Hirngespinste (Wissen & Leben) - Manfred Spitzer - E-Book

Hirngespinste (Wissen & Leben) E-Book

Manfred Spitzer

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Beschreibung

- Sie werden sich verändern: Ihr Gehirn ist nach dem Lesen dieses Buchs nicht mehr so wie zuvor, aber keine Angst: Freuen Sie sich über Ihre neuen Synapsen! - Lesen macht glücklich – besonders, wenn man über das Glück selber liest - Und: Mit der modernen Hirnforschung Gedanken lesen, kann ich das lernen? Dieses Buch ist immerhin ein Anfang! Wer sein Gehirn nutzen möchte, um dessen Leistungen, Funktionen und Kapriolen auf anregende Weise besser zu verstehen, ist mit diesem Buch auf der richtigen Seite. Diese "Hirngespinste" der Autorinnen und Autoren lassen ein buntes Geflecht von wissenschaftlichen Erkenntnissen, originellen Ansichten und kritischen Reflexionen über unser wichtigstes Organ entstehen. Die Faszination für die unglaubliche Komplexität und Kapazität des Gehirns zieht sich durch alle Beiträge. In 14 ebenso unterhaltsamen wie instruktiven, absolut vergnüglichen Essays aus Neurowissenschaft, Psychologie, Medizingeschichte und Feuilleton geht es um den anatomischen Inhalt unseres Kopfes, um bewusste und unbewusste Hirnprodukte wie Glück, Bindung, Humor, unsere nächtlichen Traumerlebnisse und um Psychotherapie. Stillen Sie Ihre Neu(ro)gier und verstehen Sie dadurch sich selbst und andere besser!   Dieses Buch richtet sich an: - Alle, die sich für ihr Gehirn und seine Funktionen interessieren ebenso wie für die eigene Psyche und die ihrer Mitmenschen.

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Seitenzahl: 445

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Manfred Spitzer ■ Wulf Bertram

Hirngespinste

Die besten Geschichten über unser wichtigstes Organ

Impressum

Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer

Universität Ulm Psychiatrische Klinik

Leimgrubenweg 12 – 14

89075 Ulm

[email protected]

Dr. med. Dipl.-Psych. Wulf Bertram

Arminstraße 25

70178 Stuttgart

[email protected]

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Schattauer

www.schattauer.de

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von © shutterstock/Anita Ponne

Gesetzt von Kösel Media GmbH, Krugzell

Lektorat: Ruth Becker, Tübingen

Projektmanagement: Dr. Nadja Urbani, Stuttgart

ISBN 978-3-608-40042-7

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-40042-7

E-Book: ISBN 978-3-608-11624-3

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20466-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

1 Über den Inhalt des Kopfes

Sinn und Zweck des Gehirns

2 Wo bitte geht es hier zum Hippocampus?

Ein kurzer Wegweiser durch die Hirnlandschaft

3 Ein Organ interpretiert sich selbst

Eine wirklich sehr kurze Geschichte der Hirnforschung

4 Automatik im Kopf

Wie das Unbewusste arbeitet

5 Hirnmüll oder Königsweg zum Unbewussten

Ist der Traum ein salonfähiges Forschungsthema?

6 »Ain’t no sunshine when she’s gone«

Wie Bindung das Gehirn verändert

7 Das gewollte Klischee

Der Mythos vom großen Unterschied zwischen Mann und Frau

8 Glück 2.0

Kann, darf, soll oder muss man Glück wissenschaftlich untersuchen?

9 Glückspille oder chemische Keule

Wie behandeln wir die Seele?

10 Gedankenlesen

Fiktion oder Zukunftstechnologie?

11 Humor ernst genommen

Lächeln, Erheiterung und das Gehirn

12 Glaubst du noch oder denkst du schon?

Moderne Hirnforschung und religiöse Gefühle

13 Transkranielle Mandelkern-Massage (TMM)

Wie ich eine neue Körperpsychotherapie erfand

Autorenverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Unseren Lehrern

Thure von UexküllUrsula PlogKlaus DörnerMichael von CranachW. B.

Peter ClarenbachBrendan MaherManfred Neumann Friedrich UehleinM. S.

Vorwort

Der Duden definiert »Hirngespinst« als »Produkt einer fehlgeleiteten oder überhitzten Einbildungskraft; fantastische, abwegige, absurde Idee«. Damit scheint das Wort als Titel für unsere kleine Anthologie zunächst wenig geeignet zu sein, präsentieren hier doch seriöse und vernünftige Wissenschaftler Forschungsergebnisse, Gedanken und Erkenntnisse über unser wichtigstes Organ. Nehmen wir allerdings das zusammengesetzte Substantiv einmal wörtlich, dann sieht die Sache schon besser aus: Das Bestimmungswort, also das was »vorne steht«, braucht keine nähere Erläuterung. Was ein Hirn ist, wissen wir alle oder meinen wenigstens, es zu wissen. Das sogenannte Grundwort, das ist das, was entsprechend »hinten steht«, also »Gespinst«, hat gemäß Duden eine respektablere Konnotation als es in der Zusammensetzung mit »Hirn« nahelegt: »zartes Gewebe« oder »Netzwerk«; in der Fachsprache der Textilindustrie: »endloser Faden«, heißt es da.

Und so möchten wir unseren Titel auch verstanden wissen: Das Buch bildet ein mehr oder weniger zartes Netzwerk ab, aus dem bunten endlosen Faden unserer bisherigen Kenntnisse und Forschungen gewebt, die sich mit dem Gehirn befassen. Endlos deshalb, weil jede neue Erkenntnis über das Gehirn zehn neue Fragen aufwirft. Daraus wiederum folgt, dass unser Nicht-Wissen schneller zunimmt als unser Wissen – und das macht es so spannend.

Unsere Erkenntnisse und Schlussfolgerungen über das Gehirn und seine Funktionen fußen auf wissenschaftlichen Studien, Analysen und statistisch abgesicherten Untersuchungen, die in Büchern und Zeitschriftenbeiträgen veröffentlicht wurden. Man sollte meinen, dass ihnen das eine ultimative Autorität verleiht. Leider eine schöne Illusion. Denn die Wissenschaft ist immer auch der gegenwärtige Stand unseres Nicht-Wissens. Dies trifft auf die Gehirnforschung genauso zu wie auf jede andere Wissenschaft, nur fällt es in der Ägyptologie beispielsweise nicht so auf, weil dort alles etwas langsamer geht.

Wie schnell sich ein Feld entwickelt, kann man an der Bedeutung des Wortes »kürzlich« in Publikationen aus diesem Feld leicht ablesen: Eine »kürzlich« entdeckte Mumie wurde vor 10 Jahren gefunden, in der Genetik hingegen bedeutet »kürzlich« etwa »vor 10 Tagen«. Manchmal ändert sich die Geschwindigkeit des Erkenntnisfortschritts und damit auch die Bedeutung des genannten relativen Zeitbestimmungsadverbs. In der Paläoanthropologie beispielsweise ging es Jahrzehnte lang sehr gemütlich zu: Eine im Neandertal im Jahr 1856 gefundene Schädelkalotte wurde zunächst ungläubig bestaunt, und erst nach dem Tode des damals bekanntesten deutschen Pathologen, Rudolf Virchow (der den Schädel einfach als krankhaft deformiert betrachtete), im Jahr 1902 fiel der Widerstand weg, den Knochenfund als zu einem Urmenschen gehörig zu betrachten. Nachgrabungen in den Jahren 1996 bis 2000 – 150 Jahre nach dem ersten Fund (!) – brachten weitere 400 Knochen und Zähne ans Tageslicht, die teilweise zu genau dem alten Schädel passten. Nicht viel anders erging es einem Unterkiefer aus dem Dorf Mauer bei Heidelberg, der 1907 gefunden wurde, und zu dem Knochen aus anderen Gebieten dieser Welt zwar nicht genau, aber doch so gut passen, dass sowohl der Name H. heidelbergensis als auch die Klassifikation als eigene Art lange umstritten waren.

Fortschritte in einem ganz anderen Bereich der Wissenschaft, der Molekulargenetik, sorgten dann plötzlich dafür, dass die Menschheitsgeschichte in den vergangenen 20 Jahren gefühlt mindestens jährlich völlig neu geschrieben werden musste, mit völlig neuer Verwandtschaft, wiederholtem Sex zwischen den Arten (deren Status und Zusammenhang bis heute debattiert wird), einem Mädchen, das einen Vater aus der einen und eine Mutter aus der anderen Art hatte, und sehr viel Mord und Totschlag – man könnte eine Netflix-Serie daraus machen, wenn nicht der Ausgang bislang so offen wäre.

Nicht anders, nur noch wesentlich turbulenter, ging es in der Neurowissenschaft zu: Schon im letzten Jahrtausend waren viele Wissenschaften mit dem Gehirn befasst. Die Anatomie und die Physiologie, die klinische Medizin und Pharmakologie, die Psychologie und die Philosophie; später kamen die Mathematik, Physik und (Bio-)Chemie, die Neuropsychologie und die (Evolutions-)Biologie hinzu; noch später dann die Molekulargenetik und schließlich Informatik, Computer Science und in lebenswissenschaftlich-methodischer Hinsicht nahezu alles, was man heute weltweit in den Labors mit Zellen, Organoiden, Organen und Organsystem über Tiermodelle bis zu Untersuchungen am Menschen an Methoden einsetzen kann.

