Hitler auf dem Rütli - Charles Lewinsky - E-Book

Hitler auf dem Rütli E-Book

Charles Lewinsky

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Beschreibung

Die Hitler-Truppen marschieren in die Schweiz ein. Trotz tapferer Gegenwehr muss die Armee nach wenigen Tagen kapitulieren. Die Igelstellung wird überrollt. Der Bundesrat geht ins Exil. Der »Gau Schweiz« wird dem Dritten Reich angegliedert. Es gibt keinen »Sonderfall Schweiz« mehr. Schweizerinnen und Schweizer erzählen von ihren Erlebnissen und Erfahrungen aus schwerer Zeit. Sie berichten von Faschisten und Partisanen, von offenem Verrat und stillem Widerstand, von den Profiteuren der »Neuen Ordnung« und deren Opfern. Der Bankprokurist, die Fabrikbesitzerin, der Widerstandskämpfer, der Bundesratsweibel, der Koch im KZ Wauwilermoos - ihre Geschichten sind beklemmende Momentaufnahmen der Eidgenossenschaft unter fremder Besatzung.

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Über dieses Buch

Am 10. Mai 1940 beginnt ein Alptraum unserer Geschichte: Die Hitler-Truppen marschieren in die Schweiz ein. Trotz tapferer Gegenwehr muss die Armee nach wenigen Tagen kapitulieren. Die Igelstellung wird überrollt. Der Bundesrat geht ins Exil. Der »Gau Schweiz« wird dem Dritten Reich angegliedert. Es gibt keinen »Sonderfall Schweiz« mehr.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Charles Lewinsky (*1946) studierte Theaterwissenschaft und Germanistik. Er arbeitete als Dramaturg, Regisseur und Fernsehredakteur, seit 1980 ist er freier Autor. Er lebt in Frankreich und der Schweiz.

Zur Webseite von Charles Lewinsky.

Doris Morf (1927–2003) studierte Germanistik, Geschichte und Journalistik, war Amerika-Korrespondentin verschiedener Schweizer Zeitungen, veröffentlichte Romane, Kurzgeschichten und Kinderbücher und schrieb mehrere Fernsehspiele. Außerdem war sie Mitglied des Schweizer Nationalrats.

Zur Webseite von Doris Morf.

Josef Wandeler (*1949) studierte Geschichte und Philosophie. Seine Promotion verfasste er über die Kommunistische Partei der Schweiz in den Dreißigerjahren. Er arbeitet als Bibliothekar an der Universität Zürich.

Zur Webseite von Josef Wandeler.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Englische Broschur, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Charles Lewinsky, Doris Morf

Hitler auf dem Rütli

Protokolle einer verdrängten Zeit

Herausgegeben und mit historischen Anmerkungen versehen von Josef Wandeler

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: RDZ

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30253-2

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Version vom 26.06.2024, 04:39h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

HITLER AUF DEM RÜTLI

Zur NeuausgabeVorwortÜbersichtskarteZeittafelDie Serviertochter an der SchlachtfeierZuflucht in der SynagogeDie MansardeSchwarzer Filz und blaue BirnenEntartete MusikDie Rede des BundesratsLäuchlis KollegeTriumphfahrt durch die BahnhofstrasseSchabziger-SchottischEin nichtarischer BeamterDrei BackfischePogrom in DavosGeheimtreff im LanddienstLaufbahn bei der PolizeiGeschichte eines BankkontosSport und Fairness auf dem DolderDie AnbauschlachtDas HakenkreuzkalbHitler auf dem RütliTaxifahrer und BarmaidDie FernheiratDas LagerorchesterSündenbock für ein DorfDer WortesammlerHornußen auf der AllmendGroßmutters HamsterfahrtDie ewigen WerteStuder, das ArschlochDie Geiselerschießung von BernZwei MutterkreuzeDer beste Jasser vom WauwilermoosSchweizer Helden an der OstfrontDie BeitragslückeTodesfall in ObergösgenChriesiprägel mit VanillesauceGustav aus DresdenDie Schachspieler vom RöntgenplatzSchüsse vor der BackstubeDie eingeschmolzenen KirchenglockenDer Mann mit dem HundFliegeralarm in BaselSilberlöffel im SimmentalDas Album des KellnersSirenen vom MunotEine Katze namens AdolfSchachtelkäsli im ReduitEin Fremder auf dem DorfplatzDie Befreiung von BernNachweis

Abbildungsverzeichnis

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Über Charles Lewinsky

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Zur Neuausgabe

Als meine viel zu früh verstorbene Kollegin Doris Morf und ich uns vor dreißig Jahren daranmachten, ältere Menschen nach ihren persönlichen Erlebnissen während der deutschen Besetzung unseres Landes zu befragen, da war der Bergier-Bericht noch nicht erschienen und das Selbstbild der Schweiz als unschuldiges Opfer nationalsozialistischer Aggression noch durch nichts erschüttert. Man wollte sich – wie es auch heute noch vereinzelt der Fall ist – an die Jahre zwischen 1940 und 1945 am liebsten überhaupt nicht erinnern und schon gar nicht darüber sprechen. Auf unserer Suche nach auskunftswilligen Gesprächspartnern stießen wir damals oft auf schroffe Ablehnung, und es brauchte eine Menge Überzeugungsarbeit, bevor wir uns ans Protokollieren der Geschichten aus einer verdrängten Zeit machen konnten.

