Historien - Herodot - E-Book

Historien E-Book

Herodot

0,0
21,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wer Geschichte studiert, befasst sich auch mit Herodots "Historien". Es geht darin um die Auseinandersetzung zwischen West und Ost, um berühmte Schlachten zwischen Griechen und Persern und ihre tieferen Gründe, aber auch um Sitten und Gebräuche der antiken Völkerschaften – als Augenzeuge wusste Herodot sie lebendig zu schildern.Der Anhang dieser Ausgabe umfasst neben einem Stellenkommentar und einem Nachwort zu Autor, Werk und dessen Hintergrund auch Karten, ein Namensverzeichnis und eine Zeittafel. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 1356

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Herodot

Historien

Übersetzt und herausgegeben von Kai Brodersen und Christine Ley-Hutton

Reclam

Originaltitel: Ἱστορίαι

 

2019 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2022

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961493-9

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019624-3

www.reclam.de

Inhalt

Erstes Buch

Zweites Buch

Drittes Buch

Viertes Buch

Fünftes Buch

Sechstes Buch

Siebtes Buch

Achtes Buch

Neuntes Buch

Anhang

[5]Erstes Buch

Pr  Dies ist die Darstellung der Forschung des Herodotos von Halikarnassos.1 Sie ist verfasst, damit die von Menschen vollbrachten Taten nicht mit der Zeit in Vergessenheit geraten und die großen und bewundernswerten Leistungen, die einerseits von den Griechen, andererseits von den Nichtgriechen erbracht wurden, nicht ohne Nachruhm bleiben. Insbesondere aber soll gezeigt werden, warum die Griechen und Nichtgriechen in eine kriegerische Auseinandersetzung miteinander geraten sind.

1 (1) Die persischen Weisen2 behaupten, den Phoinikiern sei die Schuld an der Auseinandersetzung zuzuschreiben. Sie seien vom sogenannten Roten Meer in dieses Meer hier3 gekommen, hätten das Land, das sie auch heute noch bewohnen, besiedelt, hätten sogleich große Seefahrten unternommen und seien dann mit ägyptischen und assyrischen Waren an Bord unter anderem nach Argos gekommen. (2) Argos war zu jener Zeit unter <allen anderen Städten> in dem Land, das heute Hellas heißt, am mächtigsten. Die Phoinikier hätten nun nach ihrer Landung in besagtem Argos ihre Waren zum Verkauf ausgestellt. (3) Am fünften oder sechsten Tag seit ihrer Ankunft, als sie beinahe schon alle ihre Waren verkauft hätten, sei unter vielen anderen Frauen auch die Königstochter an den Strand gekommen. Ihr Name sei Io, Tochter des Inachos, gewesen – so heißt sie auch bei den Griechen. (4) Diese Frauen seien ans Heck des Schiffes getreten und hätten von den Waren gekauft, nach denen ihnen am meisten der Sinn stand; da seien die Phoinikier auf gegenseitigen Zuruf hin auf sie losgestürzt. Die Mehrheit der Frauen hätte entkommen können, Io aber sei zusammen mit anderen geraubt worden. Die Phoinikier hätten diese an Bord gebracht und seien dann eilends gegen Ägypten gesegelt.

[6]2 (1) So ist nach Aussage der Perser, nicht aber nach der Version der Griechen Io nach Ägypten gekommen – und dies sei der Anfang der Feindseligkeiten gewesen.

Dann seien einige Griechen, so heißt es – ihre Namen können sie nicht angeben –, von Phoinikien nach Tyros gesegelt und hätten dort die Königstochter Europa geraubt. Es dürften Kreter gewesen sein. Dadurch hätten sie Gleiches mit Gleichem vergolten.

Hierauf aber seien die Griechen schuldig an dem zweiten Unrecht geworden. (2) Als sie nämlich mit einem Kriegsschiff nach Aia in Kolchis und zum Fluss Phasis gesegelt seien, hätten sie von dort nach Erledigung aller anderen Angelegenheiten, derentwegen sie gekommen waren, die Königstochter Medea geraubt.4(3) Der König der Kolcher habe nun einen Boten nach Griechenland geschickt, um Genugtuung für den Raub und die Herausgabe der Tochter zu fordern. Die Griechen hätten jedoch erwidert, dass jene ihnen für den Raub der Io aus Argos auch keine Genugtuung geleistet hätten. Also würden sie es ihrerseits auch nicht tun.

3 (1) In der zweiten Generation nach diesen Ereignissen soll Alexandros, der Sohn des Priamos,5 als er davon gehört hatte, den Wunsch gehegt haben, sich aus Griechenland durch Entführung eine Frau zu verschaffen – in der festen Überzeugung, er werde ungestraft davonkommen, denn auch jene seien ungestraft geblieben. (2) Nachdem er Helena geraubt habe, hätten die Griechen den Beschluss gefasst, zunächst Boten zu schicken, Helena zurückzufordern und Sühne für den Raub zu verlangen. Auf die Vorwürfe der Boten hin hätten die Troianer ihrerseits den Griechen den Raub der Medea entgegengehalten, indem sie sagten, die Griechen würden nun, obwohl sie selbst weder Genugtuung geleistet noch die Geraubte trotz Aufforderung zurückgegeben hätten, bei anderen für sich Genugtuung suchen.

[7]4 (1) Bis zu diesem Zeitpunkt seien nur gegenseitige Entführungen erfolgt, von da an aber hätten die Griechen große Schuld auf sich geladen. Sie hätten nämlich ihren Feldzug gegen Asien unternommen, bevor die Perser gegen Europa gezogen seien. (2) Diese nun seien der Überzeugung gewesen, Frauenraub sei das Treiben schlechter Menschen, sich um Rache für die Geraubten zu bemühen das Ziel unvernünftiger Menschen, sich aber überhaupt nicht um die Geraubten zu kümmern, Sache vernünftiger Leute. Es sei offensichtlich, dass Frauen nicht gegen ihren Willen entführt würden. (3) Sie selbst, die aus Asien stammten, hätten kein Aufheben um geraubte Frauen gemacht, so sagen die Perser, die Griechen aber hätten wegen einer Frau aus Sparta eine große Flotte versammelt, seien dann nach Asien gekommen und hätten daraufhin die Herrschaft des Priamos gebrochen. (4) Seit jener Zeit hätten sie geglaubt, das Griechentum sei ihnen feindlich. Asien nämlich und die dort wohnenden [nichtgriechischen] Volksstämme beanspruchen die Perser für sich, Europa und das Griechentum betrachten sie jedoch als etwas davon Getrenntes.

5 (1) So hat es sich nach Aussage der Perser abgespielt, und die Perser sehen in der Eroberung von Ilion den Ursprung der Feindschaft mit den Griechen.

(2) Was Io betrifft, so stimmen die Phoinikier allerdings nicht mit den Persern überein. Die Phoinikier nämlich behaupten, sie hätten diese nicht durch Entführung nach Ägypten gebracht, vielmehr habe sie sich in Argos mit dem Schiffskapitän eingelassen. Als sie aber gemerkt habe, dass sie schwanger war, sei sie aus Scham vor ihren Eltern aus freien Stücken mit den Phoinikiern mitgefahren, um ihren Zustand zu verbergen. (3) So weit also die Versionen der Perser und Phoinikier.

Ich für meine Person möchte darüber keine Aussage machen, dass es so oder anders geschehen sei, ich will allerdings [8]den Mann nennen, von dem ich weiß, dass er mit Feindseligkeiten gegen die Griechen begonnen hat, und werde dann mit dieser meiner Darstellung fortfahren, indem ich in gleicher Weise unbedeutende und bedeutende Städte der Menschen behandeln werde. (4) Ein Großteil der Städte nämlich, die einst bedeutend waren, sind heute unbedeutend, Städte aber, zu meiner Zeit groß, waren früher unbedeutend. Da ich weiß, dass das menschliche Glück zu keiner Zeit Bestand hat, werde ich beider Schicksale in gleicher Weise erwähnen.

6 (1) Kroisos6 stammte aus Lydien und war ein Sohn des Alyattes; jener war tyrannos über die Volksstämme innerhalb des Halys-Flusses7, der von Süden her durch das Gebiet der Syrer und Paphlagoner fließt und im Norden in den sogenannten Pontos Euxeinos mündet. (2) Dieser Kroisos hat als erster Nichtgrieche, soweit wir wissen, den einen Teil der Griechen unterworfen und Tributzahlungen von ihnen gefordert, mit dem anderen Freundschaft geschlossen. Er unterwarf die Ionier, Aioler und die in Asien lebenden Dorer; die Lakedaimonier machte er sich zu Freunden.8(3) Vor der Regierungszeit des Kroisos waren alle Griechen frei. Der Kriegszug der Kimmerier gegen Ionien, der vor der Zeit des Kroisos stattfand, hatte keine Unterwerfung der Städte zur Folge, sondern führte nur zu überfallartigen Plünderungen.