Man sagt, dass in den letzten 20 Jahren im Bereich der Gehirnforschung etwa so viel entdeckt wurde wie in den 2000 Jahren davor. Wahrscheinlich ist das eher eine Untertreibung. Betrachten wir einige Beispiele:

Im Tierversuch kann man die Mechanismen von Meditation oder Psychotherapie bei der Maus auf Systemebene des Gehirns untersuchen, und damit bis hin zur praktischen Anwendung beim Menschen wichtige Erkenntnisse gewinnen. Oder man kann – im Mausmodell – Körperkraft gegen Willensanstrengung ausspielen und nachsehen, wie viel mehr Willenskraft die Maus braucht, um ein geringeres Ausmaß an körperlicher Stärke auszugleichen.

Man kann aus den funktionellen Gehirnbildern des Sehsystems eines Menschen rekonstruieren, was er gerade sieht. – Ja, Sie lesen richtig: Man analysiert die Gehirnaktivität und kann dann sagen: »Der Proband sieht den Buchstaben A« oder »der Proband sieht, wie ein Mann mit weißem Hemd von links nach rechts läuft«. Im Grunde ist das so bahnbrechend, dass man sich wundert, warum nicht mehr darüber geschrieben wird.

Beim Hören ist man noch weiter: Seit Jahrzehnten gibt es künstliche Innenohren (Cochlea-Implantate), d. h. Prothesen, die das Übersetzen von Schwingungen in Nervenimpulse leisten und bei ertaubten Menschen das Hören wieder ermöglichen. Sie funktionieren zwar (noch) nicht wie das natürliche Innenohr, erlauben aber in vielen Fällen beispielsweise das Telefonieren, d. h. das Verstehen von Sprache ohne Lippenlesen. Auch das ist eine unglaubliche Entwicklung. Obwohl man seit Jahren an einer künstlichen Netzhaut arbeitet, um Erblindung bei Erkrankungen der Netzhaut durch eine Prothese zu beheben, ist man beim Sehen noch nicht bei der routinemäßigen Anwendung solcher Prothesen. Beim Hören schon.

Beim Riechen ist es wieder anders: Man wusste lange nicht einmal um die simpelsten Zusammenhänge, die man beim Sehen und Hören seit dem vorletzten Jahrhundert kennt. Wie die Physik der Reize (die Wellenlänge und Amplitude von Licht oder Schallwellen) mit dem Sinneseindruck (Farbe und Helligkeit bzw. Tonhöhe und Lautstärke) zusammenhängt, war damals schon Gegenstand der Sinnesphysiologie. Wie aber die Eigenschaften chemischer Verbindungen mit dem Riecheindruck zusammenhängen, war bis vor wenigen Jahren völlig unklar: Manches riecht sehr ähnlich, ist aber chemisch völlig anders, und manches ist chemisch sehr ähnlich, riecht aber völlig anders. Erst der Einsatz von Machine Learning, also die Anwendung von Erkenntnissen aus der Gehirnforschung zu Lernprozessen und Implementierung dieses Wissens in einer lernenden Maschine, die mit etwa einer Million Sinnesdaten (»wie riecht was?«) einerseits und einer chemischen Datenbank mit etwa 2,5 Millionen Angaben zur Beschreibung chemischer Stoffe andererseits »gefüttert« wurde, brachte den Durchbruch: Diese Maschine kann mit ziemlich hoher Verlässlichkeit sagen, wie ein bestimmter Stoff riecht.

Auch zu Denken, Bewerten und Entscheiden gibt es Erkenntnisse, die man vor 20 Jahren noch als ziemlich übertriebene Science Fiction abgetan hätte: So konnte man nachweisen, dass Bilder der Gehirnaktivität bestimmter Gehirnzentren eine bessere Aussage darüber erlauben, wie gut mir etwas gefällt, als ich selbst dazu in der Lage bin. Früher galt der Spruch des bekannten Psychologen George Kelly: »Wenn Sie etwas von einem Menschen wissen wollen, fragen Sie ihn doch.« Das stimmt heute nicht mehr uneingeschränkt.

Auch die Messung der Aktivität von Gehirnzentren, die beim Schmerzerleben eine Rolle spielen, sagt mitunter mehr über das subjektive Erleben aus als das Erleben selber.

Die politische Einstellung eines Menschen lässt sich an Mandelkern und anteriorem Gyrus cinguli ablesen, und wo die Inbrunst beim Beten steckt, kann man dadurch untersuchen, dass man Probanden Psalm 23 beten lässt, mit und ohne Inbrunst, im Scanner, und dann die Unterschiede analysiert.

Man sieht an diesen wenigen Beispielen (von denen es sehr viel mehr gibt), dass die Erkenntnisse der Gehirnforschung heute vor allem von der Fantasie der Gehirnforscher abhängen und weniger (wie früher) von den zur Verfügung stehenden Methoden. Von allen Anwendungen – nicht nur in der Medizin, sondern auch in der Psychologie oder der Wirtschaftswissenschaft – solcher Erkenntnisse einmal abgesehen, liefern sie auch Puzzleteile für die »alten Fragen«, die Menschen seit Jahrtausenden stellen: nach unserer Herkunft, unserer Zukunft und nach dem Sinn von alldem.

Neu gewebt wurden die Hirn-Gespinste aus Stoffen, mit denen unseren beiden Anthologien »Braintertainment« (2007) und »Hirnforschung für Neu(ro)gierige« (2010) bereits ausstaffiert waren und die für dieses neue Textil gründlich aufgefrischt und aufgearbeitet wurden. Ein Best-of-Buch aus bereits veröffentlichen Geschichten zu unserem wichtigsten Organ wäre aber ohne eine solche Überarbeitung und Aktualisierung wie die Neuinszenierung eines Dramas mit verstaubten Kostümen aus einem historischen Theaterfundus. Dabei erhebt das Buch natürlich nicht den Anspruch, eine Synopse tagesaktueller Forschungsergebnisse aus den Neurowissenschaften zu sein, dann wären die Geschichten bei der Drucklegung bereits veraltet. Vielmehr war es unser Anliegen, aus den beiden Büchern eine Auswahl von möglichst anregenden und unterhaltsamen Essays aus verschiedenen Bereichen der Hirnforschung zusammenzustellen, deren Haltbarkeitsdatum nach der Überarbeitung um einen für dieses Genre akzeptablen weiteren Zeitraum verlängert wird.

Unser Dank gilt in erster Linie den Autorinnen und Autoren, die ihre Stoffe in die Werkstatt zurückgeholt, noch einmal Hand angelegt, aufgebürstet, mit neuen Applikationen versehen, eventuelle Webfehler beseitigt und damit für einen weiteren Zeitraum solide haltbar gemacht haben. Der Lektorin Frau Ruth Becker, die uns beide bei unseren jeweiligen Projekten schon lange mit hoher sprachlicher Kompetenz, großer Geduld bei den (wie wir gerne behaupten: unvermeidlichen) Verzögerungen begleitet, freundlich und bestimmt auf die Einhaltung von Terminen und Zeitplänen achtet und all das bei stets guter Laune bewältigt, danken wir ganz besonders für ihren erneuten tatkräftigen Einsatz. Wenn der Eindruck entsteht, dass eine Lektorin sich gern und nachdrücklich mit einem Publikationsunterfangen identifiziert, motiviert das alle daran Beteiligten sehr, dafür und für ihr bewährtes verlagsinternes Projektmanagement danken wir Frau Dr. Nadja Urbani herzlich. Frau Sabine Sulz hat den technischen Teil trotz erheblicher Divergenzen zwischen offiziellem Zeitplan und dem Eintreffen unserer Lieferungen mit Ausdauer kompetent betreut, herzlichen Dank dafür! Nicht zuletzt gebührt unser Dank dem Marketingleiter des Klett-Cotta- und Schattauer-Programmes Herrn Ralf Tornow, der uns auf die Idee gebracht hat, dieses Best-of-Buch in Angriff zu nehmen.

Nun wünschen wir Ihrem Gehirn eine erfolgreiche Beschäftigung mit sich selber, auf dass Sie als seine Besitzerin oder sein Besitzer dabei spannende Erkenntnisse und anregende Inspirationen erleben.

Ulm und Stuttgart, im März 2020

Manfred Spitzer und Wulf Bertram

1 Über den Inhalt des Kopfes

Sinn und Zweck des Gehirns

Valentin Braitenberg

Ganzheitliche Aspekte des Gehirns

Ich gebe zu, dass Kalbshirn, paniert und in Butter gebraten, gut schmeckt. Stierhoden auch. Aber ich will kein Hirn essen. Einmal musste ich, wohl oder übel, um die Hausfrau nicht zu beleidigen, eine Scheibe Hirn auf meinem Teller anschneiden, mit der Gabel aufspießen und meinem Munde nähern. Zu meinem Entsetzen, auf der Schnittfläche – nicht zu übersehen – die S-förmige Zeichnung des Hippocampus(1). Das ist ein spezialisiertes Stück der Großhirnrinde, das die Alten schon so benannt haben, weil es sie an die Seitenansicht eines Seepferdchens (»Hippocampus«) erinnerte. Da es mein Hobby ist, Geformtes zu deuten, hatte ich schon vorher über dieses Seepferdchen im Hirn gegrübelt und hatte mir meine eigene Theorie gemacht, warum es so merkwürdig gestaltet ist. Die Theorie stimmt wahrscheinlich, oder anders ausgedrückt, ich glaube immer noch daran. Die beiden Enden des Seepferdchens sind durch Fasern miteinander verbunden, und entlang dem S verlaufen auch Fasern, größtenteils in einer Richtung, sodass das Ganze in sich geschlossen ist, wunderbar geeignet, um dort Signale längere Zeit im Kreis laufen zu lassen. Möglicherweise als Gedächtnisspeicher.

