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Andreas Marneros analysiert das Thema rechtsradikale Gewalt mit dem scharfen und sensiblen Blick des Psychiaters und gleichzeitig eines Menschen, der sich bewusster mit Deutschland identifiziert als die meisten Deutschen. Eine packende, bewegende Lektüre, die deutlich macht: Rechtsradikale Gewalt ist schlicht kriminelle Gewalt. Gewalttätige Neonazis wissen nichts über den Nazismus, sind nicht politisch und haben keine fundierte Ideologie. Aber sie haben das Gefühl, dass eine schweigende Menge ihre ideologisch verbrämten Gräueltaten billigt. Aus seiner Analyse der Täter und der deutschen Gesellschaft leitet Marneros ab, wo die Bekämpfung rechtsradikaler Gewalt ansetzen muss. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 331
Andreas Marneros
Hitlers Urenkel
Rechtsradikale Gewalttäter – Erfahrungen eines wahldeutschen Gerichtsgutachters
FISCHER E-Books
Den Gefolgsleuten des Xenios Zeus gewidmet
«Wir wissen nicht mehr, wen wir achten sollen und wen nicht. In dieser Hinsicht sind wir gegeneinander Barbaren geworden. Von Natur sind alle gleich, ob Barbaren oder Griechen. Das folgt aus dem, was von Natur aus für alle Menschen notwendig ist. Wir atmen alle durch Mund und Nase und wir essen alle mit den Händen.»
Antiphon aus «Buch von der Wahrheit», 5. Jhdr.v.Chr.
«Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen.»
«Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf. Und wer mich aufnimmt, der nimmt auf, Der mich gesandt hat.»
Matthäus 25.35 und 10.40
«Da brachen die Männer auf und wandten sich nach Sodom …
Lot aber saß zu Sodom unter dem Tor. Und als er sie sah, stand er auf, ging ihnen entgegen und neigte sich bis zur Erde und sprach: Siehe, liebe Herren, kehrt doch ein im Haus eures Knechts und bleibt über Nacht; lasst eure Füße waschen und brecht frühmorgens auf und zieht eure Straße. Aber sie sprachen: Nein, wir wollen über Nacht im Freien bleiben.
Da nötigte er sie sehr, und sie kehrten zu ihm ein und kamen in sein Haus. Und er machte ihnen ein Mahl und backte ungesäuerte Kuchen, und sie aßen.
Aber ehe sie sich legten, kamen die Männer der Stadt Sodom und umgaben das Haus, Jung und Alt, das ganze Volk aus allen Enden, und riefen Lot und sprachen zu ihm: Wo sind die Männer, die zu dir gekommen sind diese Nacht? Führe sie heraus zu uns, dass wir uns über sie hermachen.
Lot ging heraus zu ihnen vor die Tür und schloss die Tür hinter sich zu und sprach: Ach, liebe Brüder, tut nicht so übel! …
… diesen Männern tut nichts, denn darum sind sie unter den Schatten meines Daches gekommen.
Sie aber sprachen: Weg mit dir! Und sprachen auch: Du bist der einzige Fremdling hier und willst regieren? Wohlan, wir wollen dich noch übler plagen als jene. Und sie drangen hart ein auf den Mann Lot. Doch als sie hinzuliefen und die Tür aufbrechen wollten, griffen die Männer hinaus und zogen Lot herein zu sich ins Haus und schlossen die Tür zu.
Und sie schlugen die Leute vor der Tür des Hauses, klein und groß, mit Blindheit, sodass sie es aufgaben, die Tür zu finden …
Die beiden Fremden, die Lot retteten, waren Engel, von Gott gesandt.»
Genesis, Das erste Buch Moses, 18.16, 19.1–11
«Jede Gewalttat ist schrecklich, von wem immer und warum immer sie begangen wird. Wenn hinter Gewalttaten gegen Behinderte, Obdachlose oder Fremde aber ausdrücklich nazistisches oder antisemitisches Denken steht, wenn nazistische Symbole oder Ausdrücke benutzt werden, dann alarmiert uns das zu Recht mehr als andere kriminelle Handlungen. Gewalttätiger Rechtsextremismus muss politisch und juristisch bekämpft werden. Jeder und jede muss sich auf unseren Straßen und Plätzen, in U-Bahn und Bus sicher fühlen können. Das ist eine Aufgabe, die uns alle angeht, in Ost und West.»
Bundespräsident Johannes Rau zum Gedenktag der Befreiung vonAuschwitz. Rede vor dem Deutschen Bundestag,27. Januar 2001
Wie nennen wir einen Deutschen, der nicht von deutschen Eltern geboren wurde? Der aber im Erwachsenenalter bewusst die Entscheidung traf, Deutscher zu werden?
«Deutscher Bürger ausländischer Herkunft»?
«Eingebürgerter Ausländer»?
«Kein ‹echter› Deutscher»?
«Ausländer mit deutschem Pass»?
oder
«Wahldeutscher»?
Ich als Betroffener habe mich für die Bezeichnung Wahldeutscher entschieden. Es ist eine gute Bezeichnung. Es ist eine Bezeichnung, die eine bewusste Entscheidung beinhaltet. Nämlich die Möglichkeit einer Wahl. Die Freiheit, Deutscher zu werden, zu sein oder es abzulehnen. Oder es nicht anzustreben. Also eine bewusste Entscheidung, die viele Prüfungen überstehen und bestehen muss. Ob man «Wahldeutscher» werden will, ist eine aus der Gesamtbiographie der Person ableitbare Entscheidung. Aber auch das Resultat vieler bürokratischer Prüfungen von Seiten des Staates, von Seiten der deutschen Gesellschaft. Denn der deutsche Staat entscheidet nach vielen Prüfungen ebenfalls bewusst, wer als Deutscher in die deutsche Gesellschaft aufgenommen werden soll. Eine Wahl, die also von beiden Seiten getroffen wird. Der Begriff «Wahldeutscher» meint auch, dass man sich mit der Gegenwart und mit der Zukunft dieses Landes unter Berücksichtigung der Vergangenheit identifiziert. Man verknüpft die eigene Gegenwart, die eigene Zukunft mit der Gegenwart und der Zukunft dieses Landes.
«Wahldeutscher» ist ein guter Begriff. Ein richtiger Begriff.
Und wie nennen wir nun einen Deutschen, der von deutschen Eltern in diesem Land geboren wurde?
