Herzpurzelbäume - Heidi Engel - E-Book

Herzpurzelbäume E-Book

Heidi Engel

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Beschreibung

Nachdem Sarah mehrere gescheiterte Beziehungen erlebt hat, zweifelt sie mittlerweile stark an der Liebe, obwohl sie sich insgeheim immer noch nach einem Partner sehnt. Das alljährliche Seefest stellt ihre Denkweise auf die Probe. Zeigen sich dort Möglichkeiten, an die sie nicht mehr geglaubt hat. Hin- und hergerissen zwischen Noah, einem faszinierenden Fremden, den sie beim Fest kennenlernt, und ihrem charismatischen Chef Neukomm, kann sie nicht anders, als ihre Komfortzone zu verlassen. Doch als sie sich entscheidet, ziehen dunkle Wolken am Horizont auf. Wird die junge Liebe den Winden der Vergangenheit standhalten können? Der erste Roman von Heidi Engel erzählt viel mehr als nur die Wirren romantischer Beziehungen. Es ist eine Geschichte über Selbstfindung, Vertrauen und dem Streben nach wahrer Erfüllung. Er erinnert uns daran, dass Liebe und Glück manchmal an unerwarteten Orten zu finden sind, und es sich lohnt, an seine Träume zu glauben.

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Über die Autorin:

Heidi Engel wuchs in Plasselb auf. Verbrachte einige Zeit in Düdingen und wohnt nun mit ihrer Familie im Emmental.

Ihrem erlernten technischen Beruf bleibt sie treu und arbeitet in Burgdorf.

Das Lesen ist, nebst ihrer Familie, ihre große Passion. Es vergeht kein Tag, an welchem sie nicht in einem Buch liest. Mit ihrem ersten Roman erfüllt sie sich einen lang ersehnten Traum.

Mehr Infos unter: https://heidiengel.ch

Für Fred und Ladina

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 1

Für sämtliche Bürokollegen von Sarah ist heute ein stinknormaler Freitag im Sommer. In einigen Stunden beginnt das Wochenende und eine anstrengende Arbeitswoche gehört der Vergangenheit an. Zwei Tage ohne Boss und Arbeitskollegen. Das Business-Outfit wird verbannt und weicht leichterer Bekleidung. Der nervenaufreibende Weckruf bleibt aus.

In Sarahs Privatkalender ist das heutige Datum in einem fetten Rot umrandet. Denn für sie ist dieser Freitag der Freitag schlechthin. Nach einer langen Durststrecke findet heute Abend der heißgeliebte Mädelsabend statt.

Nur Nicole, Anna und sie. Wie früher, als sie noch zur Schule gingen. Dazumal hatte jede für jede Zeit. Egal welche Uhrzeit das Ziffernblatt aufwies. Da gab es keine kräftezehrenden Jobs, keine ernsten Männerbeziehungen, keine eigene Wohnung und keine Verpflichtungen. Jedoch viele Träume – und die Realität war weit weg. Da zählten Partys, Kino und das Abhängen mit den Kolleginnen. Nicht auf morgen warten, nicht dem Gestern nachtrauern, direkt im Hier leben.

Und heute war es wieder einmal so weit. Sarah freut sich wie ein kleines Kind: den neuesten Tratsch zu hören, auf das Beisammensein, und darauf, alte Zeiten aufleben zu lassen. Die Geschichten über den ersten Liebeskummer Revue passieren zu lassen oder wie sie zusammen um die Häuser zogen. Vor allem aber, dass sie ihre beiden Freundinnen wieder einmal ausschließlich für sich hat.

Sarah hat die ganze Woche über ihre Wohnung auf Vordermann gebracht, gestern die Einkäufe getätigt und einige Leckereien vorbereitet. Vor lauter Vorfreude konnte sie kein Auge zumachen; sie ist die ganze Nacht ihre Todo-Liste durchgegangen. Damit ja nichts fehlt. Im Morgengrauen ist sie sich sicher, dass sie an alles gedacht hat.

Heute wird sie eine Stunde früher Feierabend machen, um in Ruhe die restlichen Vorbereitungen zu treffen. Doch bis dahin müssen acht Stunden Büroarbeit überstanden werden. Wobei Büroarbeit übertrieben ist.

Seit ein paar Tagen obliegt Sarah das Abtippen alter Akten, damit die digital abgespeichert werden können. Verstaubte, gelbliche Blätter mit für sie belanglosen Texten von anno dazumal. Langweiligere Arbeit gibt es in einem Umkreis von tausend Kilometern nirgends. Sarah fragt sich seit geraumer Zeit, warum sie diese öden Übertragungen machen muss. Ihr Arbeitgeber hätte genügend Freiwillige, die sich um solche Gelegenheitsjobs prügeln würden.

In der Regel ist Sarahs Arbeitstag hektisch. Jeder möchte eine Auskunft von ihr oder beansprucht ihre Unterstützung im Verfassen von anspruchsvollen Schreiben.

Kürzlich als Sarah Simone auf das Abtippen ansprach, hatte sie keine Erklärung, warum Neukomm sie ausgesucht hat.

Während Sarah eine Akte zur Hand nimmt, schweifen ihre Gedanken zum heutigen Abend. Seit Langem wird Anna wieder einmal mit von der Partie sein. Nachdem sie ihnen ihren Freund vorgestellt hatte, ließ sie Nicole und Sarah links liegen. Für Anna ist Tom momentan ihr Ein und Alles. Ihre Freundin schwebt auf Wolke sieben in ihrer rosaroten Liebes-Luftblase. Da wird auch ihre jahrelange Mädelsfreundschaft hintenangestellt.

Für Sarah ist Tom nichts als ein Eindringling. Der sich ihre Freundin wie ein Raubtier geschnappt hat und nicht mehr loslässt. Bis heute ist Sarah eifersüchtig auf ihn, da Anna ihre rare Freizeit lieber mit ihm verbringt als mit Nicole und ihr. Keine der drei hätte sich früher vorstellen können, dass ein Mann wichtiger ist als ihre Freundschaft.

Mittlerweile haben sich Nicole und Anna mit der Situation zurechtgefunden. Sie können eh nichts ändern. Beide sind glücklich, wenn sich Anna zu ihnen gesellt. Umso mehr werden derlei Zusammenkünfte zelebriert und die Lachmuskeln auf die Probe gestellt.

Keine hätte gedacht, dass Anna – das Mauerblümchen – die Erste sein würde, die sich einen Mann angelt. Sie, die sich lieber ihrer Geige und dem Klavier widmete, als einen Flirt vom Zaun zu brechen.

»Sarah!«, schreit ihr Boss durch die Räume. Sie zuckt zusammen und zieht den Kopf ein. Schlagartig sind ihre Tagträume vom Winde verweht. »Umgehend in mein Büro. Es eilt!«

Oh Gott, denkt Sarah. Was habe ich getan? Raschen Schrittes durchquert sie die Agentur. Vorbei am Ficus benjamini und den Bürokollegen, die sie mit großen Augen ansehen. Einzig Simone wirft ihr durch ihre Oversize-Brille einen aufmunternden Blick zu. Mit ihrem aschblonden Haar, das immer in einen strengen Dutt gezwängt ist, wirkte sie am Anfang auf Sarah wie Frau Schneeberger. Ihre Klassenlehrerin. Die bestrafte jeden Fauxpas mit zwanzig Seiten Schönschrift. Zum Glück ist die Chefsekretärin aus weicherem Holz geschnitzt.