Das Seepferdchen im Hirn mit den derart verlaufenden Fasern war für mich zu einem Stück geistiger Nahrung auf dem Wege zum Verständnis der Gehirnfunktion geworden. Kann man, soll man, darf man geistige Nahrung essen? Schulbücher, Musikalben, Liebesbriefe?

Eins ist sicher: Wenn man geistige Nahrung(1) isst und verdaut, ist das Geistige daran verloren. Ähnlich wie der geistige Inhalt der Schulbücher in Rauch aufgeht und sich verflüchtigt, wenn man sie zum Heizen des Ofens im Schulzimmer verwendet.

Auch hat es mit dem geistigen Inhalt nichts zu tun, wenn man das Schulbuch ganzheitlich dem anderen Lausbub an den Kopf wirft. »Ganzheitlich« heißt in vielen Zusammenhängen dasselbe wie »geistlos«. Bei einem Ding, das Geist enthält, kommt es nicht darauf an, wieviel es wiegt, wie es riecht, wie dick es ist. Eher schon, wie es gestaltet ist, wie die Bestandteile angeordnet sind, aus denen es besteht.

Gehirngewicht(1) und -größe(1)

Spatzenhirn, Elefantenhirn, Frauenhirn, Walfischhirn. Ich halte es für möglich, dass ein Spatz mehr kann als ein Wal. Ein Äffchen sehr wahrscheinlich. Ein Mensch sowieso. Aber das größte Gehirn hat doch der Wal. Wird die Rolle des Gehirns überschätzt, jedenfalls was sein Gewicht und seine Größe anbelangt?

Ein bisschen, ganz grob, scheint es zu stimmen, dass ein größeres Gehirn mehr leistet als ein kleineres. Aber nur im Vergleich verschiedener, unterschiedlich großer verwandter Tierarten. Zum Beispiel innerhalb der Familie der katzenartigen Raubtiere. Es gibt zoologische Intelligenztests, bei denen die Hauskatze schlechter abschneidet als der Puma, dieser schlechter als der Leopard und der Löwe am besten, immer schön der Größe nach.

Lokalisationslehre

Kann man das Bewusstsein im Hirn suchen? Das Besoffensein? Das Beleibtsein? Das Ausländersein? Das Eingeschlafensein? Das Dummsein? Jeder sollte sich das überlegen, das bringt uns weiter.

Wo ist das Pünktlichsein in der Uhr zu finden? Auf den Zeigern oder im Uhrwerk? Und wo die Verlässlichkeit im Mercedes?

Wo sitzt das Bewusstsein im Hirn? Einige meiner Kollegen sind nahe dran, dies zu entdecken, jedenfalls schreiben sie darüber in der Zeitung. Und die anderen, die Genetiker, sind schon einen Schritt weiter, sie halten bereits das Gen des Bewusstseins in Händen, es geht nur noch um die Frage, ob die Affen dieses Gen auch besitzen, oder gar die Kaninchen.

Auch von der Geilheit ist die Rede, denn diese lässt sich besonders gut im Hirn lokalisieren. Wo sitzt die Geilheit im Gehirn? Irgendwo in der Mitte unten. Hätte man wohl auch erwartet.

Man schämt sich ein bisschen, wenn die Kollegen so reden. Haben die nicht gelernt, welches Unheil der Glaube an Geister seit Urzeiten über die Menschheit gebracht hat? Und jetzt fotografieren sie den Geist der Frömmigkeit, den Geist der Liebe und den des Pflichtbewusstseins im Gehirn mithilfe von Magnetresonanztomografen oder Positronenemissionstomografen (was das für Apparate sind, ist mittlerweile ebenfalls jedem Zeitungsleser bekannt). Dann tragen sie die Orte dieser verschiedenen Geister in verschiedenen Farben auf Fotos des Gehirns ein, von der Seite, von oben, von vorne und von hinten aufgenommen.

Ich kann nichts dafür. Ein einzelner kann den Unrat nicht wegräumen, der sich eine halbe Million Jahre lang, seit Menschen miteinander quatschen, im Volksglauben angesammelt hat (ein anderer Name dafür ist Dualismus, Animismus oder Seelenglaube).

Feinstruktur des Gehirns, 1000-fach vergrößert

Ein Blick ins Mikroskop genügt, um sich zu fragen: Wozu wäre ein Gehirn so prachtvoll komplex aufgebaut, und von Ort zu Ort so verschieden strukturiert, wenn es nur darum ginge, verschiedene Stücke der Psyche an verschiedenen Orten dort zu befestigen?

Weil nicht jeder über ein Mikroskop verfügt, will ich jetzt ein Menschenhirn tausendfach vergrößern (das ist die Vergrößerung, bei der sich ein Mikroskopiker am wohlsten fühlt) und dem Publikum zur Besichtigung freigeben.

Wir betreten freudetrunken das Heiligtum. Das ganze Gebilde füllt eine riesige Kuppel ungefähr von der Größe einer Kathedrale, 150 Meter lang, 70 Meter hoch und 90 Meter breit. Wir fühlen uns beengt angesichts der gewaltigen Masse von undurchsichtigem, feucht schwabbeligem Material und suchen nach Möglichkeiten, es in seinem Inneren zu erkunden. Dabei entdecken wir an einem Ende eine flache Höhle und treten in sie ein. Merkwürdige barocke Voluten bilden ihre Decke, ihr Boden ist relativ eben. Weiter geht es, an einem Ende der Höhle, dem Eingang gegenüber, in einen Kanal mit nicht viel mehr als ein Meter im Durchmesser. Die Neugier treibt uns weiter, etwa 30 Meter in gebückter Haltung, es lohnt sich, denn am Ende öffnet sich der Kanal in eine weitere Höhle, auch diese abgeflacht, aber im Unterschied zu der anderen, die breit und niedrig war, sehr schmal und unheimlich hoch zwischen vorgewölbten Wänden rechts und links. Wir entdecken zwei runde Öffnungen, eine rechts, eine links, und siehe da, durch sie gelangen wir in zwei noch viel größere Höhlen, die sich unübersehbar weit nach vorne und nach hinten erstrecken. Man fragt sich, wozu diese Leerräume gut sind, denn wo nichts ist, kann nichts passieren. Oder doch?

Von der Decke der hohen Höhle in der Mitte baumeln große, lappige Gebilde, wie Blumenkohl gekräuselt, von denen unentwegt eine farblose, geruchlose Flüssigkeit heruntertropft, die sie offenbar ausschwitzen. Ähnliche Gebilde, ebenfalls Wasser ausschwitzend, entdecken wir am Boden der beiden seitlichen, noch größeren Hohlräume. Es wird uns ungemütlich da drinnen, in den Höhlen, von denen wir (mit Recht) vermuten, dass sie eigentlich ganz von Flüssigkeit erfüllt sein sollten, und wir entfernen uns wieder.

Wir möchten wissen, wie das riesige, schwabbelige Ding, von dem wir bisher nur die Hohlräume gesehen haben, in seinem Innersten zusammengesetzt ist. Es kann ja nicht sein, dass es seine einzige Bestimmung ist, Hohlräume mit Wasser zu füllen.

Vorsicht: Hochspannung!

Wir betrachten die große feucht-schwabblige Masse von ihrer Oberfläche her, dort wo sie sich an das umgebende knöcherne Gewölbe anschmiegt, nicht ganz eng zwar, immerhin einen Zwischenraum frei lassend, durch den wir uns bewegen können.

Einer von uns möchte wissen, wie sich das Ding anfühlt. Er bohrt mit dem Finger ein Loch in die ledrige Hülle, die es ganz umgibt. Darunter kommt er in eine zweite, locker geflochtene Hülle und dann zu einer zarten Haut, die er mit Leichtigkeit zerreißt.

Dann kommt die Überraschung. Der Finger dringt ganz leicht ein in ein Geflecht von unzähligen zarten häutigen Röhrchen, die in allen Richtungen durcheinander verlaufen, ungefähr einen Millimeter, manche auch ein paar Millimeter dick, oder auch bloß einen halben. Das ganze Gebilde, der ganze Inhalt der Kathedrale scheint nichts anderes zu sein als ein riesiger Filz von solchen Röhrchen. Allerdings ertastet man zwischen all den zarten Röhrchen auch eine Menge von Knöllchen, so groß wie Haselnüsse oder Walnüsse, an denen jeweils viele Röhrchen festgemacht sind. (Wer sich im Gehirn auskennt, hat trotz tausendfacher Vergrößerung alles schon erkannt: die Gehirnhäute oder Meningen, die Röhrchen als Axone und Dendriten, die Knöllchen als die Nervenzellkörper.)

