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Hexen im Anflug!
Kaum hat die Hexe Ivy Wilde ihre flüchtige Bekanntschaft mit der Nekromantie abschütteln können, stolpert sie direkt ins nächste bizarre Abenteuer voll Tod und Teufel und Katastrophen. Sie kann auch definitiv nichts dafür, aber sie ist nun mal der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der mit den Toten kommunizieren kann ... und die sind leider wirklich, wirklich schwatzhaft. Als Ivy dann auch noch von den Geistern Infos über einen hexenhassenden Serienkiller erhält, hat sie keine andere Wahl, als die ganze Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen. Ivy ahnt nicht, dass sie sich so in richtig große Schwierigkeiten bringt - noch größere als die Einladung zum Sonntagsbrunch mit der Familie vom saphiräugigen Adepten Raphael Winter. Viel größere ...
"Ich LIEBE dieses Buch, es hat so viel Spaß gemacht, es zu lesen!" UNDER THE COVERS
Band 3 der magisch guten HEX-FILES-Reihe von Helen Harper!
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Seitenzahl: 390
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
Hierarchie des Heiligen Ordens der Magischen Erleuchtung
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Epilog
Die Autorin
Die Romane von Helen Harper bei LYX
Leseprobe
Impressum
HELEN HARPER
Hex Files
VERHEXTE NÄCHTE
Roman
Ins Deutsche übertragen von Andreas Heckmann
Kaum hat die Hexe Ivy Wilde ihre flüchtige Bekanntschaft mit der Nekromantie abschütteln können, stolpert sie direkt ins nächste bizarre Abenteuer voll Tod und Teufel und Katastrophen. Sie kann auch definitiv nichts dafür, aber sie ist nun mal der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der mit den Toten kommunizieren kann … und die sind leider wirklich, wirklich schwatzhaft. Als Ivy dann auch noch von den Geistern Infos über einen hexenhassenden Serienkiller erhält, hat sie keine andere Wahl, als die ganze Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen. Ivy ahnt nicht, dass sie sich so in richtig große Schwierigkeiten bringt – noch größere als die Einladung zum Sonntagsbrunch mit der Familie des saphiräugigen Adepten Raphael Winter. Viel größere …
Für Adrianna
Erste Stufe
Neophyt
Zelator
Theoreticus
Practicus
Philosophus
Zweite Stufe
Adeptus Minor
Adeptus Major
Adeptus Exemptus
Dritte Stufe
Magister Templi
Magus
Ipsissimus
Winter machte mich wahnsinnig. Er brachte mich um den Verstand. Während ich auf dem Sofa lag wie ein in Ohnmacht gefallenes Fräulein aus einem früheren Jahrhundert, putzte er mit Feuereifer. Zugegeben, das gewährte mir hinreißende Blicke auf seinen knackigen Hintern, aber er konnte einfach nicht stillsitzen.
Normalerweise hätte ich mich natürlich nicht beklagt. Dass jemand meine Hausarbeit übernahm, wäre mir wie ein Geschenk des Himmels erschienen. Aber er hatte schon an den beiden Vortagen die ganze Zeit aufgeräumt. Und am Wochenende. Jeder Quadratzentimeter meiner Wohnung blitzte und blinkte inzwischen. Von der alten Dame abgesehen, die mich spinnwebenübersät aus einer Ecke anstarrte. Aber das war eine andere Geschichte.
Brutus lag zusammengerollt und mit zuckendem Schwanz auf der Fensterbank. Winter hatte schmerzlich lernen müssen, ihn beim Schlummern nicht zu stören. Dieser Schlafplatz meines Katers war die letzte Zuflucht. Überall sonst war alles gewienert.
»Mach mal Pause«, schlug ich vor.
Sein Kopf fuhr hoch. Nie würde ich seiner blauen Augen überdrüssig werden. »Alles in Ordnung? Brauchst du eine Pause? Eine Tasse Tee? Einen Keks? Schmerztabletten? Wie wär’s mit …«
Ich hob die Hand und antwortete leise: »Mir geht’s gut, Rafi. Ich brauche nichts. Aber du musst aufhören zu putzen. Alles ist blitzblank. Du hast jeglichen Schmutz verscheucht.«
»Da hast du recht.«
Erleichtert atmete ich auf.
»Ich weiße nur noch den Fugenkitt im Bad und …«
»Raphael!«, polterte ich. »Nicht den Fugenkitt! Der ist prima so und muss nicht geweißt werden.«
»Eine Ecke sieht schmutzig aus.«
Nie hatte ich mich so lange über Fugenkitt unterhalten. Vermutlich war mir das Wort bisher nicht mal über die Lippen gekommen. »Setz dich einfach hin. Entspann dich. Du bist ja wie ein Perpetuum mobile.«
Er nickte kurz, kam zu mir aufs Sofa, war aber nicht entspannt, sondern schien beim ersten Stäubchen aufspringen zu wollen. Ich stemmte mich hoch, schmiegte mich an ihn, ignorierte den Schmerz, der sich sofort in meiner Brust bemerkbar machte und in alle Richtungen ausstrahlte, und legte das Kinn auf seine Schulter.
»Komm runter«, flüsterte ich, schob die Finger in seine dunklen Locken und zog sanft daran. »Wir können was anderes machen. Du musst nicht putzen.« Ich ließ die Hand über seine Rückenwirbel gleiten und tastete nach der nackten Haut knapp über dem Gürtel. Winter stöhnte leise … und wandte sich ab.
»Du weißt, was der Arzt gesagt hat.«
»Ich fühle mich wirklich viel besser.«
Er drehte sich wieder zu mir um und sah mir in die Augen. »Gut. Aber wir dürfen kein Risiko eingehen.« Er senkte den Kopf und fuhr mit dem Mund federleicht über meine Lippen, als fürchtete er, ein richtiger Kuss könne mich zerbrechen. Ihm war nicht klar, dass die Berührung seiner Lippen mich schon vor langer Zeit gebrochen hatte. Ich war seelisch wie körperlich die Seine. Eine Zukunft ohne ihn konnte ich mir nicht vorstellen, und ich wünschte mich für alle Ewigkeit in seiner Umarmung. Schwer zu sagen, wann ich zu einer so rührseligen Trine geworden war, der ich normalerweise Ohrfeigen verpasst hätte, aber darauf kam es nicht mehr an. Winter hier bei mir zu haben, war das Beste, was mir hatte passieren können. Nur die Kunst des Entspannens musste er noch lernen.
Die alte Dame kicherte, und ich fuhr zusammen. Winter runzelte die Stirn. »Was ist?«
Die Antwort »Ich sehe tote Menschen« hätte vermutlich nicht zu seiner Entspannung beigetragen. »Da ist wohl jemand über mein Grab gelaufen«, sagte ich wegwerfend. Das kam der Sache näher, als ihm klar war. Die alte Dame musterte mich so finster, als hätte ich ihr Erstgeborenes verflucht. Ich wedelte mit der Hand vor den Augen herum. Vielleicht wurde ich wirklich wahnsinnig.
»Brauchst du noch eine Decke?«, fragte Winter.
»Nein.«
»Soll ich deine Kissen aufschütteln?«
»Nein.«
»Brauchst du …«
»Rafi.« Ich seufzte schwer. »Alles, was ich brauche, bist du.«
Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Du hast mich doch, Ivy Wilde. Ich gehöre dir.«
Glücklich lächelte ich zurück und schmiegte mich enger an ihn. »Ich weiß.«
»Als ich hier gewohnt habe«, mischte die alte Dame sich ein, »hatte ich immer Blumen auf der Fensterbank.« Sie warf Brutus einen finsteren Blick zu. »Und keine Katze. Das sind unsaubere Geschöpfe.«
Brutus öffnete das linke Auge einen Spalt weit und sah in ihre Richtung. Halluzinierte ich nicht allein? Konnte auch er sie sehen?
