High Fidelity - Nick Hornby - E-Book

High Fidelity E-Book

Nick Hornby

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Beschreibung

Der Kultroman von Nick HornbyDer 35-jährige Robert Fleming ist Besitzer eines mehr schlecht als recht laufenden Plattenladens und soeben von seiner beruflich erfolgreichen Freundin Laura wegen seiner Antriebs- und Orientierungslosigkeit verlassen worden – weil er sich weigert, erwachsen zu werden. Rob hat grundsätzlich Probleme mit Veränderungen, in seinem Geschäft werden ausschließlich Schallplatten aus Vinyl verkauft, neumodische CDs kommen nicht infrage. In seinem Leben dreht sich alles um Popmusik. Wer nicht mindestens 500 Schallplatten besitzt, dem verweigert er jeglichen Respekt. Nach Lauras Auszug sucht er erst einmal Trost darin, seine Plattensammlung neu zu sortieren, und zwar nicht chronologisch, nicht alphabetisch, sondern autobiografisch. Rob unternimmt den Versuch, sein Leben zu bilanzieren, und geht der Frage nach, warum seine Beziehungen immer scheitern. Um die Frage zu beantworten, versucht er die fünf Frauen, die ihm am meisten Liebeskummer zugefügt haben, ausfindig zu machen und zu treffen. Immer wieder versucht er sich einzureden, dass Liebeskummer in seinem Alter nicht mehr wirklich bedeutend sei, sondern nur lästig wie ein Schnupfen oder Geldmangel, und dass das Singleleben durchaus viele Vorzüge biete. Doch auch das Herumhängen mit seinen Angestellten Dick und Barry im Plattenladen, zwei Geschmacksfundamentalisten, die er allerdings mehr als tragische Gestalten und weniger als wirkliche Freunde begreift, und eine Affäre mit einer Sängerin füllen ihn nicht aus. Als er reflektiert, dass seine Exfreundin Laura mit ihrer Kritik nicht immer ganz falsch lag und sich Schallplatten und Frauen nicht ausschließen, hat er nur noch eins im Sinn: sie wieder zurückzugewinnen. Nick Hornbys literarische Bearbeitung der eigenartigen Beziehung von Männern zu Schallplatten wurde rasch zum Erfolgsroman und war monatelang auf den Bestsellerlisten. Die Verfilmung des Romans im Jahre 1999 durch Stephen Frears trug darüber hinaus zur Popularität von High Fidelity bei.

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Seitenzahl: 401

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Nick Hornby

High Fidelity

Roman

Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Über Nick Hornby

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Nick Hornby

Nick Hornby, 1957 geboren, studierte in Cambridge und arbeitete zunächst als Lehrer. Mit seinen Romanen feierte er sensationelle Erfolge und gilt seitdem als Kultautor. »High Fidelity« wurde mit John Cusack und Iben Hjelje von Stephen Frears verfilmt und »About a Boy« mit Hugh Grant. Nick Hornby lebt in London.

Die Übersetzer

Clara Drechsler, geboren 1961, und Harald Hellmann, geboren 1958, übersetzen gemeinsam aus dem Englischen, u. a. Werke von Bret Easton Ellis, Helen Walsh und Irvine Welsh.

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Über dieses Buch

»Nick Hornbys Roman über wacklige Beziehungskisten und seelentröstende Songs ist längst schon Kult.« Brigitte

Darf man mit Leuten befreundet sein, deren Plattensammlung in der Hauptsache aus Tina-Turner-Alben besteht? Kann man eine Frau lieben, deren Lieblingsband die Simple Minds ist? Warum wollen pubertierende Jungs immer nur grapschen und Mädchen nur Händchen halten? Und warum tragen Frauen nur beim ersten Date schöne Unterwäsche? Das sind nur einige der Fragen, die Rob, dem frischgebackenen Single, neuerdings durch den Kopf gehen. Zugegeben, es ist schon toll, die Wohnung wieder für sich zu haben. Endlich hat man Zeit, die Plattensammlung neu zu sortieren. Aber was kommt dann?

Nick Hornbys literarische Bearbeitung der eigenartigen Beziehung von Männern zu Schallplatten wurde schnell zum Lieblingsroman vieler Leser und gründete ein neues Genre. Der Roman stand monatelang auf den Bestsellerlisten. Die Verfilmung durch Stephen Frears mit John Cusack in der Hauptrolle trug später weiter zum Riesenerfolg bei.

Inhaltsverzeichnis

Hinweis

Widmung

damals …

1. Alison Ashworth (1972)

2. Penny Hardwick (1973)

3. Jackie Allen (1975)

4. Charlie Nicholson (1977–1979)

5. Sarah Kendrew (1984–1986)

heute …

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Dank

Einige englische Begriffe und Namen werden im Anhang erklärt.

Für Virginia

damals …

Die ewigen Top Five meiner unvergesslichen Trennungen für die einsame Insel in chronologischer Reihenfolge:

1.

Alison Ashworth

2.

Penny Hardwick

3.

Jackie Allen

4.

Charlie Nicholson

5.

Sarah Kendrew

Das waren diejenigen, die wirklich wehgetan haben. Findest du deinen Namen darunter, Laura? Ich schätze, du könntest dich unter die Top Ten mogeln, aber unter den Top Five ist kein Platz für dich; diese Plätze sind für Demütigungen und Herzschmerz eines Kalibers reserviert, die du mir gar nicht zufügen könntest. Das klingt wahrscheinlich grausamer, als es gemeint ist, aber es lässt sich nicht leugnen, dass wir zu alt sind, um uns gegenseitig unglücklich zu machen, und das ist ein Vorteil, kein Nachteil, also mach nicht den Fehler, die Liste persönlich zu nehmen. Diese Zeiten sind passé, und ich weine ihnen nicht nach; damals bedeutete Unglücklichsein noch etwas. Heute ist es nur lästig, wie eine Erkältung oder Geldmangel. Wenn du mich wirklich fertigmachen wolltest, hättest du früher kommen müssen.

1.Alison Ashworth (1972)

Die meisten Abende trieben wir uns im Park bei mir zu Hause um die Ecke rum. Ich lebte in Hertfordshire, hätte aber ebenso gut in irgendeiner anderen englischen Vorstadt wohnen können: Es war die typische Vorstadt und der typische Park – drei Minuten von zu Hause, auf der anderen Seite der Straße mit der kleinen Geschäftszeile (ein VG-Supermarkt, ein Zeitschriftenladen, ein Spirituosenladen). Es gab nichts, woran man erkennen konnte, in welcher Gegend man sich befand. Falls die Läden offen gewesen wären (und sie schlossen um halb sechs, donnerstags um eins und hatten sonntags gar nicht auf), hätte man zum Zeitschriftenstand gehen und nach einer Lokalzeitung sehen können, aber selbst das hätte einem keinen wesentlichen Anhaltspunkt gegeben.

Wir waren zwölf oder dreizehn und hatten gerade die Ironie entdeckt – zumindest das, was ich später als Ironie erkannte: auf der Schaukel oder dem Karussell und dem anderen vor sich hin rostenden Kinderzeugs zu spielen, gestatteten wir uns nur, wenn wir das mit einer gewissen verlegenen ironischen Distanz tun konnten. Die äußerte sich entweder in aufgesetzter Geistesabwesenheit (pfeifen, angeregt plaudern oder mit einer Kippe oder Streichholzschachtel herumspielen klappte meistens) oder einem Flirt mit der Gefahr: Also sprangen wir von der Schaukel, wenn sie am höchsten stand, sprangen aufs Karussell auf, wenn es sich am schnellsten drehte, und schwangen die Schiffsschaukel hoch, bis sie fast senkrecht stand. Sobald man nur irgendwie beweisen konnte, dass dieser Kinderkram die Möglichkeit bot, sich die Rübe aufzuschlagen, fanden wir es wieder okay, darauf zu spielen.