Drei Jahrzehnte später, zu einem Zeitpunkt, wo sich die Schweiz darauf vorbereitet, die 70. Wiederkehr der Neuproklamation der Eidgenossenschaft am 27. April 1945 würdig zu begehen, scheint es angebracht, diese Erinnerungen dem Lesepublikum noch einmal vorzulegen. Von unseren Auskunftspersonen, von denen schon damals die meisten im AHV-Alter waren, ist kaum mehr jemand am Leben, und die jüngste Generation von Schweizerinnen und Schweizern hat keine Möglichkeit mehr, sich aus erster Hand über eine Zeit zu informieren, in der Negatives und Positives, Kollaboration und Widerstand so eng verzahnt nebeneinander existierten, dass jedes pauschalisierende Urteil über jene düstere Ära notwendigerweise falsch sein muss.

Seit das Buch zum ersten Mal erschien, hat sich unsere Haltung zur traurigsten Periode der eidgenössischen Geschichte in einzelnen Punkten verändert. Aber die Zielsetzung, die Doris Morf und ich damals formulierten, scheint mir, wo die direkten Erinnerungen immer mehr verblassen, heute so wichtig zu sein wie damals: die große Geschichte durch die Geschichten des »kleinen Mannes« lebendig und nachvollziehbar zu machen.

Für die Neuauflage wurden an den Berichten, die wir damals gesammelt haben, keine Änderungen vorgenommen. Das gilt auch für jene Fälle, wo historische Ereignisse offensichtlich falsch dargestellt werden. Historische Werke über die Zeit des Anschlusses an das Dritte Reich gibt es genügend; Hitler auf dem Rütli soll zeigen, wie einzelne Menschen diese Zeit erlebt haben – oder wie sie sich im Nachhinein zu erinnern glaubten, sie erlebt zu haben.

Frühjahr 2014Charles Lewinsky

Vorwort

In fast jeder Gemeinde der Schweiz findet in den nächsten Monaten eine Feier statt. Beginnend in Genf und allmählich über das ganze Land sich ausdehnend, werden die Ansprachen, Gedenkstunden und Kranzniederlegungen in ihrer zeitlichen und geografischen Abfolge getreulich den Ablauf der Ereignisse vor vierzig Jahren widerspiegeln – den allmählichen Vormarsch der amerikanischen Streitkräfte und der schweizerischen Verbände unter General Guisan, die unser Land von der Herrschaft des Nationalsozialismus befreiten.

Und nur zwei Wochen nach der festlichen Erinnerung an die Neuproklamation der Eidgenossenschaft am 27. April wird am 10. Mai feierlich des Tages gedacht, an dem vor 45 Jahren die deutsche Wehrmacht in unser Land eindrang.

Diese Ballung von Gedenktagen birgt gleichzeitig eine Gefahr und eine Chance in sich: Die Gefahr, den Blick auf unsere Geschichte unter einem Wust von großen, heroischen Worten zu verlieren, und die Chance, uns wirklich zu erinnern und durch das Erinnern mit unserer Vergangenheit besser fertig zu werden.

Hitler auf dem Rütli will ein Beitrag zu dieser Erinnerungsarbeit sein. Es will – als Gegengewicht zur Rhetorik der offiziellen Ansprachen – Materialien liefern zu einer Geschichte von unten, zur Geschichte des oft zitierten, aber selten direkt befragten »kleinen Mannes«.

Wie hat der Durchschnittsbürger die Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft in der Schweiz erlebt? Wie gestaltete sich der Alltag der Schweizer?

Die Generation, die darüber aus eigener Anschauung berichten kann, ist heute im AHV-Alter. Meiner Kollegin Doris Morf, die sich von meiner Begeisterung für dieses Projekt hatte anstecken lassen, und mir war klar: Wenn wir unsere Fragen beantwortet haben wollten, mussten wir sie jetzt stellen.

In einer langen Reihe von Interviews haben wir unseren Gesprächspartnern die Frage gestellt: »Was war Ihr wichtigstes Erlebnis in jenen Jahren?« Wir wollten Geschichten sammeln, in der Hoffnung, damit am besten Geschichte schreiben zu können.

Wir haben uns bemüht, die Antworten so wortgetreu und unverfälscht wie möglich festzuhalten.

Für die Zusammenstellung der folgenden Zeittafel haben wir Dr. Josef Wandeler, Zürich, zu danken.

Zürich, im Juni 1984

Charles Lewinsky

Übersichtskarte

Die Schweiz 1940 bis 1944

Die Aufteilung der Schweiz erfolgte entlang der Sprachgrenzen. Als »Reichsgau Schweiz« ins Großdeutsche Reich eingegliedert wurden alle Deutschschweizer Kantone (inkl. Berner Jura) und der ehemals preußische Kanton Neuenburg. Die zweisprachigen Kantone Freiburg und Wallis wurden geteilt: Die deutschsprachigen Teile gehörten zum Reichsgau, die welschen Teile bildeten zusammen mit den Kantonen Genf und Waadt das Protektorat. Der Kanton Tessin und die italienischsprachigen Teile Graubündens wurden an Italien abgetreten, wobei das Tessin zusammen mit dem Mesocco- und Calancatal die neue Provincia Ticino bildeten.