«Gebürtiger Deutscher»?
Aber ist nicht auch derjenige ein «gebürtiger Deutscher», der von ausländischen Eltern in Deutschland geboren wurde und die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen hat?
Ist nicht ein «gebürtiger Deutscher» auch derjenige, der einen ausländischen Elternteil hat (auch mit ausländischer Staatsangehörigkeit, nicht nur Herkunft) und einen deutschen Elternteil (von seiner Herkunft her)? Er hat von der ersten Stunde an die deutsche Staatsangehörigkeit trotz des ausländischen Elternteils. In seinem weiteren Leben führt er beide «Herkünfte» mit sich.
«Einheimisch»?
Aber sind nicht alle Menschen, die jahrelang und jahrzehntelang in einem Land leben, die sich in diesem Land «heimisch fühlen», egal ob sie von der Herkunft oder durch Einbürgerung «Deutsche» sind, ebenso wie auch «waschechte Ausländer», die seit Jahren hier leben, «Einheimische»? Ist ihr Zuhause nicht hier?
Sollen wir die Deutschen, die von ihrer Herkunft her Deutsche sind, als «echte Deutsche» bezeichnen? Das suggeriert aber, dass es auch «unechte Deutsche» gibt. Wer will denn schon so eine Unterscheidung?
Wie wäre es, wenn wir die «Wahldeutschen» – wie ich sie vorher definiert habe – von den «eingeborenen Deutschen» unterscheiden würden?
«Eingeboren»?
Das Lexikon sagt: «In einem Land geboren und dort lebend, inländisch, einheimisch (jemand, der in einem bestimmten Lande geboren ist und dort lebt), (besonders bei Naturvölkern) Ureinwohner.»
Ich habe beschlossen, beim «eingeborenen Deutschen» zu bleiben. In Anführungszeichen.
Nomen est omen. Bezeichnungen sind wichtig. Wie folgenreich solche Definitionen, solche Unterscheidungen sein können, lehrt uns die Geschichte. Der irrwitzige Versuch, die Deutschen in Arier und Nichtarier zu unterteilen, endete im Unsagbaren. Wir sind heute, Gott sei Dank, weit entfernt davon. Dennoch, seien wir uns unserer Worte bewusst.
Apologie ist ein uraltes Wort. Es begleitet und prägt unsere Kultur seit Jahrtausenden. Die Kultur vieler Nationen. Nicht nur die Leitkultur einer Nation. Die «Apologie» des Sokrates ist ein fester Bestandteil humanistisch orientierter Kultur. Spätestens mit der Begründung und Etablierung des Christentums wurde der Begriff Bestandteil jeder christlichen Kultur.
Das Wort Apologie bedeutete ursprünglich «Verteidigungsrede vor einem Gericht». So jedenfalls ist die Apologie des Sokrates zu verstehen. Sie war seine Verteidigungsrede vor dem Hohen Gericht in Athen. Dies ist auch die heutige lebendige Bedeutung im Griechischen. Nämlich «Verteidigung und Schlusswort des Angeklagten». In einer weiteren, verwandten Bedeutung heißt Apologie «Verteidigungsrede», «Rechtfertigungsrede» oder «Verteidigungs-» beziehungsweise «Rechtfertigungsschrift», insbesondere bei religiösen oder ideologischen Auseinandersetzungen. So ist der Apologet der Verteidiger eines Bekenntnisses, einer Anschauung, einer Lehre oder eines Glaubens. Wenn man apologetisch spricht, bedeutet das, man spricht verteidigend, rechtfertigend: für eine Idee, für einen Glauben, für die eigene Nation, für die eigene Religion. Für sein eigenes Tun und Lassen. Apologie bedeutet auch «Verteidigung mit Worten».
Apologie ist das Gegenwort zu Kategorie, also zur Anklage. Das Wort Kategorie hat im Verlauf der Jahrtausende im Griechischen zwei Bedeutungen erhalten. Einmal die üblicherweise benutzte Bedeutung «Zuordnung zu etwas», «Einordnung» und «klare Abgrenzung». Die andere, ursprünglichere Bedeutung ist die des «Anklagens», des «Angreifens mit Worten».
Apologie heißt Verteidigen mit Worten, Kategorie heißt Angreifen mit Worten.
Die klare, definitive, energische Sprache der Anklage rückte diese in die Nähe des Imperativs. Und daraus entstanden die Kategorisierung und die Kategorien, die klare Benennung und Zuordnung.
Dieses Buch ist gleichermaßen eine Apologie und eine Kategorie.
Es ist entstanden aus einem Leidensdruck, der Frage nach der Richtigkeit meiner Entscheidung, Deutscher zu werden, und den Begegnungen mit rechtsradikalen Mördern, Totschlägern, Gewalttätern.
Aus Leidensdruck, weshalb ich ein Apologet werden musste, und aus Begegnungen, weshalb ich ein Kategoros, ein Ankläger und energischer Benenner, werden musste.
Am Anfang stand die Apologie. Ich wollte verteidigen, ich wollte rechtfertigen, ich wollte mich für etwas einsetzen. Für Deutschland. Für die Deutschen. Für mich. Für meine Entscheidung, ein «Wahldeutscher» zu werden.
Während meines Studiums in Griechenland, das größtenteils während der schweren beschämenden Jahre der Diktatur stattfand, bildeten wir eine Clique, die sich regelmäßig traf und über Literatur, Philosophie und Politik diskutierte. Doch auch persönliche Perspektiven wurden besprochen, wie etwa: «Wie und wo können wir uns am besten als Wissenschaftler entfalten?»
Ende der 60er- und zu Beginn der 70er-Jahre begannen wir, zunehmendes Interesse für Deutschland zu entwickeln. Wir fanden es beeindruckend, die gelungene Wiedergeburt Deutschlands mitzuerleben. Das so genannte Wirtschaftswunder und der schnelle Aufstieg zu einer der führenden Wirtschaftsnationen nach der totalen Katastrophe zeugten von Kraft und Vitalität. Von Willen sowie von Fleiß und vielen weiteren Tugenden dieses Volkes. Der Mythos des Vogels Phoenix, der sich aus der Asche erhob, wurde in moderner Weise wieder belebt. Doch nicht nur das war für uns faszinierend. Vielmehr waren wir beeindruckt von der Fähigkeit eines Volkes, aus einer schwarzen erdrückenden, totalitären und faschistischen Vergangenheit eine vorbildlich funktionierende Demokratie aufzubauen. Die griechische Presse berichtete damals ständig von den Errungenschaften der Bundesrepublik Deutschland. Wie dort die alte diktatorische Mentalität durch ein neues demokratisches Bewusstsein ersetzt worden war. Wir konnten von immer neuen Beispielen dieser demokratischen Kultur lesen, was ein kluger Seitenhieb gegen die griechischen Diktatoren war. Natürlich hatten England, Frankreich und andere westliche Länder seit Jahrhunderten gut funktionierende demokratische Systeme. Doch diese wurden von uns enthusiastischen jungen Leuten nicht gepriesen. Sie wurden als naturgegeben hingenommen.