Und dann kommt die zweite Überraschung. Der Freund, der seinen Finger da hineingesteckt hat, fährt plötzlich mit einem Schrei zurück: ein elektrischer Schlag(1), und kein geringer! Und dann gleich noch ein paar weitere Schläge in rascher Folge. Schätzungsweise 100 Volt, oder gar mehr.

Offenbar lebt das Gehirn. Seine Tätigkeit äußert sich irgendwie in diesen Spannungsstößen. Nehmen wir an, unsere Neugier ist größer als die Angst vor dem Elektrisiertwerden und einer von uns geht gar mit zwei Fingern an das Ding heran. Interessant: Nur selten kriegen die beiden Finger gleichzeitig einen Schlag. Der erste Eindruck ist eher, dass die Schläge ganz regellos kommen, bald da, bald dort, manchmal in ganz langsamer Folge, manchmal schnell wie das Geknatter eines Maschinengewehrs.

Nur manchmal – selten, bei bestimmten Positionen der beiden Finger – scheint ein Schlag an einer Stelle immer nach ganz kurzer Zeit einen Schlag an der anderen zur Folge zu haben, auch wenn die Finger weit auseinanderliegende Gebiete betasten, und sogar wenn zwei von uns an entgegengesetzten Stellen der Kathedrale die Finger ins Gehirn stecken. Es gibt offenbar eine große Zahl kurzer und langer Verbindungen zwischen verschiedenen Stellen innerhalb des Gehirns.

Das Experiment

Aber, was bedeuten diese elektrischen Spannungsstöße? Wir vermuten, dass sie irgendwie mit Vorgängen außerhalb des Gehirns zusammenhängen. Um das zu untersuchen, verlassen wir die Kathedrale und begeben uns in die Nähe der Sinnesorgane, die über meterdicke Stränge mit dem Gehirn in Verbindung stehen. (Nicht zu vergessen: Wir haben das Gehirn tausendfach vergrößert und das ganze Zubehör ebenfalls. Die Augen werden dabei zu monumentalen Kugeln, 25 Meter im Durchmesser, der Sehnerv, von dem wir wissen, dass er eine Million Nervenfasern enthält, zu einem 4 Meter dicken Strick.)

Unser Team teilt sich in den Aufgaben, die das nun folgende Experiment mit sich bringt. Einer bleibt draußen und fuchtelt mit seinem Spazierstock vor der riesigen Pupille eines der beiden Augen. Die anderen klettern in der Kathedrale herum, verteilen sich über die Oberfläche des Gehirns und betasten sie mit ihren Fingern. Das Übliche, nichts Besonderes: Da und dort meldet einer Spannungsstöße, manchmal spärlich, manchmal in kurzen Salven. Nur einer, der ganz hinten im Gehirn am Rand einer tiefen Furche herumtastet, schreit plötzlich auf, und dann noch einmal und immer wieder. Wo er seinen Finger hineingesteckt hat, verspürt er ein ganzes Donnerwetter von Spannungsstößen, und weil er jedes Mal schreit, wenn es schlimm wird, bemerkt der Mann, der vor dem Auge fuchtelt, dass das immer dann passiert, wenn er an einer ganz bestimmten Stelle steht und seinen Stock aufrecht hält und hin und her bewegt. Wenn er den Stock waagrecht hält und auf und ab bewegt, geschieht offenbar nichts Besonderes. Aber siehe da, wenn der Mann hinten am Hirn seine Hand um einen halben Meter bewegt und wieder hineinlangt, ist es jetzt ausgerechnet der waagrechte Stock, der das Donnerwetter auslöst, und an einer Stelle daneben gar der Stock, wenn er um 45 Grad geneigt ist.

Nicht genug: Wenn der Mann, der mit dem Stock vor dem Auge steht, ein paar Schritt zur Seite tritt und wieder fuchtelt, ist es ein anderer von den Herren, die auf dem Gehirn herumkriechen, der an einem anderen Ort das Donnerwetter abkriegt.

Wir versammeln uns im Schatten des Gehirns, um die Ergebnisse zu besprechen. Eins scheint sicher: Die Welt ist irgendwie im Gehirn dargestellt – verschiedene Orte der Welt, sofern sie von den Augen gesehen werden, an verschiedenen Orten des Gehirns, und verschiedene Ereignisse, wie das Fuchteln so oder anders, ebenfalls räumlich getrennt. Wir fragen uns, ob das reicht, das hohe Ansehen zu rechtfertigen, das das Gehirn bei vielen Leuten genießt.

Was das Gehirn kann

Wir verlassen unser Riesenhirn und denken lieber an die anderthalb Kilo Gehirnsubstanz, die jeder von uns, in natürlicher Größe, in seinem Schädel mit sich herumträgt. Die Frage ist immer noch: Wozu diese vielen elektrischen Zuckungen, die wir da beobachtet haben? Viel interessanter noch als die elektrischen Entladungen, die man beobachtet, wenn sich vor dem Auge etwas bewegt, sind die, die ohne ersichtlichen äußeren Grund die ganze Zeit überall im Gehirn anscheinend in wirrem Durcheinander stattfinden. Nur wenn man schläft, herrscht dort einigermaßen Ruhe, und wenn beim besten Willen im Gehirn überhaupt keine elektrische Aktivität mehr festzustellen ist, schreibt der Amtsarzt »Hirntod«, d. h. Ende des Lebens. Ist denn dieser elektrische Nieselregen im Inneren des Gehirns gleichzusetzen mit dem Leben, oder doch mit dem Bewusstsein oder etwa mit dem Denken?

Möglich. Man kann sich das so vorstellen. Alles was um uns herum passiert und von uns wahrgenommen wird, erzeugt über die Sinnesorgane und ihre Sinnesnerven elektrische Aktivität im Gehirn. Jedes Ereignis auf seine Weise, keine zwei verschiedenen Ereignisse erzeugen im Gehirn genau die gleiche Aktivität, jedes Menschengesicht, jede Bewegung, jeder gesprochene Satz anders. Warum nicht, es stehen dafür genug Nervenzellen (Neuronen) zur Verfügung, in jedem einzelnen Gehirn mehr als es Menschen auf der ganzen Erde gibt.

Jetzt kommt das Entscheidende. Was sich in einem Gehirn oft genug zugetragen hat, wird zur gehirninternen Gewohnheit, läuft immer leichter auf die immer selbe Weise ab. Was man oft genug gehört hat, kann man auswendig. Eine oft wiederholte komplizierte Bewegung läuft irgendwann sozusagen automatisch ab. So leicht stellen sich diese gelernten Gehirnzustände ein, dass sie sich jetzt oft von selbst ergeben, ohne dass irgendwas gehört wird oder irgendeine Bewegung ausgeführt wird. Und siehe da, das nennt man Denken, und das ist es wahrscheinlich, was das ständige Knistern der elektrischen Spannungsstöße im Gehirn bedeutet, solange der Mensch (oder das Tier) nicht schläft (oder gestorben ist).

Es lohnt sich im Leben, auf dieses innere Kasperltheater zu achten, anstatt das eigene Verhalten immer auf direktem Wege von den Sinneseindrücken bestimmen zu lassen. Auf diese Weise erfährt man nämlich durch einen Blick nach innen, ehe es zu spät ist, was auf uns zukommt, was das Tier uns gegenüber im Sinn hat, wo der Stein ankommen wird, der eben vom Himmel fällt, oder was der Herr Kollege demnächst in der Diskussion sagen wird. Natürlich funktioniert das nur, wenn man oft genug beobachtet hat, nach welchen Gesetzen Steine fliegen, Tiere sich verhalten, Kollegen diskutieren. Und nur, wenn die Gesetzmäßigkeiten, die sich aus den Beobachtungen ergeben, als Denkgewohnheiten in die Gehirnfunktion eingeschliffen wurden, sodass sich die Welt in dem inneren Kasperltheater so darstellt, wie sie ist.

Die Darstellung der Regeln, nach denen die Welt funktioniert, im Gehirn ist das, was man gewöhnlich »Wissen(1)« nennt. Allerdings: Die Welt ist viel größer als jedes Gehirn und voll von unberechenbaren Überraschungen. Das im Gehirn enthaltene Wissen ist notwendig unvollständig und man darf sich deshalb nicht wundern, wenn das gehirninterne Mitdenken und Vorausdenken oft in die Irre geht. Das Herstellen von Zusammenhängen aufgrund von ungenügendem Wissen nennt man in seiner harmlosen Form Fantasie, Wahn und Halluzination in der pathologischen Variante.

Man kann das vielleicht so sagen: Wichtigste Aufgabe des Gehirns ist es, Halluzinationen zu erzeugen, aber nur solche, die dem wirklichen Zustand der Welt möglichst ähnlich sind.