Sarah hält inne und richtet ihre Frisur. Doch ihre braunen Locken lassen sich nicht zähmen. Bevor sie das Bürozimmer betritt, setzt sie ein Lächeln auf.

»Sie haben mich gerufen, Herr Neukomm?«

Er deutet auf den großen Mahagonitisch an der Wand. »Die Papierstapel müssen bis morgen sieben Uhr zu Broschüren zusammengestellt werden.«

Sarah fällt die Kinnlade runter und schaut ihn ungläubig an. Ihre Reaktion lässt ihn kalt. In einem ruhigen Ton fährt er fort: »Ein Original finden Sie neben den Stapeln. Im Ganzen sind es achtzig Stück, die erstellt werden müssen.«

Mit einem unguten Bauchgefühl fragt sie: »Bis wann benötigen Sie die Unterlagen?«

»Hören Sie doch zu! Bis sieben, morgen früh. Das sagte ich bereits.«

»Ist das Ihr Ernst?« Sarah blickt auf ihre Uhr. »In der mir verbleibenden Zeit schaffe ich das nicht. Ich …«

Neukomm hebt seinen Zeigefinger und bringt sie zum Schweigen.

»Das ist nicht mein Problem. Sie haben einen Auftrag zu erledigen. Die achtzig Broschüren müssen bis morgen bereitstehen. Es ist mir egal, ob Sie dafür Überstunden leisten. Hauptsache, ich habe die Unterlagen.«

»Das geht nicht!«, entgegnet Sarah in einem scharfen Tonfall.

»Wie bitte?«

»Ich habe Sie anfangs Woche darum gebeten, heute früher Feierabend machen zu können.«

»Ja, und?«

»Sie haben es genehmigt. Ich habe einen wichtigen Termin.«

»Job geht vor! Oder möchten Sie sich am Montag nach einer anderen Arbeitsstelle umsehen?«

»Nein.«

»Na bitte. Dann machen Sie sich an die Arbeit, wenn Sie so in Eile sind! Je eher Sie anfangen, desto eher können Sie nach Hause.«

Mit gesenktem Kopf trottet Sarah zu den Papierstapeln. Innerlich kocht sie vor Wut. Mistkerl, denkt sie sich und würde Michael Neukomm am liebsten den Hals umdrehen.

»Ach, Sarah«, fährt Herr Neukomm fort. Sie dreht sich zu ihm um. »Die Broschüren werden Sie nicht in meinem Büro zusammenstellen. Ich benötige Ruhe, um wichtige Unterlagen zu bearbeiten. Nehmen Sie die Stapel an Ihren Arbeitsplatz oder sonst wohin.«

»Arschloch«, murmelt Sarah.

»Was haben Sie gesagt?«

»Ach so … habe ich gesagt.«

»Na dann.«

Nach zwei Stunden hat Sarah nicht einmal die Hälfte der Broschüren zusammengestellt und die Uhr zeigt bereits drei. Um vier wollte sie Feierabend machen. Sie sieht ihren bis ins Detail geplanten Mädelsabend in sich zusammenfallen.

Da legt sich eine Hand auf Sarahs Schulter und reißt sie aus ihrem Gedankenkarussell.

»Ich verstehe deinen Missmut, Sarah.«

»Oh, Simone.« Sarah stößt genervt die Luft aus ihren Lungen. »Warum macht er das? Er wusste, dass ich heute eher nach Hause wollte. Nur dieses eine Mal!«

»Das weiß ich nicht. Aber alles, was Neukomm dir in den Weg legt, wird ihn zu einer späteren Zeit einholen. Das garantiere ich dir.«

Sanft drückt Simone Sarahs Arm, um ihr Mut zu machen. Lächelnd hält sie ihr einen duftenden Becher Kaffee hin. »Dein Lieblings-Lattemacchiato.«

»Danke vielmals.« Auf Sarahs Gesicht zeichnet sich ein Lächeln ab.

Noch während Sarah den ersten Schluck genießt, meint Simone: »Und nun packen wir den Rest gemeinsam an.«

Sarah sieht Simone mit leuchtenden Augen an. »Du bist ein Schatz!«

Um halb sechs verlässt Sarah das Büro. Zufrieden, dass sie die achtzig Exemplare an Herrn Neukomm überreichen konnte. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er nicht gedacht, dass sie den Auftrag in so kurzer Zeit umsetzen würde.

Eins zu null für mich, denkt sie sich und macht sich mit ihrem Drahtesel und einem breiten Grinsen im Gesicht auf den Heimweg.

Kapitel 2

Nach einer halbstündigen Fahrt stellt Sarah ihr Fahrrad im Carport seitlich des Wohnblocks ab. Während sie das Schloss anbringt, spürt sie den Blick ihrer Nachbarin Yvette, die jede ihrer Handbewegungen verfolgt.

Wie eine Polizistin steht sie am Fenster in der ersten Etage und beobachtet das Geschehen auf dem Vorplatz. Hinter den Gardinen fühlt sie sich unbemerkt, doch die kaum wahrnehmbaren Bewegungen der Vorhänge verraten sie.

Für Sarah gibt es keine charmantere Ordnungshüterin als ihre Nachbarin. Stets ist sie auf dem neusten Stand; sie kennt sämtliche Missetaten sowie Hilfsbereitschaften der Bewohner. Sie scheut sich nicht, Vergehen der Verwaltung zu melden, damit alles mit rechten Dingen zugeht.

Yvette ist sehr zuvorkommend, aber wissbegierig bis in die letzte Haarspitze. Was bei Gesprächspartnern viel Geduld abverlangt. Nur ein einfaches Hallo genügt ihr nicht. Ein viertelstündiges Gespräch muss mindestens drinliegen, damit sie zu ihren Informationen gelangt und ihre Tipps loswerden kann. Ihre Nachbarin kann nicht anders, als zu helfen. Seit Sarah sie kennt, hilft die ältere Dame bei Vereinen mit, um notdürftige Personen zu unterstützen. Strickt Socken, spendet Lebensmittel, verteilt Flyer für Veranstaltungen und vieles mehr.

Ohne zum Fenster hochzublicken, überquert Sarah den Vorplatz und kramt ihren Hausschlüssel hervor. Die Post lässt sie im Briefkasten liegen.

In der Hoffnung, dass Yvette dieses eine Mal keinen abendlichen Schwatz möchte, tritt sie ins Treppenhaus. Sie hat knapp die erste Stufe erreicht, als sie das Geräusch einer sich öffnenden Tür zur Salzsäule erstarren lässt. Sie lauscht und hofft, dass sie sich getäuscht hat.

Unmittelbar hallen Jodelgesänge durchs Treppenhaus. Unverkennbar die Lieblingsmusik von Yvette.

Oh, nein, denkt Sarah. Heute habe ich keine Zeit für ein längeres Gespräch.

Während sie weiter die Stufen hochgeht, bittet sie das Schicksal um Hilfe. Aber in der ersten Etage steht Yvette im Türrahmen, die kurzen, grau-weiß melierten Haare lockig frisiert. Ihre Lesebrille hängt wie immer an der Goldkette um den Hals. Die Hände gefaltet, wartend auf den neuesten Tratsch. An Wissbegierde fehlt es der älteren Dame nicht.

Sarah verdreht die Augen. Danke, liebes Schicksal! Auf dich ist Verlass! Lächeln aufsetzen, ermahnt sie sich.