Wir bewunderten, dass es Deutschland gelungen war, aus Finsternis Licht zu machen. Aus einem totalitären System eine Demokratie in der ursprünglichen Form dieses Wortes zu schaffen. Aus einem primitiven, menschenverachtenden System ein modernes, sich der Menschenwürde und den Menschenrechten verpflichtet fühlendes System neu zu gestalten. Das Phänomen des Phoenix war für uns junge Leute, und vor allem für mich ganz persönlich, das Erstaunlichste, das Faszinierendste.
Es waren auch die Jahre Willy Brandts. Welche Faszination hat dieser Mann damals auf uns junge Menschen im Ausland ausgeübt! Er war für uns, die wir außerhalb der Grenzen Deutschlands lebten, der Inbegriff des guten Deutschlands. Adenauer hatten wir bewundert. Sein Name stand für uns für den Wiederaufbau und den Willen, ein neues sicheres Deutschland zu schaffen. Willy Brandt aber konnte uns begeistern. Er war das Symbol für demokratische, gerechte Strukturen. In unserer Clique, die sich wöchentlich in meiner kleinen Studentenwohnung traf, wurde Deutschland idealisiert und romantisiert – so wie junge Leute in ihrem Enthusiasmus sympathisch übertreiben. Ganz oben saß auf seinem weißen Ross der St. Georg der Bewegung, Willy Brandt. Wir lasen und diskutierten neben den während der Diktatur verbotenen Büchern vieles über Deutschland und Artikel deutscher Autoren, die ins Griechische übersetzt worden waren. Als Deutschland dabei half, einen Führer der Widerstandsbewegung gegen die Diktatur, Professor Georg Magagkis, mit einem Militärflugzeug der Luftwaffe aus einem Natostützpunkt in Griechenland herauszuholen, war unser Jubel himmelhoch! Es lebe Deutschland! Das Land des Phoenix!
Deutschland war für uns, war für mich das Land des gelungenen Paradigmenwechsels.
Es ist nicht verwunderlich, dass die Idee zu diesem Buch im Ausland entstand. Dort, wo ich mich angegriffen fühlte – wegen Vorkommnissen in Deutschland. Vergangenen und aktuellen. Auf den Punkt brachte es die Frau eines Kollegen, die während meines Aufenthaltes am Institute of Psychiatry in London zu Beginn der 80er-Jahre zu mir sagte: «Ich verstehe das überhaupt nicht, wie Sie, ein Grieche, in Deutschland leben können.» Ich habe ruhig geantwortet: «Weil ich mich dort glücklich fühle.»
Trotzdem. In den letzten 25 Jahren habe ich unzählige Situationen erlebt, in denen ich mich im Ausland gezwungen sah, meine Entscheidung, ein «Wahldeutscher» zu werden, zu rechtfertigen. Mich zu verteidigen.
Als Mensch, der sich zwar mit Deutschland und den Deutschen in konsequenter Weise identifiziert, sich auf der anderen Seite auch aufs Stärkste mit seiner kulturellen hellenistischen Erbschaft verbunden fühlt, besitze ich manche Privilegien.
Zum Beispiel das Privileg, unverkrampft zur Vergangenheit Stellung beziehen zu dürfen.
Ich habe das Privileg, über das Singuläre von Auschwitz zu sprechen. Aber gleichzeitig auch über meine Erfahrungen. Erfahrungen, die ich mit Konzentrationslagern, Hinrichtungen und Unterdrückung in meiner Kindheit gemacht habe. Es waren keine Erfahrungen mit Deutschen, sondern mit Engländern. Nein, ich vergleiche diese Erfahrungen, Fußnoten in der Geschichte der Inhumanität, nicht mit Auschwitz, aber ich darf sie erwähnen. Auch wenn die Vernichtung der Juden singulär, unvergleichbar in der Geschichte der Menschheit ist.
Ich als «nicht-eingeborener» Deutscher habe das Privileg, die Ankläger von Nürnberg – die Briten, die Amerikaner, die Russen, die Franzosen – anzuprangern für manche Verbrechen ihrer Armeen, ihrer Regierungen, begangen vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg, ohne in Gefahr zu geraten, als Sympathisant der Nazis abgestempelt zu werden.
Ich kann und darf ein Apologet sein.
Ein Apologet für das neue Deutschland. Die neuen Deutschen. Und für mich selbst.
Ich kann und muss aber auch ein Kategoros sein.
Ein Kategoros gegen die rechtsradikalen Deutschen. Und gegen das Schweigen.
Dieses Buch entstand jedoch nicht nur aus Leidensdruck, sondern auch aus Begegnungen. Und auf diesen Begegnungen basiert meine Anklage. Die Anklage gegen Hitlers Urenkel, aber auch die Anklage gegen die Bedingungen, die Zustände, das gesellschaftliche Klima, welches diesen Totschlägern zum Gedeihen verhilft.
Manchmal hatte ich die Phantasie, «meine» Neonazis ins Ausland mitzunehmen. Nämlich die Neonazis, denen ich als psychiatrischer Gutachter begegnet bin. Sie dahin mitzunehmen, wo sie Ausländer sind: nach Amerika, nach England, nach Israel. Sie dort den Menschen zu zeigen: «Seht euch diese Menschen an. Es braucht nicht viel, um ihre geistige Armut, ihre Primitivität zu erkennen. Zu erkennen, dass sie nicht das neue Deutschland, die neuen Deutschen repräsentieren.»
Damit das Ausland die neuen Deutschen richtig beurteilen kann.