»Und die Sessel haben in die andere Richtung gesehen.« Die alte Frau schniefte. »Die Möbel sind ganz falsch aufgestellt.«
Brutus schlief wieder ein. Ich rümpfte die Nase; solange Winter hier war, konnte ich meinen ständig hungrigen Katzengefährten nicht nach der alten Dame fragen. Denn falls Winter argwöhnte, dass ich noch immer Halluzinationen hatte, würde er sofort einen Arzt rufen. Oder sogar verlangen, dass ich zurück ins Krankenhaus ging, nur damit er sicher sein konnte, dass ich nicht im Sterben lag. Es war wunderbar, dass sich jemand so um meine Gesundheit sorgte, aber es konnte auch lästig sein.
Prinzessin Parma Periwinkle, Winters Katzengefährtin, kam hereingeschlendert und warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu. Er sprang auf. Im nächsten Moment klopfte es, und Winter stürzte fast zur Tür.
Ich legte mich wieder hin und hörte Stimmengemurmel. Eve tauchte mit einem zaghaften Lächeln in der Tür auf. »Ivy! Wie geht’s der Kranken? Alles in Ordnung? Kann ich dir was mitbringen?«
Ich ächzte. Tod durch allzu beflissene Fürsorge. »Mir geht’s gut, wirklich.« Dann dachte ich kurz nach. »Aber wenn du mir aus dem Eckladen Gummibärchen holen könntest? Das wäre echt nett.«
»Gummibärchen.« Eve nickte. »Kein Problem.«
»Und vielleicht Salt-&-Vinegar-Chips, die gewellten. Eine Mehrfachpackung.«
»Klar.«
»Und eine Dreihundert-Gramm-Tafel Schokolade«, ergänzte ich sicherheitshalber. »Und …«
Winter verdrehte die Augen. »Wie wäre es stattdessen mit einem Tee für euch beide?« Er ging in die Küche. Ich grinste. Es war fantastisch.
Eve setzte sich und warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Du hast ihn um den kleinen Finger gewickelt.«
»Stimmt, aber langsam macht er mich wahnsinnig. Keine zwei Minuten kann er sich hinsetzen und ausruhen. Nichts zu tun zu haben, das ist nichts für ihn.«
»Hast du mit ihm über den Orden gesprochen?«
»Ich hab’s versucht«, erwiderte ich seufzend. »Aber genauso gut könnte ich mit einer Ziegelsteinmauer reden. Mit diesen Leuten will er nichts mehr zu tun haben. Aber …« Ich verstummte.
»Ohne den Orden weiß er nichts mit sich anzufangen.«
Ich nickte. Eve verstand mich. Der Heilige Orden der Magischen Erleuchtung mochte nichts für mich sein, doch er hatte für Winter viele Jahre den Lebensinhalt dargestellt. Jetzt, da er ihn wegen der mir zugestoßenen Dinge verlassen hatte, war er orientierungslos. Ich wollte, dass er glücklich war – und im Orden zu sein, machte ihn glücklich. Aber inzwischen war er offenbar entschlossen, selbst dessen Existenz zu verdrängen.
»Dort wird er vermisst«, sagte Eve leise. »Nicht nur in der Arkanen Abteilung.«
Das konnte ich mir gut vorstellen. Die Hingabe, mit der er sich allen magischen wie bürokratischen Aufgaben widmete, war legendär. Wann immer ich ihm sagte, was in Schottland geschehen sei, habe meinerseits auf völliger Freiwilligkeit beruht; niemand habe mich gezwungen, mich fast umzubringen, indem ich die Magie eines jugendlichen Totenbeschwörers in mir aufnahm; ich sei sehenden Auges und informiert in die Situation gegangen: Stets wechselte er sofort das Thema. Winter war noch sturer als ich – und das wollte was heißen.
Als würden wir sie langweilen, stieß Prinzessin Parma Periwinkle ein zartes Gähnen aus, schlenderte zu Brutus und umging dabei die alte Dame in weitem Bogen. Während sie träge nach Brutus’ Schwanz schlug, der von der Fensterbank baumelte, kam ich ins Grübeln.
»Sag mal, Eve, kannst du mir einen Gefallen tun? Und ich meine diesmal nicht, dass du mir Junkfood mitbringst. Könntest du Harold herholen? Ich, äh, vermisse ihn.«
Sie sah mich zweifelnd an, verständlicherweise, denn wenn Brutus, Harold und die Prinzessin zusammenkamen, trieben sie immer Katzenschabernack. Aber es war wichtig.
»Ja«, erwiderte sie gedehnt, um der Kranken die Bitte nicht abzuschlagen. Daran könnte ich mich gewöhnen. »Warte kurz.«
Als sie mit Harold in den Armen zurückkehrte, tauchte auch Winter mit zwei Bechern Tee auf und erklärte: »Viereinhalb Minuten gezogen – die optimale Zeit für das perfekte Getränk.«
Ich warf ihm einen amüsierten Blick zu. Er tat offenbar alles Erdenkliche, um sich zu beschäftigen. Trotz meiner Bemühungen würde er nie lernen, Freude am Nichtstun zu haben. Winter musste immer einer Aufgabe nachgehen.
Brutus erwachte lange genug, um Harold einen stechenden Blick zuzuwerfen, während Prinzessin Parma Periwinkle bei seinem Auftauchen vor Freude kätzchenhaft maunzte. Harold hüpfte auf den Boden, schlenderte zur Prinzessin und begrüßte sie mit einem sanften Nasenstüber. Auch er mied die alte Dame. Wissenschaftlich betrachtet war meine Vermutung, es könne sich um mehr als eine Halluzination handeln, zwar nicht wasserdicht, aber sein Verhalten gab mir Anlass zum Nachdenken.
Sekunden später reichte es Brutus. Mit ausgestreckten Klauen sprang er Harold vom Fensterbrett an. Die Prinzessin hüpfte in Deckung, und alle drei achteten darauf, der alten Dame nicht nahezukommen. Meine Wohnung war nicht klein, aber sonderlich geräumig nun auch wieder nicht; eine ganze Ecke zu meiden, war anstrengend. Dass keine Katze sich in die Nähe meiner Halluzination begab, musste etwas bedeuten.
Harold zog sich eilends zurück. Als klar war, dass er nicht wiederkäme, sprang Brutus auf den Wohnzimmertisch und putzte sich selbstzufrieden. »Futter?«, fragte er.
»Ich hol dir was.« Winter eilte in die Küche. Ich kaute auf der Unterlippe herum. Er mochte mich in den Wahnsinn treiben, aber klinisch krank war ich nicht. Beruhigend zu wissen.
Menschen, die keine guten Patienten sind, habe ich nie verstanden. Ich bin eine großartige Patientin. Sie wollen mir heiße Zitrone mit Honig bringen? Aber gern. Mir die Stirn abtupfen? Nur zu. Mich mit dem Löffel füttern? Wenn’s sein muss. Trotzdem: Als ich mich endlich kräftig genug fühlte, um auf eigene Faust rauszugehen, war mir zumute, als werde mir ein Neustart gewährt. Ich hatte Winter überzeugt, es sei an der Zeit für ihn, nach Norden zu reisen und der Familie den Ordensaustritt zu beichten. Was mich anging: Ich wusste genau, wohin ich gehen und wen ich um Antworten bitten würde.
