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Bekanntheit im Netz war noch nie so tödlich
Früher waren die sozialen Medien völlig außer Kontrolle. Menschen stellten sich gegenseitig bloß und selbst Hacker wie Cassies Vater waren machtlos dagegen. Aber dann kam der Hive. Er ist dazu da, Menschen für das, was sie online tun, zur Rechenschaft zu ziehen. Wer Ärger macht, sammelt Verurteilungen. Werden es zu viele, wird ein Hive-Mob zusammengerufen, der dem Missetäter im realen Leben eine Lektion erteilt.
Als Cassie nach dem unerwarteten Tod ihres Vaters an eine neue Highschool wechselt, ist sie erfüllt von Trauer und Wut – und kurz vorm Ausrasten. Von ihren neuen Freunden angestachelt, macht sie online einen geschmacklosen Witz. Cassie bezweifelt, dass er jemandem auffallen wird. Aber der Hive bemerkt alles. Und während ihr Online-Kommentar ein ganzes Land in Aufruhr versetzt, fordert der Hive Vergeltung. Gestern noch war Cassie ein Niemand, heute kennt jeder ihren Namen und sie muss um ihr Leben rennen.
Ein atemberaubender Cyber-Thriller über die Macht der sozialen Medien – packend und gleichzeitig erschreckend aktuell
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Seitenzahl: 507
Barry Lyga & Morgan Baden
Nach einer Idee von
Jennifer Beals und Tom Jacobson
Aus dem Englischen
von Christiane Wagler
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Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Hive«.
Text © 2019 Barry Lyga, Morgan Baden, Jennifer Beals und Tom Jacobson
Nach einer Idee von Jennifer Beals und Tom Jacobson
Diese Ausgabe wird mit Genehmigung von
Kids Can Press Ltd., Toronto, Ontario, Kanada veröffentlicht.
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© 2021 der deutschsprachigen Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem Englischen von Christiane Wagler
Umschlaggestaltung und Artwork: © Isabelle Hirtz, Inkcraft,
unter Verwendung mehrerer Bilder von Shutterstock.com
(gerasimov_fozo_174, Leszek Glasner, Rawpixel.com)
KH • Herstellung: EM
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-25429-2V001
www.cbj-verlag.de
Heute wird das Internet in den USA seiner Verheißung endlich völlig gerecht. Es wird bedeutend sein. Und schön. Ich glaube, den Menschen wird es wirklich gefallen, und ich denke, die Vereinigten Staaten von Amerika werden sehr davon profitieren.
Der Präsident der Vereinigten Staaten bei der Einführung
des Heuristischen Internet-Verhaltensevaluators HIVE
Heute irgendwelche Mobs? Ich habe frei und langweile mich!
#BewahrtMichVorDummheiten
Ein guter Tag für Hive-Justiz! Die Sonne lacht! Wer geht zu #MonsterKeinMensch?
#BLINQPoll3995: Ist #MichaelJones ein Monster oder ein Mensch? Stimme ab: bl.inq/poll3995
HIVE-BENACHRICHTIGUNG: #MonsterKeinMensch-Massenversammlung findet jetzt auf dem Rasche-Spielfeld statt.
Ich habe gerade bei #BLINQPoll3995 für MONSTER gestimmt. Mach mit: #MonsterKeinMensch Stimme ab: bl.inq/poll3995
ENTERTAINMENT NEWS: #MichaelJones’ Frau soll auf der heutigen Massenversammlung anwesend sein. Was wird sie tragen? Jetzt Livestream auf enewsalert.hive.gov/3995 #MonsterKeinMensch
Welcher Mensch tut so etwas seiner Frau und seinen Kindern an? Das macht nur ein Tier. #KommAufsRascheSpielfeld#MonsterKeinMensch
Ich habe gerade bei #BLINQPoll3995 für MONSTER gestimmt. Mach mit: #MonsterKeinMensch Stimme ab: bl.inq/poll3995
Wie beschissen muss es gerade sein, mit #MichaelJones verwandt zu sein. Die armen Kinder. #MonsterKeinMensch
HIVE-BENACHRICHTIGUNG: #MichaelJones ist eingetroffen. Hive-Justiz beginnt jeden Moment. #RascheSpielfeld#MonsterKeinMensch
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1
Irgendwo in der Nähe ging es zur Sache und Cassie McKinney musste unbedingt dabei sein.