Ob ich diese Hoffnung relativieren muss, weil die Totschläger, die Gewalttäter, diejenigen, die morden, brandstiften, Hetzjagden gegen Menschen veranstalten, nur einige wenige von Hitlers Enkeln und Urenkeln sind? Nur eine kleine Minorität aus einer Großfamilie? Was ist mit anderen Teilen der Bevölkerung, die im rechtsextremistischen Sumpf planschen? Auch sie gehören zwar zu jener Großfamilie, zu der «meine» Totschläger gehören. Sie bilden jedoch eine andere Struktur in Hitlers Großfamilie. Sie sind die Drahtzieher, die Finanzierer, die Anstifter. Sie sind der Nährboden, auf dem die Voraussetzungen für rechtsradikales gewalttätiges Verhalten entstehen. Viele von ihnen besitzen Geld, Intelligenz und Möglichkeiten. Andere benutzen die Neonazi-Bühne, um ihr Ego zu pflegen, vom Applaus zu profitieren. Manche von ihnen sind viel gefährlicher als die Mörder, Totschläger und Gewalttäter. Aber sie sind weder Totschläger noch Gewalttäter. Zumindest nicht in der juristischen Bedeutung des Wortes. Sie müssen auf anderer Ebene und mit anderen Mitteln bekämpft werden. Diese Täter – die juristisch keine sind – kann ich nicht vorführen. Ich denke nur, dass trotz der unbestreitbaren deutschen Besonderheit rechtsradikal denkende Nicht-Gewalttäter ein zwar unschönes, aber normales Phänomen jeder Gesellschaft sind. Sie sind in jeder Gesellschaft und zu jeder Zeit anzutreffen. Auch jenen müssen wir Widerstand leisten. Aber das ist nicht Thema dieses Buches.
Ich habe ein weiteres Privileg, das ich ausschöpfen möchte. Nämlich die asymmetrische Beziehung zwischen dem Gutachter und dem zu begutachtenden Angeklagten. Mit «asymmetrisch» meine ich, dass der Gutachter und der Richter vom Angeklagten in einer Position der Stärke erlebt werden, da er sich in dieser Situation als der Schwächere erlebt, der von der Meinung des Gutachters oder des Richters abhängig ist. Diese Situation ermöglicht dem psychiatrischen Gutachter tiefe Einblicke in die Psyche, die Biographie, in die Motivlage des Angeklagten. Dies auch im Falle des rechtsextremistischen Gewalttäters. Ich möchte das für meine Darstellung nutzen, um Realitäten darzustellen. Um zu möglichen Lösungen zu inspirieren und die Menschenwürde zu verteidigen.
In diesem Buch werde ich einen Spagat versuchen: Ich möchte das Ausland um Verständnis und Milde bitten, indem ich Hitlers Urenkel, wie ich sie kennen gelernt habe, zeige. Ich möchte aber andererseits auch die Deutschen auffordern, mit aller Konsequenz vorzugehen gegen Hitlers Urenkel, die Totschläger, indem ich die Gräueltaten der heutigen Schänder Deutschlands in ihrem erschütternden Umfang darstelle. So, wie ich es als psychiatrischer Gutachter der Täter erfahren habe.
Und ich möchte an die Pflicht jedes anständigen Deutschen erinnern: den Nährboden der rechtsextremistischen Gewalt, also die rechtsextremistischen Einstellungen und Aktivitäten jeglicher Art, trocken zu legen.
Vielleicht wäre es für mich der leichtere Weg gewesen, dieses Buch nicht zu schreiben. Aber dann hätte auch ich eine Pflicht verletzt. Meine Pflicht.
Es war in San Francisco. San Francisco liegt zwischen Mölln und Solingen. Dort, in San Francisco, nach den Morden von Mölln und vor den Morden von Solingen, bemerkte ich, dass ich das, was in dem neuen, größer gewordenen Deutschland geschah, nicht ertragen konnte. Dass ich nicht ertragen konnte, was Hitlers Urenkel in dem neuen, größer gewordenen Deutschland anrichten. Dass ich nicht ertragen konnte, was man mir im Ausland über das neue, größer gewordene Deutschland mitteilte. Was man darüber dachte. Wie man sich darüber äußerte, darüber schrieb. Mir persönlich ins Gesicht sagte. Mit der obligatorischen Bemerkung: «Aber du, du bist ja kein echter Deutscher, also betrifft dich das nicht.» Doch, das betraf mich wohl! Das betrifft mich noch immer! Das betrifft mich wahrscheinlich mehr als die «eingeborenen» Deutschen! Mich, den Wahldeutschen.
Es war im Jahr 1993. Ich war in San Francisco zum Jahreskongress der American Psychiatric Association. Von dort aus sollte ich weiter nach Brasilien fliegen, um am Weltkongress für Psychiatrie teilzunehmen. Es war eine sehr wichtige Reise für mich. Meine erste längere Reise, nachdem ich im August 1992 den Ruf auf den Lehrstuhl für Psychiatrie und Psychotherapie an der Martin-Luther-Universität in Halle angenommen hatte. Die Aufgabe, die mich in Halle erwartete, war eine sehr harte Aufbauarbeit, die mir keine freie Minute ließ. Ich musste alle Einladungen zu Kongressen, wissenschaftlichen Treffen, Advisory Boards, Vorträgen und Ähnlichem absagen, wenn ich dafür länger als einen Tag von Halle weg sein musste. Es war eine harte Arbeit im neuen Osten der Republik. Auch die psychische Belastung durch die allgemeinen Auswirkungen des Ost-West-Konfliktes war groß. Dieser Konflikt machte sich nach manchen Enttäuschungen und nicht schnell genug erfüllten Erwartungen, die dem ersten Jahr der Wiedervereinigung folgten, bemerkbar. Die «blühenden Landschaften» waren noch nicht sichtbar. Die Arbeitslosigkeit erstickte die Hoffnungen der Bevölkerung. Die «Wessis» wurden als arrogant und fremd erlebt. Und die «Ossis» schlugen mit Ablehnung zurück. Und dazwischen begannen die Blüten des Bösen, der Rechtsradikalismus.
Den Neonazis war ich zum ersten Mal in Westdeutschland begegnet. Aber in Ostdeutschland erlebte ich eine neue Dimension rechter Gewalt.
Meine Mitarbeiter aus Bonn waren mir nach Halle gefolgt. Sie trafen irgendwann Mitte 1993 ein, sodass ich mir zehn Tage San Francisco und Brasilien gönnen konnte.