2 Wo bitte geht es hier zum Hippocampus?

Ein kurzer Wegweiser durch die Hirnlandschaft

Wulf Bertram

Wenn Sie dieses Buch mit dem Anspruch lesen, etwas mehr über Ihr Gehirn zu verstehen und zu behalten, verändert sich selbiges dabei, ob Sie wollen oder nicht. Alles was man lernt, verändert Strukturen im Gehirn, es entstehen neue Synapsen, die Verbindungen zwischen bereits bestehenden festigen sich – oder schwächen sich ab, wenn wir etwas vergessen oder verdrängen. Wenn Sie dieses Buch nicht lesen oder zur Seite legen, etwas anderes lesen oder beobachten, verändert sich die Struktur Ihres Gehirns auch. Nur anders. Unser Gehirn hat (neben der Steuerung lebenswichtiger Funktionen) keine andere Aufgabe als zu lernen(1), um die bestmögliche Reaktion auf gegenwärtige Bedingungen und zukünftige Erwartungen zu gewährleisten. Dabei verändert es seine Mikrostruktur.

Wollte man also einen plakativen »Hauptsatz der Neurodynamik« formulieren, so müsste er lauten: Das Gehirn lernt pausenlos, es kann gar nicht anders. Würden wir allerdings behaupten, dass wir selbst in der Hand haben, was es lernt, wäre dies eindeutig falsch. Jede Sekunde schicken unsere Sinne Millionen von Reizen an das Gehirn. Müssten wir diese Informationen alle bewusst auswerten, würden wir im wahrsten Sinne »durchdrehen«. Man geht davon aus, dass das Gehirn nach etwa 40 Sinneseindrücken, die es erreichen, auf »Autopilot« umschaltet und die Informationen erst einmal im Unterbewusstsein hortet.

Andererseits müssen wir diesem automatischen Selektionsprozess nicht tatenlos zusehen. Wir können entscheiden, welche Quellen wir lesen, woher wir unsere Informationen beziehen, auf welche Personen, Parteien oder Influencer wir uns verlassen. Es liegt an uns, ob wir uns dann mit den Meinungen oder vermeintlichen Erkenntnissen auseinandersetzen, darüber nachdenken, mit anderen diskutieren und versuchen, selbst eine Antwort zu finden. Oder vielleicht nur mal schnell in Google klicken – und gut ist’s. Dann halten wir unser Lernen in Grenzen und setzen auf das, was wir immer schon zu wissen meinten. Irgendwelche Mikrostrukturen werden sich dadurch kaum nachhaltig verändern. Im »postfaktischen Zeitalter«, in dem Fake News Hochkonjunktur haben, haben wir es allerdings zunehmend schwieriger. Um auf Lügen und Falschmeldungen nicht hereinzufallen, sich seine eigene Meinung zu bilden und Nachrichten zu hinterfragen, braucht es einen soliden Fundus an Wissen und den lernt man weniger im Internet als hoffentlich schon sehr früh in Schule und Familie.

Die Veränderungen der Mikrostrukturen beim Lernen zu untersuchen ist kompliziert und in »Realtime« praktisch unmöglich. Wir beschränken uns bei diesem Rundgang daher auf die makroskopischen Hirnstrukturen, die von den Nervenzellen in maximaler Vernetzung gebildet werden und in denen diese ihre Arbeit verrichten, um die unglaubliche Vielfalt der Hirnfunktionen und -leistungen zu ermöglichen. Dazu braucht es dann natürlich eine ungeheure Menge von Hirnzellen(1). Lange Zeit war es eine wissenschaftliche Übereinkunft, dass es sich um unvorstellbare 100 Milliarden Zellen handele, die im Gehirn am Werk seien. An dieser magischen Zahl hat allerdings vor wenigen Jahren die brasilianische Neurowissenschaftlerin Suzana Herculano-Houzel(1) deutlich gekratzt, sie kommt anhand einer neuen Zählmethode auf »nur« 86 Milliarden (Herculano-Houzel 2012). Die sind offensichtlich völlig ausreichend für alles das, was bisher mit dem Gehirn angestellt wurde und was es uns an Möglichkeiten bietet. Aber es ist eine interessante Überlegung, was wäre, wenn wir tatsächlich die 100 Milliarden Nervenzellen besäßen, von denen uns Frau Herculano-Houzel jetzt 14 % abspricht. Gäbe es dann mehr Empathie, wäre mehr Vernunft im Umlauf, gäbe es weniger Kriege? Wäre unter solchen Bedingungen vielleicht gar kein Klimawandel zu befürchten und die »Fridays for Future«-Demonstrationen überflüssig? Oder wären wegen der größeren Varianz noch mehr Zwist, Wettbewerb, Ausbeutung zu erwarten? Wir wissen es nicht, müssen aus unseren 86 Milliarden Hirnzellen das Bestmögliche machen, damit auskommen und sie intra- und interindividuell so gut wie möglich nutzen.

Grob makroskopisch lässt sich das Gehirn in vier Strukturen einteilen: in Großhirn(1), Kleinhirn(1), Hirnstamm(1) und Rückenmark(1) (Abb. 2-1). Dass man das Rückenmark, das ja vom Nacken bis zum Gesäß reicht, zum Gehirn dazuzählt, mag zunächst überraschen. Aber es ist nicht etwa nur ein simpler Kabelstrang, durch den Impulse »von höherer Ebene« oder zu ihr zurück laufen, sondern es ist selbst auch eine wichtige Schaltstelle: Wenn der Neurologe mit seinem Hämmerchen auf die Sehne unterhalb der Kniescheibe klopft, läuft das Signal nicht etwas bis ganz nach oben, wo die motorischen Felder für Bewegungen liegen und zurück, sondern nur bis ins Rückenmark, wo sich dann die Laufrichtung umkehrt und der Befehl für die Kontraktion des Muskels gegeben wird, der unser Bein in die Höhe schnellen lässt. Dadurch bekommt der Neurologe eine Information, ob dieser Reflexkreis funktioniert und keine Störungen auf der Strecke vom Rezeptor an der Kniescheibensehne bis zum Rückenmark und/oder zurück vorliegen. Reagiert der Muskel nicht, hat der Neurologe entweder an der falschen Stelle geklopft, oder die Leitung ist an irgendeiner Stelle unterbrochen oder blockiert, was dann eine weitergehende Diagnostik erfordert.

Abb. 2-1 Längsschnitt durch das Gehirn mit Abgrenzung der Hirnabschnitte.

Gehirn und Rückenmark liegen behutsam eingebettet in einen Flüssigkeitsmantel, den Liquor(1), und sind wie kein anderes Organ durch mehrere Häute und einen soliden Knochenmantel vor unliebsamen Einflüssen von außen geschützt. Die Ehrfurcht der alten Anatomen vor dem fürsorglichen Schutz dieser Hüllen lässt sich vielleicht schon an ihrer Namensgebung erkennen. Sie nannten die Hirnhäute »Mater«, also Mütter. Ganz außen die »harte« oder »derbe« Mutter (Dura Mater(1)), die einen soliden Schutz vor Verletzungen und Eindringlingen gewährleistet. Bei der nächst inneren Hirnhaut wurden die Anatomen poetisch, indem sie sie »Arachnoidea(1)« nannten (»Spinnenweb-Haut«): So fein wie eine Spinnennetz ist diese Membran, die aber eine entscheidende Barriere für die Hirnflüssigkeit, den Liquor, bildet, der dadurch nicht bis zur harten Hirnhaut vordringen kann. Die innerste Hirnhaut ist die Pia Mater(1), also die »fromme Mutter«. Was sich die Anatomen bei dieser Bezeichnung gedacht haben, ist nicht ganz klar. Vielleicht kommen wir mit einer anderen Übersetzung von »pia« weiter: das Adjektiv wird auch im Sinne von pflichtbewusst, folgsam, gewissenhaft gebraucht. Die Pia Mater liegt nämlich direkt dem Gehirn auf, folgt brav allen Furchen und Vertiefungen des Groß- und Kleinhirns und führt die Nerven und Gefäße auf deren Weg ins Gehirn bis in die Hirnkammern hinein.

So hochauflösend und sensibel das Gehirn in der Lage ist, Reize der peripheren Sinnesorgane (wir sprechen medizinisch von »Afferenzen«) zu registrieren und zu verarbeiten, so unempfindlich ist es selber. Es leistet sich gewissermaßen nicht den Luxus, sich – bei all der Arbeit für den Rest des Körpers – auch noch sensibel mit der eigenen Befindlichkeit zu beschäftigen. Operationen am offenen Gehirn können daher bei vollem Bewusstsein durchgeführt werden, was klinisch von Bedeutung ist, da ein Patient bei Gehirnoperationen, wenn nötig, angeben kann, was passiert, wenn bestimmte Stellen in seinem Hirn mechanisch oder elektrisch gereizt werden. Die Schutzfunktion, die der ursprüngliche biologische Sinn aller unserer Schmerzempfindung ist, wird durch die Hirnhäute ausgeübt, die wiederum äußerst sensibel sind. Die Trennung zwischen Gehirn und Rückenmark als den Teilen des zentralen Nervensystems ist funktionell eher willkürlich. Die Leitungsbahnen von Körperoberfläche und Körperinnerem erreichen die höheren Schaltstellen durch das Foramen magnum(1), das »Große Loch« an der Unterseite des Schädels im Hinterkopf.