Allerdings kannten wir keine Ironie, wenn es um Mädchen ging. Uns fehlte einfach die Zeit, sie zu entwickeln. Im einen Augenblick gab es noch keine Mädchen, jedenfalls nicht in einer Form, die uns interessiert hätte, und im nächsten Augenblick waren sie nicht mehr zu übersehen; sie waren allgegenwärtig, wohin man auch sah. Gerade noch hatte man ihnen nur dafür, dass sie die eigene Schwester oder die eines anderen waren, eine Kopfnuss verpassen wollen, und im nächsten Augenblick wollte man … ehrlich gesagt, wussten wir nicht, was wir im nächsten Augenblick wollten, aber da war etwas, irgendetwas. Beinahe über Nacht waren all diese Schwestern (es gab keine andere Sorte von Mädchen, noch nicht) interessant, ja verwirrend geworden.

Was bitte, hatten wir denn, was wir vorher nicht gehabt hatten? Kieksige Stimmen, aber was hat man schon von einer Kieksstimme – sie macht einen lächerlich, nicht begehrenswert. Und das sprießende Schamhaar war ein strenges Geheimnis zwischen uns und unseren Unterhosen, und Jahre sollten vergehen, bis jemand vom anderen Geschlecht bestätigen konnte, dass es da war, wo es hingehörte. Die Mädchen hingegen hatten ganz unübersehbar Brüste und eine zu ihnen passende neue Art zu gehen: mit über der Brust verschränkten Armen, einer Pose, mit der sie das, was passiert war, gleichzeitig überspielten und betonten. Und dann das ganze Make-up und Parfüm – ausnahmslos billig und ungeschickt, manchmal bis zur Lächerlichkeit aufgetragen, aber doch ein ziemlich alarmierendes Zeichen dafür, dass eine Entwicklung ohne uns, jenseits unseres Horizonts, hinter unserem Rücken stattgefunden hatte.

Ich fing an, mit einer von ihnen zu gehen … halt, stimmt nicht … ich hatte absolut keinen Anteil an dem Entscheidungsprozess. Ich könnte auch nicht behaupten, dass sie anfing, mit mir zu gehen: Das Problem liegt in der Formulierung »mit jemandem gehen«, denn sie unterstellt irgendeine Art von Übereinstimmung und Ebenbürtigkeit. Was passierte, war, dass David Ashworths Schwester Alison sich von dem weiblichen Trüppchen löste, das sich jeden Abend bei der Bank versammelte, und mich unter ihre Fittiche nahm, sich unterhakte und mich von der Schiffsschaukel entführte.

Heute weiß ich nicht mehr, wie sie das anstellte. Ich glaube, selbst damals war es mir nicht klar, denn ich entsinne mich noch gut, wie völlig perplex ich plötzlich mitten in unserem ersten Kuss war, weil ich mir nicht im Geringsten erklären konnte, wie Alison Ashworth und ich so intim hatten werden können. Mir war nicht mal klar, wie ich auf ihrer Seite des Parks gelandet war, weit weg von ihrem Bruder und Mark Godfrey und den Übrigen, oder wieso wir uns von Alisons Haufen abgesetzt hatten, oder wieso sie mir ihr Gesicht zuneigte, damit ich wusste, dass von mir erwartet wurde, meinen Mund auf ihren zu drücken. Die ganze Episode widersetzt sich jeder rationalen Erklärung. Aber all diese Dinge geschahen, und sie wiederholten sich, die meisten von ihnen auch am folgenden Abend und am Abend darauf.

Wie kam ich dazu? Wie kam sie dazu? Wenn ich heute Menschen auf diese Weise küsse, mit Mund und Zunge und allen Schikanen, dann nur, weil ich auch andere Dinge will: Sex, Freitagabende im Kino, Gesellschaft und Gespräche, sich überschneidende Familien- und Freundeskreise, heiße Zitrone ans Bett gebracht bekommen, wenn ich krank bin, ein neues Paar offene Ohren für meine Platten und CDs, vielleicht einen kleinen Jungen namens Jack oder ein kleines Mädchen namens Holly oder Maisie, da hab ich mich noch nicht entschieden. Aber nichts von alldem wollte ich von Alison Ashworth. Keine Kinder, denn wir waren Kinder, und keine Freitagabende im Kino, denn wir gingen samstagmorgens, und keine heiße Zitrone, darum kümmerte sich meine Mum, nicht einmal Sex, Sex schon gar nicht, lieber Gott, keinen Sex, die schmutzigste und erschreckendste Erfindung der frühen Siebziger.

Was sollte die Knutscherei also? Die Wahrheit ist, sie hatte nichts zu bedeuten; wir tappten einfach im Dunkeln. Es war zum Teil Nachahmung (Leute, die ich bis 1972 habe küssen sehen: James Bond, Simon Templar[1], Napoleon Solo, Barbara Windsor und Sid James oder vielleicht Jim Dale, Elsie Tanner, Omar Sharif und Julie Christie, Elvis und jede Menge Menschen in Schwarz-Weiß, denen meine Mum dabei zusehen wollte, obwohl sie den Kopf immer so steif hielten), zum Teil hormonelle Willkür, zum Teil Gruppenzwang (Kevin Bannister und Elizabeth Barnes machten es schon seit ein paar Wochen), zum Teil blinde Panik … da gab es kein Bewusstsein, kein Verlangen und kein Vergnügen, abgesehen von einer ungewohnten und halbwegs angenehmen Wärme im Unterleib. Wir waren junge Tiere, was nicht bedeutet, dass wir uns am Ende der Woche die Pullunder vom Leib rissen, sondern nur, dass wir, metaphorisch gesagt, begonnen hatten, an unseren Hinterteilen zu schnüffeln, und den Geruch nicht gänzlich abstoßend fanden.

Aber jetzt kommt’s, Laura. Als ich am vierten Abend unserer Beziehung im Park erschien, saß Alison mit Kevin Bannister im Arm auf der Bank, und von Elizabeth Barnes keine Spur. Niemand, weder Alison noch Kevin noch ich selbst, noch die sexuell uneingeweihten Spätentwickler, die an der Schaukel baumelten, sagte ein Wort. Ich erstarrte, ich wurde knallrot und hatte auf einmal verlernt zu laufen, ohne mir dabei jedes einzelnen Körperteils bewusst zu sein. Was tun? Wohin gehen? Ich wollte mich nicht prügeln, ich wollte nicht mit den beiden rumsitzen, ich wollte nicht nach Hause gehen. Also steuerte ich, ganz auf die leeren Players-Packungen konzentriert, die den Weg zwischen den Mädchen und den Jungen markierten, und ohne auf-, nach hinten oder zur Seite zu blicken, zurück ins Rudel der einzelnen Männchen, die an der Schiffsschaukel hingen. Auf halbem Weg unterlief mir meine einzige Fehlleistung: Ich blieb stehen und sah auf meine Uhr, obwohl ich ums Verrecken nicht sagen könnte, was ich damit ausdrücken wollte oder wem ich damit etwas vorzumachen hoffte. Wie viel Uhr muss es sein, damit ein dreizehnjähriger Junge ein Mädchen stehen lässt und sich mit schwitzenden Handflächen, rasendem Herz, verzweifelt mit den Tränen kämpfend, auf den Spielplatz verzieht? Bestimmt nicht vier Uhr an einem Septembernachmittag.

Ich schnorrte eine Kippe von Mark Godfrey, ging weg und setzte mich allein aufs Karussell.

»Flittchen«, zischte Alisons Bruder David, und ich lächelte ihn dankbar an.