7 (1) Auf folgende Weise ging die Herrschaft, die zunächst in den Händen der Herakliden lag, auf das Geschlecht des Kroisos, die sogenannten Mermnaden, über: (2) Kandaules, den die Griechen Myrsilos nennen, war tyrannos von Sardes, ein Nachkomme des Alkaios9, der wiederum ein Sohn des Herakles war. Agron, der Sohn des Ninos, Enkel des Belos und Urenkel des Alkaios, war der erste König aus dem Geschlecht der Herakliden in Sardes, Kandaules, der Sohn des Myrsos, der letzte. (3) Die Könige dieses Landes vor der Regierungszeit des Agron waren Nachkommen des Lydos, des Sohnes des Atys. [9]Von ihm erhielt das gesamte lydische Volk, das früher Volk der Maionier genannt wurde, seinen Namen. (4) Die Herakliden wurden von den Maioniern mit der Herrschaft betraut und übernahmen diese dann gemäß einem Götterspruch. Sie waren Nachkommen einer Sklavin des Iardanos und des Herakles und übten die Herrschaft 22 Generationen – 505 Jahre – lang aus, indem die Herrschaft jeweils vom Vater auf den Sohn überging bis zu Kandaules, dem Sohn des Myrsos.

8 (1) Dieser Kandaules nun war sehr in seine eigene Frau verliebt und glaubte in seiner Verliebtheit, sie sei bei Weitem die schönste aller Frauen; in diesem seinem Glauben äußerte er sich Gyges10 gegenüber – Gyges, der Sohn des Daskylos, war einer seiner Leibwächter, der ganz besonders in der Gunst des Kandaules stand – recht vertraulich neben anderen, wichtigen Angelegenheiten insbesondere über das Aussehen seiner Frau, indem er es über alle Maßen lobte. (2) Es verging nicht viel Zeit, da richtete Kandaules folgende Worte an Gyges – dies sollte dem Kandaules allerdings zum Verhängnis werden: »Ich habe den Eindruck, Gyges, du glaubst mir nicht, wenn ich über das Aussehen meiner Frau spreche – es sind ja die Ohren der Menschen weniger leicht zu überzeugen als die Augen –, also sorge dafür, dass du meine Frau nackt erblickst.« (3) Gyges jedoch schrie empört auf und erwiderte: »Herr, was für einen unheilvollen Vorschlag machst du da, wenn du mir befiehlst, meine Herrin nackt zu sehen? Eine Frau verliert, wenn sie ihr Gewand auszieht, damit gleichzeitig auch ihre Scham11. (4) Schon längst sind von den Menschen gute Grundsätze gefunden worden, aus denen man lernen muss. Einer davon lautet: Jeder soll auf das Eigene schauen. Was mich betrifft, so bin ich überzeugt, dass deine Frau die allerschönste ist; ich bitte dich aber, nichts Ungebührliches von mir zu verlangen.«

9 (1) Mit diesen Worten versuchte Gyges sich zu wehren, da er fürchtete, aus der Sache könne ihm Unheil erwachsen. [10]Kandaules jedoch entgegnete: »Hab nur Mut, Gyges, und fürchte nicht, dass ich dich mit meinem Vorschlag auf die Probe stellen will oder dass dir von meiner Frau ein Leid geschehen wird. Auf folgende Weise will ich nämlich von vornherein dafür sorgen, dass sie gar nicht bemerkt, wenn sie von dir gesehen wird: (2) Ich werde dich in unserem Schlafzimmer hinter die geöffnete Tür stellen. Wenn ich das Schlafzimmer betreten habe, wird sich nach mir auch meine Frau einfinden, um sich zur Ruhe zu begeben. Nahe der Eingangstür steht ein Sessel. Auf diesen wird sie nach und nach beim Ausziehen jedes Kleidungsstück hinlegen und dir so Gelegenheit bieten, sie in aller Ruhe zu betrachten. (3) Wenn sie aber vom Sessel zum Bett geht und du dich dann in ihrem Rücken befindest, gib acht, dass sie dich nicht bemerkt, wenn du von dort durch die Tür hinausgehst.«

10 (1) Da Gyges sich der Sache nicht entziehen konnte, willigte er ein. Kandaules aber führte Gyges, als es Zeit schien, sich zur Ruhe zu begeben, in das Schlafzimmer, und gleich darauf fand sich auch seine Frau ein. Gyges also sah, wie sie hereinkam und ihre Kleidungsstücke ablegte. (2) Als die Frau zum Bett ging und er sich in ihrem Rücken befand, kam er aus seinem Versteck hervor und ging hinaus. Die Frau bemerkte ihn jedoch beim Hinausgehen. Da sie erkannt hatte, dass die Sache von ihrem Mann ausgegangen war, schrie sie trotz ihrer Entehrung nicht auf und erweckte auch nicht den Eindruck, etwas bemerkt zu haben, da sie im Sinn hatte, sich an Kandaules zu rächen. (3) Bei den Lydern nämlich – wie bei fast <allen> anderen Nichtgriechen – gilt es als große Schande, sogar als Mann12 nackt gesehen zu werden.

11 (1) Damals also ließ sich die Frau nichts anmerken und verhielt sich ruhig. Sobald es aber Tag geworden war, versammelte sie diejenigen aus der Dienerschaft um sich, die sie als ihr treu ergeben kannte, und rief Gyges zu sich. Dieser kam, als er [11]gerufen wurde, in der Meinung, sie wisse nichts von dem Vorgefallenen. Er war es nämlich auch sonst gewohnt zu kommen, wenn die Königin ihn rief. (2) Als Gyges sich bei ihr eingefunden hatte, sagte sie: »Jetzt, Gyges, stehen dir zwei Wege offen, und ich will dir die Wahl lassen, welchen von beiden du einschlagen möchtest. Töte Kandaules, nimm mich zur Frau und übernimm die Königsherrschaft über die Lyder – oder du musst aufgrund des Vorgefallenen sterben, damit du nicht, in allem dem Kandaules gegenüber gehorsam, in Zukunft siehst, was du nicht sehen darfst. (3) Sicherlich muss entweder er sterben, der diesen Plan ausgeheckt hat, oder du, der du mich nackt gesehen und Ungebührliches getan hast.« Gyges war über diese Worte eine Zeitlang verstört, dann aber bat er inständig, ihn nicht zu zwingen, eine solche Wahl treffen zu müssen. (4) Er konnte die Frau jedoch nicht umstimmen, sondern sah, dass er wirklich nur die Wahl hatte, entweder den Herrscher zu töten oder selbst durch die Hand anderer umzukommen. So entschied er sich also dafür, selbst zu überleben. Er stellte noch folgende Frage: »Da du mich zwingst, meinen Herrn gegen meinen Willen zu töten, nun, so will ich hören, wie wir ihn angreifen wollen.« (5) Sie entgegnete: »Der Angriff wird vom gleichen Ort aus erfolgen, wo auch jener mich nackt gezeigt hat, und wird auf ihn ausgeübt werden, während er schläft.«

12 (1) So also planten sie den Anschlag; als aber die Nacht hereingebrochen war – für Gyges gab es keinen Ausweg und kein Entrinnen, denn es musste entweder er oder Kandaules zugrunde gehen –, folgte er der Frau ins Schlafgemach. Jene gab ihm einen Dolch und verbarg ihn hinter derselben Tür. (2) Als Kandaules sich daraufhin zur Ruhe begab, kam Gyges aus seinem Versteck hervor und tötete ihn; so nahm er dann dessen Gattin zur Frau und erhielt die Königsherrschaft. Archilochos von Paros, ein Zeitgenosse, gedachte des Gyges in einem Gedicht in jambischen Trimetern.13

[12]13 (1) Gyges übernahm also die Königsherrschaft und wurde vom Orakel in Delphi bestätigt. Da die Lyder nämlich übel nahmen, was mit Kandaules geschehen war, und sich bewaffneten, einigten sich die stasis-Genossen des Gyges und die übrigen Lyder darauf, dass Gyges herrschen solle, wenn das Orakel verkünde, er solle Herrscher der Lyder sein, dass er aber anderenfalls die Herrschaft wieder an die Herakliden zurückgeben solle. (2) Das Orakel bestätigte Gyges, und so wurde er König. Allerdings fügte die Pythia noch hinzu, dass den fünften Nachkommen des Gyges die Rache der Herakliden treffen werde. Um diese Vorhersage kümmerten sich die Lyder und ihre Könige nicht, bis sie in Erfüllung gehen sollte.14

14 (1) So also erhielten die Mermnaden nach dem Sturz der Herakliden die tyrannis. Gyges aber schickte nach Übernahme der tyrannis Weihegaben nach Delphi – und zwar nicht wenige, vielmehr gibt es dort eine große Menge silberner Weihegaben von ihm; abgesehen vom Silber ließ er auch noch unermesslich viel Gold weihen und darunter, was besonders erwähnenswert ist, sechs goldene Mischkrüge. (2) Diese stehen im Schatzhaus der Korinther.15 Sie haben ein Gewicht von 30 Talenten. Streng genommen handelt es sich nicht um das Schatzhaus des korinthischen Volkes, sondern um das des Kypselos, des Sohnes des Eëtion. Nach Midas, dem Sohn des Gordias, des Königs von Phrygien, hat Gyges als Erster von den Nichtgriechen, soweit sie uns bekannt sind, Weihegaben in Delphi aufgestellt. (3) Auch Midas ließ ein Geschenk weihen, nämlich seinen Königsthron, auf dem er Platz nahm, um Recht zu sprechen, ein sehr sehenswertes Stück. Dieser Thron befindet sich an der gleichen Stelle, wo auch die Mischkrüge des Gyges stehen. Das Gold und Silber, das von Gyges stammt, wird von den Delphern »Gyges-Gaben« genannt nach dem Namen des Stifters. (4) Gyges unternahm nach seinem Herrschaftsantritt einen Feldzug gegen Milet und Smyrna und [13]eroberte die Stadt Kolophon. Abgesehen davon führte er dann aber während seiner 38 Jahre dauernden Regierungszeit keine nennenswerte Unternehmung mehr durch. Ich will also nur so viel erwähnt haben und nun nicht weiter von ihm reden.