Es war ein seltsames Gefühl, den Hauptsitz des Ordens aufzusuchen und zu wissen, dass ich Winter dort nicht sehen würde. Der Gedanke, etwas hinter seinem Rücken zu tun, ließ meine Haut kribbeln. Doch ich tröstete mich damit, dass er mich noch mehr wie ein rohes Ei behandeln würde und noch gestresster wäre, sollte ich ihm sagen, in meiner Wohnung sitze eine unheimliche tote alte Dame. Die Arbeit wirkte entspannend auf ihn, und gegenwärtig hatte er nichts zu tun. Mich dagegen entspannte es, mich zu entspannen. Würde ich ihm reinen Wein einschenken, ließe er mich womöglich sogar einweisen. Was ich ihm kaum vorwerfen könnte.
Ich parkte mein Taxi auf der Rückseite der Bibliothek hinter einem großen Bus und nahm den langen Weg zum Haupteingang. Unter normalen Umständen hätte ich alle Verkehrsregeln ignoriert und vor der Bücherei im Halteverbot geparkt, doch ich wollte niemandem über den Weg laufen, der mich kannte. Und obwohl die Aufnahmen von Enchantment, auf denen ich zu sehen gewesen war, gemäß richterlicher Anordnung nicht hatten gezeigt werden dürfen, war mir klar, dass praktisch jede Hexe im Land mich erkennen würde. So war das wohl, wenn man die halben schottischen Highlands vor Zombies bewahrte. Und das binnen eines Tages.
Ich sah zu Boden und ignorierte die Leute ringsum. Zum Glück ließ der Nieselregen mich zugehörig wirken, denn alle eilten an ihre Bestimmungsorte, und keiner achtete auf andere Passanten. Ich mied eine Gruppe roter Roben, konnte knapp einer fuchsroten Katze ausweichen, die geduldig auf ihr Herrchen wartete, und … wäre fast gegen einen großen Mann geprallt, der mitten auf dem Weg stand.
»Passen Sie doch auf!«, bellte er.
»Verzeihung«, brummte ich.
»Sehen Sie mich an, wenn ich mit Ihnen rede!«
Unwillig hob ich den Kopf. Ein ungemein seltsamer Mann funkelte mich an. Seine Augen waren von merkwürdigem Gelb und wirkten eher katzenhaft als menschlich. Vielleicht hatte er schwere Gelbsucht? Ich musterte seinen langen, dichten Weißbart. Seine Brauen waren so buschig und zerzaust, dass ich sie vermutlich hätte flechten können. Und er kam mir bekannt vor – als wären wir uns schon begegnet.
»Was starren Sie so?«, fuhr er mich an.
Gute Güte. Erst sollte ich ihn ansehen, dann meckerte er deswegen. »Kommen Sie wieder runter«, sagte ich.
»Wie bitte?«
»Kommen Sie runter.«
Irritiert verschränkte er die Arme. »Sie müssen mir zuhören. Es ist sehr wichtig. Sie …«
Die Türen der Bibliothek gingen auf, und ein paar Hexen kamen kichernd heraus, eindeutig Neophyten, die noch nicht gelernt hatten, dass Ordensmitglieder stets und bei jeder Gelegenheit ernst und traurig zu sein hatten. Eine hatte purpurrotes, eine andere blaues Haar, und auf dem Hinterkopf der kahlrasierten Dritten prangte ein Besen-Tattoo.
»Ungläubige!«, schrie der wütende Mann.
Als ich ihn wieder ansehen wollte, war er nicht mehr da. Ich fuhr herum. Wohin war er verschwunden? Direkt vor mir hatte er gestanden, und jetzt war er weg. Ein Frösteln durchlief mich, und ich spürte einen Phantomschmerz. Mit vernehmlichem Schlucken umging ich die kleine Gruppe und flitzte in die Bibliothek. Das sah gar nicht gut aus.
Wenigstens war es drinnen warm und trocken. Die Hexe am Empfang kannte ich nicht. Es wäre einfach gewesen, sie nach Philip Maidmont zu fragen, doch leider war dies kein Tag für einfache Lösungen. Ich wich ihrem Blick aus, steuerte nach rechts und hoffte, Maidmont ohne größere Probleme zu finden. Die Bibliothek war riesig, und ich wollte nicht stundenlang suchen.
Ich schleppte mich in den ersten Stock hinauf und sah mich nach dem nervösen Bibliothekar um. Im Gebäude herrschte ehrfürchtige Stille, als ob ein Gespräch in Zimmerlautstärke ungeahnte Schrecken heraufbeschwören würde. Ich legte den Kopf in den Nacken und beäugte das goldene Zepter, das Winter und ich aus der Kanalisation unter der Bücherei geborgen hatten. Nun wurde es wieder in der schützenden Vitrine ausgestellt und zweifellos von mehreren Schutzzaubern gesichert. Hoffentlich war es zuvor gründlich desinfiziert worden.
Ich sah mich weiter um und stellte befriedigt fest, dass inzwischen ein Wächter vor der schweren Tür zu dem Raum mit den Chiffren-Manuskripten saß. Er wirkte zwar mehr als gelangweilt, popelte ungeniert in der Nase, betrachtete seinen grünen Rotz und steckte ihn in den Mund, aber immerhin gab nun jemand auf die Schriften acht. Offenbar vermochte der Orden aus seinen Fehlern zu lernen. Doch was scherte mich das Treiben des Ordens?
Gerade wollte ich mich in der Hoffnung, Maidmont in der ruhigsten Ecke der ruhigen Bibliothek zu finden, nach links zu den Arbeitskabinen wenden, da trat in einiger Entfernung eine Gestalt mit einem enormen Stapel Bücher hinter einem Regal hervor. Das Gesicht war hinter den Bänden verborgen, aber etwas an dem schlurfenden Gang ließ mich vermuten, dass ich den Gesuchten gefunden hatte. Ich schlenderte auf ihn zu und räusperte mich. »Philip?«
Ein leises Kreischen ertönte. Philip Maidmont zuckte überrascht zusammen, und die Bücher purzelten zu Boden. Aus dem Nichts tauchte eine junge Frau auf. Ihr halbes Gesicht bestand aus verkohltem Fleisch und fahlen Knochen. Großer Gott! »Tss, tss«, meinte sie missbilligend, während ich rasch den Blick abwandte und Maidmont ansah. »Hallo.«
»Ivy!« Er zog mich an sich und umarmte mich herzlich. »Wie schön, Sie zu sehen! Aber sollten Sie nicht zu Hause sein? Sie sehen so blass aus. Als hätten Sie einen Geist gesehen.«
Ha. Ha. Ha. Ich lachte matt und bückte mich eilends, um seine Bücher aufzuheben, ehe andere ihm zu Hilfe kamen. Dann führte ich den Bibliothekar am Ellbogen in eine geschützte Ecke.