»Hallo, Sarah. Heute so in Eile?«

»Hallo, Yvette. Ja, mein Mädelsabend steht an und ich musste länger arbeiten als gedacht. Nun bin ich knapp in der Zeit und habe noch einiges vorzubereiten.« Sarah will gerade die restlichen Stufen zu ihrer Wohnung in Angriff nehmen, aber Yvette plaudert munter weiter: »Oh, du Arme. Wieder dieser Michel?«

Sarah hält inne, rollt erneut mit ihren Augen, bevor sie sich umdreht und höflich antwortet: »Ja, Michael.«

Um ihre Ungeduld kundzutun, trommelt Sarah mit den Fingern auf dem Handlauf und stellt einen Fuß auf die nächste Stufe. Bevor Yvette weitere Fragen stellen kann, sagt Sarah: »Ich möchte nicht unhöflich sein, Yvette. Du weißt, dass ich unsere Gespräche schätze, aber jetzt gerade fehlt mir die Zeit.«

»Wenn das so ist, helfe ich dir«, meint sie gutherzig. »Ich hole rasch etwas aus der Küche.« Das Helfersyndrom in Yvette ist geweckt.

»Das ist nicht nötig. Wenn ich mich ranhalte, schaffe ich es, dass der Aperitif samt Büfett bereitsteht und der Tisch gedeckt ist.«

Wieso erzähle ich ihr alles bis ins letzte Detail? Das gibt ihr zusätzliche Gründe, um mir zu helfen und es wird schwieriger, sie loszuwerden. Ich Schusselchen!

»Papperlapapp. Ich helfe dir gerne«, ruft sie zurück und taucht kurz darauf mit einem Apfelkuchen im Türrahmen auf. »Etwas Süßes für euch junge Damen. Den habe ich heute gebacken. Als hätte ich es geahnt.« Ein Lächeln breitet sich auf ihrem mit Falten gezeichneten Gesicht aus.

»Aber …«, setzt Sarah zu ihrer Verteidigung an, doch die ältere Dame ist längst an ihr vorbeigerauscht.

Sarah steht wie versteinert da, als sie die Stimme vier Stufen über sich hört: »Na, los, Sarah, beeil dich. Wir haben zu tun!«

Das darf nicht wahr sein. Zuerst Neukomm und nun Yvette?, denkt sie und nimmt die restlichen Stufen.

»Na endlich«, tadelt Yvette.

Während Sarah die Tür öffnet, versucht sie, Yvette loszuwerden. Sie möchte vor dem Eintreffen der beiden Freundinnen ein paar Minuten für sich, um zur Ruhe zu kommen. Doch ihre Ausrede lautet: »Ich weiß deine Hilfe zu schätzen, aber meine Mädels werden gleich eintreffen.«

»Ja und? Dann sehe ich die jungen Damen endlich wieder einmal«, sagt sie und betritt Sarahs Wohnung. »Wo soll ich den Apfelkuchen hinstellen?«

Sarah atmet tief ein. Der Schuss ging nach hinten los. »Irgendwo.«

Widerwillig schließt sie die Tür und sucht nach Auswegen, damit die alte Dame ihre Wohnung verlässt. Sie verharrt wie eine Salzsäure im Eingang, bis sie Yvettes Stimme aus der Küche hört.

»Was stehst du denn wie bestellt und nicht abgeholt umher?« Die Nachbarin lugt um die Ecke.

»Wie bitte?« Fährt Sarah zusammen. »Öh … nichts.« Sie entledigt sich ihrer Schuhe und Tasche. Ihr Hirn läuft immer noch auf Hochtouren.

»Yvette«, stammelt Sarah. »Danke für den Blechkuchen und dein Angebot, aber …«

Ding-Dong.

Das Klingeln lässt Sarahs Satz unvollendet im Raum stehen.

»Sind das Anna und Nicole?«, fragt Yvette erfreut.

»Ich denke nicht.«

Ding-Dong.

»Herrgott. Ich bin ja schon da!«, ruft Sarah und geht die wenigen Schritte zur Tür. Öffnet diese.

»Oh, hallo, Helene.« Sie sieht ihre Nachbarin perplex an. Noch nie hat sie bei ihr geklingelt. Warum also ausgerechnet heute? Der Tag muss verhext sein.

»Dachte ich mir es, dass du zu Hause bist. Ich habe deine Stimme gehört und wollte dich fragen, ob ich ein paar Eier von dir haben könnte. Ich will einen Kuchen backen. Endlich konnte ich mich dazu aufraffen und dann …«

Komm zum Punkt! Ich habe Wichtigeres zu tun, schwirrt es Sarah durch den Kopf.

»… fehlen mir ausgerechnet die Eier. Gemäß Rezept muss ich sage und schreibe vier Stück haben.« Nach dem Redeschwall blickt sie ihre Nachbarin mit großen Augen an.

»Eier?« Sarah zieht die Augenbrauen hoch.

Helene nickt. »Hast du welche?«

»Wenn sie keine hat, ich habe garantiert in meinem Kühlschrank«, mischt sich Yvette ein, die aus der Küche hervortritt.

»Hallo, Yvette.« Unsicher schaut Helene zu Sarah und dann zu Yvette. »Störe ich?«

»Ja«, sagt Sarah und im selben Atemzug erklingt Yvettes Nein.

Yvette tritt vor und zieht Helene in die Wohnung. Dann schließt sie die Tür hinter sich und erzählt: »Ich helfe Sarah bei den letzten Vorbereitungen für ihren Mädelsabend. Dieser Michel …«

»Michael«, wirft Sarah ein.

»Meinetwegen Michael. Also, er hat Sarah länger arbeiten lassen, und nun hat sie fast keine Zeit mehr, um alles vorzubereiten. Weswegen ich hier bin und ihr helfe.«

»Tja wenn das so ist, dann helfe ich gerne mit. Es können nie genug Hände sein.«

Sarah kann es nicht fassen. Beide Nachbarinnen stehen genau dort in ihrer Wohnung, wo sie nicht stehen sollten, und wollen ihr helfen.

Sarah lässt die Schultern hängen, blickt zur Zimmerdecke und hadert mit der Situation, die ihr wie ein falscher Film erscheint.

Sie trottet Richtung Badezimmer.

»Ich bin dann mal unter der Dusche.«

Helene und Yvette schauen sich fragend an.

»Was machen wir nun?«, fragt Helene.

»Na, wir bereiten das Buffet vor. So, wie wir es Sarah angeboten haben.«

»Aber ich dachte, dass Sarah uns sagt, wo wir Hand anlegen müssen. Ich kenne mich nicht aus, ich bin das erste Mal in ihrer Wohnung.«

»Keine Panik, Helene. So wie ich Sarah kenne, hat sie alles längst griffbereit vorbereitet. Die Zutaten für das Buffet werden wir sicher im Kühlschrank vorfinden.«

Yvette sollte recht behalten. Als die beiden die Tür des Kühlschranks öffnen, finden sie die Leckereien geschmackvoll auf Tellern angerichtet. Das Geschirr, Servietten, Tischsets und Kerzen stehen auf der Arbeitsplatte.

Yvettes Blick fällt auf den großen Topf, der auf der Herdplatte steht.

»Was hat Sarah wohl im Topf?«

»Keine Ahnung. Schau mal nach!«

Sobald der Deckel weg ist, schauen beide gebannt in den Topf.

»Kartoffeln.«

Helene berührt eine Knolle. »Hmmm. Die müssen noch gegart werden«, meint sie und schaltet den Herd an.