Und das war’s dann. Was hatte ich falsch gemacht? Erster Abend: Park, Kippe, Knutschen. Zweiter Abend: dito. Dritter Abend: dito. Vierter Abend: abgemeldet. Okay, okay. Vielleicht hätte ich die Zeichen erkennen sollen. Vielleicht habe ich es provoziert. Jetzt hab ich’s. So etwa beim zweiten »dito« hätte ich peilen müssen, dass es eng wurde, dass ich die Dinge so hatte schleifen lassen, dass sie sich nach einem anderen umzusehen begann. Aber sie hätte doch versuchen können, es mir zu erklären! Sie hätte mir doch wenigstens ein paar Tage mehr zugestehen können, um die Sache in Ordnung zu bringen!

Meine Beziehung zu Alison Ashworth hatte sechs Stunden gedauert (die zwei Stunden zwischen Schule und Nationwide mal drei), ich kann also kaum behaupten, ich hätte mich daran gewöhnt, sie um mich zu haben, und mit mir allein nichts mehr anzufangen gewusst. Tatsächlich kann ich mich heute kaum noch an sie erinnern. Langes schwarzes Haar? Vielleicht. Klein? Sicher kleiner als ich. Schräge, fast orientalische Augen und dunkler Teint? Das könnte sie, könnte aber auch eine andere gewesen sein. Egal. Aber wäre für diese Liste Gram und nicht Chronologie ausschlaggebend, würde ich sie glatt auf Platz zwei setzen. Es wäre schön, wenn man glauben könnte, die Zeiten hätten sich geändert, seit ich erwachsen geworden bin, die Beziehungen seien kultivierter, die Frauen weniger grausam, das Fell dicker, die Reaktionen geschickter und die Instinkte schärfer geworden. Aber in allem, was mir seitdem widerfahren ist, scheint immer noch dieser Abend nachzuwirken; es kommt mir vor, als seien alle meine Liebesgeschichten verschlüsselte Varianten jener ersten. Natürlich musste ich diesen endlosen Weg nie wieder gehen, und nie wieder mit so hochroten Ohren, ich musste nie wieder die Players-Packungen zählen, um spöttischen Blicken auszuweichen und Tränenströme zurückzuhalten … nicht wirklich, nicht eigentlich, nicht tatsächlich. Es fühlt sich nur manchmal so an.

2.Penny Hardwick (1973)

Penny Hardwick war ein nettes Mädchen, und heutzutage stehe ich auf nette Mädchen, auch wenn ich mir damals nicht so sicher war. Sie hatte eine nette Mum und einen netten Dad, ein nettes Haus, Einfamilienhaus mit Garten, Baum und Fischteich, eine Nette-Mädchen-Frisur (sie war blond und trug ihr Haar halblang, Modell sportliche, saubere, gesunde Klassensprecherin), nette lächelnde Augen und eine nette jüngere Schwester, die höflich lächelte, wenn ich vor der Tür stand, und uns in Ruhe ließ, wenn wir in Ruhe gelassen werden wollten. Sie hatte nette Umgangsformen – meine Mum liebte sie – und sie bekam immer nette Zeugnisse. Penny sah nett aus, und ihre fünf Lieblingsstars waren Carly Simon, Carole King, James Taylor, Cat Stevens und Elton John. Viele Leute mochten sie. Sie war sogar so nett, dass sie mir nicht erlaubte, meine Hände unter oder nur auf ihren BH zu legen, also machte ich Schluss mit ihr, natürlich ohne ihr den Grund zu nennen. Sie weinte, und ich hasste sie dafür, weil sie mir Schuldgefühle machte.

Ich kann mir gut vorstellen, was für eine Art Mensch aus Penny Hardwick geworden ist: ein netter Mensch. Ich weiß, dass sie aufs College ging, mit Erfolg abschloss und als Sendeleiterin bei der BBC landete. Ich schätze mal, sie ist heiter und ernsthaft, vielleicht etwas zu ernsthaft manchmal, und ehrgeizig, aber nicht so, dass es einem hochkommen muss. All diese Anlagen schlummerten schon in ihr, als wir miteinander gingen, und in einer anderen Phase meines Lebens hätte ich diese ganzen Tugenden toll gefunden. Damals jedoch war ich nicht an inneren Werten, sondern nur an Brüsten interessiert, und darum war sie nichts für mich.

Wie gerne würde ich dir berichten können, dass wir lange, tiefe Gespräche führten und während unserer Teenagerzeit innige Freunde blieben – sie hätte einen duften Freund abgegeben, aber ich glaube nicht, dass wir uns jemals unterhielten. Wir gingen ins Kino, auf Partys und in Discos, und wir rangen miteinander. Wir rangen in ihrem Schlafzimmer, in meinem Schlafzimmer, in ihrem Wohnzimmer und in meinem Wohnzimmer, in Schlafzimmern auf Partys, in Wohnzimmern auf Partys, und im Sommer rangen wir auf verschiedenen Rasenflecken. Wir rangen um die gleiche alte Frage. Manchmal hatte ich die vergeblichen Versuche, ihren Busen zu berühren, so über, dass ich versuchte, sie zwischen den Beinen zu berühren; eine Geste, die schon an einen selbstironischen Witz grenzte: Es war so, als würde man versuchen, sich einen Fünfer zu leihen, eine abschlägige Antwort bekommen, und dann versuchen, sich stattdessen fünfzig Eier zu leihen.

Dies waren die Fragen, die Jungs anderen Jungs an meiner Schule stellten (es war eine reine Jungenschule): »Lässt sie dich ran?«, »Durftest du schon mal?«, »Bis wohin hat sie dich gelassen?« usw. Manche Fragen waren abschätzig und setzten ein »Nein« als Antwort voraus: »Sie hat dich nicht rangelassen, wie?«, »Du bist nicht mal bis zu den Titten gekommen, oder?«. Die Mädchen hatten sich derweil mit der passiven Rolle zu begnügen. Penny benutzte die Formulierung »mit sich machen lassen«: »Ich will jetzt noch nicht alles mit mir machen lassen«, pflegte sie beharrlich und vielleicht ein wenig traurig zu sagen (sie schien zu begreifen, dass sie eines Tages, wenn auch noch nicht jetzt, würde nachgeben müssen, und dass sie es, wenn es so weit war, nicht mögen würde), wenn sie zum hunderttausendsten Mal meine Hand von ihrer Brust wegschob. Angriff und Verteidigung, Vorstoß und Rückschlag … es war, als seien Brüste kleine Privatgrundstücke, die das andere Geschlecht widerrechtlich besetzt hielt – wir waren die rechtmäßigen Eigentümer und wollten sie zurückerobern.

Glücklicherweise gab es jedoch im gegnerischen Lager Verräter, eine fünfte Kolonne. Manche Jungs wussten von anderen Jungs, deren Freundinnen ihnen alles »erlaubten«; angeblich sollten einige dieser Mädchen solche Zudringlichkeiten sogar aktiv unterstützt haben. Natürlich hatte nie jemand von einem Mädchen gehört, das so weit gegangen wäre, sich zu entkleiden oder auch nur Unterwäsche auszuziehen oder hochzuschieben. Das wäre zu viel der Kollaboration gewesen. Soweit ich es verstand, hatten sich diese Mädchen einfach in einer Weise produziert, die freie Bahn signalisierte. »Sie zieht ihren Bauch ein und alles«, äußerte Clive Stevens beifällig über die Freundin seines Bruders. Es dauerte fast ein Jahr, bis mir die Tragweite dieses Manövers klar wurde. Kein Wunder, dass ich immer noch den Vornamen (Judith) der Baucheinzieherin kenne, ein Teil von mir möchte sie immer noch kennenlernen.