»Mir geht’s gut.« Ich riskierte einen Blick zurück. Die unheimliche Frau mit dem halben Gesicht war verschwunden. Ich holte tief Luft, schluckte schwer und kam direkt zur Sache. Dieser Ort war mir wirklich unheimlich. »Aber ich brauche etwas Hilfe.«
Maidmont bekam große Augen. »Na klar! Was immer Sie wollen. Sie gelten hier als Heldin. Es wäre mir eine Ehre, Ihnen zu helfen. Aber«, setzte er besorgt hinzu, »ich soll doch nicht wieder Feuer legen?«
Ich rang mir ein Lächeln ab und kratzte mich verlegen im Nacken. »Nein. Es ist so … äh … ich könnte bei meinen Ermittlungen Unterstützung brauchen.«
Er strahlte, nein, glühte geradezu. »Aber gern! Worum geht’s denn? Erst heute Morgen habe ich ein herrliches altes Buch über die Heilkraft von Kaninchenkötteln entdeckt, die …«
»Äh, nein«, unterbrach ich ihn. Die Häschen konnten ihren Kot behalten. »Mich interessieren die Nebenwirkungen einer Totenbeschwörung.«
Maidmonts Mimik entgleiste. »Einer Totenbeschwörung?« Bestürzt schüttelte er den Kopf. »Oh nein, Ivy. Damit dürfen Sie sich nicht befassen. Ich weiß, was Sie in Schottland geleistet und wie Sie dem Jungen das Handwerk gelegt haben. Aber Sie dürfen mit dieser Magie nicht herumspielen. Sie hätte ihn fast vernichtet. Und Sie auch. Sie dürfen nicht denken …«
»Still jetzt. Ich will ja keine Toten beschwören – auf keinen Fall. Aber seit Schottland widerfährt mir Seltsames.« Ich senkte den Blick. »Ich sehe merkwürdige Dinge und muss rausfinden, ob mit mir etwas nicht stimmt. Besser noch: Ob es eine Möglichkeit gibt, das aufzuhalten, was momentan geschieht.«
Maidmont straffte sich. »Merkwürdige Dinge? Was denn genau?«
Ich trat von einem Fuß auf den anderen. »Die Details sind nicht wichtig. Aber was immer Sie über die Nebenwirkungen wissen« – ich hielt kurz inne – »und darüber, ob ich eine Gefahr für mich oder andere werden könnte, wäre … hilfreich.« Die Untertreibung des Jahres.
»Gefahr?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Solange Sie keine totenbeschwörerische Magie praktizieren, ist niemand bedroht.« Er musterte mich durchdringend, als wollte er ergründen, ob ich mich womöglich genau damit beschäftigte. Das Problem war, dass ich es nicht wusste.
»Absichtlich praktiziere ich gar nichts.« Meine Stimme wurde zu einem Flüstern. »Aber womöglich unterbewusst. Oder ich werde langsam verrückt.«
Maidmont wirkte erleichtert. »Das ist unmöglich. Zauber lassen sich nicht unabsichtlich wirken. Schauen Sie sich den Jungen an, der all das angerichtet hat – Alistair hieß er, nicht wahr? Er brauchte Blut für seine Taten und handelte wohlüberlegt und mit erheblicher Energie.«
»Sind Sie sich da sicher?«
»Absolut.«
»Also bin ich irre.« Ich rümpfte die Nase. Geisteskrank zu sein war vermutlich besser, als böse zu werden und das ganze Land auf einen Schlag verheeren zu können. Geringfügig besser jedenfalls.
Maidmont hob eine Braue. »Erzählen Sie mir, was Sie erleben.«
Ich presste die Lippen aufeinander. »Das könnte ich«, gab ich zurück, »aber danach müsste ich Sie töten.«
»Sehr witzig. Ivy, ich kann Ihnen erst helfen, wenn ich weiß, wonach ich suchen soll.«
Zwar wollte ich Maidmont nicht in die Sache reinziehen, doch ich brauchte Informationen. Nicht nur meinetwegen. »Ich denke …«, begann ich und seufzte. Die Karten mussten wohl doch auf den Tisch. »Ich denke, ich sehe Geister.«
Maidmont starrte mich verwirrt an. »Wie bitte?«
Diese Reaktion hatte ich erwartet. »Ich sehe Geister«, wiederholte ich. »Und sie sind nicht freundlich wie Casimir und tragen keine weißen Laken. Sie sehen aus wie normale Leute, aber ich glaube, sie sind … tot. Die meisten sind kein bisschen freundlich. Allerdings wäre ich als Tote vermutlich auch nicht gerade gesellig. Nie fragen sie mich, wie mein Tag war; sie beklagen sich nur, spötteln oder schreien. Ich wünschte, sie würden das lassen. Ich wünschte, sie würden verschwinden. Sie verstehen also, warum ich besorgt bin, Philip. Um Schottland zu retten, habe ich totenbeschwörerische Magie in mich aufgenommen, und nun begegnen mir Tote. Ich wüsste gern, ob ich gerade durchdrehe und wie ich dafür sorgen kann, dass sie nicht mehr erscheinen. Oder sich wenigstens nicht länger mokieren. Ein Mädchen kann nur ein gewisses Maß an Kritik ertragen.«
Maidmont starrte mich weiter an. Sein Mund war etwas geöffnet, und zwischen den Zähnen steckte ein Fitzel Grünes, womöglich Salat, aber ich war mir nicht sicher. Und bestimmt war es der falsche Moment, ihn darauf hinzuweisen. »Geister mokieren sich über Sie?«, fragte er schließlich.
Ich zuckte die Achseln. »Oder sie äußern Missbilligung. Um ehrlich zu sein: Diesen Unterschied habe ich nie ganz begriffen. Der letzte Geist hat sich vermutlich eher über Sie als über mich lustig gemacht – weil Sie die Bücher fallen gelassen haben.« Ich zögerte. »Dabei hat mein plötzliches Auftauchen Sie erst dazu gebracht – also hat er wohl doch mich gemeint.« Ich rang mir ein Lächeln ab.
Maidmont blinzelte noch immer nicht. Damit seine Augen nicht austrockneten und ich nicht an seinem Erblinden schuld wäre, rüttelte ich an seiner Schulter. »Hallo? Philip?«
»Äh … Setzen wir uns doch«, murmelte er matt. Dann gaben seine Beine nach, und er sackte zu Boden, ohne sich noch nach einem Stuhl umzusehen. Ich zuckte ergeben die Achseln, ging in den Schneidersitz und stützte das Kinn in die Hände, während Maidmont sich mühsam berappelte.
Nach einer halben Ewigkeit nickte er fast unmerklich und sah mich an. »Entschuldigung. Ich bin nur etwas … überrascht. Aber ich glaube Ihnen. Von einem derartigen Vorgang habe ich noch nie gehört, obwohl ich in der Bibliothek viel Seltsames mitbekomme. Erzählen Sie doch mal von Anfang an.«
Ich blickte in die Ferne. »Von Anfang an? Alles begann in Schottland. Kurz nachdem ich die Magie des jungen Alistair in mir aufgenommen hatte, sah ich einen schwebenden Kopf. Er sprach zu mir.« Ich rang die Hände im Schoß. »Es war der Kopf von Benjamin Alberts, dem Kandidaten von Enchantment, der ums Leben gekommen war. Damals waren meine Schmerzen so groß, dass ich ohnmächtig wurde. Danach glaubte ich, mir das nur eingebildet zu haben. Oder traumatisiert zu sein. Als ich aber im Krankenhaus zu mir kam …« Ich verstummte.
»Weiter«, bat Maidmont leise und ohne jede Kritik. Seine Miene war eine einzige Ermunterung, fortzufahren.
Ich holte tief Luft. »Als ich zu mir kam, waren da viele. Von diesen Leuten, meine ich. Keiner sah gesund aus.« Bilder von ausgemergelten alten Männern und blutbefleckten Kindern durchzuckten meinen Kopf. Plötzliche Übelkeit drehte mir den Magen um, und ich warf Maidmont einen Blick zu. »Ich stand unter starken Schmerzmitteln«, fuhr ich im Bemühen um eine rationale Erklärung fort. »Unter Morphin und Ähnlichem. Also war alles traumähnlich. Aber es kamen immer neue Gestalten und sprachen mit mir. Anfangs hielt ich sie für real, doch bald merkte ich, dass allein ich sie sah.« Ich stieß ein freudloses Lachen aus. »Eine Frau, die wissen wollte, wo ihr Baby war, habe ich gefragt, ob sie schon mit den Schwestern gesprochen habe. Winter war gerade zu Besuch und hat geantwortet. Dann trat er zurück, einfach durch sie hindurch, als sei sie Luft. Sie wirkte verärgert und ist verschwunden. Direkt vor meinen Augen.«
Maidmont räusperte sich. »Und warum soll es sich um Geister handeln, nicht bloß um Halluzinationen? Die hatten sie schließlich auch, oder?«
»Eine, ja«, gab ich matt zu. »Bewirkt durch Alistairs Kräuterzauber. Damals hab ich einen Blutfleck gesehen.« Mich schauderte. »Heute sehe ich ganz andere Dinge. Ich dachte, vielleicht verschwinden sie, wenn ich so tue, als seien sie nicht da. Womöglich werde ich auch verrückt. Aber ich habe den Eindruck, dass Katzen sie ebenfalls spüren.« Ich erzählte ihm von Brutus, Prinzessin Parma Periwinkle und Harold, die die Spinnweben-Dame allesamt gemieden hatten.