Nachdem die beiden Damen den Tisch gedeckt und die Kartoffeln auf dem Herd vor sich hin garen, bereiten sie den Aperitif vor. Sie nehmen die Naschereien und den Prosecco aus dem Kühlschrank und richten das Ganze auf dem Salontisch an. Damit das Prickelwasser seine Temperatur behält, stellt Yvette es in einen Flaschenkühler.

Beim Anblick der Leckereien läuft beiden das Wasser im Mund zusammen.

»Meinst du, wir dürfen ein Kanapee kosten?«, fragt Helene.

»Ich weiß nicht so recht. Das fällt doch umgehend auf. Es sind nicht allzu viele – und sieh, wie schön es angerichtet ist!«, antwortet Yvette. »Aber Hunger hätte ich schon.«

»Komm, wir teilen uns eines.« Schwups hat sich Helene eines mit Thunfisch, Kapern und Zwiebeln geschnappt und reicht Yvette die Hälfte davon.

»Ist das lecker!«, meint Yvette.

»Lass uns den Prosecco degustieren. Wir möchten doch nicht, dass eines der jungen Mädels sich den Magen verdirbt.«

»Nein, Helene. Das geht zu weit. Wir wollten Sarah helfen, was wir gemacht haben, und sie nicht ausnutzen.«

»Das hat doch nichts mit Ausnutzen zu tun, Yvette.«

Helene nimmt die Flasche zur Hand. »Ein kleines Gläschen in Ehren hat noch niemandem geschadet. Hmm? Nun hab dich nicht so.«

Sie öffnet die Flasche, ganz darauf bedacht, dass der Korken nicht knallt. Noch bevor Yvette antworten kann, hält Helene ihr ein Flötenglas hin. Um das Prickelwasser nicht im Stehen zu trinken, machen sie es sich gemütlich und lassen sich auf das zum Fenster hin gerichtete Sofa nieder.

Die beiden sind in ihrem Element, sodass sie nicht hören, wie Sarah aus dem Bad kommt. Diese hat sich trotz des Zeitmangels eine längere Dusche gegönnt. Was ihren Puls herunter geholt hat und die Verstimmung verschwinden ließ. Ihre nassen Haare lassen noch nichts von der braunen Lockenpracht erahnen.

Gutgelaunt tritt sie um die Ecke ins Wohnzimmer. Bleibt abrupt stehen und traut ihren Augen kaum. Da sitzen Yvette und Helene fröhlich lachend vor ihr, trinken Prosecco und naschen Kanapees.

»Was macht ihr denn da?«

Erschrocken drehen sich beide zu Sarah um und kriegen kein Wort heraus. Zum einen weil Yvette einen Bissen Kanapee im Mund hat und Helene Prosecco.

»Habt ihr euer eigenes Kränzchen? Schmeckt’s denn auch?«

Die Beschuldigten nicken mit dem Kopf.

»Ich fass es nicht! Meine Mädels sind gleich da und ihr macht euch über den Apéro her. Danke für eure Hilfe.« Sarah stemmt ihre Hände in die Hüfte. »Was soll ich denen denn nun anbieten? Die Zeit reicht nicht mehr aus, um zur Bäckerei oder dem Supermarkt zu eilen.«

»Apfelkuchen?«, schlägt Yvette vor, die sich als Erste wieder gefasst hat. »Entschuldige bitte, aber alles war köstlich. Die Kanapees haben uns regelrecht angelächelt.«

»Das bringt sie nicht mehr zurück, auch wenn sie froh gelaunt schienen. Es ist nun mal so, wie es ist«, sagt Sarah und lässt die Arme sinken. »Aber ich verlange, dass ihr geht, sobald meine Mädels da sind. Wenigstens den Abend möchte ich mit den beiden allein verbringen.«

Helene und Yvette nicken verständnisvoll.

Betretene Stille stellt sich ein.

Ding-Dong.

Alle drei schrecken auf. Sarah flitzt zur Tür, um ihre Freundinnen in Empfang zu nehmen und gleichzeitig die beiden Damen loszuwerden.

Helene und Yvette folgen ihr.

»Hallo, Mädels!« Sarah begrüßt Nicole und Anna.

Beim Eintreten erhält Sarah von beiden eine feste Umarmung.

»Ich wusste gar nicht, dass wir heute eine erweiterte Runde haben«, sagt Anna, während sie ihre Tasche abstellt. Ihre langen kastanienbraunen Haare sind heute zu einem Dutt zusammengebunden. Wie immer trägt sie einen Bleistiftrock mit passender Bluse und Pumps.

»Das haben wir auch nicht. Die Damen wollten gerade gehen«, erwidert Sarah und weist den beiden die Tür, die immer noch offen steht.

»Warum denn? Ich fände es toll, wenn die beiden bleiben würden«, mischt sich Nicole ein. »Ich habe Yvette seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Obwohl ich regelmäßig bei dir ein- und ausgehe. Ausserdem hat sie mich immer bei sich beherbergt, wenn du noch nicht von deiner Arbeit zurück warst. Ein Schwatz ist längst überfällig.«

»Mag ja sein … doch ich habe mit uns dreien gerechnet und nicht mit fünf.«

»Spaßbremse«, gibt ihr Nicole zurück. In dieser Runde trägt sie als Einzige eine kecke Kurzhaarfrisur à la Nena. Natürlich in Schwarz.

»Sarah hat recht. Ich meine, was wollt ihr drei jungen Mädels mit uns beiden alten Damen anfangen. Wir stören doch nur«, wendet Yvette ein.

Danke für deine Unterstützung, denkt Sarah und jubelt innerlich. Doch das Hochgefühl währt nicht lange.

»Ihr und alt? Ich finde, dass wir unseren Mädelsabend einmal anders gestalten könnten«, wirft Anna ein. »Sozusagen ein Austausch unter Generationen.«

Was hat denn Anna heute geraucht?

»Da bin ich dabei. Und du, Yvette?«

»Hmm ja, sicher. Doch ich weiß nicht, ob Sarah das möchte.«

»Anna und ich sind dafür. Somit ist Sarah überstimmt. Ihr beide bleibt!«

Na toll. Gut gemacht Nicole, findet Sarah und rollt ihre Augen.

»Na dann, lasst uns zusammen Spaß haben. Stoßen wir auf unseren erweiterten Mädelsabend an!«, frohlockt Nicole.

»Heute ohne Apéro«, gibt Sarah missmutig von sich.

»Wie jetzt? Kein Cüpli?« Nicole zieht die Augenbraue hoch.

»Und keine Amuse-Bouches?« Anna starrt Sarah an.

»Nein.« Ist die knappe Antwort. Derweil schauen zwei Damen betreten auf ihre Schuhspitzen.

»Ihr müsst nicht mich ansehen. Fragt lieber Yvette und Helene.«

»Bitte keine Rätsel. Mein Denkorgan hat Feierabend«, sagt Nicole.

»Na ja«, fängt Helene an und nestelt an ihrem Pullover herum. »Yvette und ich haben für Sarah den Tisch gedeckt und die Kartoffeln gekocht, während sie unter der Dusche stand. Sie war spät dran, da ihr Boss, der Michel …«

»Michael«, hilft Sarah nach.

»Meinetwegen Michael. Der hat sie länger als gedacht arbeiten lassen. Daher die Verspätung.«

»Schon wieder?« Nicole blickt zu ihrer Freundin. »Der macht mit dir, was er will. Biete ihm endlich einmal die Stirn.«

»Er hat mir mit der Kündigung gedroht, als ich aufmüpfig wurde.«

»Echt?«, fragt Anna ungläubig.

Sarah nickt.