Die Zentrale für Ruhe und Ordnung im Körper: der Hirnstamm(2)

Die Verbindung zwischen Rückenmark, Groß- und Kleinhirn wird als Hirnstamm bezeichnet, der sich wiederum in drei Abschnitte gliedert: das verlängerte Mark (Medulla oblongata(1)), die Brücke (Pons(1)) und das Mittelhirn(1) (Mesencephalon). Diese Strukturen sind die Transit- und Schaltstationen für die Leitungsbahnen des Groß- und Kleinhirns. Gleichzeitig werden elementare Lebensfunktionen gesteuert und koordiniert wie der Schlaf-Wach-Rhythmus, die Nahrungsaufnahme, Atmung, Kreislauf und Augenbewegungen.

Im Hirnstamm entspringen zehn der zwölf Hirnnerven(1), die überwiegend für Sinneswahrnehmungen und Bewegungen im Kopf- und Halsbereich zuständig sind. Sie sind nur wenige Zentimeter lang, weil sie ja überwiegend die Sinnesorgane rings um den Schädel erreichen müssen. Aber es gibt auch einen Außenseiter unter den Hirnnerven, einen »Vagabunden«: Der zehnte Hirnnerv heißt deswegen Nervus vagus(1), weil er im Gegensatz zu seinen Kollegen von der Hirnbasis durch den gesamten Körper vagabundiert und vom Hals über den Brustkorb bis in den Bauchraum wandert.

Neben wichtigen sensiblen und motorischen Funktionen spielt er eine entscheidende Rolle bei der Koordination vegetativer Grundfunktionen (Atmung, Herzfrequenz, Blutdruck, bis zu den Sexualfunktionen). Der Hirnstamm wird von einem Netzwerk, der Formatio reticularis(1), durchzogen, das aus zahlreichen kleineren Hirnkernen (unter Kern verstehen die Anatomen eine Ansammlung von Nervenzellen mit einer gemeinsamen Struktur und Funktion) und deren Verknüpfung durch Nervenfasern besteht. Diese Formation vereint die Zentren für die Regelung von Atmung und Kreislauf, außerdem das Brechzentrum, das dafür sorgt, dass das Verdauungssystem rasch und reflektorisch von Substanzen befreit werden kann, die da nicht hineingehören.

In der Brücke (Pons(2)) liegen die Kerne mehrerer Hirnnerven(2), die etwa für die Bewegung der Gesichtsmuskulatur (Fazialisnerv), die Schmerzempfindung im Kopfbereich (Trigeminus-Nerv), für das Gleichgewichtsorgan und die Weiterleitung der akustischen Sinnesreize (Nervus statoacusticus) verantwortlich sind. Darüber hinaus vermittelt die Brücke Bewegungsinformationen aus der Großhirnrinde an das Kleinhirn.

Im Mittelhirn(2) schließlich werden so wichtige Botenstoffe (Neurotransmitter) für die Erregungsübertragung im Nervensystem wie Noradrenalin, Dopamin und Serotonin produziert, von denen in diesem Buch noch oft die Rede sein wird.

Bewegungssupervisor und Feintuner: das Kleinhirn(2)

Hinter der Brücke liegt das Kleinhirn (Cerebellum). Es ist ein stark verästeltes Organ mit einer Vielzahl kleiner Läppchen und Furchen, das in Form und Größe zwei aneinander gelegten Daumenballen ähnelt. Wenn man die Oberfläche auffächern würde, ergäbe sich eine Ausbreitung von weit über einem Meter. Mit drei »Armen« ist es an den Hirnstamm geheftet, durch sie läuft der Informationsaustausch. Im Netzwerk des Gehirns stellt das Kleinhirn eine eigenständige Einheit dar, die für die Feinabstimmung von Bewegungen zuständig ist. Hier laufen Informationen vom Großhirn mit Meldungen aus Rückenmark und Gleichgewichtsorgan zusammen. Gewicht, Beschleunigung und Weg werden berechnet und dann in Befehle für die Koordination von Kraft und Geschwindigkeit der Muskelkontraktionen bei den Bewegungsabläufen umgesetzt. Das sorgt dafür, dass wir mit einem Vorschlaghammer anders umgehen als mit der feinen Teetasse, die wir mit eleganter Armbewegung zum Mund führen und sie nicht mit wuchtigem Schwung an den Schneidezähnen zerschellen lassen sollten. Bei Erkrankungen des Kleinhirns, etwa durch einen Schlaganfall oder einen Tumor, kommt es infolgedessen zu schweren Störungen der Motorik: Die Patienten leiden vor allem unter Schwindel und Gangunsicherheit. Sie sprechen verwaschen oder »polternd«, weil die Koordination der Muskeln gestört ist, die an der Aussprache beteiligt sind. In der Regel haben sie Schwierigkeiten, gezielte Bewegungen auszuführen: Sie versagen im sogenannten Finger-Nase-Versuch, das heißt sie sind bei geschlossenen Augen nicht in der Lage, die Nasenspitze mit dem Zeigefinger sicher zu treffen. Im Kindesalter können diese Funktionen noch relativ schnell und problemlos von anderen Teilen des motorischen Hirnsystems übernommen werden. Diese unschätzbare Fähigkeit des Gehirns, andere Zentren für lädierte Bereiche einspringen zu lassen, nennt man »neuronale (1)Plastizität(1)«, sie nimmt im Laufe des Lebens allerdings leider ab. Vor allem beeinträchtigte Großhirnfunktionen nach Verletzungen oder Schlaganfällen können bei Erwachsenen daher meist nicht mehr vollständig ausgeglichen werden, sind aber durch intensives Training immerhin teilweise kompensierbar. Kleinhirnläsionen dagegen können auch bei Erwachsenen durch die Plastizität des Kleinhirns meist sehr gut »repariert« werden, vor allem wenn die Kleinhirnkerne nicht betroffen sind.

Während wir uns bei unserem bisherigen Rundgang durch das Zentralnervensystem im Bereich der Schalt- und Regelelemente aufgehalten haben, die mehr oder weniger automatische, reflektorische »primitive« Grundfunktionen koordinieren und unterhalten, bewegen wir uns jetzt in die Regionen, die in Verbindung mit dem »Geist«, mit unserem bewussten Handeln und Erleben stehen: das Vorderhirn, das die Hirnanatomen wiederum in ein Zwischenhirn (Diencephalon) und ein Endhirn (Telencephalon) untergliedern.

Am Schalthebel zwischen Geist und Körper: das Zwischenhirn(1)

Die größte Struktur des Zwischenhirns ist der Thalamus(1), die wichtigste Schalt- und Integrationszentrale für Sinneseindrücke aus dem gesamten Nervensystem. Hier werden die Informationen der Sinnesorgane an die Großhirnrinde weitergeleitet. Nur die Nase, d. h. unser Geruchssinn, macht da eine Ausnahme: Sie sendet ihre Informationen außer über den Thalamus zur Großhirnrinde gleichzeitig auch auf direktem Wege zum limbischen System, also zu den Hirnstrukturen, die unter anderem für unser Gefühlsleben zuständig sind. So erklärt sich, dass wir nichts gegen unsere Aversion unternehmen können, wenn wir jemand »nicht riechen können«, auch wenn sich die grauen Zellen unseres Großhirns nach Kräften dagegen sträuben sollten, weil er oder sie doch so attraktiv ist. Eine Beziehung, bei der das limbische System nicht mitmacht, wird nicht lange anhalten.

Am hinteren Ende des Thalamus befindet sich die Zirbeldrüse(1), die das Hormon Melatonin(1) produziert. Es regelt unseren Tag-Nacht-Rhythmus, stimuliert dabei gleichzeitig unser Immunsystem. Unterhalb des Thalamus schließt sich der Hypothalamus(1) an. Er ist sowohl die oberste Leitstelle für das vegetative Nervensystem als auch für das Hormonsystem des Körpers und aktiviert mit seinen »Releasing«-Hormonen die Hypophyse(1), zu Deutsch Hirnanhangdrüse(1), die über das adrenokortikotrope (d. h. »das die Nebennieren ändernde«) Hormon die Nebennierenrinde anwirft, die schließlich das Hormon Kortisol freisetzt bzw. das Nebennierenmark aktiviert, das die »Stresshormone« Adrenalin und Noradrenalin sowie das Schilddrüsen- und das Wachstumshormon ausschüttet.

Die jüngste Errungenschaft der Evolution: das Großhirn(2)

Wie ein Mantel liegt schließlich das Großhirn über diesen Zentren des Zwischenhirns. An seiner charakteristischen walnussähnlichen Form unterscheiden wir zwei Hälften, die Großhirnhemisphären(1)(Abb. 2-2). Die »Kabelstränge«, die diese beiden Hälften miteinander verbinden, bilden eine derbe Faserplatte, den Balken(1) (Corpus callosum(1)), die als annähernd waagerechte, nach unten gekrümmte Struktur eine charakteristische »Landmarke« in den Hirnschnitten darstellt. In der Feinstruktur der Großhirnhälften unterscheidet man die Großhirnrinde(1) (Kortex), mit den berühmten »kleinen grauen Zellen«, (die sogenannte »graue Substanz« (substantia grisea) und das Hirnmark (»weiße Substanz«). Der schmale Saum der Hirnrinde weist im Hirnschnitt eine dunklere, mit etwas gutem Willen graue, Färbung auf. Viele Beschreibungen und Begriffe aus der Hirnanatomie gehen aus nachvollziehbaren Gründen auf die Verhältnisse im toten Körper zurück. Im Gegensatz zu anderen Körperregionen, die häufig auch am Lebenden, also zum Beispiel bei Operationen, beobachtet und beschrieben werden konnten, führten Untersuchungen am lebenden Gehirn schnell zu einem Ergebnis, das sich von dem bei der Leichensektion wenig unterscheidet.