Sie folgte der Menge eine Straße hinab, die von Schatten spendenden Bäumen gesäumt wurde, und dann um eine Ecke, an die sie sich gut erinnerte. Sie waren auf dem Weg zum Baseballfeld in ihrem alten Viertel, wo Cassie öfter zum Schlag ausgeholt und den Ball verfehlt hatte, als sie zählen konnte. Dort, wo Cassies Vater, Harlon McKinney, sie bei einem aufgeschürften Knie, nach einer herben Niederlage oder nach einer hämischen Bemerkung vom Werfer in den Arm genommen hatte. Mit jedem Schritt kochte ihr Blut in den Adern, pumpte der Atem schneller durch Cassies Lungen.
Sie schirmte sich mit der Hand die Augen gegen die blendende Sonne ab, die gerade über den Bäumen zum Vorschein gekommen war, als wüsste diese, dass die Menge ihren eigenen Zuschauer brauchte.
Als Cassie den Platz erreichte, konnte man die Spannung, die in der Luft lag, förmlich mit Händen greifen. Diese Menschen hatten trotz ihres verschiedenen Alters, ihrer unterschiedlichen Herkunft und Lebensumstände eine gemeinsame Mission und Cassie spürte die Energie in ihrem Körper. Ihre Finger zuckten, ihr Magen schnürte sich zusammen. Ich mache mit, dachte sie. Und dann, ein wenig unsicherer: Bitte, lass mich etwas Neues fühlen. Irgendetwas.
Ihre Mutter, Rachel McKinney, hatte die Hive-Benachrichtigungen auf Cassies Handy ausgeschaltet, aber ihre Mutter konnte nichts mit einem Handy anstellen, was Cassie nicht wieder rückgängig machen konnte. Rachel war Professorin für Altertumswissenschaften, keine Programmiererin. Cassies Handy lief nicht einmal mit der Originalsoftware, sondern mit einer angepassten Version, die sie mit ihrem Vater ausgetüftelt hatte.
Das Handy gab plötzlich einen Benachrichtigungston von sich und Cassie fuhr zusammen. Das war das Zeichen. Überall um sie herum empfingen die Menschen dieselbe Nachricht, die sie gerade über ihr In-Ear-Headset gehört hatte: Er war hier.
Die Menge johlte und Cassie stimmte mit ein. Der Klang, der aus ihrer Kehle aufstieg und sich in ihrem Mund breitmachte, überraschte sie. Es fühlte sich unerwartet gut an, zu schreien. Weil alle anderen mit dem Fuß aufstampften und die Fäuste schüttelten, tat sie es ihnen nach, und auch das fühlte sich irgendwie gut an. Es war real, und es war kein Schmerz – das war doch schon mal was.
Obwohl Cassie versuchte, nicht zu sehr darüber nachzudenken, war sie seit Monaten das Gefühl nicht losgeworden, die Welt nur noch aus der Distanz wahrzunehmen, als befände sie sich auf einer anderen physischen Ebene als die Menschen in ihrem Umfeld. Hier, in diesem Moment, glaubte Cassie, vielleicht alles wieder normal wahrnehmen zu können. Alles wieder normal empfinden zu können. Dazugehören zu können.
Und in diesem Augenblick gehörte sie hierher, auf das Rasche-Spielfeld, zu den anderen, denen GPS, Wi-Fi und die unablässig ortenden Mobilfunkmasten den Weg gewiesen hatten.
»Übt Gerechtigkeit«, sagte die Computerstimme in ihrem Ohr, gefolgt von dem Hashtag. Alle anderen hörten dasselbe.