In San Francisco wollte ich mich mit Frank treffen, dem damals 17jährigen Sohn einer befreundeten Familie aus Mainz, der sich als Austauschschüler in einer amerikanischen Highschool in New Mexico aufhielt.
Bei dieser Begegnung sprachen wir über Verschiedenes. Unter anderem auch über die deutlichen Anzeichen des zunehmenden gewalttätigen Rechtsradikalismus im wieder vereinigten Deutschland. Über die Neonazis, die Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland und über meine persönlichen Erfahrungen mit den Neonazis. Ich hatte inzwischen einige Erfahrungen mit diesen Leuten gesammelt. Dabei befand ich mich immer in der asymmetrischen Rolle des Stärkeren, nämlich in der ihres Gutachters, und hatte sie so als schwach und ängstlich erlebt; nach Ausreden suchend saßen sie vor mir und versuchten zwanghaft, bei mir einen möglichst guten Eindruck zu hinterlassen. Sie wussten, wie abhängig sie von meiner Beurteilung waren, die für sie verminderte Schuldfähigkeit und damit vielleicht eine geringere Strafe ergeben konnte. Ich lernte viele von ihnen kennen, und bis dahin hatten alle etwas gemeinsam gehabt: zum einen ihre Dummheit (in der Regel auch medizinisch-biologisch gemeint), zum anderen waren sie Verlierer und Verlorene, sozial Randständige, Dissoziale und Verachtete. Jedenfalls die meisten von ihnen. Das war das Bild, das ich mir bis dato von den Neonazis in Deutschland gemacht hatte. Von den Neonazis, die ich kennen gelernt hatte. Von den Neonazis, die abhängig von meiner Beurteilung waren. Die Gespräche, die ich mit ihnen führte, beeindruckten mich nicht nur durch ihre Einfachheit. Vielmehr bemerkte ich auch, dass sie im Grunde genommen außer bestimmten plakativen und primitiven Parolen, derer sie sich bedienten, keinen richtigen politischen Hintergrund und kein theoretisches Gerüst hatten. Die Primitivität ihrer «Thesen» (wenn man überhaupt davon sprechen will) erzeugten auch beim Gutachter, der nach bestem Wissen und Gewissen sein Gutachten zu erstatten hat, viele negative Gefühle. Manchmal auch Mitleid. Mitleid für die unsagbare psychische Armut dieser Menschen.
Eine Frage, die Frank und mich bei diesem Gespräch in San Francisco beschäftigte, war, ob das Ausland – insbesondere Amerika – die Neonazis, deren Taten und deren Wirkung überbewerten würde. Wir fragten uns, ob diesbezüglich eine Voreingenommenheit des Auslands (vor allem von Seiten der Amerikaner) gegen die Deutschen bestünde. Oder ob – eventuell aufgrund offensichtlich noch nicht geheilter Wunden – das Ausland in verständlicher Weise überreagieren und solche Vorkommnisse überbewerten würde? Ob das Ausland aufgrund der schlimmen Erfahrungen der Vergangenheit doch zu mehr oder weniger verständlichen Stereotypen neige? Ich habe im Gespräch mit Frank versucht, diese Vermutung mit Erfahrungen zu untermauern, die ich vor allem in Amerika, aber auch in Großbritannien oder in manchem anderen europäischen Land gemacht hatte. Meine Gesprächspartner in diesen Ländern waren gebildete Leute, Kosmopoliten mit vielen Auslandserfahrungen. Ich sprach mit ihnen darüber während der Kongresse, bei wissenschaftlichen Tagungen oder bei unserer gemeinsamen Zusammenarbeit in verschiedenen wissenschaftlichen Institutionen. Eine gewisse Stereotypie war dabei unübersehbar. Und ist nicht jedes Stereotyp in bestimmter Weise auch ungerecht?
Ich machte die Erfahrung: Nein, die Ressentiments gegen die Deutschen sind noch nicht verklungen.
Nein, die Meinung des Auslandes über die nachkriegsdeutsche Generation ist nicht immer gerecht.
So jedenfalls empfand ich es. Ich erzählte Frank, dass mich das wütend machte. Mehr noch: es verletzte mich. Mich, mit meinem mehr oder weniger ausgeprägten, nicht immer erfolgreich zu kurierendem «Hyperidentifikationssyndrom», das wohl jeder überzeugte Wahldeutsche einmal hat (darüber werde ich später einiges erzählen). Ich fühlte mich davon mehr verletzt, als die meisten «eingeborenen» Deutschen es wohl wären. Ja, ich neigte zu der Überzeugung: Das Ausland reagiert über. Das Ausland benutzt Stereotypen. Das Ausland ist voreingenommen. Die schlimmen Wunden der Vergangenheit diktieren die ungerechte Meinung über die deutsche Gegenwart.
Frank erzählte mir daraufhin eine Episode, die sich in seiner Highschool ereignet hatte und die wie gerufen kam, meine Theorien zu bestätigen:
In der Schule sollte das Thema «Holocaust» behandelt werden. Der Lehrer kündigte an, dass es ihm gelungen sei, eine Überlebende des Holocaust als Gast einzuladen. Das war eine große Sache. Da hatte man jemanden gewinnen können, der die Schrecken und das Unfassbare der deutschen Konzentrationslager selbst erlebt und überlebt hatte. Die Spannung bei den Schülern war groß.
Und sie kam. Mrs Sarah Whiteberger. Frank beschrieb sie als eine alte, zierliche, vom Leben gezeichnete Dame, die an einen Rollstuhl gefesselt war. Sie erzählte von ihren kaum vorstellbaren Erfahrungen aus der Nazizeit. Von den Pogromen, der Reichskristallnacht, den Demütigungen und Verfolgungen. Von der Deportation. Vom Leben in den Konzentrationslagern. Von den Gaskammern, in denen sie alle ihre Verwandten und Freunde verloren hatte, und von den Krematorien, von denen der Geruch verbrannten menschlichen Fleisches ausging; von Erinnerungen, die nicht zu löschen sind. Sie sprach von der Barbarei, für die der Mensch nach der Befreiung, nach dem Zusammenbruch des Atavismus neue Wörter erfinden musste, die früher nicht im menschlichen Vokabular existierten.