15 Von Ardys, dem Sohn des Gyges, der nach Gyges den Königsthron bestiegen hatte, will ich jetzt berichten. Dieser nahm Priëne ein und griff Milet an; während seiner tyrannis über Sardes kamen die Kimmerier, von skythischen Nomaden vertrieben, nach Asien und eroberten Sardes mit Ausnahme der Akropolis.

16 (1) Die Regentschaft des Ardys währte 49 Jahre lang, dann übernahm Sadyattes, der Sohn des Ardys, die Herrschaft und regierte 12 Jahre; der Sohn des Sadyattes aber war Alyattes. (2) Dieser führte mit Kyaxares, einem Nachkommen des Deiokes, und mit den Medern Krieg,16 vertrieb die Kimmerier aus Asien, eroberte Smyrna, das von den Kolophoniern gegründet worden war, und fiel in Klazomenai ein. Von dort zog er sich allerdings nicht so zurück, wie er gewollt hätte, sondern erst nach einer schweren Niederlage. Er vollbrachte während seiner Regierungszeit noch andere Leistungen, unter denen folgende besonders erwähnenswert sind:

17 (1) Er bekriegte die Milesier,17 da er den Krieg mit ihnen von seinem Vater geerbt hatte. Wenn er angriff, ging er bei der Belagerung Milets folgendermaßen vor: Wo immer eine reife Ernte auf den Feldern stand, ließ er das Heer einfallen. Er führte seinen Kriegszug begleitet vom Klang der Syringen, lydischen Harfen und des weiblichen und männlichen Aulos.18(2) Im Gebiet von Milet angekommen, ließ er die Häuser auf dem Land weder abreißen noch anzünden oder deren Türen aufbrechen, vielmehr ließ er alles unversehrt stehen. Er verwüstete aber die Bäume und die Ernte auf den Feldern und zog sich dann wieder zurück. (3) Die Milesier beherrschten nämlich das Meer, so dass eine Belagerung für das Heer keinen Sinn [14]hatte. Die Häuser ließ der Lyder deshalb nicht einreißen, damit die Milesier von dort aus das Land bestellen und bearbeiten könnten, er selbst aber, wenn sie die Felder bestellten, bei einem Einfall wieder etwas plündern könne.

18 (1) Auf diese Weise führte er elf Jahre lang Krieg, eine Zeit, in der die Milesier zwei große Niederlagen hinnehmen mussten, nämlich als sie in Limeneion in ihrem eigenen Land kämpften und in der Ebene des Mäander. (2) {Sechs von diesen elf Jahren also herrschte Sadyattes, der Sohn des Ardys, über die Lyder, der während dieser Zeit dann auch das Heer in das Gebiet von Milet einfallen ließ. Dieser [Sadyattes] war es auch, der den Krieg begonnen hatte. Während der fünf Jahre, die diesen sechs folgten, führte den Krieg Alyattes, der Sohn des Sadyattes, der – wie ich bereits erwähnt habe19 – den Krieg vom Vater übernommen hatte und mit großem Einsatz fortsetzte.} (3) Die Milesier fanden in diesem Krieg keine Unterstützung vonseiten der Ionier außer durch die Einwohner der Insel Chios. Diese halfen als Gegenleistung für empfangene Hilfe; früher nämlich hatten die Milesier den Chiern im Krieg gegen die Einwohner von Eretria bis zum Ende beigestanden.

19 (1) Im zwölften Jahr jedoch ereignete sich Folgendes, als das Heer die Saat verbrannte: Sobald die Saat vom Feuer erfasst war, griff dieses, vom Wind angefacht, auf einen Tempel der Athene mit dem Beinamen Assesia über, der Tempel aber brannte nieder, nachdem er Feuer gefangen hatte. (2) Zunächst wurde darum kein Aufheben gemacht, nach der Rückkehr des Heeres nach Sardes jedoch erkrankte Alyattes. Als sich die Krankheit in die Länge zog, schickte er Gesandte nach Delphi, um das Orakel zu befragen – sei es, dass ihm jemand dazu geraten hatte, sei es, dass es sein eigener Entschluss war, Gesandte zu schicken und den Gott wegen der Krankheit zu befragen. (3) Die Pythia aber sagte den Gesandten nach ihrer Ankunft in Delphi, sie würde ihnen kein Orakel geben, bevor sie nicht den [15]Athenetempel wieder aufgebaut hätten, den sie im Gebiet von Milet in Assesos niedergebrannt hätten.

20 Dass es so geschehen ist, weiß ich, weil ich es von den Delphern selbst gehört habe. Die Milesier fügen diesen Berichten noch hinzu, Periandros, der Sohn des Kypselos, der mit Thrasybulos, dem damaligen tyrannos von Milet, eng befreundet war, habe, als er vom Orakelspruch für Alyattes erfahren hatte, einen Boten geschickt und ihm den Orakelspruch mitteilen lassen, damit er schon vorher Kenntnis davon erhalte und der Lage entsprechend einen richtigen Entschluss fassen könne.

21 (1) So soll es sich nach Aussagen der Milesier zugetragen haben. Alyattes aber schickte sofort einen Boten nach Milet, als er die Nachricht erhalten hatte, da er während der Wiederherstellung des Tempels einen Waffenstillstand mit Thrasybulos und den Milesiern schließen wollte. Der Bote kam nach Milet, Thrasybulos aber, der die ganze Angelegenheit ja schon vorher erfahren hatte und wusste, was Alyattes beabsichtigte, dachte sich Folgendes aus: (2) Er ließ alle in der Stadt vorhandenen Speisen, sowohl seine eigenen als auch die der Bürger, auf der agora zusammentragen und gab den Milesiern die Anweisung, sie sollten alle auf sein Zeichen hin miteinander trinken und ein Festessen veranstalten.

22 (1) Der Grund für dieses Vorgehen und für diese Anordnung des Thrasybulos war folgender: Der Gesandte aus Sardes sollte einen großen Haufen Korn aufgeschüttet und die Menschen in Wohlleben sehen und davon dem Alyattes Bericht erstatten. (2) Das geschah dann auch. Als der Gesandte nämlich jene Vorgänge beobachtet, dem Thrasybulos die Aufträge des Lyders überbracht hatte und nach Sardes zurückgekehrt war, fand aus keinem anderen Grund eine Versöhnung statt, wie ich erfahren habe. (3) Während Alyattes nämlich gehofft hatte, in Milet herrsche großer Mangel an Lebensmitteln und das Volk [16]befinde sich in größter Not, vernahm er nun von dem Gesandten nach dessen Rückkehr aus Milet das Gegenteil von dem, was er erwartet hatte. (4) Daraufhin kam also zwischen beiden eine Versöhnung zustande unter der Bedingung, dass sie einander Freund und Bundesgenosse sein wollten. Alyattes ließ in Assesos statt eines Tempels zwei für Athene erbauen und genas selbst bald wieder von seiner Krankheit. So ist es dem Alyattes im Krieg gegen die Milesier und Thrasybulos ergangen.

23 Periandros, der Mann, der dem Thrasybulos den Orakelspruch mitgeteilt hatte, war ein Sohn des Kypselos. Periandros war tyrannos von Korinth. Ihm widerfuhr, wie die Korinther erzählen – darin stimmen die Lesbier mit ihnen überein – während seines Lebens eine äußerst merkwürdige Geschichte: Arion aus Methymna sei auf einem Delphin nach Tainaron gebracht worden, der Kitharöde20, der keinem seiner Zeitgenossen nachstand, und habe als erster Mensch, soweit wir wissen, einen Dithyrambos21 gedichtet, ihm diesen Namen gegeben und in Korinth vorgetragen.