Cassie hatte es immer gehasst, dass sie so groß war, eine Eigenschaft, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Aber heute fühlte es sich wie ein Zeichen an. Es war ihr erster Hive-Mob und sie hatte praktisch einen Platz in der ersten Reihe. Sie sah den Übeltäter sofort: ein schmächtiger Mann mit sandfarbenem Haar, der mit gesenktem Kopf die Tribüne erklomm. Er schien eine Ewigkeit zu brauchen, bis er oben anlangte, so wie es ihm Tausende Stadtbewohner aufgetragen hatten, die für seine Verurteilung gestimmt hatten. Als er es schließlich geschafft hatte, bemerkte Cassie, wie sich seine nach vorne gebeugten Schultern plötzlich strafften, wie seine schmale Gestalt schlagartig an Größe zu gewinnen schien. Dieser Mann war gefasst, erkannte Cassie.
Fast schon … stolz.
Nun ja, der Hochmut würde ihm bald vergehen. Er hatte seine Familie in der Öffentlichkeit gedemütigt und einen anonymen Blog verfasst, in dem er seine zwiespältigen Gefühle gegenüber seiner Frau und seinen Kindern in aller Ausführlichkeit beschrieben hatte. Ehrlichkeit in den sozialen Medien war zwar bewundernswert, hatte aber Grenzen. Nach einem Posting, in dem er gestand, dass er seiner an Krebs erkrankten Frau gesagt hatte, er würde sie nicht mehr lieben, verbreitete sich sein Blog wie ein Lauffeuer im Internet, und die üblichen Doxing-Gangs deckten schnell seine Identität auf. Die »Gefällt mir nicht«-Wertungen und Verurteilungen waren in astronomische Höhen geschnellt – selbst Cassie hatte den Aufruf, ihn zu verurteilen, geteilt, und sie teilte kaum etwas in letzter Zeit.
Über Nacht wurde Hive-Justiz beschlossen und #ÖffentlichErniedrigen als angemessenes Strafmaß festgelegt. Dadurch sollte Gerechtigkeit geübt werden, genau hier und genau jetzt. Als Strafe für seine Taktlosigkeit wollte man ihn zwingen, nackt durch die Stadt zu laufen, und ihm die Worte »Schlimmster Ehemann und Vater der Welt« auf die Brust schreiben.
Jemand begann zu skandieren: »Monster, kein Mensch!«, und Cassie fiel in den Sprechgesang ein, auch wenn er bescheuert war. Aber es ging hier ja nicht um den Spruch, oder? Es ging um Zusammengehörigkeit, das wusste Cassie. Um Geschlossenheit. Zumindest behaupteten das alle. Sie versuchte, den Spruch zu wiederholen, Teil des Ganzen zu sein, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie räusperte sich, als sie sah, wie der Mann auf der Tribüne die Schultern erneut straffte, als wolle er einen Schutzwall um sich herum errichten, bevor die Bestrafung losging. Die Sonne tauchte den Platz nun in noch grelleres Licht, sodass Cassie den Mann besser erkennen konnte. Sie kniff die Augen zusammen. Irgendetwas war an seinem Gesicht … einen kurzen Augenblick lang fragte sich Cassie, ob sie ihn kannte.
Der Mann wartete noch immer oben auf der Tribüne, nahm die Brille ab, klappte sie behutsam zusammen und steckte sie in die linke Hemdtasche. Dann klopfte er sachte mit der Hand darauf. Zweimal.
Cassie wurde übel.
»Dad«, flüsterte sie.
Um sie herum wurde es still.
»Wartet«, bat Cassie. Niemand hörte sie.
Eine Frau mit hellem Kopftuch und einem Marker in der Hand stieg auf die Tribüne. Als er sie bemerkte, begann der Mann, sein Hemd aufzuknöpfen. Sein silbriges Haar schimmerte im Sonnenlicht. Cassie rang nach Luft.