»Fiesling«, kommt es von Yvette daher.

»Und was hat das mit dem Apéro zu tun?« Nicole wird ungeduldig.

»Wir, also Helene und ich, waren zeitig fertig mit den Vorbereitungen und da haben wir ein Kanapee zusammen geteilt. Das war so lecker, dass wir ein weiteres nahmen, und noch eins, bis die drei übrig blieben.« Sie zeigt mit dem Finger auf die fast leere Platte.

»Um den Gaumenschmaus abzurunden, haben wir ein, zwei Gläser vom Prosecco getrunken. Leider war der Flaschenboden schneller zu sehen, als uns lieb war«, ergänzt Helene.

»Tragisch.« Nicole tippt sich an ihr Kinn. »Echt tragisch. Denn unsere Mädelsabende beginnen immer mit einem Cüpli. Das ist unsere Tradition seit jeher.«

Anna hält zwei Finger hoch. »Oder zwei Cüpli. Jedenfalls wenn ich dabei bin.«

Yvette sah verschmitzt in die Runde. »Dann würde eine Flasche ja sowieso nicht reichen.«

»Wie es der Zufall will, habe ich zur Feier des Tages eine Flasche Prosecco mitgenommen«, verkündet Anna und macht sich an ihrer Tasche zu schaffen.

Zwei Stunden später – alle Anwesenden sind in Begleitung eines gewissen Herrn Schwips – offenbart Anna: »Meine Damen, ich bin so satt, dass ich platzen könnte.«

»Aber bitte nicht hier am Tisch. Ich bin am Essen«, antwortet Helene. »Du kannst dazu ins Bad gehen.«

»Oder du machst den Hosenknopf auf«, empfiehlt ihr Nicole.

»Genau«, pflichtet ihr Yvette bei. »Ich habe den schon nach der zweiten Raclettescheibe geöffnet.«

»Ein Prosit auf die offenen Hosenknöpfe«, posaunt Nicole, erhebt ihr Weißweinglas und trinkt einen Schluck.

Kurz darauf prusten alle los. Nachdem sie sich wieder gefangen haben, schlägt Sarah vor: »Ich könnte einen Verdauungsspaziergang gebrauchen. Wer kommt mit?«

Vier weit aufgerissene Augenpaare richten sich auf Sarah. Gewisse Augenbrauen erreichen fast den Haaransatz.

»Wer macht mit?«, erkundigt sie sich nochmals und sieht eine nach der anderen an.

»Was war denn in deinem Käse? Welch ein Blödsinn!« Nicole tippt an ihre Schläfe. »Ein Verdauungsspaziergang. Ich denke da eher an einen Verdauungsschnaps.«

»Mich müsstest du rollen«, giggelt Anna.

Sarah fängt an zu lachen.

»Was ist denn so lustig?«

»Eure Gesichter«, bringt Sarah zwischen ihrem Gelächter hervor. »Ihr hättet euch sehen sollen, sobald das Wort Spaziergang fiel. Einfach la classe.«

Die anderen vier sehen sich ratlos an.

»Sarah, geht’s dir gut?«

»Aber bien sûr. Mein erdachter Spaziergang ist nämlich von hier bis zum Balkon. Keine zwanzig Schritte.«

»Du mit deinen Geistesblitzen. Ich beharre darauf, dass wir ihr keinen Alkohol mehr einschenken, und zwar ab sofort!« Anna nimmt Sarahs Weinglas und leert es in einem Zug.

»Heee! Das war meins!«

»Wissen wir alle. Doch was du kannst, können wir schon lange.« Anna steht unter Geächze auf. »Mädels, lasst uns den Spaziergang in Angriff nehmen.«

Sie plaudern weiter und gelangen auf den Balkon – und dann: Stille.

»Wow! Eine echte Wohlfühloase hast du dir hier gezaubert.« Bewundernd schaut sich Anna um. »Ich war einfach zu lange nicht mehr bei dir.«

»Die Rosenbäumchen finde ich schneidig. Die muss ich unbedingt haben. Und schau dir die Lichterkette mit den Papierlampions an. So charmant!« Nicole hat es sich auf einem Holzstuhl bequem gemacht.

Yvette und Helene sitzen auf einer Holzkiste. Ihre Gesichter lassen sie sich von der untergehenden Sonne wärmen. Sie lauschen den Schwärmereien und erinnern sich nur allzu gerne an ihre ersten Abende in ihren Wohnungen.

»Hast du die vielen Kerzen und Laternen gesehen, Nicole?«, fragt Anna.

Die nickt. »Das ist wie Ferien. Dazu Vogelgezwitscher, das dich mit in die Ferne zieht. Da kann ich meine Seele richtig baumeln lassen und den Alltag vergessen.«

»Lasst uns den Sonnenuntergang mit einem Drink versüßen«, wirft Sarah in die Runde.

»Super Idee!«

Sarah dreht sich zur Kiste um, auf der Yvette und Helene sitzen. »Darf ich euch bitten, kurz aufzustehen?«

Verwundert schauen sich die beiden an, aber machen wie aufgefordert.

Als Sarah den Deckel öffnet, kommen ein kleiner Kühlschrank, Gläser und diverse Zutaten für Getränke zum Vorschein.

»Genial. Du überraschst mich immer wieder.«

Gespannt schauen die Mädels Sarah beim Berry-&-Basil-Mixen zu und nehmen dankend je eine Cocktail-Schale entgegen.

Sarah erhebt das Glas zu einer Rede. »Auf unseren Abend. Der holprig begonnen, sich aber zu einer fröhlichen Frauenrunde gemausert hat.«

»Auf uns.«

Die Gläser stimmen klirrend zu.

Ein paar Minuten später neigt sich die Sonne dem Horizont entgegen. Gemeinsam verfolgen sie, wie sich die goldene Kugel hinter den Dächern zu verstecken beginnt, die Wärme langsam in Kühle umschlägt. Der Himmel sich von Gelbgold über Rosa zu Violett verfärbt, bis er ganz schwarz wird und die ersten Sterne aufflackern.

»Der Farbenreichtum ist außergewöhnlich«, schwärmt Anna. »Ich bin neidisch, dass ihr drei jeden Abend ein solches Freiluftkino habt.«

»Verkauft eine von euch Abos für Sonnenuntergänge?«, fragt Nicole. »Ich würde umgehend einen Dauerauftrag auslösen.«

»Sehr witzig«, meint Sarah. »Ihr könnt jederzeit bei mir weitere Sonnenuntergänge genießen. Gratis versteht sich.«

Kapitel 3

Mit federnden Schritten – was selten bis nie vorkommt an einem Montag – überquert Sarah den Vorplatz zum Carport. Die ersten Sonnenstrahlen blinzeln hinter den Liegenschaften hervor und versprechen trotz der morgendlichen Frische einen sommerlichen Tag. Begleitet vom Gesang der Amseln schwingt sich Sarah gut gelaunt aufs Rad und fährt los. Die kühle Brise weht ihr durch das Haar und hinterlässt eine angenehme Frische auf dem Gesicht. Die Ackerfelder ziehen an ihr vorbei und sie lässt ihren Gedanken freien Lauf.

Wie hat sie die Gesellschaft ihrer Mädels und der beiden Damen genossen! Noch heute Morgen spürt sie den Muskelkater vom vielen Lachen. Eine Anekdote folgte der nächsten. Kaum eine konnte sich vor Lachen auf dem Stuhl halten. Sarah fand vor allem die Jugendgeschichten von Yvette anregend. Da gab es keine Handys, geschweige denn Internet, um sich zu verabreden. Ein Treffpunkt genügte den Jugendlichen, um sich zu versammeln.