 

Lies ein beliebiges Frauenmagazin, und du wirst immer wieder auf dieselbe Klage stoßen: Männer – die kleinen Jungs von heute in zehn oder zwanzig oder dreißig Jahren – sind im Bett nicht zu gebrauchen. Sie haben kein Interesse am »Vorspiel«, sie verspüren kein Verlangen, die erogenen Zonen des anderen Geschlechts zu stimulieren, sie sind selbstsüchtig, gierig, ungeschickt, unkultiviert. Ich muss schon sagen, dass diese Klagen nicht ohne Ironie sind. Damals war Vorspiel alles, was wir wollten, und die Mädchen hatten kein Interesse. Sie wollten nicht berührt, liebkost, stimuliert, erregt werden: Im Gegenteil, wenn wir es versuchten, knallten sie uns eine. Da kann es kaum verwundern, dass wir in solchen Sachen nicht besonders gut sind. In zwei bis drei langen und extrem prägenden Jahren wurde uns eingehämmert, an so etwas nicht einmal zu denken. In der Zeitspanne zwischen vierzehntem und vierundzwanzigstem Lebensjahr verwandelt sich das Vorspiel von etwas, das Jungs tun wollen und Mädchen nicht, in etwas, das Frauen wollen und Männer überflüssig finden. (So heißt es wenigstens. Ich persönlich mag Vorspiel – hauptsächlich, weil mir die Zeiten, in denen ich nichts weiter als anfassen wollte, noch beängstigend klar in Erinnerung sind.) Wenn ihr mich fragt, ist die perfekte Paarung die zwischen dem vierzehnjährigen Jungen und der Cosmopolitan-Leserin.

Hätte man mich gefragt, warum ich so wild darauf war, ein Stück von Penny Hardwicks Brust zu betatschen, wäre mir nichts dazu eingefallen. Und hätte man Penny gefragt, warum sie so wild entschlossen war, mich davon abzuhalten, wäre sie, möchte ich wetten, auch um eine Antwort verlegen gewesen. Was hätte ich schon davon gehabt? Ich erwartete schließlich keinerlei Gegenleistung. Was hatte sie gegen die Stimulation ihrer erogenen Zonen? Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur eins: Wer wollte, könnte die Antworten auf alle möglichen schwierigen Fragen in diesen entsetzlichen Kriegswirren der Zeit zwischen dem ersten Schamhaar und dem ersten benutzten Pariser begraben liegen finden.

Und überhaupt, vielleicht lag mir gar nicht so viel daran, meine Hand unter Pennys BH zu kriegen, wie ich dachte. Möglich, dass anderen Leuten mehr daran lag als mir. Nach ein paar Monaten, in denen ich mit Penny auf Sofas in der ganzen Stadt gekämpft hatte, hatte ich es satt: Ich hatte, unklugerweise, wie ich im Nachhinein sagen muss, einem Freund gegenüber gestanden, ich sei nicht weitergekommen, und wurde zur Zielscheibe einer Reihe grausamer und unangenehmer Scherze. Ich gab Penny in meinem Schlafzimmer eine letzte Chance, während Mum und Dad sich im Gemeindesaal Toad of Toad Hall[2] in der Inszenierung einer örtlichen Theatergruppe ansahen. Ich ging dabei so gewaltsam vor, dass selbst eine erwachsene Frau empört und entsetzt gewesen wäre, erreichte jedoch nichts, und als ich sie nach Hause begleitete, sprachen wir kaum ein Wort miteinander.

Als wir das nächste Mal miteinander ausgingen, zeigte ich ihr die kalte Schulter, und als sie mich am Ende des Abends küssen wollte, schob ich sie weg. »Was soll das?«, fragte ich sie. »Es kommt ja doch nichts dabei raus.« Beim nächsten Mal fragte sie, ob ich noch mit ihr gehen wolle, und ich sah in die andere Richtung. Wir waren drei Monate miteinander gegangen, und für die Mittelstufe war das verdammt nah an einer festen Beziehung. (Ihre Mum und ihr Dad hatten sogar meine Mum und meinen Dad kennengelernt. Sie mochten sich.) Sie weinte dann, und ich hasste sie, weil sie mir Schuldgefühle machte und weil sie mich dazu getrieben hatte, mit ihr Schluss zu machen.

Ich ging mit einem Mädchen namens Kim, von der ich sicher wusste, dass sie bereits einen rangelassen hatte und (mit der Vermutung lag ich richtig) nichts dagegen haben würde, wieder einen ranzulassen; Penny ging mit Chris Thomson aus meiner Klasse, einem Jungen, der mehr Freundinnen gehabt hatte als wir anderen zusammen. Ich hatte den Boden unter den Füßen verloren und sie wohl auch. Eines Morgens, vielleicht drei Wochen nach meinem letzten Ringkampf mit Penny, kam Thomson in unser Klassenzimmer geplatzt. »He, Fleming, du Spasti. Rat mal, wen ich letzte Nacht flachgelegt hab?«

Ich fühlte, wie sich der Raum um mich drehte.

»Du bist ihr in drei Monaten nicht mal an die Titten gekommen, und ich hab sie in der ersten Woche gebumst!«

Ich glaubte ihm. Jeder wusste, dass er alles kriegte, was er wollte, von jeder, die er zu Gesicht bekam. Ich war erniedrigt, geschlagen, überboten worden. Ich fühlte mich blöd und mickrig, und viel, viel jünger als dieser unausstehliche, zu hoch aufgeschossene, großmäulige Schwachkopf. Ich hätte es mir nicht so nahegehen lassen dürfen. Thomson spielte, was Fragen des Unterleibs anging, in einer ganz anderen Liga, und es gab jede Menge kleiner, blöder Heckenpenner in der 4b, die nie auch nur den Arm um ein Mädchen gelegt hatten. Selbst mein, wenn auch wortloser, Beitrag zur Auseinandersetzung muss einen unglaublich weltmännischen Eindruck auf sie gemacht haben. Ich wahrte halbwegs mein Gesicht. Aber ich begriff immer noch nicht, was geschehen war. Was hatte diesen Meinungswandel in Penny bewirkt? Wie hatte aus Penny, dem Mädchen, das nichts mitmachte, ein Mädchen, das alles mitmachte, werden können? Vielleicht war es besser, nicht zu viel darüber nachzudenken, ich brauchte mein ganzes Mitleid für mich selbst.

Ich nehme an, aus Penny ist was geworden, und ich weiß, dass aus mir was geworden ist, und möchte meinen, dass sogar Chris Thomson nicht ganz so schlimm sein kann. Ich kann mir zumindest kaum vorstellen, dass er an seinen Arbeitsplatz, in seine Bank, sein Versicherungsbüro oder sein Autohaus gerauscht kommt, die Aktentasche auf den Tisch schmeißt und einen Kollegen mit roher Schadenfreude wissen lässt, er habe des Besagten Ehefrau »flachgelegt«. (Dass er die Ehefrau flachlegt, ist hingegen durchaus denkbar. Er sah wie einer aus, der Ehefrauen flachlegt, schon damals.) Frauen, die an Männern etwas auszusetzen haben – und es gibt alles Mögliche an ihnen auszusetzen –, sollten daran denken, wie wir angefangen haben und welch weiten Weg wir zu gehen hatten.

3.Jackie Allen (1975)

Jackie Allen war die Freundin meines Freundes Phil, und ich spannte sie ihm aus, langsam und geduldig, über einen Zeitraum von Monaten. Es war nicht einfach. Sehr viel Zeit, Akribie und Verstellung waren dazu nötig. Phil und Jackie gingen etwa zur selben Zeit miteinander wie Penny und ich, nur dass sie immer weiter miteinander gingen: durch die kichernde, hormongebeutelte vierte Klasse und das jüngste Gericht der fünften Klasse mit mittlerer Reife und Abgangszeugnis bis in die altkluge Gesetztheit der Oberstufe. Sie waren unser goldenes Paar, unsere »Paul und Linda«, unsere »Newman und Woodward«, der lebende Beweis dafür, dass man auch in unserer treulosen und unbeständigen Welt alt werden konnte, oder zumindest älter, ohne es sich alle paar Wochen anders zu überlegen.