Zeittafel

1939−28.8.Aufgebot der Grenzschutztruppen in der Schweiz.30.8.Wahl des Generals. Die Bundesversammlung verzichtet auf einen Teil ihrer Kompetenzen und gibt dem Bundesrat die Ermächtigung, »die zur Behauptung der Sicherheit, Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz, zur Wahrungs des Kredites und der wirtschaftlichen Interessen des Landes und zur Sicherung des Lebensunterhaltes erforderlichen Maßnahmen zu treffen« (Vollmachtenregime).1.9.Deutscher Angriff auf Polen; Mobilmachung in der Schweiz.8.11.Attentat auf Hitler in München.1940 −9.4.Deutscher Angriff auf Dänemark und Norwegen; in Felsberg (GR) wird das erste Arbeitslager für Emigranten in der Schweiz eröffnet.5.5.Truppenaufmarsch der Wehrmacht an der Rheingrenze im Rahmen der Operationsplanung Fall »Gelb«. Teile der schweizerischen Zivilbevölkerung reagieren mit Panik und setzen sich aus den Städten des Mittellandes in die Innerschweiz ab.10.5.Fall »Gelb« wird ausgelöst: Deutscher Einmarsch in Holland, Belgien, Luxemburg und der Schweiz.11.5.Panzerschlacht im Rafzerfeld zwischen deutschen und schweizerischen Truppen. Nach der Niederlage bricht der Widerstand der Schweizer Armee rasch zusammen.12.5.Einmarsch der italienischen Truppen in das Tessin. In der Deutschschweiz beginnt die Gestapo im Rücken der Wehrmacht mit Verhaftungen aufgrund vorbereiteter Listen.13.5.Luftkampf zwischen dem letzten Geschwader der Schweizer Flugwaffe und der deutschen Luftwaffe.15.5.Die Wehrmacht erreicht Chur und Brig, alle wichtigen Alpentäler sind besetzt.17.5.Das Oberkommando der Wehrmacht erklärt die Besetzung der Schweiz als abgeschlossen; sechs von sieben Bundesräten und dem General gelingt die Flucht nach Irland, Bildung einer Exilregierung.1.6.Proklamation des »Reichsgau Schweiz«; die französische Schweiz wird zum Protektorat, das Tessin geht als Provincia Ticino an Italien. In Bern wird Tschitschner als »Reichskommissar für die Wiedervereinigung der Schweiz mit dem Reich« eingesetzt, ihm wird ein Marionetten-Bundesrat mit Läuchli als Bundespräsident beigesellt.22.6.Waffenstillstand zwischen Deutschland und Frankreich.1.7.Auflösung der Schweizer Armee und Abgabe der persönlichen Waffen in den Zeughäusern.7.9.Abschaffung des Bundesrates; Mahnke wird zum Gauleiter und Reichsstatthalter im Reichsgau Schweiz in Personalunion ernannt.1.10.Verordnung zum Schutz und zur Förderung der Bauernsame und zur Sicherstellung der Landesversorgung (Anbauschlacht).4.10.Treffen von Hitler und Mussolini auf dem Gotthard-Hospiz.5.10.Einzug von Hitler in Zürich.1941−11.2.Verfügung über die Organisation des Arbeitseinsatzes zur Sicherung der landwirtschaftlichen Produktion; damit kann jeder Arbeitsfähige zwangsverpflichtet werden.18.2.Einweihung des Denkmals in Davos für Wilhelm Gustloff, den 1936 ermordeten Landesleiter der Landesgruppe Schweiz der NSDAP.20.2.Beginn der systematischen Judendeportation aus Holland, Belgien und der Schweiz.11.3.Die Lebensmittelkarten von Juden werden mit dem J-Stempel versehen, der bereits 1938 auf schweizerischen Wunsch zur Kennzeichnung jüdischer Pässe eingeführt worden war.22.6.Deutscher Angriff auf die Sowjetunion.1.8.650-Jahr-Feier auf dem Rütli.19.9.Einführung des Judensterns im ganzen Reichsgebiet.6.12.Beginn der sowjetischen Gegenoffensive.7.12.Japanischer Angriff auf Pearl Harbour.1942−25.6.Bombardierung von Aarau und anderen Städten durch britische Flugzeuge.5.9.Kürzung der Kohlelieferungen an den Gau Schweiz um monatlich 50 000 Tonnen.26.9.Erste Todesurteile in der Schweiz gegen Widerstandskämpfer.5.10.Errichtung von Durchgangslagern für die Massendeportation von Juden in die Vernichtungslager.7.11.Landung der Alliierten in Afrika.11.11.Einmarsch der Wehrmacht ins unbesetzte Frankreich.1943−27.1.Erster Tagesluftangriff der Alliierten gegen das Reich.31.1.General Paulus kapituliert in Stalingrad.1.2.Die verschiedenen Schweizer Widerstandsgruppen schließen sich zusammen zur »Bewegung Freie Eidgenossenschaft«; Intensivierung der Sabotageaktionen. Schweizer Einheiten unter General Guisan werden dem Alliierten Oberkommando unterstellt.18.2.Goebbels proklamiert den totalen Krieg.12.5.Kapitulation der deutschen Heeresgruppe Afrika.22.6.Bombardierung von Industriezentren in der Schweiz (u. a. Basel und Thun) durch US-Verbände.10.7.Landung der Alliierten in Sizilien.25.7.Absetzung von Mussolini.1.8.Einmarsch der Wehrmacht in Südtirol und im Tessin; »Kriegserklärung« des Widerstandes an die Wehrmacht.3.9.Waffenstillstand zwischen Italien und den Alliierten.1944−1.4.Bombardierung von Schaffhausen.6.6.Landung der Alliierten in der Normandie.20.7.Attentat auf Hitler durch Graf Stauffenberg.25.8.Befreiung von Paris.26.8.Befreiung von Genf durch amerikanische Truppen und Schweizer Einheiten unter General Guisan.30.8.Die amerikanischen Truppen stoßen durch das Wallis vor und unterbrechen die Simplonlinie; der Vorstoß durchs Mittelland wird vorerst aufgeschoben.10.9.Amerikanische Truppen besetzen den Gotthardpass und beginnen den Vorstoß nach Süden.20.9.Beginn des Vormarsches von amerikanischen und schweizerischen Einheiten durchs Mittelland.1.10.Befreiung von Bern; Rückkehr der sechs Bundesräte aus dem Exil.21.10.Amerikanische Truppen erreichen Aachen als erste deutsche Großstadt.27.11.Befreiung von Basel durch die Franzosen.1945−12.1.Sowjetische Großoffensive an der Ostfront.22.2.Amerikanische Truppen erreichen den Bodensee und Graubünden; die Befreiung der Schweiz ist abgeschlossen.8.3.General Spaatz, Oberkommandierender der alliierten Luftwaffe, besucht Bern.13.4.Die Rote Armee erreicht Wien.27.4.Neuproklamation der Eidgenossenschaft.7.5.Kapitulation der Wehrmacht.20.8.Ende des Aktivdienstes, Rücktritt des Generals.