Der missratene Apéro war schlussendlich keiner Silbe wert.

Sarah radelt die alte Gasse entlang zur Agentur. Eine ansehnliche Liegenschaft aus Sandstein, wie fast alle in der Altstadt Fribourg. Sie liebt es, in den historischen Räumlichkeiten zu arbeiten und sich vorzustellen, wie es vor hundert Jahren hier zugehen mochte. Die Entstehung und Weiterentwicklung von Städten hat sie seit jeher interessiert. Daher wollte sie Geschichte studieren und in einem Museum arbeiten. In welchem sie ihr Wissen an Kinder weitergeben könnte. Doch ihr Vater pflegte zu sagen, dass sie im Heute lebe und nicht in der Vergangenheit. Nur im Hier könne sie gewisse Dinge bewegen, wohingegen die Vergangenheit nicht mehr geändert werden könne und akzeptiert werden müsse. Seine sturen Ansichten konnte Sarah nie ändern. Er sah nicht ein, dass Geschichte auch modern sein kann.

Das Thema war und ist noch heute ein Streitpunkt zwischen ihr und ihrem Vater. Am Ende war er froh, dass sie sich seinem Willen hingegeben und eine Lehre als Kauffrau gemacht hat.

Kurz vor acht Uhr stellt sie ihren Drahtesel ab. Die Fahrradstation am Place Georges-Python ist schon gut besucht. Sie bringt das Schloss an und entledigt sich des Helms, um dann gleich zum Café um die Ecke zu hasten. Das Verlangen nach Koffein macht sich bemerkbar.

Auf dem Weg dorthin läuten wie jeden Morgen um acht Uhr die Glocken der Kirche St-Ursules. So, als möchten sie den Tag begrüßen: ein weiterer geschichtsträchtiger Bau, der sich gegenüber ihrem Arbeitsplatz befindet. In stillen Momenten sieht sie aus dem Fenster zur Kirche und dem Kloster der Ursulinen hin. Die über 370 Jahre alten Kirchwände könnten eine Buchseite nach der anderen mit Geschichten füllen. Sarah würde gerne in diese Zeit zurückreisen, um ein, zwei Tage im Kloster verbringen zu können. Immer wieder mahlt sie sich Geschichten aus, wie das Leben dazumal als Frau war. Welche Schwierigkeiten es zu überwinden gab, die heute als Selbstverständlichkeit gelten.

Der Arbeitsstandort hätte nicht besser liegen können. Einiges, was Sarah wichtig ist, befindet sich um den Place Georges-Python. Sei es das Café für den Koffein- und Zuckerschub, Historik oder das Ambiente im Sommer.

In Gedanken bei der Kirche, betritt Sarah das Café. Sie muss ihre Bestellung nicht aufgeben. Monsieur Mondolino weiß inzwischen, was sie möchte. Immerhin betritt Sarah das Café seit zwei Jahren morgens immer zur selben Zeit. Je nach Tagesform von Sarah erhöhen sich ihre Besuche auf drei oder vier. Und immer wird sie mit einem Lächeln von ihm bedient.

So auch heute. »Guten Morgen, Sarah. Dein Latte macchiato mit Karamell wird in fünf Sekunden fertig sein.«

Er dreht sich zur Maschine um, nimmt den Becher und mit einem breiten Grinsen stellt er den Latte inklusive Löffel – ein Wunsch von Sarah – sowie einen Blaubeermuffin vor sie hin.

»Wie immer.«

»Vielen Dank, Monsieur Mondolino.«

Den Blaubeermuffin steckt sie in ihren Rucksack. Den hebt sie sich als Nervenfutter für später auf. Den verführerischen Milchschaum genießt sie auf dem Weg zurück zur Agentur.

Die Glocken haben inzwischen aufgehört zu läuten und dem Stimmengewirr der Passanten Platz gemacht. Vereinzelnde Spatzen picken nach Brosamen, die Touristen ihnen zuwerfen.

Während sie die Stufen zur ersten Etage erklimmt, entscheidet sie sich, die Auseinandersetzung zwischen ihr und Neukomm nicht anzusprechen. Sie würde sich verhalten, als wäre am Freitag nichts vorgefallen.

Doch ihr Vorsatz ist keine zwei Minuten alt, als er in sich zusammenfällt. Sie hat kaum die Eingangstür geschlossen, erblickt sie die Papierberge auf dem Tisch. Als sie näher herantritt, erstarrt sie.

Es handelt sich um die Unterlagen, die sie am Freitag mit Hilfe von Simone zusammengestellt hat.

»Wieso stehen die hier auf dem Tisch? Es ist Montag, acht Uhr morgens und die Broschüren sollten gemäß Neukomm samstags um sieben Uhr bereit sein. Was ist hier los?« Wie Blitze jagen ihre Fragen durch den Kopf. Ihr Herz rast vor Wut. Die Sonnenstrahlen sind erloschen und die Laune im Tief. Sie schnappt sich ein Heft und marschiert, samt Rucksack und Kaffeebecher, mit großen Schritten auf Neukomms Büro zu. Ihre Arbeitskollegen nimmt sie nicht wahr. Nicht einmal Simone, die sie ansieht. Das Einzige, was nun zählt, ist eine Erklärung von Neukomm – und zwar tout de suite.

Ehe sie die Tür aufreißt, besinnt sie sich eines Besseren und klopft anstandshalber an. Erst jetzt spürt sie, wie die Wut sich vom Herzrasen zu einer innerlichen Hitze umgewandelt hat. Da ist der Kaffeebecher in der linken Hand nicht förderlich. Sie klemmt die Broschüre unter den linken Arm und streicht sich mit der nun freien Hand eine braune Locke aus dem Gesicht.

»Herein?«, erklingt die Baritonstimme ihres Chefs.

Ohne zu zögern, öffnet Sarah die Tür, tritt ein und schließt diese. Sie braucht keine Zeugen.

In nur zwei Schritten steht sie vor seinem Schreibtisch. Sie holt tief Luft. »Herr Neukomm, warum ruhen die Broschüren immer noch am selben Ort wie am Freitag?« Um ihrer Wut freien Lauf zu lassen, packt sie das Heft unter dem Arm und knallt es auf den Tisch.

Herr Neukomm zeigt keine Regung. Sarah fährt in aufgebrachtem Ton fort: »Sie benötigten diese Dinger …« Sie deutet dabei mit dem Kinn auf das Heft. »… bis Samstagmorgen. Nun haben wir Montag. Ich erwarte eine Erklärung!«

Damit sie ihren Latte macchiato im Affekt nicht über Herrn Neukomm leert, stellt sie den Kaffee zur Sicherheit auf den Tisch. Wäre ja jammerschade um die leckere Brühe.

Neukomm erhebt sich aus seinem Sessel. Sein Gesicht lässt nichts über seinen Gefühlszustand erahnen. Die breiten Schultern und die eins achtzig lassen ihn mächtig erscheinen. Die blauen Augen stechen hervor und Sarah fühlt sich, als blickte er ihr direkt in die Seele.

Neukomm sieht gar nicht so schlecht aus. Himmel! Bloß weg mit diesem Gedanken!

Er umrundet den Bürotisch und baut sich direkt vor Sarah auf. Seine Kiefermuskeln sind angespannt. Er hebt einen Finger. Sie wartet mit durchgestrecktem Rücken auf seine Antwort.

