Und Dominik war eines von vielen Gesichtern, die den kümmerlichen, geistigen Zustand der Gesellschaft reflektierten.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, gestand Robin, nachdem er sich aus dem Strudel seiner von Abscheu getränkten Gedanken gezogen hatte. »Wobei ich dazu eigentlich sehr viel sagen möchte.«

»Schon gut. Alles, was du sagen kannst, wurde mir bereits gesagt.«

Der 19-Jährige musterte sein Gegenüber unauffällig. Hatte Dominik ihn deshalb mit solcher Abneigung angesehen? Robin würde nicht so weit gehen und sich selbst als eitel bezeichnen, aber er war sich seines attraktiven Erscheinungsbildes durchaus bewusst. Die Gene seiner Eltern hatten sich in einem ausgewogenen 50:50-Verhältnis bei ihm durchgesetzt. Seine Augen waren so groß wie die seiner Mutter und so geschwungen wie die seines Vaters. Die Augenfarbe, die runden Lippen und die harmonischen Gesichtskonturen, nicht zu markant, aber auch nicht zu zart, hatten ihm seine nordische Mutter gegeben. Während das dichte, leicht gewellte, pechschwarze Haar, die ebenso dunklen, vollen Wimpern und die leicht gebräunte Haut die seines mexikanischen Vaters waren. Durch seine sportlichen Aktivitäten besaß er eine definierte Muskulatur, welche sich infolge seiner Verletzungen, die keinen Sport zugelassen hatten, dezent zurückgebildet hatte.

Und dann war da Dominik, der ihn aus schmalen, wässrig blauen Augen ansah. Sein rundes, blasses Gesicht war von einer Streuseldecke aus Pubertätspickeln überzogen und wurde von einer klobigen Nase und dünnen Lippen aufgebrochen. Seine Statur ließ vermuten, dass er sich größtenteils aus Fertiggerichten, Süßwaren und Softdrinks ernährte – oder er litt an einer Schilddrüsenunterfunktion? Seinen langen, aschblonden Pony ließ er wohl absichtlich über seine Wangen fallen, um damit seine Akne zu verdecken. Einen Gefallen tat er sich damit aber nicht. Ein kurzer, sauberer Schnitt würde ihm definitiv einen leichteren und ordentlicheren Look geben. Aber diesen Ratschlag hütete Robin vorerst auf seiner Zunge. Ihm legte sich nämlich mehr und mehr der Verdacht auf, dass Dominiks Abneigung ihm gegenüber in seiner Attraktivität begründet lag. Immerhin hatte der Blonde sich wegen seiner ›Hässlichkeit‹ einweisen lassen …

»Es tut mir leid, dass dir so etwas widerfahren ist. Vermutlich fürchtest du dich ebenfalls vor dem Tag deiner Entlassung, oder?«

»Ja und nein. Ich meine, ich kann mich ja nicht ewig …«

Verstecken. Dominik musste den Satz nicht zu Ende führen. Robin verstand.

Eine von Unbehagen geprägte Stille legte sich über sie. Und doch war es zu leise. Es dauerte einen Augenblick, bis Robin realisierte, dass es zu regnen aufgehört hatte. Wann war das geschehen? Neugierig trat er an das nahegelegene, große Fenster heran und ließ seine Augen über die diesige Einöde schweifen, deren Konturen durch wattigen Nebel hervorlugten. Die Sonne versteckte sich noch immer hinter einem dichten, grauen Wolkenteppich, und es hüpften weiterhin vereinzelte Windböen über die Bäume hinweg. Aber es fiel kein Regentropfen mehr. Offenbar waren die Trauer und der Zorn des Himmels endlich versiegt.

»Du musst wieder zur Therapie, oder?«, fragte Robin den pummeligen Link, ohne sich vom Ausblick auf die graue Einöde abzuwenden.

»Theoretisch schon.«

»Und praktisch?«

»Steht es jedem Patienten frei, eine Therapie zu verlassen, wenn sie mental zu viel abverlangt. Wie gesagt, niemand wird hier zu etwas gezwungen.«

Bedeutete das, dass Dominik durchaus bereit war, ihm Gesellschaft zu leisten? Auf Robins unaufdringliche Bitte hin, kehrte Dominik tatsächlich nicht in die Musiktherapie zurück und führte den Neuankömmling stattdessen durch das Gebäude.