Die Serviertochter an der Schlachtfeier

Ich war damals Serviertochter, und ich wäre es heute noch, aber Sie sehen ja: meine Beine. Da hat man sich krank gearbeitet, aber keinen Dreck hat man davon, und wenn mir einer erklären kann, wie man von der AHV leben soll, dann lade ich ihn herzlich ein, mich zu besuchen.

Sie sind an die richtige Adresse gekommen, wenn Sie ein Buch schreiben wollen. Als Serviertochter hört man vieles, da weiß man mehr von den Menschen als so manch ein Studierter. Ich könnte ein dickes Buch schreiben.

Ob ich mich an etwas erinnern kann, was in der Nazizeit passiert ist? Natürlich kann ich mich erinnern, die Beine wollen zwar nicht mehr so richtig, aber der Kopf ist in Ordnung, das können Sie mir glauben. Ich habe immer ein gutes Gedächtnis gehabt, die Bestellungen von zwei Dutzend Tischen habe ich im Kopf behalten können und nie etwas durcheinandergebracht. Die Leute haben mich oft gefragt: Wie machst du das nur? – So ein Gedächtnis habe ich.

Was für eine Geschichte wollen Sie denn hören? Was mich am meisten beeindruckt hat? Wissen Sie, wenn man Serviertochter ist und den ganzen Tag unter den Leuten, da beeindruckt einen nicht mehr so leicht etwas. Sie glauben ja nicht, was einem die Männer manchmal für Geschichten erzählen, wenn sie ein Bier zu viel gehabt haben; man könnte meinen, jeder von ihnen sei nur aus Versehen nicht Bundesrat geworden, und dabei haben sie immer nur eines im Sinn. Wenn man Bundesrat werden könnte, nur weil man einer Saaltochter an den Hintern fasst, dann müssten die in Bern anbauen. Nein, mich beeindruckt man nicht so leicht.

Irgendeine Geschichte. Das können Sie leicht sagen, Sie gehen jetzt von einem zum anderen, jeder erzählt Ihnen etwas, und Sie nehmen dann das Interessanteste heraus. Aber für mich … Ich meine, mir kann es ja gleich sein, ob ich in Ihr Buch hineinkomme. Den Namen dürfen Sie sowieso nicht schreiben, aber den Bekannten kann man es ja zeigen.

Also gut. Irgendeine.

Damals war es noch nicht so leicht wie heute, eine Stelle zu bekommen. Wenn Sie heute die »Glückspost« aufschlagen, dann könnte man denken, eine Serviertochter oder jemand für ans Buffet sei seltener als ein Sechser im Lotto. Heute kann man aussuchen. Zu meiner Zeit, als ich angefangen habe, da hat man sich noch mehr anstrengen müssen, zu viel eigentlich. Wenn man damals nicht so viel hätte schaffen müssen, dann wäre es heute sicher auch nicht so schlimm mit meinen Beinen.

Eine feste Stelle habe ich nicht gehabt, aber wenn man sich nicht zu gut war, dann hat man immer eine Aushilfe bekommen. Man musste natürlich hinterher sein, nicht wie heute, wo sie einer Serviertochter schon fast einen roten Teppich legen. Sogar mich hat ein früherer Patron gefragt, ob ich nicht wieder zu ihm kommen wolle, nur so ein, zwei Nachmittage in der Woche. Das muss man sich mal vorstellen: Ich mit meinen dicken Beinen, wo ich kaum die Treppe hinunter zum Briefkasten komme. Daran hat auch keiner gedacht, als sie die Briefkästen vors Haus hinaus verlegt haben …

Wenn Sie nicht zuhören wollen, dann müssen Sie mich auch nicht fragen!

Dabei wäre die Geschichte wirklich etwas für Ihr Buch. Ich habe oft gesagt: So etwas müsste man aufschreiben. Oder noch besser einen Film drehen und am Fernsehen zeigen … Das wäre sicher besser als der Seich, den sie heutzutage bringen.

Ich habe als Aushilfe gearbeitet im Restaurant »Zur Schlacht« in Sempach. Nur für die Schlachtfeier. Eigentlich habe ich ja nichts angenommen, was nicht mindestens zwei Tage war, man hat ja sonst kaum das Eisenbahnbillet verdient, aber etwas anderes war nicht da, und ich habe mir gesagt: Wenn die dann alle betrunken sind und vaterländisch, dann geben sie sicher rechte Trinkgelder.

