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Myrta sucht das Abenteuer, sie will ihre Sicherheitszone ausloten und wagt die Ferne, die sie schon lange anzog. Sie ahnt nicht, dass sich dort eine andere Seele in ihr einnisten wird. Zwei Seelen in einer Brust können die Suche nach Einheit und Verbindung nicht aufgeben. Zwei Männer begleiten die Frauen auf ihrem Weg zu sich selbst. Jeannine Onori beschreibt eine Reise, die hier und dort kein kulturelles Selbstverständnis mehr anbietet. Die Hingabe an das Unausweichliche führt an den Ort, der keiner mehr ist.
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Seitenzahl: 107
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zwei Löwen
zwei Seelen in einer Brust
aus vier mach zwei
aus zwei mach eins
und eins ist keins
das ist das Hexen-Einmaleins
für
Clea, Nives und Lorin
Quand je danse, il y a deux « moi » qui cohabitent : l’une qui ne se contrôle plus, en état de transe, et l’autre qui regarde avec lucidité la première. Parfois ces deux « moi » coïncident et engendrent une sorte de folie blanche, proche de l’extase.
Carlotta Ikeda (1987)
UTT, Solo von Carlotta Ikeda
Eine schwarze Bühne, der Lichtkegel ist auf eine kleine, zarte Japanerin gerichtet. Sie steht in der linken, hinteren Ecke, ruhig versunken in eine Innenwelt, weiss gepudert. Die Diagonale ist mit sanftem Licht vorgezeichnet.
Eine stille, kaum erkennbare Veränderung bewegt sie, sie verjüngt sich, sie wird klein und kleiner, sie ist ein Kleinkind. Die ersten Gehversuche in ausbalancierter Form sind kaum erkennbar. Zeit fliesst an Ort, Zukunft versinkt in Gegenwart. Raum dehnt das Kind aus, Leben zieht an unsichtbaren Fäden und das Kind drängt in sein Wachstum. Die Verwandlung ist ein Traum. Das Kleinkind wird Kind, wird Jugendliche, wird Frau.
Sie steht in der Mitte der Bühne, auf halber Strecke der beleuchteten Linie, der Lichtkegel ist immer auf sie gerichtet, begleitend, bescheinend. Die Richtung ist durch die Diagonale vorgegeben, aber im hellen Rund gibt es keine Vergangenheit, keine Zukunft, nur den Moment der Metamorphose, der unsichtbaren Verwandlung.
Sie wird älter. Die Frische der Haut vergilbt, sie ist zerbrechlich, durchsichtig, sanft, feingliedrig, feinfühlig. Sie berührt die Ewigkeit, den Frieden, die Rückkehr. Sie ist am Ende der Diagonale angelangt und das Licht erlischt.
Sie heisst Myrta, nach der Aphrodite geweihten Myrte, dessen Zweige ein Symbol für Jungfräulichkeit, Lebenskraft und vieler gesunder Kinder waren. Die Myrte war auch ein Abbild für die über den Tod hinausreichende Liebe.
Der zu beschreitende Weg wurde mit ihrem duftenden Pflanzengewächs ausgestreut, während Weihrauch verbrannt wurde.
Myrtas Jungfräulichkeit ist seelisch, wertfrei, noch unberührt im letzten Lebensabschnitt, im Altern. Irritiert befürchtet sie, dass dieser Weg sie verletzen kann. In ihrem Innern fühlt sie die zarten Keime der Liebe, einer Kraft, die über den Tod hinausreicht und sie sucht das Vertrauen in einen Weg, der für sie ausgestreut und beweihräuchert wurde. Ein sanfter Schmerz kündigt Demut und Hingabe an.