»Schreib es drauf!«, rief jemand hinter Cassie und wurde mit tosendem Applaus belohnt. Ein neuer Sprechgesang – »Draufschreiben! Draufschreiben!« – machte auf der Tribüne die Runde. Sie war die perfekte Bühne für die Menschenmenge auf dem Baseballfeld. Die Frau war nun oben angekommen und der Mann hatte sämtliche Kleidungsstücke abgelegt. Er war splitterfasernackt und völlig schutzlos. Cassie wandte den Blick ab und kämpfte gegen den Brechreiz, der in ihr aufstieg.
Sie versuchte, ruhiger zu atmen. »Es ist nicht Dad«, sagte sie leise zu sich. Das wusste sie. Zum einen war der Mann weiß. Aber dennoch. Er war ein Vater, der Vater anderer Kinder, und ihr Vater hatte auf die gleiche Art wie dieser Mann die Brille abgenommen und sicher in der Hemdtasche verwahrt. Ihre Glieder fühlten sich schlaff und zittrig an. Wo war die Energie hin, die Spannung, die sie noch vor Kurzem gespürt hatte? Der Kameradschaftsgeist?
Die Frau hielt den Marker empor, sodass die Menge ihn sehen konnte. Cassie nahm an, sie wäre aufgeregt, würde zumindest lächeln, doch ihr Gesicht war völlig ausdruckslos. Sie schien zu zögern, dann beugte sie sich vor und drückte dem Mann einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Daraufhin schloss er die Augen.
Die Menge jedoch kostete den Moment aus. Sie klatschte lauter, während Cassie spürte, wie sie selbst sich wieder in den Panzer zurückzog, in den sie sich vor so vielen Monaten verkrochen hatte.
»Un-ge-heu-er!«, brüllte ein junges Mädchen neben ihr. Cassie starrte sie an, dieses zarte, engelhafte Wesen mit funkelnden Augen und nahezu gebleckten Zähnen. Sie wirkte, als könne sie keiner Fliege etwas zuleide tun, und brannte dennoch darauf, Unheil anzurichten.
Cassie blinzelte. Sie blickte um sich auf die anderen, die jubelten angesichts der Szene, die sich auf der Tribüne vor ihnen abspielte. Dort begann die Frau damit, auf die Brust des Mannes zu schreiben. Er stand nackt und regungslos da. Cassie wandte sich ab.
»Ich muss hier weg«, keuchte sie und bahnte sich einen Weg zurück. Überall stieß sie gegen Körper. Cassie mühte sich ab, wich Ellbogen, Schultern und Fäusten aus und rang nach Luft.
Endlich fand sie eine Lücke in der Menge. Sie erreichte das hintere, menschenleere Ende des Spielfelds und preschte los. Die Sonne schien heiß, brannte auf ihren Nacken und ihre Beine herab. Der Lärm des Hive-Mobs hinter ihr ebbte endlich so weit ab, dass sie den Kopf freibekam und wieder klar denken konnte. Sie verfiel in einen langsameren Laufschritt, dann in einen Trott. Hellbrauner Staub wirbelte unter ihren Füßen auf, flirrte um sie herum und nahm ihr die Sicht. Jeder Moment der Klarheit, den Cassie eben noch gehabt hatte, jede Sekunde, in der sie sich nicht vom Rest der Menschheit isoliert gefühlt hatte, hatte sich in Luft aufgelöst. Puff!
Hinter ihr schickte der Mann sich an, den Tag nackt in der Öffentlichkeit zu verbringen, wo alle Welt seine Schande sehen konnte. Man würde ihn filmen und den Stream live im Internet übertragen, die Leute würden Kommentare abgeben, ihn auslachen und den Link teilen. Seine Frau würde noch mehr gedemütigt werden. Und seine Kinder auch. Und Cassie hatte dazu beigetragen. Hatte ihn auf dem Spielfeld in die Ecke gedrängt und ihm keinen Ausweg gelassen.
Das hatte sie doch gewollt, oder etwa nicht? Unmittelbar Vergeltung üben, wie alle es forderten? Gerechten Zorn spüren, wie die Menge hinter ihr?