Abb. 2-2 Querschnitt durch das Vorderhirn(1).

Die Großhirnrinde(2) wird in vier deutlich voneinander abgrenzbare Gebiete unterteilt, die die Anatomen wenig respektvoll als »Lappen« bezeichnen (Abb. 2-3): der Stirnlappen(1) (Lobus frontalis), der Scheitellappen(1) (Lobus parietalis), der Hinterhauptslappen(1) (Lobus occipitalis) und der Schläfenlappen(1) (Lobus temporalis). (Dass sich im Sinne einer Spontanmutation als fünfter Hirnlappen gewissermaßen endemisch ein Lobus lamentationis(1) – Jammerlappen – gebildet haben soll, ist angesichts der bei vielen Zeitgenossen hierzulande zu beobachtenden Klagsamkeit eine interessante Hypothese, die einmal von dem Arzt und Kabarettisten Eckart von Hirschhausen(1) aufgestellt wurde, aber sicherlich noch der empirischen Bestätigung bedarf.) Die tiefen Furchen zwischen diesen Lappen bezeichnet man als Sulci, während sich die einzelnen Lappen aus denjenigen Strukturen zusammensetzen, von denen es heißt, man solle sie anstrengen, wenn man vernünftig nachdenkt: den Hirnwindungen oder Gyri.

Abb. 2-3 Lappengliederung und Rindenfelder der linken Hemisphäre des Großhirns(3).

Den Hirnwindungen lassen sich unterschiedliche motorische und sensorische Funktionen zuordnen. Besonders berühmt geworden ist der sogenannte Homunculus(1) (= »Menschlein«): Jeweils vor und hinter der mittleren, schräg senkrecht verlaufenden Furche (Sulcus centralis) ist das gesamte Körperschema abgebildet, wenngleich gegenüber den Größenverhältnissen der Peripherie grotesk verzerrt. Organe, die eine sehr subtile, komplexe Koordination der Muskulatur verlangen oder die eine feine Auflösung der Sinneszellen besitzen, wie z. B. Finger und Lippen, beanspruchen verständlicherweise einen größeren Platz auf den Hirnwindungen als die Organe, bei denen feine Bewegungsmuster oder hochdifferenzierte Tastempfindungen keine so große Rolle spielen (Abb. 2-4).

Abb. 2-4 Motorischer »Homunculus(2)«: Repräsentation der einzelnen Körperzonen auf dem Gyrus praecentralis(1).

Mit den Fortschritten der Hirnanatomie und den immer feineren Methoden der mikroskopischen Zelldifferenzierung setzte gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein Kartierungsboom ein. Mit dem gleichen Enthusiasmus wie einst die Kartografen um Alexander von Humboldt, die an Orinoko, Kongo und im Himalaja versuchten, die Vermessung der Welt zu perfektionieren und letzte weißen Flecken zu tilgen, widmeten sich nun die Anatomen den Hirnarealen. 1909 verfertigte der Berliner Anatom Korbinian Brodmann(1) schließlich einen Hirnatlas, in dem die Regionen verzeichnet waren, zu denen sich bestimmte Neuronengruppen zusammenfassen lassen und die in Verbindung mit bestimmten motorischen oder sensorischen Funktionen gebracht werden können. Typische Ausfallerscheinungen bei bestimmten Hirnläsionen wie Schlaganfällen oder Verletzungen und später die funktionelle Bildgebung bestätigten die grobe Zuordnung der kartografierten Domänen zu den entsprechenden Funktionen. Allerdings zeigte sich zunehmend, dass die Vernetzungen untereinander so vielschichtig und komplex sind, dass exakte Zuordnungen bestimmter Funktionen zu umschriebenen Regionen der Hirnwindungen kaum möglich sind. Gut belegt sind allerdings die Lokalisation des motorischen Sprachzentrums (auch Broca-Zentrum(1) nach seinem Entdecker genannt) und der Ort des Sprachverständnisses. Beide sind immer in nur einer der beiden Hirnhälften lokalisiert. Bei den meisten Menschen ist dies die linke Hemisphäre (s. Abb. 2-3). Schädigungen in der linken Hirnhälfte führen daher meist nicht nur zu Sprachstörungen (Aphasien), sondern wegen der Kreuzung der motorischen Nervenbahnen auch zu Lähmungserscheinungen der rechten Extremitäten.

Der größte Teil des Großhirns wird vom Großhirnmark(1), der sogenannten »weißen Substanz« eingenommen. Verlassen wir also die Hirnrinde mit ihren ca. 10 Milliarden untereinander vernetzten grauen Zellen und begeben uns in die »weiße Substanz(1)«, das Großhirnmark. Sie gliedert sich in sogenannte Assoziationsbahnen, die den Informationsaustausch innerhalb einer Hemisphäre vermitteln, und in Kommissurenbahnen, die die Verbindung zwischen den beiden Hirnhälften gewährleisten. Darüber hinaus gibt es noch Projektionsbahnen, die zu anderen, tiefer gelegenen Hirnabschnitten führen.

Die größte Kommissur des Gehirns ist der Balken(2)(2), der alle vier Hirnlappen miteinander verbindet und bei Hirnschnitten in Scheitelrichtung von der Seite als kräftige, bogenförmige Struktur erkennbar wird.

Im Zentrum der weißen Substanz des Großhirns liegen anatomisch gut voneinander abgrenzbare Kerngebiete, die Basalganglien(1). Wir unterscheiden einen »Streifenkörper« (Striatum(1)), der wiederum in einen »Schweifkern« (Nucleus caudatus(1)), eine »Schale« (Putamen(1)) und den Nucleus accumbens(1) untergliedert wird (s. Abb. 2-2). Das Striatum sorgt dafür, dass unsere Bewegungen nicht außer Kontrolle geraten und sendet vor allem hemmende Impulse an »untergebene« Motorikzentren. Störungen der Balance von Erregung und Hemmung innerhalb des Basalgangliensystems führen zu unwillkürlichen, ungehemmten Bewegungen wie bei der Parkinson-Krankheit oder der Chorea Huntington (»Veitstanz«).

Die Regie von Erinnern und Empfinden: das limbische System(1)

Über seine Funktion zur Bewegungskoordination hinaus hat das Basalgangliensystem(2) Anteil am limbischen System. Dieses wiederum wird von verschiedenen Strukturen unterschiedlicher Hirnregionen gebildet, reguliert nicht nur unser Motivations- und Triebverhalten und verbindet es mit vegetativen Körperfunktionen, sondern ist auch für das Gedächtnis von Bedeutung.

Die zahlreichen miteinander vernetzten Hirnzentren, die als limbisches System(2) zusammengefasst werden, machen deutlich, dass die topografische Einteilung der Hirnareale in ein End-, Zwischen- und Mittelhirn, wie wir sie bisher kennen gelernt haben, eher willkürlich ist und offenbar mehr den Präparationsgewohnheiten der alten Anatomen entsprach als den funktionellen Zusammenhängen, die erst später erkannt wurden, denn die Elemente dieses Systems setzen sich aus Teilen aller drei großen Hirnabschnitte zusammen (Abb. 2-5).

Abb. 2-5 Das limbische System(3).

Sie sind in parallelen Schaltkreisen miteinander »verlinkt«. Deren zentrale Relaisstationen sind der Hippocampus(2) (zu Deutsch interessanterweise »Seepferdchen«, weil die anatomischen Pioniere mit viel Fantasie Ähnlichkeiten zwischen der Form dieser Struktur und dem bekannten Fischchen sahen) und die Amygdala(1) (»Mandelkerne(1)«). Hauptaufgabe des limbischen Systems ist es, die Bedeutung von Sinneswahrnehmungen bzw. Gedächtnisinhalten (»positiv vs. negativ«, »gut vs. böse«, »angenehm vs. ungemütlich«) zu prägen – also gewissermaßen das emotionale Salz in die Suppe der Wahrnehmung zu streuen. Wenn wir uns ein Gesicht merken, eine Melodie einprägen, uns an einen typischen Geruch erinnern oder aufgrund vorangegangener Bredouillen eine Situation als bedrohlich einschätzen, ist das limbische System als maßgeblicher Prozessor für Lernen und Gedächtnis daran stets beteiligt. Damit aber noch nicht genug: Die Verarbeitung von Emotionen und die Koordination unserer Gefühlseindrücke mit den Reaktionen des gesamten Körpers wird von den Knotenpunkten des limbischen Systems gesteuert und koordiniert. Viele dieser Körperreaktionen waren im Verlauf der Evolution einmal überlebenswichtig, haben aber in dem Maße ihren Nutzen verloren, wie sich Gesellschaft und Umwelt entwickelt haben. Für unsere Urahnen im Neandertal oder in der afrikanischen Steppe war es noch absolut sinnvoll, beim plötzlichen Auftauchen eines Mammuts oder Säbelzahntigers umgehend und reflexartig durch Beschleunigung des Herzschlags, Vertiefung der Atmung und Bereitstellung von Blutzucker für eine möglichst optimale Nutzung der Muskeln zu sorgen, um so schnell wie möglich die Beine in die Hand zu nehmen und das Weite zu suchen. Für den heutigen Homo sapiens sind solche vegetativen »fight or flight«-Reaktionen beim Anblick des gefürchteten Chefs (der Prüfungskommission, der gestrengen Oberschwester, des Polizisten mit dem Alkoholteströhrchen – Nichtzutreffendes bitte streichen) wenig hilfreich. Hier ist dann eine sehr intensive, mäßigende Intervention des Frontalhirns, also des klaren, kritischen Bewusstseins vonnöten, um einen »kühlen Kopf« (!) zu behalten und nicht kontraproduktiv zu handeln.