»Zwei Monate liegt Schottland schon zurück, aber die Erscheinungen verschwinden nicht. Eine Frau lebt geradezu in meiner Wohnung. Draußen war ein Mann in roter Robe mit dem üppigsten Bart, den ich je gesehen habe; geredet hat er wie aus einem anderen Jahrhundert. Und seine Augen waren gelb! Wer hat denn gelbe Augen? Von der Frau hier in der Bücherei nicht zu reden, die ich schon erwähnt habe. Sie sind überall, Philip. Und sprechen mich dauernd an.« Ich sah ihm in die Augen. »Werde ich langsam verrückt? Oder übermannt mich die nekromantische Magie, die ich absorbiert habe?«
Maidmonts Gesicht war noch immer sehr bleich. »Den Mann draußen mit dem Bart – können Sie ihn näher beschreiben?«
Ich kratzte mich am Kopf und tat mein Bestes. Während Maidmont zuhörte, tauchte die junge Frau mit dem halben Gesicht wieder auf, hockte sich hin und starrte ihn an. »Dem steckt was zwischen den Zähnen«, erklärte sie. »Das ist ja widerlich. Zu meiner Zeit haben Bibliothekare viel mehr auf Hygiene geachtet. Niemand mag von jemandem angeatmet werden, dem das Mittagessen halb aus dem Mund hängt.«
Ich ging nicht darauf ein und redete weiter. Als ich fertig war, nickte Maidmont, stand auf und strich sich unsichtbaren Staub von den Kleidern. »Wir sollten gehen«, sagte er ungewöhnlich entschlossen.
Ich bekam große Augen. »Wohin?«
»Etwa zum Zahnarzt? Gute Idee«, warf die Frau ein.
Maidmont schürzte die Lippen. »Kommen Sie. Es gibt da etwas, das wir erst mal überprüfen sollten.«
Ich rappelte mich auf. Wollte er mich in die Klapsmühle bringen? Oder mich von hinten erstechen, bevor ich eine entfesselte Totenbeschwörerin wurde?
»Alles wird gut«, beschwichtigte er mich. »Vertrauen Sie mir.«
»Traue niemandem, der keine Zahnseide benutzt«, riet mir die Frau.
Ich nickte Maidmont zu. »Gut. Gehen wir.« Die Frau mit dem halben Gesicht machte mir wirklich Angst, und ich streifte sie mit einem flüchtigen Blick. »Schnell.«
Maidmont führte mich aus der Bibliothek. Leider hatte es aufgehört zu regnen, und nun waren mehr Hexen unterwegs. Ich flitzte ihm nach und gab mir alle Mühe, mich hinter seiner schmächtigen Gestalt zu verbergen. »Was treiben Sie da?«, fragte er.
»Ich verstecke mich«, flüsterte ich. »Besser, niemand erkennt mich und verwickelt mich in ein Gespräch.«
Seine Stimme klang, als würde er lächeln. »Keine Sorge. Es ist nicht weit.« Er verließ den Weg, um anderen auszuweichen, und ich folgte ihm dankbar. Wie angenehm, mit jemandem unterwegs zu sein, der kein Tempo anschlug, als müsse er mit der Zeit selbst um die Wette rennen! Langsam entspannte ich mich – bis ich begriff, wohin Maidmont mich führte.
»Da gehe ich nicht rein!«, rief ich kopfschüttelnd und machte vor dem Hauptgebäude des Ordens kehrt.
Maidmont holte mich mit wenigen Schritten ein. »Warum denn nicht?«
»Bestimmt ist der Ipsissimus im Haus! Und er soll als Letzter davon erfahren! Oder doch erst, wenn ich die Dinge im Griff habe.« Oder – wie ich im Stillen ergänzte – wenn ich mit Winter geredet hatte. Maidmont um Hilfe anzugehen, war eine Sache, mich hinter Winters Rücken an den Ipsissimus zu wenden, etwas ganz anderes.
»Wir gehen nicht zu ihm«, erklärte Maidmont. »Aber im Gebäude ist etwas, das Sie sich ansehen sollten.«
Erneut schüttelte ich den Kopf. »Auf keinen Fall. Ich fahre nach Hause.« Wo ich besser geblieben wäre. Ich löste mich von ihm, beschleunigte das Tempo und war entschlossen, zwischen mich und den Orden möglichst viel Abstand zu bringen. Dann sah ich Tarquin eines der entfernteren Gebäude verlassen und auf mich zukommen.
Wieder fuhr ich herum. Maidmont blinzelte und wirkte verblüfft über meinen erneuten Richtungswechsel. Ehrlich gesagt: Mir wurde langsam ein bisschen schwindlig. Wehmütig dachte ich an mein Sofa. Dort hätte ich bleiben sollen. Wen kümmerte schon, ob ich mit Toten sprechen konnte? Wenn sie lange genug in meiner Nähe blieben, würde ich vielleicht etwas Nützliches von ihnen erfahren. Nicht, wer JFK wirklich erschossen hatte oder was Lord Lucan tatsächlich widerfahren war; ich dachte eher daran, wie sie sich dazu bringen ließen, nach meiner Pfeife zu tanzen, damit sie für mich arbeiteten, während ich meine Kräfte schonen konnte.
»Der Ipsissimus hält sich bestimmt in seinem Büro auf, Ivy. Wir gehen nur in den allgemein zugänglichen Bereich.«
Tarquin hatte mich vermutlich nicht gesehen; dennoch spürte ich seine Gegenwart unangenehm im Rücken. Mit ihm zu tun zu haben, war unfassbar lästig. Erstaunlicherweise hatte ich es vermeiden können, ihm in dem Häuserblock zu begegnen, in dem wir zur Miete wohnten. Auf keinen Fall wollte ich mir jetzt anhören, wie er mit seinen Heldentaten angab. Meine psychische Verfassung war auch ohne solche Prahlereien labil genug.
»Versprochen?«
»Ehrenwort.«
Kaum hatte Maidmont geantwortet, krächzte es laut aus einem nahen Baum. Ich schrak zusammen. Was für ein Vogel mochte das gewesen sein? Ich konnte keinen sehen. »War das ein Rabe?«, fragte ich argwöhnisch.
»Bestimmt nicht.«
Ich warf Maidmont einen Seitenblick zu. Immerhin wirkte er leicht nervös. Raben waren Unglücksboten, das wussten wir beide. Womöglich aber war es nur ein heiserer Spatz gewesen. So oder so: Maidmont und ich beschleunigten wortlos unsere Schritte. Wahrscheinlich wäre es klug, möglichst schnell zu erledigen, was immer wir vorhatten.