Ihr war speiübel. Sie rannte durch das Viertel, immer im Schatten der Bäume, unter denen sie aufgewachsen war, passierte Straßen und bog um Ecken, bis sie ihr Zuhause erreichte.
Augenblick mal! Ihr ehemaliges Zuhause.
»Scheiße!«, rief Cassie und ballte die Fäuste. Sie stand mitten auf ihrer alten Straße vor einem Haus, das erst vor ein paar Wochen an neue Eigentümer verkauft worden war. Sie war so versessen darauf gewesen, dem Schauplatz des Schreckens zu entkommen, dass sie nicht nachgedacht hatte. Sie hatte sich auf das Gedächtnis ihrer Muskeln verlassen. Ihre neue Wohnung lag im Zentrum. Dorthin musste sie mit dem Bus fahren.
»Danke, Mom«, grummelte Cassie. Ihre Mutter musste immer alles kaputtmachen.
Zum Glück wusste Cassie, dass die Bushaltestelle in der Nähe war. Sie hastete dorthin und erwischte gerade so den nächsten Bus. Während der Fahrt ignorierte sie alle neuen BLINQ-Meldungen in ihrem Newsfeed und versuchte, ihren Magen zu beruhigen. Wenn es ihr gelang, nicht an #ÖffentlichErniedrigen und an den Mann zu denken, der zwar nicht wie ihr Vater aussah, es aber trotzdem hätte sein können, wenn sie das Gedränge der Menge und die funkelnden Augen des kleinen Mädchens aus dem Gedächtnis verbannen konnte, würde es ihr bestimmt wieder besser gehen.
Die Busfahrt verging ziemlich schnell. Als sie ausstieg, war die Sonne hinter den hohen Häuserwänden nicht zu sehen, und die Luft fühlte sich stickiger an. Cassie verabscheute das Stadtzentrum, doch sie musste zugeben, dass es auch Vorteile hatte: Wenn man niemandem in die Augen schauen wollte, wenn man kurz davor war, auszurasten, wurde man in Ruhe gelassen.
»Cassie!«, rief Rachel, als Cassie in die vollgestopfte neue Wohnung stürmte. Rachel saß an dem winzigen Küchentisch vor ihrem Laptop und war von Büchern umringt. »Alles okay?«
»Jetzt nicht, Mom«, sagte Cassie. Sie ging geradewegs in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
In ihrem Zimmer warf sich Cassie auf das Bett und tippte auf dem Handydisplay herum. Als die Chat-App sich öffnete, beruhigte sich ihr Atem. Alles war gut. Sie war in Sicherheit.
Dad, schrieb sie, heute ist ein schrecklicher Tag.
Harlons Antwort kam postwendend. Hi, Kleine. Jeder Tag, den man hinter sich lassen kann, ist ein guter Tag, stimmt’s?
Sie seufzte. Der beißende Humor ihres Vaters konnte ironischerweise immer ihre Laune heben.
Du fehlst mir so sehr, schrieb Cassie.
Du mir auch. Ich hab dich lieb.
Cassies Blick ruhte minutenlang auf den Worten ihres Vaters und wie immer ließ sie sich von ihnen trösten. Ohne die Gegenwart ihres Vaters spürte sie einen inneren Schmerz, als hätte jemand ein Stück aus ihr herausgerissen und als wäre sie nun dazu verdammt, einfach so weiterzuleben, ohne ebenjenen Teil, der sie zu einem ganzen Menschen machte. Der Schmerz ließ sich nur durch Zorn betäuben. Ein Teil von ihr wusste, dass es nicht gut war, ständig mit einer solchen Wut im Bauch herumzulaufen, aber es fühlte sich so viel besser an als der Schmerz.
Sie begann wieder zu tippen, weil sie ihre Gedanken über diesen Tag verarbeiten musste. Auf ihren nächsten Satz würde er nichts zu erwidern wissen, oder? Dad, ich habe mich heute zum ersten Mal an einem Hive-Mob beteiligt … Ich habe einen Menschen bestraft, an dessen Namen ich mich nicht einmal erinnern kann, falls ich ihn überhaupt je gewusst habe.