Die Reise
Ankunft in der Ferne
Der erste Abend
Erfolglose Flucht
Das Quartier
Komm zurück
Silvester
In der Stadt
Der Schweinestall
Der Wellenbeobachter, Miraola
Die Tante, die Priesterin
Das Dorf und Miraolas Verwandte
Ritual
Du kommst langsam an
Der andere Priester ‘Jabao’
Francisca die Schwarze
Domina
Die Heimat
Trennung
Am Grab der Grossmutter
Himalaya-Birke
Die Batterie
Der andere Körper
Zuhause
Flüstern der Birkenblätter
Seiltänzerin
Theaterkulissen
Maklerin
Der Schmerz häutet sich
Unsichtbar
Ein Wiedersehen, ohne Augen
Der obere Nachbar
Der seitliche Nachbar
Eine Bekannte im Dorf
Nachtfalter
Hausverkauf
Die Andere
Myrtas Traum
sein kleines Zuhause
In Gedanken sprechen
Myrta schreibt dem Wellenbeobachter
Der Mann, der grosse Leon
Wohin
Abschied von der Heimat
Die Schimmelstute – die Königin
Die Rote
Rätsel und Annäherung
kein Zufall
Alle Vögel sind schon da
Das Grosskind
Auf dem Land bei der Tante
Myrtas zuhause
Maria im Stein
Das Gebet
Die Begegnung
Yelainas Traum
Verschwinden
Die Quelle
Letztes Aufwachen
zum Glück bist du noch da
Sie ist gegangen
Die Königin
Gegenwart
Hand in Hand
Die Philosophin
Maria
Eine Reise ins Ungewisse, eine Reise in ein fernes Land, etwas Mutiges. „Mama mach es, geh, wage!“ Der Reiseführer liegt schon lang auf ihrem Bücherberg, aber der Mut fehlte. Myrta weiss, dass sie nicht so leichtfüssig in fremde Kulturen eintaucht, sich leicht verliert, nach zwei Drehungen ist die Richtung nicht mehr klar erkennbar. Allerdings ist sie auch nicht die Person, die in Touristenströmen mitzieht. Das macht sie traurig, leer.
Sie bucht. Es ist beschlossen.
Drei Monate später in dieser Kleinstadt, die sie intuitiv als Ziel ortete, keine Vorstellung wieso und warum, eigentlich war die ganze Reise auf diesen abgelegenen Weltfleck am anderen Ende der bekannten und begehrten Hafenstadt ausgerichtet, sitzt sie auf der verlotterten Brandmauer am Meer, die Fusssehnen angerissen, kaum mehr mobil, einmal mehr verwirrt und etwas verloren. „Noch ein paar Tage und dann habe ich es gesehen und erlebt oder überlebt“, denkt sie. Sie ist gut über die Runde gekommen, ausser in der letzten Stadt. Der Ermüdungssturz in der vorletzten Reiseetappe liess sie deutlich erkennen, dass ihre Kräfte aufgebraucht waren.
„Hallo meine Liebe, willst du mit mir tanzen?“ Und schon drehten sie eine Runde auf offener Strasse. „Hallo möchtest du heute Abend einen Begleiter, komm doch noch in meine Wohnung.“ „Hallo, wie wär’s mit Sex mit einem Mulatten. Die ganze Nacht.“ „Hallo, wir können in meinem Taxi tagelang verbringen, alles inbegriffen.“ „Hallo, möchtest du nicht einmal einen jungen Mann ausprobieren?“
„Hallo… Hallo.. Hallo..“
Aber das tänzerische Duo des gepflegten Herren, schwarzweiss gestreiftes Hemd, weisse Hosen mit Bügelfalten, statusträchtiger Hut, mit dem weitaus jüngeren, charismatischen, kräftigen, selbstverliebten Dunkelhäutigen war die Reise wert. Der Tanz spielte mit den subtilsten Formen der Körperkommunikation, Facetten der Macht, Freude, Spass, Witz und Männlichkeit. Myrta meinte zu verstehen, dass der erfahrene, ältere Herr überlegen war oder war es Respekt, den ihm der Jüngere zollte und gerne erwies. Auf jeden Fall war es eine Herausforderung auf Augenhöhe und wie so vieles hier verschwiegen wird, hatten sicher auch sie ihre Geheimnisse und verborgenen Abmachungen.
Die Reise war bereichernd, die Mutprobe bestanden. Sie kann nun mit einer Ladung wundervoller Fotos, mit einer schönen Hautbräunung und einem gestärkten Selbstvertrauen wieder in die vertraute Umgebung zurückreisen.
Es erwarten sie ein sicherer Job mit gutem Einkommen, erwachsene Kinder, die ihr immer loyal zur Seite stehen, Haus, Pferde, Katzen.