Ich bin mir nicht ganz sicher, warum ich ihnen und allen, denen es viel bedeutete, dass sie miteinander gingen, in die Suppe spucken wollte. Du weißt doch, wie das ist, wenn man in einer Boutique säuberlich gefaltete und nach Farben sortierte T-Shirts liegen sieht und sich eins davon kauft? Zu Hause sieht es ganz anders aus. Man begreift zu spät, dass es nur im Laden gut aussieht, im Kreise seiner Artgenossen. Na ja, hier war es ähnlich. Ich hatte gehofft, wenn ich mit Jackie ginge, würde etwas von der Würde ihres Standes auf mich abfärben, aber natürlich hatte sie die ohne Phil nicht mehr. (Wenn es mir nur darum gegangen wäre, hätte ich vielleicht nach einem Weg suchen sollen, mit beiden zusammen zu sein, aber es ist schon heikel genug, so etwas abzuziehen, wenn man erwachsen ist, im Alter von siebzehn konnte man dafür gesteinigt werden.)

Als Phil einen Samstagsjob in einer Herrenboutique annahm, schritt ich zur Tat. Diejenigen von uns, die nicht arbeiteten, oder aber, wie ich, nach der Schule und nicht am Wochenende, trafen sich am Samstagnachmittag, um die High Street rauf- und runterzuschlendern, zu viel Geld bei Harlequin Records auszugeben und sich einen Filterkaffee »zu gönnen« (irgendwie hatten wir die Sprache unserer Eltern aus der Nachkriegszeit übernommen), was wir für das Nonplusultra französischer Coolness hielten. Manchmal schauten wir bei Phil vorbei, manchmal ließ er mich auf seinen Angestelltenrabatt einkaufen. Das hinderte mich nicht, hinter seinem Rücken seine Freundin zu bumsen.

Dass Trennungen ein schwerer Schlag sind, wusste ich, denn diese Lektion hatten Alison und Penny mich gelehrt, aber ich wusste nicht, dass es genauso ein schwerer Schlag sein konnte, bei jemandem zu landen. Aber Jackie und ich fühlten uns auf aufregende, erwachsene Weise mies. Wir trafen uns heimlich, telefonierten heimlich, hatten heimlichen Sex und sagten heimlich Sachen wie »Was sollen wir bloß machen?« und sprachen darüber, wie schön es wäre, wenn wir nichts mehr im Geheimen tun müssten. Ich dachte niemals darüber nach, ob das auch stimmte. Dazu fehlte die Zeit.

Ich gab mir Mühe, Phil nicht allzu schlecht zu machen – ich fühlte mich so schon mies genug, wo ich doch seine Freundin bumste und alles. Aber ganz war es nicht zu vermeiden, denn als Jackie erste Zweifel an ihm kamen, musste ich diese Zweifel nähren, wie kleine, kränkliche Kätzchen, bis sie zu ausgewachsenen Biestern geworden waren, mit eigenen Katzentüren, die ihnen erlaubten, sich nach Lust und Laune in unsere Gespräche einzuschleichen.

Und dann sah ich eines Abends auf einer Party Phil und Jackie in einer Ecke beieinanderhocken. Phil war offensichtlich verzweifelt, bleich und den Tränen nahe, und dann ging er heim, und am nächsten Morgen rief sie an und fragte, ob ich mit ihr einen Spaziergang machen wolle, und dann nahm die Sache ihren Lauf. Wir taten nichts mehr heimlich, und es hielt vielleicht drei Wochen.

Du, Laura, würdest das kindisch nennen. Du würdest es dumm von mir finden, Rob und Jackie mit Rob und Laura zu vergleichen, die Mitte dreißig sind, gefestigt, zusammenwohnen. Du würdest sagen, Ehebruch unter Teenagern sei nichts gegen Ehebruch unter Erwachsenen, aber damit lägest du völlig falsch. Seit damals bin ich noch einige Male eine der Ecken eines Dreiecksverhältnisses gewesen, aber dieses erste Mal war das härteste. Phil sprach nie wieder ein Wort mit mir, und unsere samstägliche Einkaufsmeute wollte auch nichts mehr mit uns zu tun haben. Meine Mum bekam einen Anruf von Phils Mum. In der Schule gab es ein paar unangenehme Wochen.

Und nun halte dagegen, was passiert, wenn ich heute so einen Schlamassel anrichte: Ich kann in andere Pubs und Klubs gehen, den Anrufbeantworter anstellen, mehr ausgehen, mehr zu Hause bleiben, meinen sozialen Kompass spielen lassen und mir einen neuen Freundeskreis suchen (und überhaupt sind meine Freunde nie ihre Freunde, wer immer sie auch sein mag) und jeden Kontakt mit vorwurfsvollen Eltern meiden. Damals gab es diese Art von Anonymität noch nicht. Man musste alles standhaft über sich ergehen lassen.

Was mich am meisten verblüffte, war das schale Gefühl der Enttäuschung, das mich überkam, als Jackie mich an diesem Sonntagmorgen anrief. Ich konnte es nicht begreifen. Ich hatte diese Eroberung monatelang geplant, und als die Festung fiel, spürte ich nichts, weniger als nichts sogar. Das konnte ich Jackie natürlich nicht erzählen, aber andererseits war ich auch nicht in der Lage, den Enthusiasmus an den Tag zu legen, den sie meiner Einschätzung nach brauchte. Also beschloss ich, mir ihren Namen auf den rechten Arm tätowieren zu lassen.

Ich weiß auch nicht. Für mein Leben gezeichnet zu sein, erschien mir wesentlich einfacher, als Jackie zu erklären, dass alles ein grotesker Fehler gewesen sei, dass ich nur Spaß gemacht habe. Könnte ich ihr die Tätowierung zeigen, so meine verquere Logik, bräuchte ich nicht nach Worten zu suchen, die mir sowieso nicht einfallen würden. Ich sollte erwähnen, dass ich nicht unbedingt der Typ für Tätowierungen bin: Ich bin und war weder der Rock-’n’-Roll-Decadent auf der Straße zur Hölle noch einer aus der Bier-formte-diesen-wunderschönen-Körper-Fraktion. Aber damals herrschte an unserer Schule eine fatale Vorliebe für dergleichen, und ich weiß mit Sicherheit, dass noch heute etliche Männer Mitte dreißig, Buchhalter und Lehrer, Personalchefs und Programmierer, lächerliche Botschaften (»MUFC KICK TO KILL[3]«, »LYNYRD SKYNYRD«) aus jener Zeit in ihre Haut gebrannt haben.

Ich wollte nur ein dezentes »J R« auf meinem rechten Oberarm angebracht sehen, aber Victor, der Tätowierer, hatte so was nicht.

»Wer davon ist sie? ›J‹ oder ›R‹?«

»Und seit wann gehst du mit der ›J‹-Mieze?«

Ich war durch die aggressive Männlichkeit des Studios eingeschüchtert – die anderen Kunden (die alle entschieden zur Bier-formte-diesen-wunderschönen-Körper-Fraktion gehörten und durch mein Auftauchen unerklärlich amüsiert wirkten), die nackten Frauen an den Wänden, die reißerischen Beispiele der angebotenen Leistungen, die sich zum größten Teil praktischerweise auf Victors Unterarmen befanden, sogar Victors unverblümte Sprache.