In diesem Moment platzte ihre Mutter herein.
»Mom!«, fauchte Cassie. »Mensch, klopf an!«
Rachel machte ein betretenes Gesicht. »Du hast ja recht. Tut mir leid. Aber wir haben doch über die Nachrichten an deinen Vater gesprochen …«
»Wer sagt denn, dass ich das mache?«
Rachel verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich an den Türrahmen und musterte ihre Tochter. Cassie blickte sie finster an, mit einer tief empfundenen, unstillbaren Wut. Davon hatte sie nach ihrem misslungenen Versuch, an Hive-Justiz teilzunehmen, noch jede Menge übrig. Der aufgestaute Zorn brauchte ein Ventil. Und ihre Mutter kam ihr gerade recht.
Statt den Rückzug anzutreten oder die Beherrschung zu verlieren, seufzte Rachel und setzte sich behutsam auf den Rand von Cassies Bett.
»Süße, wir haben doch darüber gesprochen, oder? Über die Nachrichten?« Rachel versuchte, eine Locke von Cassies dunklem Haar glatt zu streichen, das zu einem losen, hohen Dutt gebunden war, doch Cassie schlug ihre Hand weg.
Das Gemisch an Emotionen, das schon den ganzen Tag in ihrem Inneren um ihre Aufmerksamkeit rang, begann zu brodeln. Cassie wusste, es würde explodieren, wenn ihre Mutter jetzt den Funken entfachte.
Sie schob den Unterkiefer vor – eine Geste des Trotzes und eine weitere Eigenschaft, die sie von ihrem Vater geerbt hatte – und funkelte Rachel an. Ihre Stimme war kalt. »Du kannst mir nicht verbieten, mich mit ihm zu unterhalten.«
Diesmal erwiderte Rachel Cassies wütenden Blick. »Das kann ich sehr wohl.«
Rachel hasste es, die Gefühle, die ihre Tochter zeigte, gleich wieder zunichtemachen zu müssen. Als Tränen über Cassies Wangen zu rinnen begannen, wappnete sich Rachel innerlich. Ihr einziges Kind stand kurz vor einem emotionalen Zusammenbruch, aber sie musste um ihrer beider willen standhaft bleiben. Das war auch für sie schwer. Auf eine andere, aber ebenso unerträgliche Weise.
Rachel erkannte in Cassie ihren Mann wieder, in ihren großen braunen Augen, in ihrer Körpergröße, in dem winzigen Grübchen, wenn sie lächelte. In letzter Zeit bekam Rachel das Grübchen nie zu Gesicht. Was, wenn Cassie es brauchte, ihrem Vater zu schreiben? Rachel spürte, wie sie einknickte, auch wenn sie wusste, dass es Cassie eigentlich nicht guttat. Selbst der Therapeut hatte das gesagt.
Andererseits gehörte Dr. Gillen der Vergangenheit an, ebenso wie das viele Geld, das er gekostet hatte. Er war nicht hier und konnte nicht sehen, wie Cassie sich veränderte, wenn sie sich mit ihrem Vater unterhielt, wie sie sich zurückverwandelte in das sorglose, liebevolle, lebhafte Kind, das sie hätte sein sollen. Selbst wenn es nur für ein paar Minuten war.
»Bitte, Mom«, flüsterte Cassie. Draußen schien der Lärm der Stadt abzuebben und einer Ruhe, einer Stille zu weichen, wie Rachel sie seit … nun, seit sechs Monaten nicht mehr vernommen hatte.
»Also gut«, lenkte Rachel ein. »Aber nur übergangsweise.«
Rachel war noch nicht einmal zur Tür hinaus, als sie wieder die Tastentöne von Cassies Handy hörte. Draußen hupte ein Auto und das Beben der U-Bahn konnte sie selbst hier im zehnten Stock unter ihren Füßen spüren.