24 (1) Dieser Arion habe – so heißt es – den größten Teil seiner Zeit bei Periandros verbracht, dann aber den Wunsch verspürt, nach Unteritalien und Sizilien zu reisen; er habe, als er viel Geld verdient hatte, wieder nach Korinth zurückkehren wollen. (2) Er sei also von Tarent aufgebrochen und habe ein Schiff mit korinthischer Besatzung gemietet, da er niemandem mehr Vertrauen schenkte als den Korinthern. Diese jedoch hätten auf See den hinterhältigen Plan gefasst, Arion über Bord zu werfen und somit in den Besitz seines Geldes zu kommen. Arion habe die Absicht der Leute erkannt und um Gnade gefleht, indem er ihnen sein Geld überlassen wollte, aber um sein Leben bat. (3) Er habe sie freilich nicht dazu überreden können, vielmehr hätten die Seeleute ihm befohlen, entweder sich selbst zu töten, um eine Bestattung am Land zu erhalten, oder [17]möglichst schnell ins Meer zu springen. (4) Da sie es nun so wollten, habe Arion in seiner großen Not darum gebeten, ihm wenigstens zuzugestehen, in vollem Ornat auf der Ruderbank stehend zu singen. Nach seinem Gesang, so versprach er, werde er sich töten. (5) Die Leute hätten sich gefreut, dass sie den besten Sänger unter den Menschen hören würden, und hätten sich vom Heck des Schiffes zur Mitte zurückgezogen. Arion aber habe seinen vollen Ornat angelegt, zur Kithara gegriffen, habe sich auf die Ruderbank gestellt, die Hohe Weise22 gesungen und sich nach dem Ende der Weise, so wie er war – in vollem Sängerschmuck –, ins Meer gestürzt. (6) Die Seeleute seien nach Korinth gefahren, den Arion aber habe ein Delphin aufgegriffen und nach Tainaron gebracht. Er sei an Land gegangen, in seinem Ornat nach Korinth gekommen und habe nach seiner Ankunft die ganze Geschichte erzählt. (7) Periandros aber habe Arion nicht geglaubt und ihn deshalb in Haft genommen, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, irgendwohin zu gehen; auf die Seeleute habe er ein Auge gehabt. Nach deren Ankunft habe er sie zu sich rufen lassen und nachgefragt, ob sie etwas über Arion berichten könnten. Jene hätten geantwortet, er befinde sich heil und unversehrt in Unteritalien und sie hätten ihn wohlbehalten in Tarent zurückgelassen. Da aber habe sich Arion ihnen gezeigt, so wie er vom Schiff gesprungen war. Sie seien sehr erschrocken und hätten, da sie überführt waren, das Vorgefallene nicht mehr leugnen können. (8) So erzählen es die Korinther und Lesbier, und von Arion steht in Tainaron eine nicht allzu große Weihegabe: ein auf einem Delphin reitender Mensch.

25 (1) Als der Lyder Alyattes den Krieg gegen die Milesier beendet hatte, starb er nach einer Regierungszeit von 57 Jahren. (2) Er schickte als Zweiter in dieser Familie, nachdem er von seiner Krankheit genesen war, einen großen silbernen Mischkrug als Weihegabe nach Delphi sowie einen geschweißten [18]Untersatz aus Eisen, unter allen Weihegaben in Delphi besonders sehenswert: ein Werk des Glaukos aus Chios, der bekanntlich als Einziger von allen Menschen die Kunst des Schweißens von Eisen herausgefunden hatte.

26 (1) Nach dem Tod des Alyattes übernahm Kroisos,23 der Sohn des Alyattes, im Alter von 35 Jahren die Königsherrschaft. Sein erster Angriff gegen die Griechen richtete sich gegen die Epheser. (2) Damals weihten die Epheser während der Belagerung durch Kroisos ihre Stadt der Artemis, nachdem sie ein Seil vom Tempel aus bis zur Stadtmauer gespannt hatten. Die Entfernung zwischen der alten Stadt, die damals belagert wurde, und dem Tempel beträgt 7 Stadien. (3) Zuerst griff Kroisos also die Epheser an, dann aber der Reihe nach alle Ionier und Aioler, indem er jedem einen anderen Vorwurf machte; teils führte er dabei schwerwiegende Beschuldigungen an, wo er welche finden konnte, teils nur völlig belanglose.

27 (1) Nachdem er die Griechen in Asien unterworfen und zu einer Tributzahlung verpflichtet hatte, plante er den Bau von Schiffen und den Angriff gegen die Inselbewohner. (2) Als alles für den Schiffbau vorbereitet war, kam, wie es die einen erzählen, Bias aus Priëne24 nach Sardes – nach Aussagen anderer war es Pittakos aus Mytilene –, und auf die Frage des Kroisos, ob es irgendeine Neuigkeit aus Griechenland gebe, konnte er mit folgenden Worten den Kroisos vom Schiffbau abbringen: (3) »O König, die Inselbewohner kaufen eine unendlich große Anzahl von Pferden zusammen, da sie gegen Sardes und dich einen Feldzug planen.« Kroisos nahm an, er spreche die Wahrheit, und erwiderte deshalb: »Wenn doch die Götter den Inselbewohnern in den Sinn gäben, mit Pferden gegen die Söhne der Lyder in den Krieg zu ziehen!« (4) Der aber sei ihm ins Wort gefallen und habe gesagt: »O König, es scheint mir, du würdest sehr gerne die Inselbewohner mit Pferden auf dem Festland antreffen, und diese deine Hoffnung hat ihren guten [19]Grund. Was aber anderes hoffen die Inselbewohner deiner Meinung nach sehnlicher, sobald sie erfahren haben, dass du Schiffe für einen Angriff gegen sie erbauen willst, als die Lyder auf dem Meer anzutreffen, um an dir für die auf dem asiatischen Festland wohnenden Griechen, die du als Sklaven unterdrückt hältst, Rache zu nehmen?« (5) Kroisos habe sich über diese abschließenden Worte sehr gefreut und sich von ihnen überzeugen lassen, da sie ihm verständig zu sein schienen, und habe deshalb den Schiffbau einstellen lassen. So schloss er mit den ionischen Inselbewohnern einen Freundschaftsvertrag.

28 In der Folgezeit hatte Kroisos fast alle Bewohner diesseits des Halys-Flusses unterworfen. Abgesehen von den Kilikern und Lykiern hatte er nämlich alle unterjocht: die Lyder, Phryger, Myser, Mariandyner, Chalyber, Paphlagoner, Thraker, Thyner und Bithyner, Karer, Ionier, Dorer, Aioler und Pamphyler.

29 (1) Als Kroisos diese Stämme unterworfen und dem Lyderreich hinzugewonnen hatte, kamen aus Griechenland alle gelehrten Männer, die zu jener Zeit lebten, einer nach dem anderen, nach Sardes, das von Reichtum strotzte. So traf unter anderen auch Solon aus Athen25 ein, der den Athenern auf ihre Aufforderung hin Gesetze gegeben hatte und dann zehn Jahre auf Reisen gegangen war – hinausgesegelt war er angeblich, um die Welt zu sehen, in Wirklichkeit aber, um nicht gezwungen zu werden, eines der Gesetze, die er aufgestellt hatte, wieder aufzuheben. (2) Die Athener konnten dies selbst nämlich nicht tun. Sie waren durch große Eide verpflichtet, die Gesetze, die Solon ihnen gegeben hatte, zehn Jahre lang anzuwenden.

30 (1) Aus eben diesem Grund und um die Welt zu sehen, war Solon auf Reisen gegangen und zu Amasis nach Ägypten sowie nach Sardes zu Kroisos gekommen. Nach seiner Ankunft wurde er von Kroisos im Königspalast gastfreundlich aufgenommen. Am dritten oder vierten Tag danach führten [20]Diener des Kroisos auf dessen Geheiß Solon in den Schatzhäusern herum und zeigten ihm alles, was von Bedeutung und großem Wert war. (2) Als er alles betrachtet und begutachtet hatte, wie es ihm gerade gefiel, fragte ihn Kroisos Folgendes: »Gastfreund aus Athen, zu uns ist schon vielerlei Kunde über dich gelangt aufgrund deiner Weisheit und deiner weiten Reisen; es heißt, du wärest, da du wissbegierig bist, bereits in viele Länder gekommen, um sie zu erforschen. Nun also verspürte ich das Verlangen, dich zu fragen, ob du jemanden kennen gelernt hast, der am glücklichsten von allen Menschen ist.« (3) Kroisos stellte diese Frage, weil er erwartete, selbst der glücklichste Mensch zu sein. Solon aber antwortete, ohne zu schmeicheln, sondern wahrheitsgemäß: »O König, den Tellos aus Athen.« Kroisos wunderte sich sehr über diese Worte und fragte deshalb neugierig: (4) »Warum hältst du Tellos für den glücklichsten Menschen?« Solon erwiderte: »Tellos besaß, als die Verhältnisse der Stadt glücklich waren, vortreffliche Söhne, und er durfte erleben, wie sie alle wiederum Kinder hatten und alle am Leben blieben; ferner wurde ihm ein herrliches Lebensende zuteil, nachdem es ihm nach unseren Vorstellungen zu Lebzeiten gut ergangen war: (5) In einer Schlacht der Athener gegen ihre Nachbarn in Eleusis kämpfte er nämlich mit, schlug die Feinde in die Flucht und fand den Heldentod; die Athener bestatteten ihn auf Staatskosten eben dort, wo er gefallen war, und ehrten ihn sehr.«

31 (1) Solon hatte Kroisos gereizt, da er über das Schicksal des Tellos so viel Glückliches vorgebracht hatte; deshalb wollte dieser nun weiter wissen, wen er als Zweitglücklichsten nach jenem ansehe, in der Meinung, ganz gewiss den zweiten Rang einzunehmen. Der aber sagte: »Kleobis und Biton.« (2) Diese nämlich – sie stammten aus Argos – verfügten über einen ausreichenden Lebensunterhalt und außerdem über Körperkräfte folgender Art: Beide hatten Kampfpreise erhalten, und als – [21]wie man erzählt – die Argiver ein Hera-Fest veranstalteten, musste die Mutter der beiden unbedingt auf einem Gespann in das Heiligtum gebracht werden. Ihre Zugtiere waren aber nicht rechtzeitig vom Feld zurückgekommen. Da die Zeit drängte, spannten die jungen Männer sich selbst unter das Joch und zogen den Wagen; auf dem Wagen aber fuhr die Mutter. Nachdem sie 45 Stadien zurückgelegt hatten, kamen sie zum Heiligtum. (3) Als sie dies getan hatten und von der ganzen Festversammlung gesehen worden waren, fanden sie einen sehr schönen Tod, und die Gottheit offenbarte an ihnen, dass es für einen Menschen besser ist, tot zu sein als zu leben. Die Argiver nämlich umringten die jungen Männer und rühmten ihre Kraft, die Frauen aus Argos priesen ihre Mutter glücklich, was für Söhne sie doch habe. (4) Hocherfreut über die Tat und die rühmenden Worte, trat jene vor die Götterstatue und betete, die Göttin möge ihren beiden Söhnen, Kleobis und Biton, die sie sehr geehrt hatten, das Beste schenken, was ein Mensch erlangen könne. (5) Als sie nach dem Gebet geopfert und gespeist hatten, legten sich die jungen Männer im Tempelbezirk schlafen und wachten nicht mehr auf, sondern fanden auf diese Weise den Tod. Die Argiver ließen Statuen von ihnen anfertigen und stellten diese als Weihegaben in Delphi auf,26 da sie ihrer Meinung nach vortreffliche Menschen gewesen waren.