Das Schicksal hatte es nicht gut mit ihr gemeint. Sie war als junges Mädchen allein nach Amerika ausgewandert, nachdem sie alles verloren hatte. Dort versuchte sie, das Unvergessliche aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Sie heiratete und bekam einen Sohn. Der Sohn fiel Tausende von Kilometern von zu Hause entfernt in einem ihr unbekannten Land, in Vietnam. Ihr Ehemann starb an Krebs, und sie blieb wieder allein zurück. Wieder verloren, alt und krank. Und wenn man allein ist, alt und krank und verloren, werden die Erinnerungen wieder besonders lebendig. Wehe dem, der nicht aus guten Erinnerungen leben kann. Wehe dem, der überwiegend solche Erinnerungen hat, wie sie die alte, kranke, zierliche Dame hatte.
Die Erfahrungen, Erinnerungen und das Schicksal dieser Frau bewegten die Schulklasse. Es machte die jungen Leute betroffen, sprachlos, fassungslos. Denn Bücher, Filme und Bilder sind viel weniger in der Lage, die ganze Dimension des Grauens zu vermitteln. Viel weniger jedenfalls als das persönliche Schicksal und das persönliche Erleben.
Die alte Dame – die bis heute die Hölle ihres Martyriums in ihrer Erinnerung trägt – kam im Anschluss ihrer Schilderungen dazu, über die jetzige Situation im wieder vereinigten Deutschland zu sprechen und diese zu beurteilen. Ihr Urteil war hart:
«Es gibt keinen Unterschied zwischen den heutigen Deutschen und den Deutschen der Nazizeit. Die deutsche Mentalität ist immer dieselbe. Die Deutschen sind unbelehrbar. Die Deutschen haben keine Skrupel, immer wieder das Gleiche zu machen. Sie warten nur auf eine geeignete Gelegenheit. Der Beweis dafür ist, was momentan in Deutschland passiert. Wieder werden Menschen in Deutschland verfolgt, ihre Häuser verbrannt, ihre Geschäfte geplündert, ihre Kinder gedemütigt – ja getötet und verbrannt –, weil sie anders sind. Weil sie eine andere Hautfarbe haben. In einem anderen Land geboren wurden. Eine andere Religion haben. Und nur deswegen. Dies alles tut die heutige Generation der Deutschen.»
Sie meinte mit ihren Worten nicht nur die Neonazis, sondern die Deutschen allesamt, ohne Wenn und Aber.
Das Urteil der alten Dame, die aus der Hölle gerettet worden war, war hart. Frank, ein liberaler, offener, kosmopolitischer, überzeugter junger Demokrat, hatte betroffen zugehört.
Überzeugter Antinazi zu sein ist leicht.
Überzeugter Antinazi zu sein wird erwartet.
Überzeugter Antinazi zu sein ist eine Selbstverständlichkeit. Wer das nicht ist, verletzt die Regeln menschlichen Anstands.
Ein überzeugter Demokrat zu sein, dazu zu stehen und danach zu handeln, verlangt jedoch etwas mehr.
Frank ist ein überzeugter Demokrat. Betroffen hatte er der alten Dame zugehört. Betroffen über ihre Erlebnisse und Erfahrungen. Betroffen aber auch über ihr Urteil. Er meldete sich zu Wort. Der Lehrer stellte ihn der alten Dame vor: «Er kommt aus Deutschland und hält sich derzeit als Austauschschüler in Amerika auf.»
Frank äußerte seine tiefste Betroffenheit über die Erlebnisse der alten Dame und bekundete ihr seine Sympathie. Er erzählte von seiner Bestürzung, solche schrecklichen Dinge direkt von einer Betroffenen des Martyriums zu hören. Er sprach aber auch über seine Erfahrungen mit der neuen deutschen Generation, seiner eigenen Generation. Er erklärte, wie sich diese neue Generation mit den Verbrechen der Großväter und Urgroßväter auseinander setzt und wie sie ihre neue demokratische Gesellschaft gestaltet. Die Generation, die Jahrzehnte nach dem Krieg geboren wurde, sei nicht die Generation der Konzentrationslager, der Pogrome, der Vernichtung, der Barbarei. Sie sei eine demokratische, offene Generation.
Die alte Dame wurde ungehalten. Sie war nicht zu überzeugen. Frank fragte, ob vielleicht das enorme Leid, das sie erlitten hatte und das nie wieder gutgemacht werden könne, sie dazu bringe, die neue, junge Generation des demokratischen Deutschlands ungerecht zu beurteilen. Ob sie aus Handlungen Einzelner auf die Einstellung der Allgemeinheit, der Gesamtbevölkerung schließe.
«Nein», war die kategorische Antwort der alten Dame, «die Deutschen ändern sich nie. In ihrem Herzen führen sie den Holocaust weiter. Sie warten nur auf den geeigneten Zeitpunkt, ihre Hände erneut mit Blut zu beflecken und die Luft der Welt mit Leichengeruch zu verpesten.»
Frank und ich waren uns einig: «Das Ausland urteilt einseitig und ungerecht. Das Ausland ist voreingenommen.»
Am nächsten Tag wollte ich gemeinsam mit Frank essen gehen. Müde vom Kongress legte ich mich erst einmal auf mein Bett und surfte durch die Kanäle der unzähligen amerikanischen Fernsehstationen. Und dann kam es! Solingen!
Eine der wichtigsten Nachrichten auf allen amerikanischen Fernsehsendern. Bilder, die schockierten. Bilder, die sprachlos machten:
Neonazis verbrannten türkische Kinder.
Die Bilder vom Ort des Grauens wirkten lähmend. Das brennende Haus. Die Leichen der Kinder. Die verzweifelten Angehörigen. Das Schreien und Weinen türkischer Gastarbeiter. Die Kommentare waren vernichtend. Rückblenden aus Mölln wurden immer wieder gezeigt, und immer wieder kamen die Sätze: «In Deutschland sterben wieder Menschen, die aus einem anderen Land kommen, eine andere Sprache als Muttersprache haben, eine andere Religion oder eine andere Hautfarbe haben. Die deutsche Luft riecht wieder nach verbrannten menschlichen Leichen.»
Ich machte den Fernseher aus. Ich weiß nicht, was ich in diesem Augenblick am liebsten getan hätte.
Einige Zeit später traf ich Frank. Mein Verhalten – ungewöhnlich still und nachdenklich – verriet offensichtlich, dass etwas geschehen war. Ich brauchte lange, ehe ich ihm mit leiser Stimme, ohne ihm direkt in die Augen zu schauen, von dieser Gräueltat erzählen konnte. Er antwortete spontan mit einem leisen, lang andauernden «Oh». Er senkte den Kopf und begann, sich mit seinem Essen zu beschäftigen, um nichts sagen zu müssen.