»Lang genug.«

»Das entscheide ich, nicht du, klar?«

Ich hielt das für eine merkwürdige Art, Geschäfte zu machen, aber ich beschloss, mir diese Feststellung für eine spätere Gelegenheit aufzuheben.

»Ein paar Monate.«

»Aber du willst sie heiraten, oder was? Oder hast du ihr ein Kind angedreht?«

»Nein. Weder noch.«

»Ihr geht also nur zusammen. Du hast sie nicht am Hals?«

»Genau.«

»Und wie hast du sie kennengelernt?«

»Sie ging mit einem Freund von mir.«

»Tatsächlich? Und wann haben sie sich getrennt?«

»Samstag.«

»Samstag.« Er lachte schallend. »Ich will nicht, dass deine Mum hier aufläuft und mich zur Minna macht. Sieh zu, dass du Land gewinnst.«

Ich sah zu, dass ich Land gewann.

Victor hatte natürlich ins Schwarze getroffen. Oft war ich versucht, ihn aufzusuchen, wenn ich mich mit Herzensangelegenheiten plagte. Er hätte mir in zehn Sekunden sagen können, ob jemand eine Tätowierung wert war oder nicht. Aber selbst als Phil und Jackie verzückt und tränenreich wieder zusammenfanden, war es nicht wieder wie vorher. Einige Mädchen an ihrer Schule und einige Jungs an meiner argwöhnten, Jackie habe mich benutzt, um die Bedingungen ihrer Beziehung zu Phil neu auszuhandeln, und die samstäglichen Einkaufsnachmittage waren nie wieder so wie früher. Und wir bewunderten nie wieder die Leute, die über lange Zeit miteinander gingen. Wir spotteten über sie, und sie spotteten sogar selbst über sich. Innerhalb weniger Wochen hatte der eheähnliche Status aufgehört, Gegenstand der Bewunderung zu sein, und war zu einem Anlass für Hohn und Spott geworden. Mit siebzehn wurden wir so verbittert und unromantisch wie unsere Eltern.

Kapiert? Du wirst nicht alles so auf den Kopf stellen, wie es Jackie gelungen ist. Es ist uns beiden schon zu oft passiert; wir kehren einfach zu den alten Freunden und Pubs und dem Leben, das wir hatten, zurück und belassen es dabei, und wahrscheinlich wird niemandem ein Unterschied auffallen.

4.Charlie Nicholson (1977–1979)

Ich lernte Charlie auf der Fachhochschule kennen: Ich hatte Medienkunde belegt, sie studierte Design, und als ich sie zum ersten Mal sah, war mir klar, dass sie die Art von Mädchen war, die ich hatte kennenlernen wollen, seit ich alt genug war, Mädchen kennenlernen zu wollen. Sie war groß, hatte blondes kurzes Haar (sie sagte, sie kenne ein paar Leute, die mit Freunden von Johnny Rotten am St. Martins seien, aber ich wurde ihnen niemals vorgestellt), und sie sah anders aus, aufregend und exotisch. Selbst ihr Name war für mich aufregend und anders und dramatisch, denn bis dahin hatte ich in einer Welt gelebt, in der Mädchen Mädchennamen hatten und nicht mal besonders interessante. Sie redete viel, sodass nie jenes schreckliche aufreibende Schweigen aufkam, das die meisten meiner Verabredungen während der Oberstufe gekennzeichnet hatte, und wenn sie redete, sagte sie ausgesprochen interessante Dinge – über ihren Studiengang, über meinen Studiengang, über Musik, über Filme, Politik und Bücher.

Und sie mochte mich. Sie mochte mich. Sie mochte mich. Sie mochte mich. Oder ich dachte zumindest, sie täte es. Ich dachte, sie täte es. Etc. Mir war niemals ganz klar, was Frauen an mir mögen, aber ich weiß, dass glühende Leidenschaft hilft (sogar ich weiß, wie schwer es ist, jemandem zu widerstehen, der einen unwiderstehlich findet), und ich war außerordentlich leidenschaftlich: Ich wurde nie lästig, jedenfalls nicht bis zum Schluss, und ich strapazierte nie ihre Gastfreundschaft, zumindest nicht, solange es noch eine Gastfreundschaft gab, die man hätte strapazieren können. Stattdessen war ich nett und aufrichtig, aufmerksam und treu, ich merkte mir Sachen an ihr, sagte ihr, sie sei wunderbar, und kaufte ihr kleine Geschenke, die sich gewöhnlich auf etwas bezogen, worüber wir kurz zuvor gesprochen hatten. Natürlich war nichts von alldem besonderer Aufwand, und nichts geschah aus irgendeiner Art von Berechnung: Mir fiel es leicht, mir Sachen an ihr zu merken, denn ich dachte an nichts anderes, und ich fand wirklich, dass sie wunderbar sei, ich hätte mich nicht zurückhalten können, ihr kleine Geschenke zu kaufen, und ich musste Treue nicht heucheln. Anstrengung gab es dabei nicht. Also war ich überrascht und über die Maßen erfreut, als eine von Charlies Freundinnen, ein Mädchen namens Kate, bei einem Essen einmal melancholisch bemerkte, sie würde gerne jemanden wie mich finden. Über die Maßen erfreut, weil Charlie zuhörte und es mir nicht schaden konnte, überrascht aber, weil alles, was ich getan hatte, aus Eigennutz geschehen war. Und doch hatte das anscheinend genügt, mich begehrenswert zu machen. Verrückt.

Überhaupt hatte mir der Umzug nach London geholfen, von Mädchen gemocht zu werden. Zu Hause kannten die meisten Leute mich oder meine Mum und meinen Dad, seit ich klein war – oder sie kannten jemanden, der mich oder Mum und Dad gekannt hatte, und es war nur logisch, dass ich stets die unangenehme Befürchtung hegte, meine Kinderzeit könne vor aller Welt ausgebreitet werden. Wie kann man ein Mädchen zu einem alkoholfreien Drink in den Pub ausführen, wenn einem ständig bewusst ist, dass man noch die Pfadfinderuniform im Schrank hängen hat? Warum sollte einen ein Mädchen küssen wollen, das weiß (oder jemanden kennt, der weiß), dass man noch vor wenigen Jahren darauf bestanden hatte, Souvenir-Aufnäher von den Norfolks Broads[4] und Exmoor auf seinen Anorak zu nähen? Das ganze Haus meiner Eltern war voll von Bildern von mir, auf denen ich abstehende Ohren habe und katastrophale Sachen trage, auf denen ich auf Treckern sitze oder begeistert in die Hände klatsche, wenn Miniaturlokomotiven in Miniaturbahnhöfe einfahren. Und mochten spätere Freundinnen auch die beklagenswerte Neigung entwickeln, diese Bilder niedlich zu finden, damals war das alles noch zu frisch, um unbefangen damit umzugehen. Es hatte nur sechs Jahre gedauert, sich von einem Zehnjährigen zu einem Sechzehnjährigen zu entwickeln, sechs Jahre konnten für eine so bedeutende Wandlung doch unmöglich lang genug sein? Als ich sechzehn wurde, war der Anorak mit den Aufnähern erst ein paar Nummern zu klein.

Charlie jedenfalls hatte mich nicht als Zehnjährigen gekannt, und sie kannte auch niemanden, der mich gekannt hatte. Sie kannte mich nur als jungen Erwachsenen. Ich war schon wahlberechtigt, als ich sie traf. Ich war alt genug, um die Nacht, die ganze Nacht, mit ihr in ihrem Studentenwohnheim zu verbringen und Meinungen zu haben und ihr einen Drink im Pub auszugeben, in der beruhigenden Gewissheit, den Führerschein mit dem verschlüsselten Altersnachweis in der Tasche zu haben … ich war alt genug, eine Geschichte zu haben. Zu Hause hatte ich keine Geschichte, nur Anekdoten, die jeder längst kannte, und die es deswegen nicht wert waren, wiederholt zu werden.