Diese hirneigene Alarmanlage, die Mandelkerne(2) (Amygdala(2), obwohl es sich um ein paariges Organ handelt, hat es sich – grammatikalisch unkorrekt – eingebürgert, von »der Amygdala« zu sprechen), spielt tatsächlich eine erste Geige im Orchester des limbischen Systems. Sie wird von allen Hirnzentren bedient, die Sinneseindrücke aufnehmen, und erhält darüber hinaus Informationen vom Thalamus. Die Mandelkerne(3) selbst bestehen wieder aus mehreren Kernen, und ihr gesamtes System ordnet den Impulsen positive oder negative Bewertungen zu. So programmieren uns die Mandelkerne beispielsweise darauf, die Quellen der wahrgenommenen Eindrücke aufzusuchen oder zu vermeiden. Auch das muss nicht unbedingt immer zum Nutzen des Mandelkern-Besitzers geschehen: Durch wiederholte Kopplungen von Sinneseindrücken mit gleichzeitig erlebten unbehaglichen Gefühlszuständen kann es unter Umständen zu paradoxen Reaktionen kommen, wie etwa, dass jemand genau die Situationen oder Menschen mit Angst besetzt, die ihm eigentlich gut tun würden, oder dass er sich bevorzugt mit solchen einlässt, denen man besser aus dem Weg gehen sollte.

Damit deutet sich bereits an, welch wichtige Rolle das limbische System, und hier ganz besonders die Mandelkerne, für die Psychotherapieforschung spielen. Beidseitige Zerstörung der Amygdala führt zum Verlust von Furcht und Aggressivität, zu Fresssucht, Merkfähigkeitsstörungen und gesteigerter sexueller Aktivität. Bereits in den 1940er-Jahren entdeckten zwei amerikanische Hirnforscher in stark umstrittenen Tierversuchen an Rhesusaffen diese Zusammenhänge, die nach ihnen als Klüver-Bucy-Syndrom(1) bezeichnet wurden. Später konnten die Befunde durch Beobachtungen nach »natürlichen« Verletzungen bei Menschen bestätigt werden.

Gewissermaßen die Frohnatur der Hirnkerne und damit der Gegenspieler des Mandelkerns ist der Nucleus accumbens(2) (»accumbere« war ursprünglich die Bezeichnung der Position, die die alten Römer bei der Einnahme ihrer Mahlzeiten bevorzugten, die Struktur wäre also mit »der zu Tische liegende Kern« zu übersetzen). Die Nomenklatur der Hirnstrukturen ist voller Rätsel: Da gibt es nicht nur das schon beschriebene »Seepferdchen«, sondern auch ein »Schlafgemach« (Thalamus), eine »Wasserleitung« (aquaeductus), einen »Schnabel« (rostrum) und sogar »Busenkörper« (corpora mamillaria). Neben ihrem Entdeckergeist hatten die alten Anatomen offensichtlich viel Fantasie und sprachliche Kreativität. Im Gegensatz zu seiner Bezeichnung als faul zu Tische liegender Kern ist der Nucleus accumbens allerdings ein sehr »waches« Modul im Gehirn. Er dient als Sensor für positive Schlüsselreize: Witze (s. Kap. 11 von Barbara Wild), persönliche Erfolgserlebnisse, der Anblick einer attraktiven Person oder eines ebensolchen Sportwagens (bei Männern durch Magnetresonanztomografie empirisch gesichert), Schokolade oder guter Sex regen ihn dazu an, hirneigene Endorphine ins Frontalhirn freizusetzen, was dann den Zustand hervorruft, dem Manfred Spitzer wiederum einen eigenen Beitrag in diesem Buch gewidmet hat: Glück (s. Kap. 8). Leider geht das aber auch anders, denn Kokain, Ecstasy und was es sonst noch alles an Designerdrogen gibt, haben die gleiche Wirkung. Da man für Erfolgserlebnisse, Sportwagen und die Beziehung zu attraktiven Personen oft hart und lange arbeiten muss, die Wirkung der Drogen aber ohne großen Aufwand schnell und sicher einsetzt, liegt es auf der Hand, dass sie süchtig machen: Warum sich so blödsinnig anstrengen, wenn »Dope« oder »Meth« mühelos und rasch Dopamin ausschütten, Endorphine ins Frontalhirn pumpen und glücklich machen?

Eine weitere Schlüsselposition im limbischen System hat der Hippocampus(3). Abrufbare Gedächtnisinhalte können nur durch diesen »Prozessor« in der »Festplatte« des Langzeitgedächtnisses gespeichert werden.

Unsere Wahrnehmungen und Sinneseindrücke werden zunächst in spezifischen Feldern der Großhirnrinde abgebildet und dann nach der Passage einiger Schaltstellen in das Verarbeitungssystem des Hippocampus eingespeist, der sie an den Thalamus weiterleitet. Von dort läuft die Erregung über den Gyrus cinguli(1) der Großhirnrinde, um dann im abrufbaren Bewusstseinsspeicher (dem sogenannten »expliziten Gedächtnis«) hinterlegt zu werden und manchmal leider viel zu kurz, manchmal auch unerträglich lange zur Verfügung zu stehen.

Für Valentin Braitenberg (s. Kap. 1) weist die geschweifte Form des Hippocampus(4) mit der Verbindung seiner beiden Enden auf eine ideale Konfiguration für die Speicherung von Informationen hin, weil die Signale auf diese Weise längere Zeit im Kreis laufen können. Schädigungen im Hippocampus sind immer mit Störungen der Merkfähigkeit verbunden, vor allem der des Kurzzeitgedächtnisses. Informationen, die unsere Hippocampusschleife bereits durchlaufen und im Großhirn einen sicheren Hafen gefunden haben, sind demgegenüber weniger beeinträchtigt. Alzheimer-Patienten(1), bei denen sich im Hippocampus Abfallprodukte des Stoffwechsels ablagern, können sich daher noch lange Zeit gut an Ereignisse aus Kindheit und Jugend erinnern. Auch das Lernen von neuen Bewegungsabläufen und das Konditionieren von Reflexen sind durch die Schädigung des Hippocampus nicht betroffen, weil sie über andere Bahnen laufen. Das Speichern soeben erlebter Ereignisse oder kurzfristig erworbener Erkenntnisse ist dem gegenüber stark beeinträchtigt.

Dauerstress führt dazu, dass das Hippocampusvolumen abnimmt, wie sich an Obduktionen des Gehirns bei betroffenen Menschen und durch Messungen mit bildgebenden Verfahren am lebenden Menschen feststellen lässt: Man lernt schlecht unter Stress. Nur ein entspanntes, möglichst gar vergnügtes Hirn lernt gut und gern. Was das für unser Bildungssystem vom Kindergarten bis hin zur innerbetrieblichen Fortbildung bedeutet, liegt auf der Hand. Eine anregende Umgebung, viel Bewegung, die Begrenzung des Datenmülls von Smartphones, Fernsehen und Playstations und vor allem Spaß sind für ein effizientes Lernen vonnöten. Da ist in unserem Bildungssystem noch viel Luft nach oben!

Wir sind also bei unserem Zielpunkt, dem Hippocampus(5) angelangt, dessen neuronale Macht und Kompetenz in eigenartigem Kontrast zu seiner niedlichen Titulierung als »Seepferdchen« steht. Da das Gehirn ein unendlich komplexes Netzwerk ist, hätte er auch der Ausgangspunkt für unsere orientierende Rundreise durch die Hirnlandschaft sein können. Wir sind dabei einer Reihe von markanten Punkten begegnet, haben ein paar Sehenswürdigkeiten herausgegriffen, einige eher links liegen gelassen, kurz gestreift oder aus einer Perspektive beobachtet, die ihre Beschaffenheit nur oberflächlich wiedergibt. Das gesamte Gebiet ist ja schier grenzenlos und in Teilen immer noch unerforscht. Ich hoffe aber, diese kurze tour d’horizon hat Ihre Neu(ro)gier für weitere Exkursionen in die spannende Welt des Nervensystems geweckt. Die Autoren der nachfolgenden Kapitel stehen Ihnen als Reiseführer zur Verfügung.

Weiterführende Literatur

Herculano-Houzel, S (2012). The remarkable, yet not extraordinary, human brain as a scaled-up primate brain and its associated cost. PNAS; 109 (Suppl 1): 10661 – 10668.