»Erstens kennen Sie meine Gründe nicht, warum die Unterlagen noch in der Agentur sind.«

»Da haben Sie recht. Doch ich fühle mich hintergangen, denn meine Freizeit kann ich attraktiver gestalten, als mich mit Ihren Papieren herumzuschlagen.« Sarah stemmt die Hände in die Hüften und starrt ihn trotzig an.

Neukomm übergeht Sarahs Antwort und streckt zwei Finger hoch. »Zweitens bin ich der Boss und erteile hier die Aufträge.«

»Das habe ich wohl oder übel festgestellt.« Ihre Augen blitzen vor Zorn.

»Kommen Sie mir nicht frech, junge Dame!« Er stockt, doch dann hält er drei Finger hoch. »Und drittens gehen Sie umgehend an Ihre Arbeit, oder wozu bezahle ich Ihnen jeden Monat Ihr Gehalt?«

»Drohen Sie mir etwa?«

»Los raus! Aber dalli!« Er zeigt Richtung Tür.

»Aber …«

»Raus!«

Sarah ist verwirrt. Noch nie hat er so mit ihr gesprochen. Sein Benehmen muss sicher etwas mit den unausgesprochenen Gründen zu tun haben. Sie wendet sich von ihm ab, eilt hinaus und versäumt es nicht, die Tür mit einem lauten Knall zufallen zu lassen.

Neukomm stützt sich auf dem Schreibtisch ab. Sichtlich erschöpft von Sarahs Szene. Seit achtundvierzig Stunden steht er komplett neben sich. An Schlaf war nicht zu denken. In seinem Kopf war am Anfang eine riesige Leere. Später herrschte ein großes Chaos.

Erst als Sarah an ihrem Arbeitsplatz ankommt, bemerkt sie dass der Latte immer noch in Neukomms Büro steht. Merde! Sie traut sich nicht noch einmal in die Höhle des Löwen. So wütend oder eher abweisend hat sie ihren Boss bisher nie erlebt.

Sie plumpst auf den Stuhl und lässt den Rucksack unachtsam zu Boden fallen. Sie nimmt den Blaubeermuffin hervor und beißt hinein. Hmmm göttlich. Sie schließt die Augen, um die Geschmacksexplosion besser wahrzunehmen.

»Ist kein gutes Zeichen, wenn du deine Nervennahrung schon jetzt vertilgst. Wir haben trotz geschlossener Tür einiges mitbekommen«, bemerkt Simone.

Abrupt öffnet sie die Augen. »Wie soll ich denn sonst diesen Auftritt in Neukomms Büro überstehen?«

»Keine Ahnung, aber sei nicht so streng mit ihm. Er hat es sicher nicht so gemeint.«

»Du nimmst ihn in Schutz? Seit wann? Schließlich hat er uns beide an der Nase herumgeführt.« Sie steckt sich den letzten Bissen Muffin in den Mund.

»Stimmt. Dafür könnte ich ihn zum Teufel jagen. Ich weiß jedoch, warum er überempfindlich und aggressiv reagiert.«

»Ah ja?«

»Seit Freitagabend ist sein Privatleben ein Scheiterhaufen.«

»Wo brennt’s denn diesmal?«

»Seine Frau hat ihm endgültig den Laufpass gegeben. Daher seine schlechte Laune. Es verwundert mich, dass er heute überhaupt erschienen ist.«

»Was? Das Vorzeigetraumpaar ist nicht mehr? Das glaube ich nicht. Woher weißt du das?«

»Mit eigenen Augen gesehen und gehört.«

»Stalkst du ihn etwa?«

»Wo denkst du hin. Ich war am Freitag an der Museumseröffnung. Ein gelungener Abend. Ich kann dir die Ausstellung empfehlen.«

»Ich überlege es mir. Aber bitte komm zum Thema zurück.«

»Also, ich schlenderte durch die Räume und da entdecke ich unseren Boss mit seiner Ehefrau. Ich wollte sie begrüßen, als mir auffiel, dass seine Frau wie wild gestikulierte und mit zornigen Blicken um sich warf. Ihre Auseinandersetzung wurde immer hitziger und lauter. Da vernahm ich einige Worte wie ›Scheidung‹, ›endgültig‹ und ›Schluss‹. Es kriselte schon länger zwischen den beiden.«

»Ach nee.«

»Letzten Endes hat sie ihn stehen lassen und ist davongestürmt.«

»Auch wenn sein Privatleben in Scherben liegt, braucht er mich nicht so zu behandeln. Wir trennen unser Privates auch vom Geschäftlichen.«

»Achtung. Er kommt … also Sarah, diese Woche müsstest du diese Unterlagen … ah, Herr Neukomm, guten Morgen.«

»Haben Sie nicht einen eigenen Arbeitsplatz, Simone? Oder mussten Sie Ihr Wochenende schon vor der Neun-Uhr-Pause besprechen? Wie Sie wissen, dienen die Pausen für Privatgespräche und die Arbeitszeit zum Arbeiten.«

»Ja, Herr Neukomm. Ich bin jedoch mit Sarah die heutigen Aufgaben durchgegangen. Nichts weiter.«

Er quittiert Simones Antwort mit einem Nicken.

»Das haben Sie in meinem Büro vergessen.« Er stellt den Kaffeebecher vor Sarah hin. »Sie sollten sich einmal einen Latte mit Zimt gönnen.« Ohne weitere Worte zu verlieren, dreht er sich ab und geht zurück in sein Büro.

Perplex schauen sich Simone und Sarah an.

Kapitel 4

Ein laues Lüftchen weht durchs ›Parkcafé‹. Die Äste der Trauerweiden lassen sich treiben. Die Musik der raschelnden Blätter vermischt mit dem Zirpen der Grillen, lässt die Hektik des Tages außen vor. Sarah und Nicole haben es sich nach der Yogastunde unter einem der Bäume bequem gemacht. Vor ihnen auf dem runden Tischchen stehen ein Cappuccino und ein Latte. Leises Gemurmel dringt von den Nachbartischen zu ihnen. Ab und zu ein Geräusch von Kaffeetassen, die auf einen Teller oder Löffel treffen.

»Ich konnte mich heute beim Yoga überhaupt nicht entspannen.« Sarah nimmt einen Löffel Milchschaum.

»Warum denn nicht? Die Tussi war nicht dabei. Keine hat gepupst oder geschnarcht. Eigentlich eine auffallend ruhige Stunde.« Nicole rührt gedankenverloren in ihrem Cappuccino.

»Es hat nichts mit unserem Yoga-Kurs zu tun, sondern mit Neukomm.«

Nicole hält in der Bewegung inne. »Seit wann denkst du außerhalb der Arbeitszeit an Neukomm?« Abwartend schaut sie Sarah an.

»Heute hat er mich total aus dem Konzept gebracht.«

»Wie das denn?«

»Erst schreit er mich an und dann empfiehlt er mir einen Latte mit Zimt.«

»Weiß er denn von deiner Latte-Schwäche?«

»Nein.«

»Hmm. Hast du denn nun schon einen versucht? Herr Mondolino hat den sicher im Angebot.«

»Spinnst du? Warum sollte ich einem Tipp von Neukomm folgen? Außerdem ist das nicht der springende Punkt! Sondern sein Ausraster.«

»Wieso bist du so aufbrausend?«

»Bin ich nicht!«

»Doch! Gibt es etwas, das ich wissen müsste?«

Sarah zuckt mit den Schultern. »Eigentlich nicht.«

»Eigentlich nicht?«

Sarahs Blick spricht Bände.