Aber ich kam mir immer noch wie ein Hochstapler vor. Ich war wie einer von den Leuten, die plötzlich ihre Haare stutzten und behaupteten, schon immer Punks gewesen zu sein, die schon Punks gewesen waren, ehe Punk überhaupt erfunden war: Ich hatte das Gefühl, man könne mir jeden Moment auf die Schliche kommen, irgendjemand könne plötzlich in die Hochschulmensa platzen, ein Anorak-Foto schwenken und laut ausposaunen: »Rob war mal ein kleiner Junge! Ein Hosenscheißer!«, und Charlie würde das Foto sehen und mich zum Teufel schicken. Ich kam nie auf den Gedanken, dass sie wahrscheinlich einen ganzen Berg Pferdebücher und lächerliche Partykleider bei ihren Eltern in St. Albans versteckt hatte. Was mich anging, kam sie auf die Welt mit riesigen Ohrringen, Röhrenjeans und einer unglaublich ausgeprägten Begeisterung für die Werke eines Typen, der orange Farbe rumzuschmieren pflegte.

Wir gingen zwei Jahre miteinander, und jede einzelne Minute davon war mir, als stünde ich dicht am Abgrund. Mir war nie ganz wohl in meiner Haut, wenn du weißt, was ich meine: Es gab keinen Platz, um sich langzumachen und zu entspannen. Der Mangel an Extravaganz in meiner Garderobe deprimierte mich. Ich haderte mit meinen Fähigkeiten als Liebhaber. Ich konnte nicht begreifen, was sie an dem Orangekleckser fand, so oft sie es mir auch auseinandersetzte. Ich hatte Sorge, dass ich niemals in der Lage sein würde, irgendetwas Interessantes oder Amüsantes über was auch immer zu ihr zu sagen. Die anderen Männer in ihrem Designkurs schüchterten mich ein, und ich kam zu der Überzeugung, dass sie mit einem von ihnen auf und davon gehen würde. Sie ging mit einem von ihnen auf und davon.

 

Dann hatte ich einen kleinen Filmriss. Ich verpasste die Nebenhandlung, das Drehbuch, den Soundtrack, die Pause, mein Popcorn, den Abspann und das Ausgangsschild. Ich drückte mich vor Charlies Studentenwohnheim rum, bis mich einige ihrer Freunde erwischten und mir drohten, mich kräftig aufzumischen. Ich beschloss, Marco (Marco!), den Typ, mit dem sie abgehauen war, umzubringen, und verbrachte lange Nächte damit, einen Plan zu schmieden, obwohl ich immer, wenn ich ihm über den Weg lief, nur mürrisch grüßte und mich verdrückte. Ich beging ein paar Ladendiebstähle, deren genauer Sinn und Zweck mir heute entfallen ist. Ich nahm eine Überdosis Valium und steckte mir binnen einer Minute den Finger in den Hals. Ich schrieb endlose Briefe an sie, von denen ich einige abschickte, und schrieb im Geist Drehbücher für endlose Gespräche, die wir niemals führten. Und als ich nach ein paar Monaten der Finsternis wieder zu mir kam, entdeckte ich zu meiner Überraschung, dass ich mein Studium geschmissen hatte und beim Record and Tape Exchange[5] in Camden arbeitete.

Alles war so schnell gegangen. Ich hatte irgendwie gehofft, dass mein Erwachsenendasein lang, ausgefüllt und lehrreich sein würde, aber es spielte sich komplett innerhalb dieser zwei Jahre ab. Manchmal kommt es mir vor, als sei alles, was mir seitdem passiert, und jeder, der mir seitdem begegnet ist, nur eine unbedeutende Episode gewesen. Manche Leute kommen nie über die Sechziger weg, oder den Krieg, oder den Abend, an dem ihre Band als Vorgruppe zu Dr. Feelgood im Hope&Anchor[6] spielte, und leben für den Rest ihres Lebens in der Vergangenheit. Ich bin nie über Charlie weggekommen. Das war die Zeit, in der sich die wichtigen Dinge abspielten, die Dinge, die mich prägten.

Einige meiner Lieblingssongs sind: »Only Love Can Break Your Heart« von Neil Young, »Last Night I Dreamed That Somebody Loved Me« von den Smiths, »Call Me« von Aretha Franklin, »I Don’t Want to Talk About It« von irgendwem. Und dann hätten wir noch »Love Hurts« und »When Love Breaks Down« und »How Can You Mend A Broken Heart« und »The Speed Of The Sound Of Loneliness« und »She’s Gone« und »I Just Don’t Know What To Do With Myself« und … einige dieser Songs habe ich im Schnitt etwa einmal pro Woche gehört (dreihundert Mal im ersten Monat, hin und wieder danach), seit ich sechzehn oder neunzehn oder einundzwanzig war. Wie soll man das unbeschadet überstehen? Muss einen das nicht zum Menschen machen, der sich sofort in seine Bestandteile auflöst, wenn die erste Liebe scheitert? Was war zuerst da, die Musik oder das Unglücklichsein? Hörte ich mir Musik an, weil ich unglücklich war? Oder war ich unglücklich, weil ich Musik hörte? Machen mich all diese Platten zu einem melancholischen Menschen?

Die Leute machen sich Sorgen, weil Kinder mit Kriegsspielzeug spielen und Teenager Gewaltvideos gucken, wir fürchten, sie könnten einer Kultur der Verrohung anheimfallen. Niemand sorgt sich um Kinder, die Tausenden – buchstäblich Tausenden – von Songs über gebrochene Herzen, Zurückweisung, Schmerz, Leid und Verlust lauschen. Von allen Menschen, die ich kenne, haben diejenigen am wenigsten Glück in der Liebe, denen Popmusik am meisten bedeutet. Ich weiß nicht, ob Popmusik der Auslöser dieses Unglücklichseins ist, aber ich weiß, dass sie schon länger traurige Songs hören, als sie ein unglückliches Leben führen.

 

Egal. Hier folgt, wie man eine Karriere nicht planen sollte: a) sich von der Freundin trennen, b) Studium hinschmeißen, c) Job im Plattenladen annehmen, d) für den Rest des Lebens in einem Plattenladen bleiben. Man sieht sich diese Bilder von Leuten aus Pompeji an und denkt, es ist doch verrückt: Ein einziges kurzes Würfelspiel nach dem Tee, und du bist zu Stein erstarrt, und so haben dich die Leute dann für die nächsten paar Tausend Jahre vor Augen. Angenommen, es war das erste Mal, dass du je gewürfelt hast? Angenommen, du hast das nur getan, um deinem Freund Augustus Gesellschaft zu leisten? Angenommen, du hättest noch einen Moment zuvor ein hervorragendes Gedicht oder so etwas beendet? Wäre es nicht bedrückend, als Würfelspieler in Erinnerung zu bleiben? Manchmal schaue ich mir meinen Laden an (Denn ich bin in den letzten vierzehn Jahren nicht auf der Stelle getreten! Vor rund zehn Jahren habe ich mir das Geld geliehen, einen eigenen aufzumachen!) und meine Samstagsstammkunden, und ich weiß genau, wie diese Einwohner Pompejis sich fühlen müssten, könnten sie etwas fühlen (wenn auch gerade die Tatsache, dass sie es nicht können, sie zu dem macht, was sie sind). Ich bin in dieser Pose, der Pose des Ladenbesitzers, für immer eingefroren, nur weil ich 1979 für ein paar Wochen von der Rolle war. Ich schätze, es hätte auch schlimmer kommen können: Ich hätte ins nächste Rekrutierungsbüro der Armee marschieren können oder in den nächsten Schlachthof. Aber trotzdem habe ich ein Gefühl, als sei mir beim Bohren der Finger in der Nase stecken geblieben, und ich müsste mein ganzes restliches Leben so grässlich entstellt herumlaufen.