Wir betraten das Gebäude durch den Haupteingang. Einige Hexen, die im Foyer Sicherheitsdienst schoben, beobachteten uns. Hier musste ich mit dem Versteckspiel aufhören, sonst würden sie uns aufhalten. Damit unser Auftritt möglichst unauffällig verlief, ging ich erhobenen Hauptes neben Maidmont her. Zugegeben: Die respektvollen Blicke, die mir galten, waren befriedigend. Ja, ich hatte das Land vor einem Zustrom von Zombies bewahrt. Und ja, fast wäre ich dabei zur Märtyrerin geworden. Tolle Ivy!
Maidmont murmelte dem nächststehenden Hexer etwas zu, und der verbeugte sich knapp. Dann passierten wir die Sicherheitsleute und nahmen die Treppe in den ersten Stock. Trotz der Wächter befanden wir uns noch immer im öffentlichen Bereich; jede Hexe durfte hierherkommen. Als Maidmont vor der nächsten Treppe abbog, atmete ich erleichtert auf: Nein, er brachte mich nicht zum Ipsissimus.
Maidmont blieb vor einem der vielen alten Gemälde stehen und sah mich fragend an. Ich brauchte nur einen flüchtigen Blick auf das Bild zu werfen, schon blieb mir das Herz stehen.
»Das ist er.« Ich musterte den gelbäugigen Mann mit der allzu üppigen Haarpracht, und er starrte zurück. Kein Wunder, dass er mir bekannt vorkam – schließlich war ich oft genug an seinem Porträt vorbeigegangen. »Das ist der Mann, den ich vor der Bibliothek gesehen habe.«
Maidmont schloss kurz die Augen. »Als Sie die Augenfarbe erwähnten, dachte ich mir schon, dass er es sein dürfte.«
Ich betrachtete das kleine Schild neben dem Gemälde: Ipsissimus Grenville, 1742–1803. Na, der war auf jeden Fall tot.
»Dieses Porträt hat mir nie gefallen.«
Ich schrak zusammen und fuhr herum. Der Mann, um den es ging, stand neben mir. Ich stieß einen leisen Schrei aus und ging eilends auf Abstand. Zu argwöhnen, man sehe Geister, ist eine Sache – etwas ganz anderes ist es, wenn dieser Gedanke sich bestätigt.
Grenville runzelte die Stirn. »Der Tod ist nicht ansteckend. Ich mag an Schwindsucht gestorben sein, bin mir aber ziemlich sicher, dass du dich an meinem Geist nicht anstecken kannst.«
Ich packte Maidmont am Arm. »Sie sehen ihn nicht, stimmt’s?«
Der Bibliothekar wurde noch etwas bleicher. »Wen?«
»Grenville«, flüsterte ich. »Er steht direkt neben mir. Sein Porträt gefällt ihm nicht.«
»Alles, was ich darüber gelesen habe, spricht dafür, dass er darauf gut getroffen ist.«
Grenvilles Geist stieg in die Luft und schwebte etwa dreißig Zentimeter über dem Boden. Er fuhr auf Maidmont zu, hielt aber vor seinem Gesicht inne und funkelte ihn zornig an. »Das sieht mir ganz und gar nicht ähnlich«, zischte er. »Die Nase ist völlig unproportional.«
Ich schluckte schwer. Soweit ich es erkennen konnte, waren das Knollige und die flatternden Nasenflügel präzise wiedergegeben, und doch schien es mir unklug zu sein, das laut auszusprechen. »Er hat es nicht so gemeint«, erklärte ich eilends. »Außerdem hat er Sie nie persönlich getroffen. Es ist nicht seine Schuld.«
Maidmont bekam große Augen. »Sie reden nicht mit mir, oder?« Er zupfte an seiner Robe. »Ich … ich könnte mich täuschen, was die Ähnlichkeit betrifft. Es handelt sich um ein sehr altes Gemälde.« Er beugte sich zu mir und setzte leise hinzu: »Hat einer der Geister Sie je berührt?«
»Nein.« Ich wusste nicht recht, warum wir flüsterten. Grenville verstand offenkundig jedes Wort. »Aber wie gesagt: Keiner von ihnen ist sonderlich glücklich.«
Maidmont rückte ein wenig von mir ab.
»Selbstverständlich sind wir nicht glücklich, du dummes Mädchen!«, fuhr Grenville mich an. »Wärst du etwa glücklich? Statt das Jenseits genießen zu können, stecken wir hier fest, und offenbar bist du die Einzige, die uns hören kann. Über zweihundert Jahre warte ich darauf, mit jemandem reden zu können, der noch atmet, und jetzt, wo es endlich so weit ist, gerate ich an dich. Schlimm genug, dass du eine Frau bist. Aber was zum Teufel hast du da an?«
Ich verschränkte die Arme. »Guter Mann, wenn ich Ihnen weiter zuhören soll, müssen Sie höflicher zu mir sein.«
Grenville verdrehte die Augen; dann riss er den Kopf hoch und sah mir über die Schulter. »Gute Güte«, schimpfte er, »jetzt kommt auch noch dieser Knallkopf.« Er drohte mir mit dem Finger. »Ich muss reden, Missy, und du musst zuhören. Heute um Mitternacht.« Er funkelte mich mit seinen unheimlichen Augen an. »Ich erwarte, dass du hier bist.« Mit diesen Worten verschwand er.
Erleichtert sackte ich ein wenig in mir zusammen. Leider hielt dieser Zustand nicht lange an. Der »Knallkopf«, von dem Grenville gesprochen hatte, kam auf mich zu. Sein freundliches Lächeln änderte nichts daran, dass ich mich miserabel fühlte. »Miss Wilde. Wie schön, Sie zu sehen.«
Ich schenkte Ipsissimus Collings, dem leibhaftigen Ipsissimus Collings, ein schwaches Lächeln. »Hallo.« Dann warf ich Maidmont einen düsteren Blick zu. Er zuckte hilflos die Achseln.
»Tut mir leid«, sagte er lautlos.
»Sie sind sicher hier, um mich aufzusuchen«, begann Collings. »Hat Adeptus Exemptus Winter Vernunft angenommen? Kehrt er in den Schoß der Familie zurück?«
»Wenn dem so wäre«, erwiderte ich, »wäre er selbst gekommen.«
Das Ordensoberhaupt runzelte leicht die Stirn. »Stimmt. Warum also sind Sie hier?«
»Sie sieht Geister!«, platzte Maidmont heraus. »Seit sie dem Jungen in Schottland die nekromantische Magie entrungen hat. Das ist offenbar eine Nebenwirkung. Man muss etwas unternehmen!« Sein Blick schoss wild zwischen uns hin und her. »Grenville habe ich schon beleidigt. Sie werden mich verfolgen! Ich …«
Um ihn zu beruhigen, legte ich Maidmont eine Hand auf den Arm, doch er zuckte ängstlich zurück. So viel zu meinem Versuch, nebenher im Stillen ein wenig zu ermitteln; mein Geheimnis war gelüftet.