Am 1. August, da ist nie viel los. Ich weiß auch nicht warum, aber Trinkgeld macht man da nie. Aber bei so einer Schlachtfeier, wo sie alle verkleidet sind als alte Eidgenossen, da ist es etwas anderes. Man wird auch mehr in den Hintern gekloben, wenn die Männer Uniform anhaben, irgendwie hängt das zusammen.

Also, in der »Schlacht« in Sempach. Die Ansprachen sind noch gelaufen, aber im Lokal war schon alles voll. Am Kleiderständer sind die Hellebarden gestanden wie sonst die Regenschirme. Ein heißes Wetter haben wir gehabt; die Schlachtfeier ist ja im Juli, und da gibt es Durst.

An einem runden Tisch ist einer gesessen, der hat sich aufgeführt wie der Winkelried persönlich. So ein dicker in einer gelbroten Landsknechtuniform und mit einer runden Nickelbrille. Der hat prälaagget, dass es jetzt wieder die Zeit ist, wo die alten Schweizer gebraucht werden, die Tugenden unserer Altvorderen. Ich weiß es noch genau: Altvorderen hat er gesagt. Ich kann mich an das Wort noch erinnern, weil ich es damals nicht verstanden habe, und wenn man etwas nicht versteht, dann macht es einem einen besonderen Eindruck. Ich bin einmal auf einen Mann hereingefallen, nur weil der so viele große Worte wusste, dabei hatte er es nur auf mein Sparbuch abgesehen. Er hat es aber nicht bekommen, weil ich gesehen habe, dass seine Hosen geflickt waren. Von der Philosophie verstehe ich ja nichts, aber mit den Hosen kenne ich mich aus. Ein Halunk war das.

Ja, der in Sempach auch. Ganz rot war er im Gesicht, man hat nicht gewusst ob von der Hitze oder vom Vaterland oder einfach nur vom Saufen.

Wir müssen wieder in die Schlacht ziehen, wie damals der Winkelried!, hat er gesagt. Erhaltet mir Weib und Kind, die eurer Hut empfohlen sind!

Er war ganz schön betrunken. Ich weiß nicht, ob er das ganze Theater nur aufgeführt hat, weil da der andere zwei Tische weiter saß. Einer von einer Zeitung, glaube ich, weil er den Hut anbehalten hat und immer am gleichen Bier herumgesuckelt. Die von der Zeitung, die haben nie Geld. Ich habe manch einem ein Bier bezahlt und es dann nie zurückbekommen. Aber ich sage immer: Je älter man wird, desto blöder wird man. Ich falle auf diese Typen immer wieder herein. Letzthin habe ich ein Heftli abonniert, nur weil der an der Türe so verhungert aussah. Und dann habe ich gesehen, dass er ein dickes Auto hatte …

Ja, ich erzähle Ihnen doch! Sie müssen nur zuhören. Wenn Sie auch im Service gearbeitet hätten, dann hätten Sie das gelernt: zuhören.

Der Landsknecht mit der Nickelbrille ist aufgestanden und auf den von der Zeitung losgegangen. Ganz feierlich und besoffen hat er den Arm ausgestreckt und gesagt: Das sind die Leute, gegen die der Winkelried heute kämpfen würde! Die Juden hat er gemeint, und der von der Zeitung war auch wirklich so ein dunkler Typ.

Ich glaube auch, dass er wirklich ein Jude war, denn er hat sich überhaupt nicht gewehrt, sondern hat schnell sein Bier ausgetrunken und ist aufgestanden und zur Türe gegangen. Das ging aber nicht so schnell, denn in der »Schlacht« war es gestopft voll, und die meisten hatten erst noch Rüstungen und Landsknechtsuniformen an, und die brauchen ja viel Platz.

Der mit der Nickelbrille ist immer mutiger geworden, als er gemerkt hat, dass sich der andere nicht wehrt. Ich habe das oft erlebt, bei Betrunkenen. Wenn man sie machen lässt, dann werden sie immer frecher, aber wenn ihnen rechtzeitig einer eins aufs Dach gibt, dann werden sie ganz klein und friedlich. Es traut sich nur meistens keiner.

Also, der von der Zeitung hat sich immer noch in Richtung Ausgang durchgequetscht. Der Landsknecht mit der Nickelbrille hat immer wieder gerufen: Juden raus! Dann hat er plötzlich eine Hellebarde in der Hand gehabt, es waren ja genügend da, und die hat er dem Juden auf den Kopf gehauen. Er hat ihn nicht richtig getroffen, weil so ein Gedränge war, aber er hat doch geblutet, das Blut ist ihm über das Gesicht gelaufen, und so ist er dann hinaus und ab.

Das wäre doch etwas für einen Film im Fernsehen, der Landsknecht mit der Hellebarde und der andere mit dem eingedrückten Hut und dem Blut.

In der »Schlacht« haben zwar ein paar gemeint, dass so etwas nicht nötig gewesen wäre, aber die meisten waren sich doch einig, dass es geschmacklos ist, wenn ausgerechnet ein Jude an die Schlachtfeier nach Sempach kommt, was doch eine Sache der Tradition ist, und bei der Schlacht ist sicher kein Jude dabei gewesen.

Können Sie mit der Geschichte etwas anfangen? Ich kann Ihnen auch noch viel anderes erzählen, wie gesagt, der Kopf ist noch in Ordnung, nur in den Beinen habe ich halt Wasser.