32 (1) Solon teilte diesen also den zweiten Rang an Glück zu, Kroisos aber sagte sehr aufgebracht: »Gastfreund aus Athen, gilt dir denn mein Glück so wenig, dass du mich nicht einmal auf die gleiche Stufe mit Privatleuten stellst?« Solon erwiderte: »Kroisos, du stellst diese Frage über das menschliche Schicksal mir, der ich weiß, dass das Göttliche voller Neid ist und gern Verwirrung stiftet. (2) In einem langen Leben muss man nämlich viel sehen, was man nicht will, und viel erleiden. Auf 70 Jahre setze ich die Grenze des menschlichen Lebens an. [22](3) Diese 70 Jahre ergeben 25 200 Tage, wenn es keine Schaltmonate gäbe. Wenn jedes zweite Jahr aber durch einen Monat verlängert werden soll, damit die Jahreszeiten an die richtige Stelle rücken,27 dann gibt es in 70 Jahren 35 Schaltmonate, das ergibt 1050 Tage aus diesen Monaten. (4) In all diesen Tagen während der 70 Jahre, 26 250 an der Zahl, bringt kein Tag genau das Gleiche wie der andere. So, Kroisos, ist der Mensch ganz Spielball des Schicksals. (5) Du scheinst mir sehr reich und Herrscher über viele Menschen zu sein. Jenes aber, wonach du mich fragst, kann ich dir nicht sagen, bevor ich nicht auch erfahren habe, dass du dein Leben gut zu Ende gebracht hast. Wer reich ist, ist nicht glücklicher als ein Mensch, der genug zum Leben für einen Tag hat, wenn ihm nicht auch das Glück zuteilwird, im Besitz aller Güter sein Leben gut zu beenden. Viele sehr reiche Menschen nämlich sind unglücklich, viele aber, die nur über einen bescheidenen Lebensunterhalt verfügen, sind glücklich. (6) Der sehr Reiche, aber Unglückliche, hat dem Glücklichen nur in zweierlei Hinsicht etwas voraus, während Letzterer dem Reichen und Unglücklichen in vielem etwas voraus hat. Der Reiche nämlich kann sich zwar besser jeden Wunsch erfüllen und großes Unglück, wenn es ihn trifft, leichter ertragen, jener aber ist dem Reichen in Folgendem überlegen: Er kann sich zwar nicht in gleicher Weise jeden Wunsch erfüllen und Unglück ertragen wie der Reiche, sein glückliches Schicksal hält dies aber von ihm fern, er bleibt unversehrt, ohne Krankheit, ohne Leid, hat treffliche Kinder und ein gutes Aussehen. (7) Wenn er dann außerdem noch ein schönes Lebensende findet, so ist dieser Mensch eben jener, nach dem du fragst, der es verdient, glücklich genannt zu werden. Vor dem Tod eines Menschen muss man sich aber mit seinem Urteil zurückhalten und darf ihn nicht glücklich, sondern nur vom Schicksal begünstigt nennen. (8) Dass einer, der ein Mensch ist, all diese Vorzüge in sich vereinigt, ist unmöglich; <doch> es kann sich ja auch kein Land ganz selbst versorgen, sondern hat zwar das eine, braucht aber das andere. Das beste Land ist das, das am meisten besitzt. So ist auch der Mensch als Einzelperson nicht autark. Das eine hat er, das andere braucht er. (9) Wer davon während seines ganzen Lebens am meisten hat und sein Leben glücklich beendet, der verdient es nach meinem Dafürhalten, König, glücklich genannt zu werden. Bei allem muss man nämlich darauf sehen, wie das Ende ist, denn vielen lässt die Gottheit Glück aufleuchten und richtet sie dann völlig zugrunde.«

33 Mit diesen Ausführungen redete er Kroisos nicht zu Gefallen, und Kroisos schickte ihn weg, ohne ihn eines weiteren Wortes zu würdigen, da er ihn für völlig unwissend hielt, weil jener gegenwärtige Güter für nichts erachtete und dazu aufforderte, bei jeder Sache auf das Ende zu schauen.

34 (1) Nach der Abreise Solons wurde Kroisos von einer schweren Rache des Gottes heimgesucht – wahrscheinlich, weil er sich für den glücklichsten aller Menschen gehalten hatte. Ihn überkam gleich nach dem Einschlafen ein Traum, der ihm die Wahrheit über das Leid, das seinen Sohn treffen sollte, offenbarte. (2) Kroisos hatte zwei Söhne. Einer von ihnen war behindert – er war nämlich stumm –, der andere übertraf seine Altersgenossen bei Weitem in allen Bereichen. Er hieß Atys. Der Traum offenbarte nun Kroisos, er werde diesen Atys verlieren, von einer eisernen Lanze getroffen. (3) Sobald er aufgewacht war und nachgedacht hatte, gab er seinem Sohn aus Angst vor der Erfüllung des Traums eine Frau, schickte ihn, der die Lyder gewöhnlich beim Feldzug anführte, überhaupt nicht mehr zu einer solchen Aufgabe hinaus, ließ Lanzen, Speere und alle derartigen Geräte, die die Menschen zum Krieg verwenden, aus den Männer-Sälen entfernen und in den Kammern zusammentragen,28 damit nicht irgendeine aufgehängte Waffe auf seinen Sohn falle.

[24]35 (1) Während der Hochzeitsfeierlichkeiten seines Sohnes kam nun ein Mann nach Sardes, der in Unheil verstrickt war, mit blutbefleckten Händen, von Abstammung ein Phryger aus königlichem Geschlecht. Dieser ging in den Palast des Kroisos und bat darum, nach den landesüblichen Gesetzen Reinigung zu erlangen; Kroisos gewährte ihm dies. (2) Das Reinigungsopfer der Lyder gleicht dem der Griechen. Nach Vollzug der Riten erkundigte sich Kroisos mit folgenden Worten danach, woher er komme und wer er sei: (3) »Mensch, wer bist du und aus welchem Teil Phrygiens kommst du, dass du dich an meinem Herd eingefunden hast? Welchen Mann oder welche Frau hast du getötet?« Der antwortete: »König, ich bin der Sohn des Gordias, der wiederum ein Sohn des Midas ist. Mein Name ist Adrastos. Ich habe versehentlich meinen Bruder getötet und bin nun hier, von meinem Vater verstoßen und aller Mittel beraubt.« (4) Kroisos erwiderte ihm Folgendes: »Du bist der Nachkomme befreundeter Männer und zu Freunden gekommen, wo du keinerlei Mangel leiden sollst, solange du bei uns bleibst. Es wird am besten für dich sein, wenn du dieses Unglück so leicht wie möglich erträgst.«

36 (1) Adrastos lebte also im Hause des Kroisos; zu derselben Zeit aber erschien im mysischen Olympos-Gebirge ein riesiger Eber. Dieser kam vom genannten Gebirge herab und zerstörte immer wieder die Saat der Myser; oft zogen die Myser gegen ihn aus, konnten ihm aber nichts anhaben, vielmehr mussten sie wiederholt Schaden durch den Eber erleiden. (2) Schließlich erschienen bei Kroisos Gesandte der Myser und sagten: »König, in unserem Land ist ein gewaltiger Eber aufgetaucht, der unsere Saat vernichtet. Trotz unserer Bemühungen können wir ihn nicht fangen. Nun bitten wir dich, deinen Sohn und ausgewählte junge Männer sowie Hunde mit uns auszuschicken, damit wir ihn aus dem Land vertreiben können.« (3) Sie brachten also diese Bitte vor, Kroisos aber dachte an den Traum und [25]entgegnete ihnen Folgendes: »Auf meinen Sohn müsst ihr verzichten. Ihn werde ich nicht mit euch ziehen lassen. Er ist jung verheiratet und hat anderes im Sinn. Ich will aber ausgewählte Lyder und das gesamte Jagdgefolge mit euch schicken und denen, die hinausziehen, auftragen, unter Einsatz all ihrer Kräfte mit euch zusammen das wilde Tier aus dem Land zu vertreiben.«