»Gut. Ich gebe auf«, seufzt Nicole und legt ihren Löffel auf die Untertasse. »Obwohl mich das Gefühl nicht loslässt, dass da noch etwas ist.« Sie nimmt einen Schluck Cappuccino. »Dann erzähl mir, warum es zum Streit kam.«

Sarah erzählt Nicole, was geschehen ist, wartet aber vergeblich auf eine Reaktion.

»Nicole? Hast du mir zugehört?«

»Sicher. Ich überlege.«

»Was gibt es da zu überlegen?«

»Wer das eigentliche Opfer von euch beiden ist.«

»Hä? Wie Opfer. Das ist doch klar!«

»Wenn alles nach Neukomms Plan gegangen wäre, dann wären die Unterlagen heute nicht mehr im Büro gewesen.«

»Stimmt und weiter?« Angesäuert spielt Sarah mit der Zuckertüte.

»Am Wochenende hat sich seine Frau von ihm getrennt. Was ihn sehr schmerzt. Ein Mann, der verlassen wird, steckt das nicht so leicht weg. Sein Ego ist angeschlagen.«

»Nicht mein Problem.«

»Stimmt. Doch du warst heute Morgen das Ventil, bei dem er seinen Frust ablassen konnte. Daher hab ein wenig Nachsicht mit deinem Boss.«

»Erst nimmt Simone ihn in Schutz und nun auch du. Was ist mit euch beiden los?«

»Nimm es nicht persönlich. Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus. Und was ist nun das Unausgesprochene?«

»Elegant abgeschweift.«

»Halt mich nicht für blöd. Irgendetwas verheimlichst du mir. Hat er sonst noch etwas gesagt oder getan? Hat er dich geschlagen?«

»Nein. Wo denkst du hin.« Sarah spielt mit dem Glas. »Vielleicht gibt es doch was.«

Nicole lehnt sich nach vorn und stützt ihre Ellbogen auf dem Tisch ab. »Hab ich’s gewusst. Los, sag schon!«

»Das, was ich dir nun sage, bleibt unter uns. Du kannst es gerne wieder vergessen, da es keine Bedeutung hat. Glaube ich zumindest.«

»Du machst es aber spannend.«

»Nun.« Sie atmet einmal tief durch.

»Wir sind nicht mehr in der Yogastunde. Du kannst sofort mit der Sprache rausrücken.«

»Haha. Sehr witzig. Also. Neukomm erhebt sich aus seinem Sessel und richtet sich zu seiner stattlichen Größe auf. Drückt seine breiten Schultern durch und steht wie ein Beau vor mir. Und dann kommt mir dieser eine Gedanke. Ich weiß immer noch nicht, wieso.«

»Ist doch egal. Sag mir, was du dachtest. Das ist wichtig. Nicht das Wieso.«

»Dass Neukomm gar nicht so schlecht aussieht. Vor allem heute mit seinem Dreitagebart und seinen abstehenden schwarzen Haaren. Normalerweise ist er glatt rasiert und seine Haare sind mit Haarcreme fixiert. Und dann erst seine tiefe Stimme. Die hat in mir ein Kribbeln ausgelöst.« Sarah schließt die Augen und ruft sein Anblick herauf.

»Und weiter?«

Ertappt öffnet sie die Augen. »Nichts weiter. Ich hatte den Gedanken auch schon wieder vergessen. Bis vorhin, beim Yoga.«

»Das ist ein klares Zeichen, dass du Männerentzug hast. Wenn du nun schon Neukomm als Beau bezeichnest.«

»Kann sein. Es ist nur, dass ich mir sehnlichst eine Beziehung wünsche.«

»Ich fühle mit dir. Wir beide sitzen im selben Boot. Doch den eigenen Boss anhimmeln?«

»Warum nicht?«

»Dann lieber ein Online-Portal für Singles herbeiziehen.«

»Bloß nicht.« Sarah schüttelt energisch den Kopf.

»Dann startet unsere Mission Männersuche am Freitag beim Seefest.«

»Das lasse ich mir nicht entgehen. Nur diesmal bitte ohne Kater.«

»Uuuuhhh ja. Ich erinnere mich allzugut an letztes Jahr. Du wolltest am folgenden Tag nur noch sterben und hast mir die Ohren voll gejammert.«

»Du warst nicht besser.«

»Lass uns nicht mehr an das fatale Wochenende denken. Legen wir uns lieber einen Schlachtplan zurecht.«

»Du bist gut. Als könnte man für die Liebe einen Plan machen. Träum weiter!«

»Na ihr zwei? Wieder die Zeit vergessen?« Eine trotz später Stunde fröhlich gestimmte Kellnerin tritt an ihren Tisch.

Nicole blickt auf ihre Armbanduhr. »Was, schon so spät?«

Die lächelnde Bedienung nickt. »Wir schließen in zehn Minuten.«

»Na dann bezahlen wir unsere Schulden und lassen dich Feierabend machen.«

Kapitel 5

»Sarah?«

Ivo tritt näher an ihr Pult, damit nicht alle hören können, was er mit ihr zu besprechen hat. Seine Gedanken fahren immer noch Karussell und denken sich Horrorgeschichten aus. Damit könnte er mittlerweile mindestens vier Gruselfilme drehen. Ihm schwirrt der Kopf, und er ist froh, wenn er endlich weiß, woran er ist. Ob die Besprechung seinetwegen einberufen wurde oder wegen jemand anderem, ist ihm inzwischen egal. Hauptsache, er erfährt bald den Grund dafür und er und seine Gedanken kommen zur Ruhe.

»Einen Moment. Ich muss kurz den Text speichern, bevor alles wieder weg ist.« Keine fünf Sekunden später dreht sie sich zu ihm um. Für ihn sind es Minuten. »Oh mon Dieu.« Ihre Augen weiten sich, ihr Mund bleibt offen. »Hast du einen Geist gesehen?«

Er runzelt die Stirn »Nein. Wieso?«

»Du bist weiß wie die Wand. Was ist geschehen?« Besorgt mustert sie ihn. Auch sonst sieht ihr junger Arbeitskollege kränklich aus. Blasser Teint und kein Gramm zu viel auf den Rippen. Doch heute ist sein Anblick bedenklich.

»Eigentlich nichts. Ich habe schrecklich geschlafen. Besser gesagt überhaupt nicht.« Nebst dem blassen Teint sind dunkle Augenringe Zeugen seiner unruhigen Nacht.

»Wieso denn?«

»Die Mail von Neukomm hat mich total aus dem Konzept gebracht.«

»Welche Mail?«

Ivo fingert an seinem Ärmel herum. »Die Mail mit dem Betreff Dringende Besprechung.«

»Ach die. Was ist daran so schlimm?« Sarah trinkt einen Schluck Latte.

»Ich habe ganz ein komisches Gefühl. Seit die Mail versandt wurde, konnte ich an nichts anderes mehr denken. Mein Hirn hat ein Szenario nach dem anderen produziert.«

»Mais, Ivo, du machst dir zu viele Sorgen. So schlimm wird es nicht werden. Ich gebe zu, dass der Betreff nicht allzu gut gewählt wurde, aber …«

»Da hast du recht. Daher denke ich, dass er mich entlassen möchte. Immerhin habe ich noch nicht viel Erfahrung, da ich erst kürzlich meine Ausbildung beendet habe und neu in der Agentur bin. Zudem unterlaufen mir Fehler, die nicht geschehen dürften.«

»Wo denkst du hin. Das glaube ich nicht.«