Wann das gewesen ist? Im Juli. Im Juli 1939.

Natürlich war das vor dem Einmarsch. Oder haben Sie gemeint, das mit den Nazis in der Schweiz hätte erst angefangen, als die Deutschen gekommen sind?

Zuflucht in der Synagoge

Ich will nicht darüber reden, was in den Lagern war. Es sind so viele Bücher darüber geschrieben worden, ohne dass es sich beschreiben ließe. Man kann die Hölle nicht beschreiben.

Aber ich will Ihnen etwas anderes erzählen.

Der 11. Mai 1940 war ein Samstag. Das war für uns jüdische Kinder der am exaktesten organisierte Wochentag. Der Ablauf war immer gleich und in allen Details vorgeschrieben.

Am Morgen in die Synagoge, zu Schachris, zum Leinen und zu Mussaf. Dann bei irgendeinem Verwandten zum Kiddusch, wenn nicht irgendwo ein Empfang war, wegen einer Barmitzwah oder einer Verlobung. In der Erinnerung schieben sich die Wochen ineinander wie die Teile eines Teleskops, und es war eigentlich jede Woche ein Empfang. Man trank Traubensaft und versuchte, möglichst unauffällig an möglichst viele Stücke Konfekt heranzukommen.

Zum Mittagessen nach Hause, wo man jedes Mal zu viel aß. Auch in der Krisenzeit war das so, als man unter der Woche noch nicht einmal ein Stück Brot außer der Reihe nehmen durfte. Am Schabbes aß man sich übersatt.

Dann war man müde. In meiner Erinnerung ist es am Schabbes-Nachmittag immer schwül und drückend. Man hatte keine Unternehmungslust, und es war ja eigentlich alles verboten. Ich möchte damit nicht sagen, dass es eine unglückliche Jugend war. Man kannte es eben nicht anders.

Am Nachmittag war man dann wieder in der Synagoge zu Mincha und etwa eine Stunde später zu Maariv. Diese Stunde war für uns Kinder immer besonders schön. Die Väter waren beim Lernvortrag des Rabbiners, die Mütter waren zu Hause, und wir Kinder waren für diese Zeit frei. Wir haben meistens in der Nähe der Synagoge gespielt. Da ging es oft wild zu, und der eine oder andere hatte immer einen Fleck oder gar einen Riss in der schönen Schabbes-Hose. Der konnte dann zu Hause mit einem rechten Donnerwetter rechnen.

Ich erzähle Ihnen das nur alles so detailliert, damit Sie verstehen können, dass an diesem 11. Mai alles anders war.

Am Freitag war der deutsche Einmarsch gewesen. Viele aus der Gemeinde waren in der Woche schon geflohen, in die Innerschweiz oder einfach Richtung Süden. Die paar Reichen mit dem eigenen Auto und die meisten anderen mit dem Zug. Viele hatten einen Kinderwagen dabei, vollgestopft mit den notwendigsten Habseligkeiten. Die Flucht hat ihnen allen nichts genützt, wie man aus der Geschichte weiß.

Meine Eltern dachten nicht an Flucht. Nein, falsch: Gedacht haben sie wohl oft daran. Aber sie sind geblieben. Das hatte weniger mit Mut zu tun als mit einer gewissen Trägheit, die aus einem streng geregelten Leben kommt. Es war doch Freitag, als der Einmarsch begann, und am Freitag hat man den Schabbes vorzubereiten. Nach Schabbes, da konnte man über alles reden. Bei uns zu Hause wurde noch nicht einmal ein Telegramm aufgemacht, wenn es am Schabbes ankam.

Der Gottesdienst am Schabbes-Morgen war ungewöhnlich. Viele Plätze in der Synagoge blieben leer. Bei den Anwesenden gab es zwei Gruppen: Ein paar wenige beteten mit besonderer Inbrunst und Lautstärke. Die anderen folgten dem Ablauf des Gottesdienstes nur mit den automatischen Antworten, die mehr ein Reflex sind als ein Ausdruck von Anteilnahme am Gebet. Überall wurde die Frage diskutiert, ob man zur Rettung des eigenen Lebens die Schabbes-Gesetze übertreten dürfe.

Beim Leinen, der Vorlesung aus dem Wochenabschnitt, gab es auch Schwierigkeiten. Die Mitzwes, die Ehrenämter, waren schon zugeteilt. Es war festgelegt, wer zur Thoravorlesung aufgerufen wurde und in welcher Reihenfolge. Jetzt waren viele davon nicht da. Wir Kinder haben über den Schammes gelacht, der immer wieder mit seiner hohen Stimme einen Namen aufrief, und dann, nach einer geflüsterten Konferenz, einen anderen.

Beim Mittagessen hatte niemand Appetit. Mein älterer Bruder wollte beim Essen über den Einmarsch der Deutschen sprechen und bekam eine gewaltige Ohrfeige.

Nicht am Schabbes!, brüllte mein Vater. Die Mutter kaute immer auf dem gleichen Stück Challe herum. Sie versuchte so zu tun, als ob nichts Besonderes wäre, aber wir wussten genau, dass sie fast weinte.

Zu Mincha waren noch weniger Leute in der Synagoge. Mein Bruder ist nicht gekommen. Ich vermute, er hat auch probiert, in die Berge zu kommen. Es will ihn jemand auf dem Bahnhof gesehen haben. Etwas Genaues haben wir nie feststellen können. Ich weiß nicht, wie er umgekommen ist.