Solingen liegt im Westen, nicht im Osten der Republik. Manche versuchen das Problem des Rechtsradikalismus zu bewältigen, indem sie es zum «Ostproblem» stempeln. «Diese DDR, diese Ostdeutschen, die sind anders, die schaden uns.»
Aber Solingen liegt im Westen der Republik. Ganz in der Nähe der Orte, in denen ich zwölf Jahre lang gelebt habe, nahe Köln und Bonn. Wo ich habilitiert wurde, meine erste Professur bekam (in Köln) und meine nächste Professur (in Bonn). In der Nähe des Ortes, wo meine Kinder in den Kindergarten, in die Schule, ins Gymnasium gegangen sind.
Auch Mölln liegt im Westen Deutschlands, im aufgeklärten Norden.
Ich blieb noch zwei Tage in San Francisco. Die Zeitungen waren voll von Berichten über das Verbrechen, die Kommentare entsprechend. Dann flüchtete ich nach Brasilien zum Weltkongress, wo ich mit anderen deutschen und ausländischen Professoren zusammentraf. Weg von den Berichten der amerikanischen Medien.
Weglaufen? Aber wohin?
Es war im Spätsommer des Jahres 2000 in New York, wo ich alle paar Monate an den Sitzungen eines so genannten Safety Advisory Board teilnehme. Dieses Gremium hat die Aufgabe, die Studien zur Entwicklung eines neuen Medikamentes in regelmäßigen Abständen zu kontrollieren. Es handelt sich um Studien, die an verschiedenen Zentren in der ganzen Welt durchgeführt werden, um die Sicherheit und Wirksamkeit eines Medikamentes zu prüfen. Falls das Gremium der Auffassung ist, dass dieses Medikament gefährlich sein könnte, muss die Entwicklung unverzüglich gestoppt werden. Zu diesem Gremium gehören sechs Wissenschaftler aus verschiedenen medizinischen Disziplinen: vier Amerikaner und zwei Europäer (ein Franzose und ich). Ich bin «the German» in der Gruppe. Alle wissen natürlich, dass ich kein «eingeborener» Deutscher bin. Und doch bin ich für sie schon immer «the German» gewesen. So fühle ich mich auch. Ein hellenischer «German».
Soweit meine Herkunft und die Verbundenheit mit meinen Wurzeln es zulassen.
Ich fühle mich als «the German» in der Gruppe nicht nur, weil ich ein Wahldeutscher bin, sondern auch, weil meine Wirkungsstätte Deutschland ist und ich die deutsche Psychiatrie bei diesen Treffen repräsentiere.
Diese Gruppe trifft sich inzwischen seit über zwei Jahren. In regelmäßigen Abständen kommen wir für einen Tag in New York zusammen, um unsere Ansichten über die Studien auszutauschen und Schlussfolgerungen zu ziehen.
Eine angenehme Seite dieser kurzen, strapaziösen Sprünge über den Atlantik ist der Abend vor der Sitzung. Wer schon da ist, trifft sich mit den anderen zum Essen in einem schönen französischen Restaurant im Zentrum von Manhattan. Vier von uns waren bisher bei jedem Treffen dabei. Daraus entwickelte sich mit der Zeit eine Art Vertrautheit und Freundschaft.
Einer, der bisher immer dabei war, war Rob. Rob ist ein «waschechter» Amerikaner. Er erzählte uns, dass er bereits Amerikaner in der dritten Generation sei. Seine Vorfahren waren aus Mittel- und Osteuropa eingewandert. Aus Orten, die abwechselnd in Österreich, in Polen, in Deutschland, in der Sowjetunion und dann wieder in einem anderen Staat gelegen hatten.
Immer dabei war auch George. George ist ein «Neu-Amerikaner». Er hat eine Top-Position in der amerikanischen Pharmaindustrie inne. George ist ursprünglich Kopte aus Ägypten.
Bei unseren inzwischen traditionell gewordenen Abendessen fragte ich ihn jedes Mal neugierig über seinen kulturellen Hintergrund aus. Er erzählt auch immer wieder bereitwillig über die Geschichte der koptischen Kirche, über ihre Entwicklung durch die Jahrtausende und ihren jetzigen Zustand. Es war stets ein Genuss, ihm zuzuhören.
Immer dabei war auch Nancy, unsere Statistikerin. Nancy ist Jüdin und trägt eine Halskette mit einem großen silbernen Davidstern. Sie arbeitet an der Universität von Seattle an der Westküste der USA.
Vor unserem letzten Treffen ging ich, da ich ein paar Stunden früher da war, zum Metropolitan Museum of Art. Es liegt ganz in der Nähe meines Hotels, und ich wollte die Gelegenheit nutzen, mir noch einmal mein Lieblingsgemälde im Original anzusehen. Es ist das Gemälde Sturm über Toledo von El Greco. «El Greco», der Grieche, der auf Kreta geboren ist, in Italien studierte und in Spanien weltberühmt wurde. «El Greco» nannten ihn die Italiener und die Spanier. Er fühlte sich auch so. Bis zuletzt signierte er seine Gemälde auf Griechisch: Domenicos Theotokopoulos, aus Kreta. Es war damals sicher keine leichte Sache, im tiefkatholischen Italien und im tiefkatholischen Spanien als Grieche zu leben. Die Griechen litten zu dieser Zeit unter den Türken, und sie machten den Papst und den Katholizismus mitverantwortlich für den Verlust Konstantinopels und der christlichen Ostgebiete. Die Katholiken dagegen betrachteten die Griechen als Konkurrenten und Abtrünnige. Keine große gegenseitige Liebe also.
El Greco lebte in Italien und in Spanien, wie viele andere griechische Künstler und Gelehrte nach dem Verlust der Heimat. Das Werk El Grecos, des spanischen Griechen, wurde zum Kulturgut der ganzen Menschheit.
Nun stand ich vor seinem Meisterwerk – wie auch schon früher wieder sehr ergriffen –, das Toledo im Kampf mit den Elementen zeigt. Toledo, seine Heimatstadt, in der er nicht geboren wurde.