Das Leben ist ihr wohlgesonnen. Was will sie mehr? Wenn sie diese Prüfung bestanden hat, ist die Welt näher gerückt. Sie hat sich ihre Unabhängigkeit bewiesen und kann andere Destinationen ins Auge fassen. Noch ein paar Tage und dann darf sie wieder in der geschichtsträchtigen, europäisch vertrauten Kultur ankommen.
An diesem Morgen richtete sie sich in ihrer Unterkunft ein. Wie immer an einem neuen Ort in diesem fremden Land, fragte sie sich, was sie hier eigentlich wolle. Alles war dürftig, etwas schmuddelig, die Geräusche anstrengend, keine Fensterscheiben, nur Verdunkelungsklappen, immer und überall die gleichen Fernsehgeräusche mit den üblichen Kitschserien. Aber sie kannte inzwischen ihre eigene Anpassungsfähigkeit und war gespannt, wie sich diese neue Umgebung am Folgetag anhören und anfühlen würde.
Der hinkende Spaziergang durch die Stadt wurde von stereotypen Zurufen begleitet: „Hallo, sehen wir uns heute Abend im Zentrum?“ und sie antwortete locker und entspannt: „Natürlich, dort treffen wir uns.“ Aber eigentlich plante sie, den Touristenfallen aus dem Weg zu gehen und freute sich auf einen ruhigen Abend mit Hinhören, Gassenspaziergängen, Fotografieren in dürftigen Lichtkegeln, damit sie einen Hauch der Menschen in ihrem Alltag einatmen kann.
Sie sitzt auf der Brandmauer und schreibt ein paar Nachrichten in die Heimat. Sie braucht etwas Vertrautes und eine Anbindung. Als sie aufschaut, sitzt ein junger, dunkelhäutiger Mann, grosse Lippen, krauses Haar, kräftiger Körper, in gekonnt gelassener Haltung neben ihr und beobachtet sie. „Ich wollte dich nicht stören, sah, dass du beschäftigt warst.“ „Schon gut“, antwortet sie. „Ich bin schon fertig.“
Kurz das Übliche, woher sie komme, wohin sie gehe, ob es ihr hier gefalle. Dann nimmt das Gespräch eine andere Wendung. Er sei soeben aus der Hauptstadt angereist, dies sei sein erster Tag seit längerer Zeit wieder hier in seiner Heimat. Er habe dort auf dem Bau gearbeitet, weil es hier keine Arbeit gebe, aber die Situation in der Militärschule, wo sein Bruder wohnt und arbeitet, sei schwieriger geworden und die Schwarzarbeit werde nicht mehr geduldet. Sie schaut sich seine Hände an und stellt fest, dass dies wahr sein könnte, denn tatsächlich ist seine Haut an den Händen gerissen, mit Schwielen und Hornhaut. „Ein sympathisches, angenehmes Gespräch“, denkt sie, „aber es reicht schon wieder“. Sie will ihre Ruhe, ist müde und möchte sich verabschieden. Da meint er, wie zu erwarten war, ob sie denn heute Abend in das Tanzlokal im Zentrum kommen würde. „Ok“, antwortet sie, „warum auch nicht“, denkt sie und als gute Schweizerin weiss sie, dass sie ihr Wort halten wird.
Im Nachbarhaus singt die Frau in überzeugter Freude zur Tonkonserve eines Plattenspielers. Myrta hat noch kein solches Gerät in diesem Land angetroffen und offensichtlich inspiriert diese Kostbarkeit aus vergangener Zeit.
An einen Erholungsschlaf war nicht zu denken.
Nicht alle Stühle im kreisförmigen, halbdunklen Raum sind besetzt. Nur wenige Paare drehen und kreisen zum rhythmischen Puls der Musik. Der junge Mann wartet schon auf sie, frisch gekleidet, rasiert, gekämmt, ganz in Ausgehstimmung. „Negrito“, kleiner Schwarzer, so nennt sie ihn insgeheim, „was erwartest du?“ denkt sie noch, aber da fordert er sie schon zum Tanz auf. Sie lehnt ab, ihr Fuss ist sehr geschwollen und instabil. Das heizt ihn an, andere Damen einzuladen und er wirft ihr verstohlen immer wieder einen Blick zu, der fordert: „Sieh doch, wie gut ich bin, komm doch schon.“ Aber sie geht nicht darauf ein.