So genau habe ich damals nicht verstanden, was eigentlich los war. Aber nichts erschreckt ein Kind mehr als das Wissen, dass die Erwachsenen Angst haben. Panische Angst.

In den Gesprächen hatte ich immer wieder den Satz gehört: Man müsste sich verstecken … Vor welcher Bedrohung, das war mir nicht so klar. Aber ich habe mich versteckt. Nach dem Mincha-Gebet blieb ich einfach in der Synagoge, zusammengekauert unter dem Pult, bis alle hinausgegangen waren.

Kennen Sie die Synagoge an der Freigutstrasse? Man hat sie wieder restauriert, im alten pseudomaurischen Stil. Ein hoher Raum. Ringsum die Galerien für die Frauen, die ja nicht mit den Männern zusammensitzen dürfen.

Ich war zum ersten Mal allein in der Synagoge. Die Angst, die mich dort zurückgehalten hatte, war aus verschiedenen Empfindungen zusammengesetzt. Es war auch ein wohliger Schauer dabei. Allein in der Synagoge. Das hatte auch etwas Mutiges, als kleiner Junge allein so nahe beim lieben Gott.

Lange saß ich nicht unter dem Pult. Es wurde immer dunkler. Ich hatte den Eindruck, dass das ewige Licht vorne in der Mitte immer heller leuchtete.

Die Angst ließ nach und wurde immer mehr zu Abenteuerlust. Die Gemeindemitglieder haben jeder sein eigenes Pult, und ich habe die Deckel aufgemacht und hineingeschaut. Da waren nicht nur Gebetbücher und Gebetsmäntel, da gab es auch einen Schlüsselbund oder dreckige Taschentücher. Aus einem Pult habe ich ein Bonbon gestohlen.

Ich bin durch die Türe gegangen, vorne rechts, wo immer der Rabbiner herauskommt. Ich weiß nicht, was ich mir dort erwartet hatte, aber ich kann mich gut erinnern, dass ich enttäuscht war. Einfach ein kahler Raum. Wie eine Gefängniszelle.

Am Anfang hatte die Leere der Synagoge, der große, düstere Raum, etwas Überwältigendes. Aber ich war ein kleiner Junge. Ich wollte hinausgehen und meine Kameraden suchen. Die Synagogentüre war verschlossen. Ich musste warten, bis der Schammes sie nach dem Lehrvortrag wieder für Maariv öffnete.

Ich kam mir eingesperrt vor, und gleichzeitig war da ein Gefühl, dass die Welt sowieso aus den Fugen sei, dass die Regeln alle nicht mehr gültig wären. Es ist ein kluges Wort: Übermut. Ein Über-Mut, kein richtiger Mut. Eigentlich also Angst.

Im Vorraum der Synagoge sind viele kleine Kästchen. Damals trug man noch einen Zylinder bei den großen Gottesdiensten, und die waren in diesen Kästchen verstaut.

Ich habe eine Hutschachtel nach der anderen herausgenommen und aufgemacht. Mit dem Finger habe ich Figuren in den sorgsam in eine Richtung gebürsteten Stoff gemacht. Nur Zeichnungen, nichts Geschriebenes. Am Schabbes darf man nicht schreiben.

Auf der Toilette gab es kein Toilettenpapier zum Abreißen von der Rolle, denn das war eine am Schabbes verbotene Tätigkeit. Sie haben dort ein Spezialprodukt, ineinandergefaltete Papiere. Wenn man eines herauszieht, entfaltet sich das nächste.

Ich habe sie alle herausgezogen und anders in den Karton gequetscht.

Als die Erwachsenen vom Lehrvortrag zurückkamen, hatte ich wieder Angst. Aber es war nicht mehr die würgende, unwirkliche Angst vor etwas Fremdem, sondern die einfache, selbstverständliche Angst eines Kindes, das etwas angestellt hat.

Ich hatte selber etwas beigetragen zur Unordnung, die so plötzlich in meine Welt gekommen war. Das machte sie weniger bedrohlich.

Als sie in der Nacht an unsere Wohnungstüre hämmerten, dachte ich, es sei wegen mir. Wegen der Zylinder und wegen des Klosettpapiers.

Die Mansarde

Heute würde man aus jener Wohnung zwei Dreizimmerwohnungen machen und sie als »Lux. Jugendstil, 3 1/2 Zr., sch. Stuckdecken« zum zwölffachen Mietzins inserieren. Aber damals war es eine ganz normale Fünfzimmerwohnung mit einem Riesenkorridor, wo mein Götti mit mir Ball spielte, und mit einer Küche, in der wir alle fünf, Mutter, Vater, Großmama, Tante und ich, um den Küchentisch bequem zum Essen Platz hatten. Wenn nicht Besuch kam und wir im Balkonzimmer mit den dunkel polierten Nussbaummöbeln aßen. An der einen Wand das Früchtestillleben mit dem Goldrahmen, an der anderen Wand Schiller und Goethe in schmalem Silberrahmen, dann auch General Guisan, und noch später ein heller Fleck auf der Tapete.

Und hohe Wandschränke hatte es in fast allen Zimmern, wo Großmama die alten Praliné- und Guetzlischachteln hortete. Und wo mein Vater als Erstes, wenn er vom Militärdienst in den Urlaub kam, das Gewehr hineinstellte und sagte: Wenn die Deutschen kommen, werden vorher noch die Nazis von gegenüber erschossen. Dabei schaute er so verbissen drein, dass ich plötzlich Angst vor ihm hatte. Mir schien, Menschen erschießen wollen, das dürfte ein Vater doch eigentlich nicht, schon gar nicht Leute, mit deren Kindern ich auf der Straße Sächsläbis spielte.