Schließlich gab ich es auf, die bewussten Briefe abzuschicken, ein paar Monate später gab ich es auch auf, ihr zu schreiben. Ich malte mir immer noch aus, Marco umzubringen, aber die ihm zugedachten Tode wurden kurz und schmerzlos (ich gestatte ihm einen kurzen Moment des Erkennens, dann BLAM!) – ich fuhr nicht mehr so auf den perversen, langsamen Kram ab. Ich fing wieder an, mit Frauen zu schlafen, obwohl ich jede dieser Affären als bloßen Zufallstreffer betrachtete, als einmalige Angelegenheit, die nicht dazu beitrug, meine miese Selbsteinschätzung zu ändern. (Und ganz James Stewart in Vertigo, hatte ich mir einen »Typ« ausgeguckt: kurz geschorenes blondes Haar, kunstbeflissen, aufgedreht, gesprächig, was zu ein paar fatalen Fehlgriffen führte.) Ich hörte auf, so viel zu trinken, ich hörte auf, Songtexten weiterhin mit solch morbider Faszination zu lauschen (eine Zeit lang erschien mir nahezu jeder Song, in dem jemand jemanden verloren hatte, als auf gespenstische Weise bedeutungsschwanger, was zur Folge hatte, dass mir – da praktisch die ganze Popmusik davon handelte und ich in einem Plattenladen arbeitete – mehr oder weniger ständig gespenstisch zumute war). Ich hörte auf, tödliche Sentenzen zu dichten, die Charlie am Boden zerstört zurücklassen würden, gepeinigt von Reue und Selbstekel.

Ich achtete aber darauf, mich nie zu tief in etwas, eine Arbeit oder Beziehung, zu verstricken: Ich redete mir ein, es könne jeden Moment ein Anruf von Charlie kommen, bei dem ich sofort einsatzbereit sein müsste. Ich zögerte sogar, meinen eigenen Laden zu eröffnen, nur für den Fall, Charlie könne plötzlich den Wunsch haben, mit mir ins Ausland zu gehen, und ich könne dann nicht schnell genug umziehen. Heirat, Hypotheken und Vaterschaft kamen nicht infrage. Aber ich war auch realistisch: Dann und wann brachte ich Charlies Leben auf den neuesten Stand und malte mir, nur um nicht aus der Übung zu kommen, einen ganzen Rutsch katastrophaler Ereignisse aus (Sie lebt mit Marco zusammen! Sie haben sich ein gemeinsames Heim gekauft! Sie hat ihn geheiratet! Sie ist schwanger! Sie hat eine kleine Tochter!), Ereignisse, die eine ganze Anzahl von Feinabstimmungen und Umstellungen erforderten, um meine Fantasien lebendig zu erhalten. (Sie wird nicht wissen wohin, wenn sie sich trennen! Sie wird wirklich nicht wissen wohin, wenn sie sich trennen, und ich werde sie finanziell unterstützen müssen! Die Heirat wird sie wachrütteln! Mich um das Kind eines anderen Mannes zu kümmern, wird ihr zeigen, was für ein toller Kerl ich bin!) Es gab keine neuen Entwicklungen, mit denen ich nicht zurechtkam, es gab nichts, was sie und Marco tun konnten, das mich in der Überzeugung erschüttert hätte, dass alles nur eine Phase war, die wir durchmachten. Sie sind, soviel ich weiß, immer noch zusammen, und es lässt mich, zumindest heute, kalt.

5.Sarah Kendrew (1984–1986)

Aus dem Charlie-Debakel habe ich gelernt, dass man in seiner eigenen Gewichtsklasse boxen sollte. Charlie war eine Klasse zu hoch für mich: zu hübsch, zu smart, zu geistreich, zu viel. Was bin ich? Durchschnitt. Ein Mittelgewicht. Nicht der hellste Typ der Welt, aber bestimmt auch nicht der blödeste: Ich habe Bücher wie Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins und Die Liebe in den Zeiten der Cholera gelesen und verstanden, glaube ich (sie handeln von Mädchen, oder?), wenn auch nicht besonders gemocht. Meine fünf ewigen Lieblingsbücher sind Der große Schlaf von Raymond Chandler, Roter Drache von Thomas Harris, Sweet Soul Music von Peter Guralnick, Per Anhalter durch die Galaxis von Douglas Adams und, keine Ahnung, irgendwas von William Gibson oder Kurt Vonnegut. Ich lese den Guardian und den Observer, ebenso den NME und Musikmagazine. Ich gehe durchaus mal nach Camden, um mir Filme mit Untertiteln anzusehen (meine fünf Lieblingsfilme mit Untertiteln: Betty Blue, Subway, Fessle Mich!, Spurlos, Diva), alles in allem aber ziehe ich amerikanische Filme vor. (Die fünf besten amerikanischen Filme und deswegen die besten überhaupt: Der Pate, Der Pate II, Taxi Driver, Goodfellas und Reservoir Dogs.)

Ich sehe ganz annehmbar aus. Wirklich, wenn du z.B. Mel Gibson ans eine Ende der Attraktivitätsskala setzt und – z.B. – Berky Edmonds aus der Schule, dessen groteske Hässlichkeit legendär war, ans andere, dann würde ich mich doch mehr auf Mels Seite ansiedeln, wenn auch knapp. Eine Freundin hat mal behauptet, ich sähe ein wenig wie Peter Gabriel aus, und der ist doch nicht übel, oder? Ich bin durchschnittlich groß, nicht dünn, nicht dick, habe keinen unschönen Bartwuchs, ich halte mich sauber und trage praktisch immer Jeans, T-Shirts und Lederjacke, außer im Sommer, dann lasse ich die Lederjacke zu Hause. Ich wähle Labour. Ich habe einen Berg klassischer Comedy-Videos - Monty Python, Fawlty Towers, Cheers usw. Ich begreife meistens, worum es den Feministinnen geht, allerdings nicht den radikalen.

Mein großes Talent, wenn ich das so nennen darf, liegt darin, einem Riesenbündel Durchschnittlichkeit eine kompakte Form zu geben. Ich könnte behaupten, es gäbe Millionen wie mich, aber in Wirklichkeit gibt es sie nicht: Viele Typen haben einen einwandfreien Musikgeschmack, lesen aber nicht. Viele Typen lesen, sind aber echt fett, viele Typen sympathisieren mit dem Feminismus, haben aber idiotische Bärte, viele Typen haben einen Sinn für Humor à la Woody Allen, sehen aber aus wie Woody Allen. Viele Typen trinken zu viel, viele Typen benehmen sich blöd beim Autofahren, viele Typen geraten in Schlägereien oder geben mit Geld an oder nehmen Drogen. Ich mache nichts von alldem. Wenn ich mit Frauen gut auskomme, dann nicht wegen meiner Vorzüge, sondern wegen der schlechten Eigenschaften, die ich nicht habe.

Trotzdem sollte man wissen, wann man den Boden unter den Füßen verliert. Ich hatte bei Charlie den Boden unter den Füßen verloren. Nach ihr war ich entschlossen, nie wieder den Boden unter den Füßen zu verlieren, und so planschte ich fünf Jahre nur im seichten Wasser herum, bis ich Sarah traf. Charlie und ich passten nicht zusammen. Marco und Charlie passten zusammen, Sarah und ich passten zusammen. Sarah war durchschnittlich attraktiv (ziemlich klein, schlank, hübsche, große braune Augen, schiefe Zähne, schulterlanges dunkles Haar, das immer aussah, als hätte es einen Haarschnitt nötig, egal wie