„Lass uns nach draussen gehen“, sagt er nach den erfolglosen Andeutungen und ihr ist das ganz recht, denn eigentlich wollte sie gar nicht an diesem Ort sein. In der spärlich beleuchteten Gasse lehnt sie sich an die Wand, um Halt zu finden. Er nähert sich und meint nur kurz: „Du gefällst mir“, hoch aufgerichtet, mit warmem Blick und korrekter Distanz.
„Irgendwie klingt das schön“, antwortet sie. „Oh, nein, was spreche ich da? “ denkt sie im selben Moment. Sofort ist er in freudiger Bewegung. „Komm lass uns in die Freiluftdisco auf der Terrasse gehen.“ Willenlos geht sie mit, eigentlich möchte sie umkehren, fortschleichen.
Offensichtlich gefällt dieser Ort der grossflächigen Tanzszene unter freiem Himmel den Einheimischen. Er schiebt sie an den Rand, will ihr den erhöhten Ausblick zeigen, aber dazu kommt es nicht, sofort drängt er sie an die Mauer und küsst sie heftig, ohne den leisesten Widerstand zu gewähren.
Er ist entschlossen.
Kurz danach sagt Myrta: „Mein Lieber, ich muss gehen, ich bin müde und mein Fuss schmerzt, ist dir doch recht, oder?“ „Ich begleite dich.“ „Nicht nötig, bleib doch, du hast sicher Spass.“ „Nein, ich begleite dich, das gehört sich so.“
Myrta hat die Orientierung verloren. Nachdem sie über eine Stunde ihre Unterkunft gesucht haben, sie Gassen auf und ab gehumpelt ist, sie wollte sich schon verabschieden und sich an den Strand legen, was er nie zugelassen hätte, bestimmt er: „Dann kommst du zu mir.“ Er wohne mit seinen Grosseltern, das sei kein Problem, sie solle einfach ganz still sein, damit sie unbemerkt bleibe.
Er hat keinen Schlüssel. Sie stehen im zweiten Stock vor der Tür eines einfachen Hauses mit Blechdach. Aus allen Räumen atmet, schnarcht und stöhnt es. Mit einem kleinen, kaum sichtbaren Fingerwink hinter dem Rücken, gibt er ihr zu verstehen, dass sie sich in die dunkle Ecke stellen soll. „Grossmutter, Grossmutter, mach die Türe auf, warum schliesst du sie zu?“ Ein müdes Schlurfen nähert sich und der Riegel wird zurückgeschoben. Er führt sie im Halbfinstern an der Hand durch den kleinen Wohnraum, am parkierten Fahrrad, am Zimmer der Grosseltern vorbei. Geradeaus sei die Toilette, kein fliessendes Wasser und rechts sei sein Zimmer, da könne sie sich hinlegen.
„Vielleicht schläft er auf dem Sofa in der Stube“, hofft sie insgeheim. Sie legt sich ins Bett, zerfetzte Tücher trennen die Räume, ein offenes Dachwerk verbindet die Zimmer, sie hört, wie die Grosseltern tief und schwer atmen und sich rekeln. Er dreht den alten, ratternden Ventilator an und legt sich zu ihr. Dann zieht er sie aus. Sie staunt, denn sie ist willenlos und gelähmt. Das ist nicht ihr Körper, den er betrachtet, berührt, in den er mit einer selbstverständlichen, kraftvollen Bewegung eindringt.
Die Grossmutter schlurft kurz danach im Wohnzimmer hin und her. Sie füllt Bottiche, da in diesem Wohngebiet das Wasser nur zu bestimmten Stunden und ausschliesslich in der Nacht fliesst. Hellwach liegt Myrta in Negritos Armen, die Federn der Matratze dringen durch den Stoff. Nach zwei Stunden weckt sie ihn, sie müsse gehen, sie könne nicht schlafen. Er flüstert, ihm gehe es gleich und er werde sie begleiten.
Als sie das Haus verlassen, kreuzen sie die Grossmutter. Im Nachthemd, mit drapiertem Kopftuch, schlohweissem Haar und mit, auch um diese Uhrzeit, hellwachem, neugierigem, schlauem Blick, nickt sie Myrta kurz zu.
Am nächsten Tag flüchtet Myrta in eine Sicherheitszone, in ein Touristenresort nahe der kleinen Stadt, aber doch bedeutende zwanzig Kilometer entfernt und nur mit einem Taxi erreichbar.