Zur Wohnung gehörte auch ein Mansardenzimmer. Dort zog ich jeweils hinauf, wenn meine Tante wieder einen politischen Flüchtling versteckte und mein Schlafzimmer gebraucht wurde. Einmal war es der Redaktor einer Berliner Zeitung, ein andermal eine schöne, schwarzhaarige Frau aus Kiel mit jüdischer Mutter und dem Rezept einer Gesichtscreme, mit der sie später in Amerika ein Vermögen machen wollte, und immer wieder Juden, die bald nach Amerika oder Australien weiterreisten.

Einmal meldeten Nachbarn der Polizei, dass wir Flüchtlinge versteckten. Darauf wurden unsere Flüchtlinge abgeholt und in ein Lager im Solothurnischen gebracht, und wir wurden »vermahnt«.

Das sind die Nazis im Nummer vierzehn, sagte mein Vater und sah aus, als würde er gleich den Karabiner aus dem Wandschrank holen.

Mir machte es nichts aus, diesen Leuten mein Zimmer abzutreten. In der Mansarde hatte ich viel mehr Freiheit. Bis in alle Nächte hinein las ich dort John dos Passos und Traven und Nietzsches Gedichte. Statt Etüden zu üben, konnte ich dort die wildesten Melodien auf meiner Geige komponieren. Niemand überraschte mich, wenn ich mein Tagebuch schrieb oder wenn ich vor dem großen Spiegel vor dem Schlafengehen ein Halstuch ganz eng über die Brust band, damit mir nicht auch zwei so lächerliche Zipfelchen wachsen würden wie dem Vreneli Ambühl, das ein Jahr älter war und sich beim Schwimmunterricht völlig ungeniert in der Mädchengarderobe auszog.

Nachdem Frau Benteli vom obersten Stock ein Kind bekommen hatte, hauste in der Mansarde nebenan das Dienstmädchen Frieda aus dem Emmental. Sie lud mich manchmal zu Apfelschalentee und Butterbrot ein. Ich brachte dann jeweils sechs Stück Würfelzucker mit, aus dem grünen Kasten mit unserem Kriegsvorrat, der in meiner Mansarde stand. Das WC lag zwischen unseren beiden Mansarden, und Frieda musste sich dort auch waschen, obwohl es nur einen Kaltwasserhahn hatte.

Sie las fromme Traktätchen mit Bibelzitaten und Ermahnungen an Frauen, sich nicht aufreizend anzuziehen, und dass der Herr insbesondere verbiete, dünne ärmellose Blusen oder gar Shorts zu tragen, und man solle sich stets vor Augen halten, dass, wer abtreibe, unweigerlich in der Hölle lande. Frieda stapelte die Heftchen im WC, wohl in der Absicht, auch mich in den Genuss der Lektüre kommen zu lassen. So las ich denn, dass »in steigendem Prozentsatz bereits empfangene Menschenkinder heutzutage abgetrieben werden und die Paare nur noch an ihren materiellen Vorteil denken, dass sie statt des Segens den Fluch Gottes auf sich ziehen«. Und dann die Aufzählungen all der Strafen mit Schwefel und Teufel und so weiter.

Da las ich schon lieber die Krimis, die holte ich mir aus dem Bücherschrank in der Stube drunten, wenn mein Vater während seines Urlaubs mit unserem neuesten Flüchtling Schach spielte. Wir hatten damals einen sozialdemokratischen Lokomotivführer aus Frankfurt bei uns. Ich weiß noch genau, wie ich neben den beiden Männern im Ohrenfauteuil saß, das ganze Zimmer war voll von Zigaretten, lag in dichtem Zigarettennebel, und hin und wieder hörte ich bei schwierigen Situationen die beiden Männer leise vor sich hin pfeifen.

Dieser Lokomotivführer war lange Zeit bei uns. Aber dann im Mai 1940, als die Deutschen kamen, wurde die Sache gefährlich. Vater war jetzt die ganze Zeit im Militär und hätte die Nazis von gegenüber gar nicht erschießen können. Uns allen saß die Angst im Nacken.

Bei uns war gerade niemand zu Hause, außer natürlich dem deutschen Lokomotivführer in meinem Zimmer unten. Ich hob gerade vom Mansardenfenster aus die Konservenbüchse aus dem Dachkännel, um die Regenwassermenge des Monats Juli zu messen und ins Tagebuch einzutragen. Da hielt vor dem Haus ein offenes Armeefahrzeug, Uniformierte sprangen heraus und rannten durch den Vorgarten zur Haustür. Gleich darauf wurde meine Mansarde aufgerissen. Unser Flüchtling stand auf der Schwelle und sagte: Sie sind da!

Er sah verzweifelt aus. Frieda, die Zimmerstunde hatte, kam aus ihrer Mansarde, schaute mich an, schaute unseren Flüchtling an, schob ihn ins WC und ging selber hinein.

Wart in deiner Mansarde, befahl sie und verriegelte die WC-Tür.

Die Uniformierten durchsuchten mein ganzes Zimmer, den Vorratsschrank, den Schreibtisch, stießen beim Suchen meine Regenwasserbehälter im Dachkännel um, durchsuchten Friedas Zimmer und rüttelten an der WC-Tür.