Der Ipsissimus hob die Brauen. »Geister? Sind Sie ganz sicher, Miss Wilde?«
»Überhaupt nicht. Je mehr ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich davon, dass es sich um halluzinatorische Nachbeben handelt. Vermutlich sollte ich nach Hause zurückkehren und mich mit einer kalten Kompresse ins Bett legen.«
»Lassen Sie uns in mein Büro gehen.« Mir war klar, dass es sich bei diesen Worten nicht um einen Vorschlag handelte. Als ob er mich herumkommandieren dürfte …
Ich trat einen Schritt zurück. »Nein.« Ich wandte mich Maidmont zu, der in Deckung ging. »Es wäre hilfreich, wenn Sie ermitteln könnten, was genau hier vor sich geht und ob ich bald Oxfords nächste Totenbeschwörerin sein werde. Aber der einzige Ort, an den ich mich jetzt begebe, ist meine Wohnung.«
Der Mund des Ipsissimus wurde schmal. »Miss Wilde …«
»Ich mag Sie«, sagte ich mit erhobener Hand. »Sie sind ein anständiger, wohlgesonnener Mensch. Aber Ihretwegen bin ich nicht hier, sondern um Ermittlungen anzustellen über meine gegenwärtige … Verfassung. Sie müssen begreifen, dass ich loyal zu Winter stehe. Bevor ich nicht mit ihm geredet habe, werde ich nicht mit Ihnen sprechen. Ich habe bisher nicht das Bedürfnis, Schafe ausbluten oder Untote auferstehen zu lassen – deshalb nehme ich an, dass ich für niemanden eine Gefahr bedeute. Das muss vorläufig genügen.« Ich wandte mich um und rechnete beinahe damit, zu Boden geworfen zu werden.
»Ivy, warten Sie!«, rief Maidmont.
Noch immer verärgert über seinen Wankelmut, blickte ich über die Schulter. »Was denn?«
»Wirken Sie keine Zauber, ehe ich recherchieren kann, was mit Ihnen los ist. Zauber egal welcher Art könnten üble Folgen haben, falls Sie totenbeschwörerische Magie in sich tragen.«
Ich verzog das Gesicht. Na großartig.
»Alistair hat nach Ihnen gefragt«, rief der Ipsissimus und bezog sich damit auf den eigentlichen Totenbeschwörer aus den Highlands.
Ich hatte keine Ahnung, warum. Dennoch hielt ich inne. »Geht’s ihm gut?«
»Jedenfalls in Anbetracht der Umstände. Sein Bruder Gareth ist bei ihm. Ich glaube, die beiden entwickeln wieder eine positive Beziehung zueinander und finden sich mit allem ab, was vorgefallen ist. Sie würden gern ein vertrautes Gesicht sehen.«
»Das glaube ich gern«, erwiderte ich leise und nahm die Beine in die Hand, um davonzukommen, solange es noch möglich war.
Als ich nach Hause kam, war Winter zurück. Er saß mit Brutus auf dem Sofa und wirkte trügerisch entspannt. Jedem anderen hätte ich das Lässige abgekauft, aber nicht Winter. Von der Spinnweben-Dame war immerhin keine Spur zu entdecken.
»Du warst unterwegs«, stellte er fest.
Ich gab ihm einen Kuss. »Stimmt.«
Er sah mir in die Augen, und nicht zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, in ihre blauen Tiefen gesogen zu werden. »Villeneuve ist mir über den Weg gelaufen. Er war überzeugt, dich beim Orden gesehen zu haben. Aber das kann eigentlich nicht sein – dahin würdest du dich ja nie begeben.« Er hob fragend eine Braue.
Ich blickte zu Boden. »Ich war dort. Tut mir leid.«
Winter fasste mich am Kinn und zwang mich, ihn anzusehen. »Ich bin nicht dein Hüter, Ivy. Du kannst tun, was du willst – und ich könnte dich kaum von etwas abhalten, das du dir in den Kopf gesetzt hast. Zwar wüsste ich gern, warum du dort warst. Und ich finde, du solltest nicht durch Oxford stromern, solange du nicht gesund bist. Aber ich verlange keine Antworten, wenn du sie nicht geben magst.« Er sprach leise. »Ich vertraue dir. In allem.«
»Ich dir auch«, erwiderte ich, obwohl mein Tun diese Worte scheinbar Lügen strafte. »Und ich habe geschwiegen, um dich nicht zu beunruhigen.« Ich fuhr mir durchs Haar und merkte, wie verfilzt meine Locken waren. »Mir passieren in letzter Zeit seltsame Dinge, und ich hatte gehofft, beim Orden Antworten bekommen.«
Er nickte. »Du hast Gefahren gewittert, wo keine waren, und Sachen gesehen, die es nicht gab. Ich kenne dich, Ivy Wilde. Ich weiß, dass etwas im Gange ist. Und ich wünschte, du hättest dich mir früher anvertraut.«
»Du sollst mich nicht für wahnsinnig halten.«
Er lachte matt. »Du bist der wahnsinnigste Mensch, den ich kenne.« Er hielt inne. »Und dafür liebe ich dich.«
Ich lehnte die Stirn an seine. Womit nur hatte ich ein so göttliches Wesen verdient? »Ich werde von Geistern geplagt – womöglich als Nebenwirkung der Totenbeschwörung. Vielleicht werde ich jedoch wirklich böse, und in diesem Fall müsste man mich ausschalten.«
Winter mochte allerhand erwartet haben, aber das nicht. Er löste sich von mir und starrte mich an. »Geht’s dir gut?«
»Ich denke ja. Für böse halte ich mich eigentlich nicht – schon, weil es zu anstrengend wäre, eine Schurkin zu sein. Hoffentlich findet Philip Maidmont Antworten.«
Winter entspannte sich etwas. »Ihn hast du aufgesucht?«
»Ja. Allerdings weiß jetzt auch der Ipsissimus Bescheid.« Widerstrebend erzählte ich ihm alles. Ich musste es Winter hoch anrechnen, dass er ruhig zuhörte, meine Schilderung nicht anzweifelte und nicht mit mir schimpfte. Ich hatte recht: Er war viel zu angespannt und besorgt um mich. Ich hatte eine Standpauke erwartet und sie verdient.
»Dir ist hoffentlich klar, dass der Orden dich nun nicht mehr in Ruhe lässt«, sagte er, als ich fertig war. »Du redest mit längst Verstorbenen. Dir ist Ipsissimus Grenville begegnet, der den Orden zu dem gemacht hat, was er heute ist. Viele Hexen werden Fragen haben.« Seine Miene verhärtete sich. »Und auf keinen Fall solltest du in der Stunde nach Mitternacht einen Geist treffen.«
»Das wäre nicht gefährlich, wenn du dabei wärst, um mich zu beschützen«, erwiderte ich mit einem Seitenblick.
Winter schnaubte. »Versuch mal, mich davon abzuhalten.« Er zögerte. »Aber wenn ich das mache, musst du auch etwas für mich tun.«
Ein Schauer der Angst jagte über meinen Rücken. »Nämlich?«
»Du bist mir etwas schuldig, Ivy Wilde. Du hast hinter meinem Rücken Ermittlungen angestellt, Dinge vor mir geheim gehalten, dich einmal mehr in Gefahr begeben …« Er setzte eine unschuldige Miene auf. »Ich denke, bisher war ich sehr vernünftig. Du musst …«
»Gut«, unterbrach ich ihn. »Was soll ich für dich tun?«
Sein Grinsen verlieh ihm etwas herrlich Jungenhaftes. »Du musst mich am Sonntag zum Familienessen begleiten.«
Oha. »Stimmt«, gestand ich eilig. »Ich bringe mich viel zu sehr in Gefahr und lege mich deshalb jetzt für mindestens vierzehn Tage ins Bett.«
»Ivy …«
Es war ihm offensichtlich wichtig. »Also gut«, gab ich seufzend nach. Wie schlimm konnte es sein, einmal mit einer Soldatenfamilie zu essen?
Die Spinnweben-Dame war plötzlich da und kicherte. »Das ist unbezahlbar!«, keuchte sie. »Ich brenne darauf zu sehen, was die Familie dieses Mannes von dir hält! Hahahahaha!«
Ich warf ihr einen fiesen Blick zu. Natürlich würde ich mich mustergültig benehmen müssen. Vielleicht würde ich mich sogar kämmen. Wenn ich Winter um den kleinen Finger wickeln konnte, würde mir das auch bei seiner Mutter und seinem Vater gelingen. Und was ich im Magen spürte, war ganz bestimmt kein nervöses Flattern. Her mit den Schwiegereltern. Immerhin ließ der Gedanke, sie zu treffen, die Geister im Vergleich wie flauschige Kätzchen erscheinen.