37 (1) Das war seine Antwort. Die Myser gaben sich damit zufrieden, da aber trat der Sohn des Kroisos hinzu, da er die Bitte der Myser vernommen hatte. Weil Kroisos sich weigerte, seinen Sohn mit ihnen ziehen zu lassen, sagte der junge Mann Folgendes zu ihm: (2) »Vater, früher war es für mich einmal das Schönste und Ehrenvollste, Ruhm zu erlangen, indem ich in den Krieg zog oder auf die Jagd ging. Jetzt aber hältst du mich von beidem ausgeschlossen, obwohl du doch an mir keine Feigheit oder Unentschlossenheit entdecken konntest. Mit welchen Augen muss man mich betrachten, wenn ich zur agora gehe oder von der agora komme? (3) Welche Meinung müssen die Bürger oder meine jungvermählte Frau von mir haben? Mit was für einem Mann wird sie glauben zusammenzuleben? Lass mich also entweder mit auf die Jagd gehen oder überzeuge mich mit einem guten Grund davon, dass es für mich besser ist, wenn es geschieht, wie du willst.«

38 (1) Kroisos gab folgende Antwort: »Mein Sohn, ich handle so nicht etwa, weil ich Feigheit oder etwas anderes Ehrenrühriges an dir bemerkt hätte; vielmehr erschien mir im Schlaf ein Traumgesicht, das prophezeite, du würdest nur kurze Zeit leben, da du durch eine eiserne Lanze umkommen würdest. (2) Wegen dieser Traumerscheinung habe ich deine Vermählung vorangetrieben, und deshalb auch lasse ich dich nicht zu diesen Unternehmungen ausziehen, weil ich darauf achte, dich, solange ich lebe, vor dem Tod zu bewahren. Du bist ja mein einziger Sohn. Der andere, der Behinderte, zählt nicht für mich.«

[26]39 (1) Der junge Mann aber entgegnete: »Es ist verzeihlich, Vater, wenn du solche Schutzmaßnahmen für mich ergreifst, nachdem du eine derartige Traumerscheinung hattest. Was du [an dem Traum] aber nicht verstehst, was dir vielmehr entgangen ist, das muss ich dir erklären dürfen. (2) Du sagst, der Traum habe kundgetan, ich würde durch eine eiserne Lanze sterben. Was für Hände hat denn ein Eber, was für eine eiserne Lanze, die du fürchtest? Wenn es geheißen hätte, ich würde durch einen Hauer umkommen oder durch irgendetwas anderes, was diesem gleicht, dann müsstest du tun, was du tust. Jetzt aber heißt es: durch eine Lanze. Da unser Kampf nicht gegen Männer gerichtet ist, lass mich ziehen.«

40 Kroisos erwiderte: »In gewisser Weise überzeugst du mich mit deiner Deutung des Traumes. Ich ändere also meine Meinung, da ich von dir überzeugt worden bin, und lasse dich auf die Jagd hinausziehen.«

41 (1) Nach diesen Worten ließ Kroisos den Phryger Adrastos rufen und sagte zu ihm, sobald er gekommen war: »Adrastos, ich habe dich, als du von einem schweren Unheil betroffen warst, das ich dir nicht zum Vorwurf mache, entsühnt, in mein Haus aufgenommen, und nun gewähre ich dir jeglichen Lebensunterhalt. (2) Jetzt also – du schuldest mir ja, da ich dir zuerst Gutes getan habe, eine Gegenleistung – wünsche ich, dass du den Schutz meines Sohnes übernimmst, wenn er zur Jagd aufbricht, damit unterwegs nicht irgendwelche Räuber auftauchen, um euch Schaden zuzufügen. (3) Außerdem musst auch du dorthin gehen, wo du durch Taten Ruhm erlangen kannst. Das nämlich ist eine Verpflichtung, die du geerbt hast, und du verfügst auch über die Kräfte dazu.«

42 (1) Adrastos antwortete: »Mein König, unter anderen Umständen würde ich nicht zu einem solchen Kampf ausziehen. Es gehört sich nämlich nicht, dass einer, der in ein derartiges Unheil verstrickt ist, sich Gleichaltrigen anschließt, auf die [27]noch kein Schatten gefallen ist; er darf nicht einmal den Wunsch dazu haben, und aus vielen Gründen hätte ich mich zurückgehalten. (2) Jetzt aber, da du mich bedrängst und ich dir gefällig sein muss – ich schulde dir ja eine Gegenleistung –, bin ich bereit, deinem Wunsch nachzukommen; sei also voller Zuversicht, dass dein Sohn, dessen Schutz ich übernehmen soll, dir – soweit es wenigstens von seinem Beschützer abhängt – unversehrt nach Hause zurückkehren wird.«

43 (1) Als dieser dem Kroisos so geantwortet hatte, zogen sie los, begleitet von ausgewählten jungen Männern und Hunden. Im Olympos-Gebirge angekommen, suchten sie das Tier, und als sie es gefunden und umstellt hatten, warfen sie ihre Speere. (2) Da schleudert der Gastfreund – eben jener, der vom Mord entsühnt worden war, mit Namen Adrastos – seinen Speer auf den Eber, verfehlt ihn und trifft stattdessen des Kroisos Sohn. (3) Dieser, von der Lanze getroffen, erfüllte die Prophezeiung des Traumes. Einer aber lief, um Kroisos das Vorgefallene zu melden; in Sardes angekommen, berichtete er ihm von dem Kampf und dem Tod des Sohnes.

44 (1) Kroisos war über den Tod seines Sohnes völlig verstört; als besonders schlimm jedoch empfand er es, dass ihn derjenige getötet hatte, den er selbst entsühnt hatte. (2) In seinem großen Schmerz rief er den Zeus Katharsios als Zeugen an für das Leid, das er durch den Gastfreund erfahren hatte; er rief ihn auch als <Zeus> Epistios und Hetaireios an, denselben Gott mit diesen beiden Beinamen: als Epistios, weil er, ohne es selbst zu merken, in dem Gast, den er in sein Haus aufgenommen hatte, den Mörder seines Sohnes beherbergte; als Hetaireios aber, <weil> der, den er als Hüter zum Geleit mitgeschickt hatte, sich ihm als schlimmster Feind erwiesen hatte.

45 (1) Daraufhin fanden sich die Lyder mit dem Leichnam ein, ihnen folgte der Mörder. Er stellte sich vor den Leichnam und lieferte sich dem Kroisos aus, wobei er ihm die Arme [28]entgegenstreckte und ihn aufforderte, ihn über dem Leichnam zu töten. Er wies auf sein früheres Unglück hin und darauf, dass er darüber hinaus den, der ihn doch entsühnt hat, vernichtet hatte und für ihn selbst das Leben nicht mehr lebenswert sei. (2) Als Kroisos diese Worte vernommen hatte, empfand er mit Adrastos Mitleid, und ungeachtet seines eigenen so großen Kummers sagte er zu ihm: »Ich habe von dir Genugtuung erhalten, da du dich selbst zum Tod verurteilst. Aber nicht du trägst in meinen Augen die Schuld an diesem Unglück – nur, insofern du es unabsichtlich herbeigeführt hast –, sondern einer der Götter, der mir schon längst prophezeit hat, was geschehen würde.« (3) Kroisos ließ nun seinen Sohn bestatten, wie es sich gehörte. Adrastos aber, Sohn des Gordios, Enkel des Midas – er, der zum Mörder seines eigenen Bruders geworden war, zum Mörder <des Sohnes> jenes Mannes, der ihn entsühnt hatte –, wurde sich, als es um das Grab ruhig geworden, bewusst, dass er der unglücklichste aller Menschen war, die er kannte, und tötete sich selbst am Grabhügel.

46 (1) Zwei Jahre lang verharrte Kroisos in tiefer Trauer, da er seines Sohnes beraubt worden war. Dann aber ließ Kroisos von seiner Trauer ab, denn die Vorherrschaft des Astyages, des Sohnes des Kyaxares, war von Kyros, dem Sohn des Kambyses, gestürzt worden,29 und die Macht der Perser war gewachsen; Kroisos überlegte, ob er der Machtzunahme der Perser entgegenwirken könne, bevor sie zu stark würden. (2) Entsprechend dieser seiner Absicht wollte er sogleich die Orakel bei den Griechen und das Orakel in Libyen erproben; er schickte seine Leute überallhin: Die einen sollten nach Delphi reisen, die anderen nach Abai bei den Phokern, wieder andere nach Dodona. Einige wurden zu Amphiareos und zu Trophonios, wieder andere zu den Branchidai im Gebiet von Milet gesandt.30(3) Das waren die griechischen Orakelstätten, zu denen Kroisos Boten schickte, um sich weissagen zu lassen. Einige entsandte er auch [29]zu Ammon in Libyen, damit sie sich ein Orakel geben ließen. Er schickte seine Boten an verschiedene Orte, da er die Orakel auf die Probe stellen wollte, was sie dächten, damit er, falls sie sich als wahrhaftig erwiesen, eine weitere Frage durch Boten an sie richten könnte, nämlich ob er einen Feldzug gegen die Perser unternehmen solle.