Abends trafen wir uns, wie gewohnt, in «unserem» französischen Restaurant. Dieses Treffen fand sieben Jahre nach meiner Erschütterung in San Francisco und wenige Monate nach dem Mord an Alberto Adriano in Dessau statt, wenige Tage nachdem die Mörder verurteilt worden waren.
Ich war ihr Gutachter gewesen.
Ich hatte viele Stunden mit den Mördern von Alberto Adriano verbracht, um sie begutachten zu können.
Den Mord, die Reaktionen darauf und den Prozess hatten die Medien mit Interesse verfolgt. Im Inland und im Ausland. Beim Prozess war nicht nur die New York Times präsent, sondern auch Dutzende anderer Medien aus der ganzen Welt.
Als Rob mich höflich und vorsichtig fragte, was ich über die Entwicklung des Rechtsextremismus in Deutschland denke, richtete Nancy, die Jüdin, ihren Blick schweigend auf mich. Mit halb gesenktem Kopf schaute sie mich über den oberen Rand ihrer schmalen Brille erwartungsvoll an – betreten, aber auch prüfend. George, der Kopte, dessen Volk über die Jahrhunderte manche Diskriminierung von den Moslems erfahren musste, ließ, als Rob diese Frage stellte, seine Hand sinken, mit der er gerade sein Rotweinglas zum Mund führte. Er saß neben mir und schaute mich mit seinen Augen genauso betroffen, erwartungsvoll und prüfend an wie Nancy.
Und ich erzählte. Ich wollte erzählen. Ich hatte seit langem vor, das zu tun. Und nun war der Moment gekommen. Jetzt, nachdem ich als Gutachter innerhalb von neun Wochen neun Mörder gesehen hatte.
Neun Mörder in neun Wochen!
Alle neun waren sich ähnlich. Alle ihre Taten waren sich ähnlich. Und doch waren ihre Motive völlig verschieden. Sie hatten nur eines gemeinsam: das grausame Verbrechen. Die Verachtung menschlichen Lebens!
Mein Kollege Heinz ist Psychiater. Er lebt in Bayern und wir kennen uns seit vielen Jahren. Er ist politisch sehr interessiert, ein überzeugter konservativer Demokrat und Mitglied der CSU.
Wir haben häufig auch über Politik diskutiert, wobei ich seinen, meines Erachtens strengen, Konservatismus nicht teile. Zum ersten Mal unterhielten wir uns zu Beginn des Jahres 1991 über Rechtsradikalismus und rechtsradikale Gewalttäter. Damals begann die Republik bereits, sich intensiver mit dem Phänomen zu beschäftigen. Damals begann die «Anreicherung» des rechtsradikalen Tuns durch die Aktivitäten in Ostdeutschland. Die Republik begann aufzuwachen, nachdem der Rausch der Wiedervereinigung allmählich verflogen war. Der Rechtsradikalismus wurde allmählich zum Thema.
Wir saßen in einem zyprischen Restaurant in Bonn, und ich führte Heinz in die Spezialitäten der Küche meines Heimatlandes ein. Er lobte die zyprische Küche und den zyprischen Wein. Unausweichlich kamen wir auch auf das Thema des kulturellen Austausches und der gegenseitigen Befruchtung und natürlich auch auf die aktuellen Diskussionen über Rechtsradikale zu sprechen. Er hatte die Diskussion begonnen und fragte mich: «Was denkst du denn darüber? Du, der … der …» Dann war er erleichtert, das geeignete Wort gefunden zu haben, und sagte: «Du, der du ursprünglich aus einem anderen Land kommst?» – «Sehr umständlich», habe ich gedacht.
«Ach, ich finde, es ist ein ganz normales Phänomen, was wir zurzeit erleben. Was wir im Grunde genommen bereits seit den 50er-Jahren erleben. Die deutsche Gesellschaft begann nach dem Schock des Zweiten Weltkrieges, schon zu Beginn der 50er-Jahre, sich neu zu formieren. Und wie in jeder anderen Nation in Europa und in der Welt hat diese neue deutsche Gesellschaft viele Facetten. Eine von diesen vielen Facetten ist die rechtsradikale. Eine schlimme Facette. Aber so, wie Schweden und Norwegen, wie Dänemark und Frankreich, wie England und die USA, wie Italien und Holland, wie Portugal und Griechenland, wie Belgien und die Schweiz ihre rechtsradikalen Facetten haben.»
Heinz schien zufrieden: «Ich bin sehr froh, dass du das auch so siehst. Ich meine», sagte er, «dass wir allmählich zur Normalität zurückkehren müssen. Es kann nicht jedes Mal, wenn in Deutschland etwas passiert, etwas, was auch in anderen Ländern passiert, besonders kritisiert werden und schon bei den geringsten Vorkommnissen mit der ‹Holocaustkeule› nach uns geschlagen werden.»
Heinz sprach von der «Holocaustkeule» schon Jahre bevor Walser mit diesem Ausdruck die Öffentlichkeit irritierte. Damals war ich fast einverstanden. Damals wollte ich, dass das Ausland endlich begreift, dass die Vergangenheit Vergangenheit ist. Dass diese Vergangenheit den Deutschen nicht mehr wie ein ewiger Spiegel morgens, mittags und abends vorgehalten werden sollte. Ich erwiderte natürlich, dass das ständig in Erinnerung bleiben müsse. Dass das, was damals geschah, singulär in der Geschichte der Menschheit ist. Und dass das nie, auch nicht ansatzweise, wiederholt werden dürfe. Aber das mit der Keule, ja, das muss doch allmählich, ein halbes Jahrhundert danach, aufhören.
Damals, zu Beginn des Jahres 1991, dachte ich so.
Kurz bevor ich im September 2000 nach New York flog, traf ich mich wieder einmal mit Heinz. Er wusste, dass ich oft Gutachter bei rechtsradikalen Gewalttätern war, und wollte von mir Näheres darüber erfahren.
Es hat sich viel geändert in Deutschland, Heinz. Es hat sich viel geändert in diesen letzten zehn Jahren.
Leider hat es sich tatsächlich zum Schlimmeren geändert, so wie es Bundestagspräsident Wolfgang Thierse in seinen Interviews und Reden immer wieder feststellt. Trotzdem und gerade aufgrund der persönlichen Erfahrungen, die ich mit den Neonazis, den Skinheads, den rechtsradikalen Gewalttätern machte, bleibe ich dabei, dass diese verschwindende Minderheit, die andere Menschen demütigt, verletzt, verbrennt und tötet, nicht die