Das Telefon klingelte. Obwohl es in meiner Nähe stand, sprang Winter auf und nahm den Hörer ab. Schön. Während er mit dem Anrufer sprach, sah ich mich um. Neben dem Wohnzimmertisch stand ein Karton, den ich noch nie gesehen hatte. Ich kauerte mich hin, klappte den Deckel auf und schnappte nach Luft, als ich den Inhalt erblickte. Vorsichtig nahm ich den empfindlichen Apparat heraus und betrachtete ihn von allen Seiten. Es war ein altes, nein, antikes Gerät zur Reinigung von Kräutern und vermutlich sehr wertvoll. Zweifellos ein Erbstück. Ich hielt inne und runzelte die Stirn, denn in Winters Familie hatte es keine Hexen gegeben.
Das Gerät war unerwartet schwer. Um es nicht fallen und in tausend Teile zerspringen zu lassen, stellte ich es auf den Tisch. Solche Apparaturen waren veraltet. Bald nach dem Zweiten Weltkrieg hatten einige Wissenschaftler des Ordens die Köpfe zusammengesteckt und entdeckt, dass eine Prise Salz vollauf genügte, um magische Kräuter so weit zu reinigen, dass sie zuverlässig bei Zaubersprüchen verwendbar waren. Die meisten Hexen, die regelmäßig Kräuterzauber benutzen, geben bloß ein paar Salzkörner dazu, ohne auch nur darüber nachzudenken. Das war keine große Sache. Selbst wenn sie das Salz vergaßen, war es nicht weiter schlimm. Im äußersten Fall büßten die Kräuter einen Teil ihrer Wirkung ein.
Kräuterkundler führten gern ausschweifende Debatten darüber, welche Art Salz am wirkungsvollsten war. Ich hatte gehört, der Orden beschäftige sogar einen Salz-Sommelier. Dessen Empfehlungen mochten zwar nicht so gut munden wie die eines Wein-Sommeliers, aber dafür hatte man am nächsten Morgen keine Kopfschmerzen. Ich hatte den schleichenden Verdacht, dass es auf das Gleiche hinauslief, ob man rosa Himalaya-Steinsalz verwendete – von Jungfrauen in den Bergen Nepals geschürft – oder Tafelsalz aus dem Supermarkt.
»Das frage ich sie nicht«, sagte Winter mit leicht erhobener Stimme in den Hörer. »Du entscheidest. Bestimmt ist es so oder so in Ordnung.«
Ich konzentrierte mich nicht länger auf den Reiniger und hob eine Braue. Die Ablenkung hatte genügt, damit Brutus mich ansprang. Abwehrend hob ich die Hände, denn das kostbare Erbstück sollte nicht auf dem Boden landen. Dann begriff ich, dass er es nicht auf mich abgesehen hatte. Auf allen vieren landete er im Karton mit jener befriedigten Miene, die er mir nur zeigte, wenn ich das ganze Wochenende frei und keine Pläne hatte.
Winter seufzte. »Nein, Mutter, das tue ich nicht.«
Noch neugieriger geworden, ließ ich langsam die Arme sinken. »Na los«, sagte ich. »Frag mich.«
In Winters Miene stand blankes Elend. Er drückte die Hand auf die Sprechmuschel. »Meine Mutter möchte wissen, ob es dir etwas ausmacht, wenn das Essen in Abendgarderobe stattfindet.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Tut mir leid. Manchmal übertreibt sie es ein bisschen.«
Nie unterwerfe ich mich einer Kleiderordnung, erst recht nicht beim Essen. Warum sich dafür in Schale werfen? Ich kann auf dem Sofa in meinem alten, fleckigen Trainingsanzug mit ausgefransten Ärmeln und löchrigen Knien essen, und es schmeckt genauso gut. Aber das war Winters Familie. Da ich meine Teilnahme zugesagt hatte, durfte ich nicht kneifen. Wenn Winter dann glücklich war, konnte ich eine Ausnahme machen. Einmalig. Zumal sich die Spinnweben-Dame bei der Vorstellung, dass ich mich herausputzen würde, hysterisch verrenkte.
»Einverstanden«, sagte ich.
Winter blinzelte. »Bist du sicher?«
Ich verkniff mir den sarkastischen Kommentar, der mir unvermittelt in den Sinn kam, und erwiderte lächelnd: »Kein Problem.«
Irritiert, aber offenkundig erleichtert, nahm Winter die Hand von der Muschel und sprach wieder mit seiner Mutter. Ich betrachtete Brutus, der noch immer im Karton saß. Seine Schnurrhaare zitterten, als müsste er sich das Lachen mühsam verkneifen. Ich machte den Deckel zu, um ihn nicht länger sehen zu müssen. »Jetzt wissen wir nicht, ob du tot bist oder lebendig«, flüsterte ich. Brutus reagierte, indem er den Deckel blitzartig wieder aufklappte, mit ausgefahrenen Klauen nach mir schlug und mich kratzte.
»Aua!« Ich fuhr zurück und funkelte ihn an. »Ist ja schon gut, du bist am Leben.«
Winter legte auf und sah mich an. »Entschuldigung.«
Ich zuckte die Achseln. Es hatte keinen Sinn, sich darüber aufzuregen. »Das wird lustig. Und jetzt wissen wir, dass die magischen Qualitäten nicht zufällig in dir zutage getreten sind. Deine Magie kommt von der mütterlichen Seite.« Weil er mich anstarrte, erklärte ich es ihm. »Sie spürte, dass ich mich einverstanden erklärt hatte, dich zum Essen zu begleiten, und hat gleich darauf angerufen. Vielleicht weiß sie nichts von ihrem magischen Vermögen. Aber ich habe es bemerkt, weil ich Ivy Wilde bin, die Super-Spürnase.«
Winters Augen blitzten belustigt. »Wenn du das sagst.«
Ich zeigte auf den Kräuterreiniger. »Ganz schön schick. Wenn das kein Erbstück mütterlicherseits ist, will ich einen Monat lang täglich den Fugenkitt in der Dusche scheuern.«
Er presste die Lippen aufeinander. »Ivy, sieh dir den Karton mal genau an.«
Ich hörte Brutus leise knurren. »Äh …«
Winter zeigte auf eine Adresse. Ich reckte den Kopf, las sie und achtete darauf, den Karton diesmal nicht zu berühren, um alle meine Finger zu behalten und keinen an meine verärgerte Katze zu verlieren.
Die Adresse war sauber gedruckt. Winters vollständiger Name, aber ohne Ordenstitel. Nach dem Logo in der Ecke zu schließen, kam der Karton von einer Firma namens Multi Multa.
»Das ist kein Familienerbstück, Ivy, sondern ein Bestechungsversuch.«
Ich richtete mich auf. Jetzt wurde es spannend.
»Es hat sich rumgesprochen, dass ich nicht mehr beim Orden bin. Multi Multa möchte mich anwerben. Sie haben mir den Reiniger zum Zeichen ihres aufrichtigen Interesses geschickt. Ohne Hintergedanken.« Er schnaubte. »Wer’s glaubt, wird selig!«
»Aber ist das nicht eine gute Sache? Du willst arbeiten. Sie möchten, dass du für sie tätig wirst. Und sie wollen dich mit attraktiven Geschenken dazu bewegen.« Ich zuckte die Achseln. »Für mich klingt das nach einer Win-win-Situation.«
»Für mich bist nur du hier attraktiv«, erklärte Winter.