47 (1) Er entsandte also die Lyder mit folgendem Auftrag zur Erprobung der Orakel: Sie sollten vom Tag ihrer Abreise aus Sardes an die kommende Zeit genau berechnen und sich am 100. Tag mit der Anfrage an das Orakel wenden, was Kroisos, der König der Lyder, Sohn des Alyattes, gerade in diesem Moment tue. Sie sollten die Antwort des jeweiligen Orakels aufzeichnen und ihm überbringen. (2) Was die anderen Orakel kundtaten, wird nirgends berichtet. Als aber die Lyder in Delphi die heilige Halle betreten hatten, um sich vom Gott weissagen zu lassen, und als sie die ihnen aufgetragene Frage gestellt hatten, gab die Pythia in Hexametern31 folgende Antwort:

(3) Ich kenne die Zahl der Sandkörner und die Menge des Meeres,

ich verstehe den Stummen und höre den, der nichts sagt.

Den Duft der stark gepanzerten Schildkröte nahm ich wahr,

die gekocht wird im Bronzegeschirr zusammen mit Lammfleisch,

darunter ist Bronze gebreitet, Bronze liegt oben darauf.

48 (1) Die Lyder schrieben diese Worte auf, nachdem Pythia ihre Weissagung kundgetan hatte, und kehrten dann eilends nach Sardes zurück. Als sich auch die anderen, die ringsum ausgeschickt worden waren, mit ihren Orakelsprüchen einfanden, entfaltete Kroisos die einzelnen Schreiben und prüfte das Aufgezeichnete. Keiner der Sprüche sagte ihm zu. Als er [30]aber den Orakelspruch aus Delphi vernommen hatte, brachte er sofort seine Verehrung zum Ausdruck und nahm den Spruch an, da er zu der Überzeugung gelangt war, das Orakel in Delphi sei das einzig zuverlässige. Es hatte nämlich entdeckt, was er selbst getan hatte. (2) Nach der Aussendung der Boten zu den Orakelstätten hatte er sich Folgendes für den vereinbarten Termin ausgedacht: Er überlegte sich etwas, was herauszufinden und zu erraten unmöglich war, und zerhackte eine Schildkröte und ein Lamm, kochte es selbst zusammen in einem Bronzekessel, mit einem bronzenen Deckel zugedeckt.

49 Kroisos erhielt also aus Delphi diesen Orakelspruch. Welche Antwort das Orakel des Amphiareos den Lydern gab, als sie im Tempel die heiligen Riten vollzogen hatten, kann ich nicht sagen – auch dies wird nämlich nicht erzählt –, außer dass Kroisos auch dieses Orakel für zuverlässig gehalten habe.

50 (1) Dann flehte Kroisos mit großen Opfern den Gott in Delphi um Gnade an. Er ließ alle zum Opfer tauglichen Tiere – 3000 an der Zahl – opfern, vergoldete und versilberte Liegen, goldene Schalen, purpurne Gewänder und Mäntel ließ er zu einem großen Scheiterhaufen auftürmen und niederbrennen, in der Hoffnung, den Gott dadurch mehr für sich einzunehmen. Allen Lydern aber trug er auf, jeder solle von seinem Besitz opfern, was er könne. (2) Als das Opfer durchgeführt war, ließ Kroisos nach dem Einschmelzen von unermesslich viel Gold daraus Halbziegel32 herstellen, die größeren 6 Handbreit lang, die kürzeren 3, beide je 1 Handbreit hoch, 117 an der Zahl, darunter 4 aus reinem Gold, jeden mit einem Gewicht von 2 ½ Talenten, die anderen Barren aus legiertem Gold, jeweils mit einem Gewicht von 2 Talenten. (3) Er ließ ferner das Bildnis eines Löwen aus reinem Gold herstellen, 10 Talente schwer. Dieser Löwe stürzte, als der Tempel in Delphi abbrannte,33 von den Halbziegeln – auf diesen nämlich war er aufgestellt – und [31]befindet sich heute im Schatzhaus der Korinther, mit einem Gewicht von 6 ½ Talenten; 3 ½ Talente sind von ihm nämlich abgeschmolzen.

51 (1) Nach Fertigstellung dieser Geschenke schickte Kroisos sie nach Delphi und mit ihnen noch die folgenden anderen: zwei große Mischkrüge, einen aus Gold, einen aus Silber; der goldene befand sich auf der rechten Seite, wenn man den Tempel betrat, der silberne auf der linken. (2) Diese erhielten etwa zu der Zeit, als der Tempel abbrannte, einen anderen Standplatz, der goldene befindet sich nun im Schatzhaus der Klazomenier – er hat ein Gewicht von 8 ½ Talenten und 12 Minen –, der silberne befindet sich an der Ecke des Vortempels, mit einem Fassungsvermögen von 600 Amphoren. Am Fest der Theophania34 mischen die Delpher darin den Wein. (3) Die Delpher behaupten, die Mischkrüge seien ein Werk des Theodoros von Samos; diese Meinung teile auch ich, denn es scheint mir keine gewöhnliche Arbeit zu sein. Kroisos schickte auch vier silberne Vorratsgefäße, die im Schatzhaus der Korinther stehen, er ließ ferner zwei Weihwasserbecken aufstellen, eines aus Gold, eines aus Silber. Auf dem goldenen ist eine Inschrift angebracht, die besagt, es sei eine Weihegabe der Lakedaimonier; dies trifft aber nicht zu: (4) Tatsächlich ist es nämlich ein Geschenk des Kroisos; ein Delpher hat diese Inschrift angebracht, um den Lakedaimoniern einen Gefallen zu erweisen – ich kenne diesen Mann zwar, will aber seinen Namen nicht nennen. Der Knabe freilich, durch dessen Hand das Wasser fließt, stammt von den Lakedaimoniern, nicht aber die beiden Weihwasserbecken. (5) Noch viele andere Geschenke ohne Inschrift schickte Kroisos zusammen mit den erwähnten: runde silberne Kannen sowie das goldene Bildnis einer Frau, 3 Ellen hoch; dies sei, so behaupten die Delpher, das Bildnis der Brotbäckerin des Kroisos. Ferner ließ Kroisos auch den Halsschmuck und die Gürtel seiner Frau weihen.

[32]52 Das schickte er also nach Delphi; dem Amphiareos35 aber schenkte er, da er von seiner Tüchtigkeit und seinen Leiden erfahren hatte, einen Schild und eine Lanze, beides ganz aus Gold sowie einen Lanzenschaft und eine Spitze [ebenfalls] ganz aus Gold. Diese beiden Gaben befanden sich noch zu meiner Zeit in Theben – und zwar im Tempel des Apollon Ismenios der Thebaner.

53 (1) Den Lydern, die diese Geschenke zu den heiligen Stätten bringen sollten, trug Kroisos auf, das Orakel zu befragen, ob er einen Feldzug gegen die Perser unternehmen und ob er ein Heer von Verbündeten für sich gewinnen solle. (2) Am Ziel angekommen, stellten die Lyder die Weihegaben auf und befragten die Orakel mit folgenden Worten: »Kroisos, der König der Lyder und anderer Völker, hat euch, da er diese beiden Orakel als einzige auf der Welt für zuverlässig hält, Geschenke geschickt, als Anerkennung dafür, was ihr herausgefunden habt, und er lässt nun fragen, ob er gegen die Perser zu Felde ziehen soll und sich ein Heer als Bundesgenossen suchen soll.« (3) Sie stellten also diese Frage, die Antwort der beiden Orakel lief auf das Gleiche hinaus, nämlich Kroisos werde ein großes Reich zerstören, wenn er einen Feldzug gegen die Perser unternehme.36 Sie gaben den Rat, die Mächtigsten unter den Griechen zu finden und als Verbündete zu gewinnen.

54 (1) Als Kroisos das Ergebnis der Orakelbefragung erfuhr, freute er sich sehr über die Orakelsprüche, voller Erwartung, er werde das Königreich des Kyros zerstören. Er schickte wiederum eine Gesandtschaft nach Pytho (Delphi) und beschenkte die Delpher, nachdem er ihre Zahl in Erfahrung gebracht hatte, jeden Mann mit 2 Gold-Stateren. (2) Als Gegengabe gewährten die Delpher Kroisos und den Lydern Promantie, Atelie und Prohedrie37 sowie die Möglichkeit für jeden von ihnen, wer immer es wollte, Bürger von Delphi für alle Zeit zu werden.

[33]55 (1) Nachdem Kroisos die Delpher beschenkt hatte, ließ er sich ein drittes Mal ein Orakel geben. Da er die Zuverlässigkeit des Orakels erfahren hatte, bediente er sich dessen im Übermaß. Er befragte das Orakel nun, ob seine Herrschaft lange währen würde. Die Pythia aber gab ihm folgende Antwort:

(2) Wenn ein Maulesel König der Meder wird,

dann, zartfüßiger Lyder38, musst zum Hermos mit den vielen Steinen

du fliehen und nicht zögern, dich auch nicht scheuen, feige zu sein.