Pling. Was auch immer Cassie geschrieben hatte, sie hatte eine Antwort bekommen.
Rachel unterdrückte den Impuls, ihrer Tochter das Handy zu entreißen und nachzusehen, was Harlon getextet hatte. Sie umklammerte den Türgriff mit weiß hervortretenden Fingerknöcheln und zog die Tür hinter sich zu. In der Dunkelheit des Flurs schloss sie die Augen und zählte bis zehn.
Natürlich war es nicht Harlon, rief sie sich ins Gedächtnis, als sie zurück in die Küche-Schrägstrich-Büro-Schrägstrich-Esszimmer trottete. Nicht wirklich.
Es konnte nicht der echte Harlon sein, denn sie hatten ihn sechs Monate zuvor beerdigt.
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2
Es war sinnlos. Cassies Locken waren einfach nicht zu bändigen. Sie schnitt sich selbst eine Grimasse im Badezimmerspiegel, der vom Duschen noch beschlagen war, zuckte mit den Achseln und band das Haar wieder zu einem hohen Dutt zusammen. Und um zu unterstreichen, dass sie sich um ihr Aussehen keinen Deut scherte, beschloss sie, auch auf den üblichen beerenroten Lippenstift zu verzichten. Wen sollte sie schon beeindrucken? Die Kids in ihrer neuen Schule? Ganz bestimmt nicht. Denen war sie doch egal, warum sollte sie sich also stressen?
Nur bei ihrem Armband machte sie keine Kompromisse. Sie würde es heute so wie an jedem anderen Tag tragen. Es bestand aus einer schlichten Goldkette mit zehn farbigen Steinen. Keine echten Edelsteine – nur billige Kopien. Aber es war ein Geschenk ihres Vaters, das sie in Ehren hielt.
Als sie zum Frühstücken in die Küche kam, brachte der Ausdruck auf Rachels Gesicht sie abrupt zum Stehen. »Was?«, blaffte sie. Schnell betastete sie Lippen und Haare. Vielleicht sah sie heute echt zum Fürchten aus, selbst für ihre Verhältnisse.
Der Mund ihrer Mutter war zu einer schmalen Linie geschrumpft, so sehr presste sie die Lippen aufeinander. Cassie bemerkte zum ersten Mal, wie erschöpft ihre Mutter aussah, wie sich die Falten um die Augen und den Mund tiefer eingegraben hatten. Rachel schüttelte kurz den Kopf, Müdigkeit und Zorn wogten aus ihr in fast schon sichtbaren Wellen.
»Was denn, Mom?« Cassies Unmut wich einem Anflug von Sorge. Sie erinnerte sich plötzlich an den entsetzlichen Tag vor sechs Monaten. Würde ihre Mutter jetzt etwas verkünden, das Cassies Welt erneut einstürzen ließ? Das würde sie nicht noch einmal verkraften.
Es geht um deinen Vater. Es ist so, dass …
Aber es war nichts mehr übrig, das hätte kaputtgehen können, rief sich Cassie ins Gedächtnis. Nichts, was man ihr noch nehmen könnte. Ihre Mutter konnte sagen, was sie wollte, und egal, wie schlimm es war, es würde keinen Unterschied machen. Cassie war bereits auf dem Tiefpunkt angelangt: Vater weg. Beschissene neue Wohnung. Zweifelsohne eine beschissene neue Schule. Keine Freunde. Und nur, damit sie sich noch mieser fühlte, natürlich nichts anzuziehen und die Haare außer Rand und Band.
Als Rachel schließlich zu sprechen begann, klang ihre Stimme gepresst, als würde sie sich bemühen, durch eine Mauer hindurch gehört zu werden. »Was. Ist. Das?«
Rachel drehte ihr Tablet auf dem Tisch herum und zeigte Cassie ein Video. Verdutzt brauchte Cassie ein paar Sekunden, bis sie begriff, was ihre Mutter so auf die Palme brachte.