56 (1) Kroisos freute sich über diese Worte, als sie ihn erreichten, am allermeisten, da er glaubte, niemals werde ein Maulesel statt eines Mannes König der Meder sein – und weder er selbst noch seine Nachkommen würden je die Herrschaft verlieren.39

Dann bemühte er sich zu erkunden, welche Griechen die mächtigsten seien,40 um sie als Freunde zu gewinnen. (2) Bei seinen Erkundungen fand er heraus, dass die Lakedaimonier und Athener besonders mächtig waren, Erstere von dorischer, Letztere von ionischer Abstammung. Das waren besonders ausgezeichnete Stämme, der eine immer schon pelasgisch,41 der andere griechisch. Der eine hatte nämlich niemals seine Heimat verlassen, der andere war sehr weit herumgekommen. (3) Zur Zeit des Königs Deukalion bewohnte Letzterer das Land Phthiotis, unter Doros, dem Sohn des Hellen, das Land am Fuß des Ossa und Olymp, die sogenannte Histiaiotis. Aus der Histiaiotis von den Kadmeiern vertrieben, bewohnte er im Pindos das sogenannte Makednon. Von dort übersiedelte er nach Dryopis, und als er von Dryopis auf die Peloponnes gekommen war, hieß er der dorische Stamm.

[34]57 (1) Welche Sprache die Pelasger hatten, kann ich nicht genau sagen. Wenn man Aussagen machen darf, indem man sich nach den heute noch lebenden Pelasgern richtet, die oberhalb der Tyrsener (Etrusker) die Stadt Kreston bewohnen, einst Grenznachbarn der heute sogenannten Dorer – sie bewohnten damals nämlich das heute Thessaliotis genannte Gebiet –, (2) und nach den Pelasgern, die Plakia und Skylake am Hellespont bewohnten und sich wiederum mit den Athenern zusammengeschlossen hatten [und nach allen pelasgischen Siedlungen, die ihren Namen geändert haben], wenn man daraus also Schlüsse ziehen kann und Angaben machen darf, dann hatten die Pelasger eine nichtgriechische Sprache. (3) Wenn dies also für den ganzen pelasgischen Stamm zutraf, dann hat der attische Stamm, der ein pelasgischer ist, zugleich mit der Umsiedelung ins Land der Griechen deren Sprache angenommen. Weder haben nämlich die Einwohner von Kreston die gleiche Sprache wie irgendeines der umwohnenden Völker noch die Einwohner von Plakia, die die gleiche Sprache wie die Krestonauier sprechen. Sie zeigen damit, dass sie bei der Umsiedelung an diese Orte den Charakter ihrer Sprache bewahrten, den sie mitgebracht hatten.

58 Das griechische Volk aber spricht seit seinem Auftreten, wie mir scheint, ununterbrochen die gleiche Sprache. Obwohl es ohne den pelasgischen Stamm schwach war, wuchs es, von kleinen Anfängen ausgehend, zu einer Fülle [von Stämmen] heran, in erster Linie durch das Hinzukommen <der Pelasger> und zahlreicher anderer nichtgriechischer Stämme. Im Gegensatz dazu scheint mir der pelasgische Volksstamm, der nichtgriechisch ist, keineswegs sehr gewachsen zu sein.

59 (1) Kroisos brachte also in Erfahrung, dass unter diesen Volksstämmen der attische von Peisistratos, dem Sohn des Hippokrates, der zu jener Zeit tyrannos von Athen war,42 unterdrückt und gespalten wurde. Hippokrates erlebte, als er [35]noch Privatmann und Zuschauer bei den Olympischen Spielen war, ein großes Wunder. Nachdem er seine Opfer dargebracht hatte, begannen die bereitstehenden Opferkessel, gefüllt mit Fleisch und Wasser, ohne Feuer zu kochen und überzulaufen. (2) Der Lakedaimonier Chilon, der zufällig anwesend war und das Wunder gesehen hatte, riet dem Hippokrates zunächst, keine Frau zu heiraten, die ein Kind gebären könne; sollte er aber bereits eine Frau haben, so solle er diese wegschicken, und sollte er schon ein Kind haben, dieses verstoßen. (3) Hippokrates habe diesen Ermahnungen des Chilon nicht Folge leisten wollen. Da sei ihm also der besagte Peisistratos geboren worden, der während einer stasis zwischen den an der Küste und den im Binnenland lebenden Athenern – den einen unter Führung des Megakles, des Sohnes des Alkmeon, den anderen aus dem Binnenland unter Führung des Lykurgos, des Sohnes des Aristolaïdes – eine dritte stasis(-Gruppe) um sich scharte, mit dem Ziel, die tyrannis zu gewinnen, dann die stasis-Genossen versammelte und vorgab, die Führung der Bergbewohner zu übernehmen, und sich darauf Folgendes ausdachte: (4) Er fügte sich selbst und seinen Maultieren eine Verletzung zu, trieb das Gespann dann auf die agora, ganz so, als ob er den Feinden entkommen wäre, die ihn angeblich hatten töten wollen, als er auf das Feld fuhr; er bat das Volk, ihm eine Leibwache zu stellen, da er schon früher in einem Feldzug gegen die Megarer zu Ruhm gekommen war, da er Nisaia eingenommen und andere große Taten vollbracht hatte. (5) Das Volk der Athener ließ sich täuschen, wählte aus den Bürgern 30 Männer aus, die allerdings nicht Speerträger, sondern Keulenträger des Peisistratos wurden, und stellte sie ihm zur Verfügung. Bewaffnet nämlich mit hölzernen Keulen, gaben sie ihm Geleit. (6) Diese machten zusammen mit Peisistratos einen Aufstand und besetzten die Akropolis. Von da an herrschte Peisistratos über die Athener, ohne aber die bestehenden Ämter zu beseitigen oder die [36]Gesetze zu ändern; mit Hilfe des Bestehenden regierte er die Stadt in vortrefflicher Ordnung.

60 (1) Nicht lange danach jedoch verständigten sich die stasis-Genossen des Megakles und des Lykurgos und vertrieben ihn. So gewann Peisistratos zunächst die tyrannis über Athen und verlor sie dann wieder, da er sie noch nicht fest hatte verwurzeln können; jene aber, die den Peisistratos vertrieben hatten, gerieten erneut in eine stasis gegeneinander. (2) Megakles, durch die stasis in die Enge getrieben, ließ bei Peisistratos anfragen, ob dieser seine Tochter zur Frau nehmen wolle, um die tyrannis zu erlangen. (3) Als Peisistratos den Vorschlag angenommen und diesen Bedingungen zugestimmt hatte, ersannen sie zur Rückführung des Peisistratos eine meines Erachtens sehr dumme List – seit alters hat sich zwar das griechische Volk von Nichtgriechen dadurch unterschieden, dass es klüger und gegen einfältige Dummheit mehr gefeit war; dennoch dachten sie sich damals bei den Athenern, die unter den Griechen als die Klügsten gelten, Folgendes aus: (4) Im Demos43 Paiania lebte eine Frau namens Phye; sie war groß – 3 Fingerbreit weniger als 4 Ellen – und auch sonst gut aussehend. Diese Frau statteten sie mit einer vollen Rüstung aus, ließen sie einen Wagen besteigen, zeigten sie in einer Aufmachung, in der sie am vorteilhaftesten zur Geltung kommen würde, und fuhren sie dann in die Stadt, nachdem sie Herolde als Vorboten vorausgeschickt hatten, die bei ihrer Ankunft in der Stadt immer wieder laut verkündeten, was ihnen aufgetragen war, nämlich: (5) »Athener, nehmt den Peisistratos wohlwollend auf, den Athene selbst am meisten unter den Menschen geschätzt hat und deshalb auf ihre Akropolis zurückführt.« Das also verkündeten sie, indem sie überall herumliefen; sofort aber verbreitete sich die Kunde in den Demen, Athene führe Peisistratos zurück – und die Menschen in der Stadt, überzeugt, die Frau sei die Göttin [37]selbst, beteten dieses weibliche Wesen an und nahmen Peisistratos auf.

61 (1) Nachdem Peisistratos die tyrannis – wie beschrieben – zurückerhalten hatte, heiratete er gemäß der Vereinbarung mit Megakles dessen Tochter. Da er aber bereits junge Söhne hatte und die Alkmeoniden als fluchbeladen galten, wollte er von seiner neuvermählten Frau keine Kinder und verkehrte mit ihr nicht so, wie es sich gehört hätte. (2) Zunächst hielt seine Frau dies geheim, später aber erzählte sie es ihrer Mutter – sei es, dass diese nachfragte oder nicht –, und diese teilte es wiederum ihrem Mann mit. Ihn jedoch traf es sehr, von Peisistratos missachtet zu werden. In seinem Zorn versöhnte er sich mit den Aufständischen. Als Peisistratos erfahren hatte, dass man gegen ihn etwas im Schilde führe, verließ er sein Land mit seiner ganzen Anhängerschaft und beriet sich, in Eretria angekommen, mit seinen Söhnen. (3) Hippias setzte sich mit seiner Ansicht durch, man solle die tyrannis wiedergewinnen, und deshalb sammelten sie dann in den Städten, die ihnen irgendwie Dank schuldeten, Spenden. Viele machten große Geldgeschenke, die Thebaner aber übertrafen durch ihre Spende alle anderen. (4) Danach, um mich kurz zu fassen, verstrich eine geraume Zeit, und sie hatten alles für ihre Rückkehr vorbereitet. Von der Peloponnes kamen die Argiver als Söldner, und ein Mann aus Naxos namens Lygdamis, der als Freiwilliger zu ihnen gestoßen war, zeigte sehr großen Einsatz und brachte Geld und Leute mit.

62 (1)