Jemand hatte den gestrigen Hive-Mob gefilmt. Und da, so klar zu sehen wie der leuchtend blaue Himmel, war Cassie. Immer wieder hatten ihre Größe und das pechschwarze Haar die Aufmerksamkeit der Kamera auf sich gezogen, während diese über die Menge schwenkte, deren Rufe und Sprechchöre nun übertönten, was Rachel zu sagen hatte.
In Cassie machte sich wieder Übelkeit breit, dieselbe, die sie gestern dazu veranlasst hatte, auf dem Absatz kehrtzumachen und die Flucht zu ergreifen. Aber diesmal schluckte Cassie sie hinunter, zwang sie in das dunkle Loch, das sie in letzter Zeit in sich barg.
Gebannt verfolgte sie das Video, das sich im Internet verbreitete. Aufnahmen von sich selbst zu sehen, auf denen man nicht wusste, dass man gefilmt wurde, war total abgefahren – obwohl natürlich mittlerweile jeder überall gefilmt wurde. Es war, als würde sie einem Zwilling zuschauen, den sie vorher noch nicht gekannt hatte. Auf dem Video konnte Cassie es in ihren Augen erkennen: die Schwäche. Die Angst. Wäre sie stärker gewesen, wäre sie geblieben. Hätte der Übeltäter sie nicht an ihren Vater erinnert … nun, dann könnte man auf dem Video jetzt nicht sehen, wie sie sich umwandte und wegrannte. Wie ein Kind.
Dieser Fehler würde ihr nicht noch einmal unterlaufen.
»Hörst du mir überhaupt zu, Cass?« Rachel schaltete das Tablet aus. Der plötzliche Wechsel von den Schreien im Video zur Stille der Küche verursachte Cassie Unbehagen und irgendwie das Gefühl, unter Wasser zu sein. »Was haben wir besprochen? Du machst bei diesem Schwachsinn nicht mit!«
»Schwachsinn?« Cassie schüttelte den Kopf. Nur jemand, der nicht die Gänsehaut auf den Armen gespürt hatte, die die Energie eines Hives verursachte, konnte das als Schwachsinn abtun. Und ihre Mutter, die kaum mit ihren E-Mails klarkam, hatte definitiv keine Ahnung davon. »Mom, so läuft das jetzt. Machst du dir denn gar nichts aus Fortschritt? Aus Gerechtigkeit?«
»Das hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun!« Rachel schlug so fest mit der Hand auf den Tisch, dass ihre Kaffeetasse wackelte und umzukippen drohte. »Gerechtigkeit bedeutet nicht, einem armen Tropf nachzustellen, der sich über sein schweres Los beschwert hat und …«
»Das ist die Gerechtigkeit von heute!« Cassie deutete mit dem Finger auf das Fenster. »So regeln wir diese Angelegenheiten mittlerweile!«
»In anderen Ländern nicht«, argumentierte Rachel.
»Deshalb ist es noch lange nicht falsch«, blaffte Cassie.
»Aber auch nicht richtig!«, schoss Rachel zurück.
»Wollen wir uns jetzt wirklich deshalb wieder streiten?« Cassie verdrehte die Augen. »Immer dieselbe Leier, oder? Sag Bescheid, falls du den Text vergessen hast.«
Sobald Rachels Haut den dunkelroten Farbton annahm, wie sie sich immer verfärbte, wenn Rachel die Geduld mit ihrem einzigen Kind verlor, blendete Cassie ihre Mutter aus. Als ob jemand das Zimmer abgedämpft hätte. Rachels Stimme wurde zu einem Hintergrundrauschen, das sich mit der Klangkulisse des Verkehrs und der Menschen draußen vermischte. Sie führten diesen Streit seit einer Ewigkeit, so fühlte es sich jedenfalls an.
Cassie konnte sich kaum noch an die Zeit vor der Hive-Justiz erinnern. Ihr Vater hatte ihr von jenen Tagen erzählt, als das aufflammende Interesse an jemandem auf Twitter für gewöhnlich bedeutete, dass er gestorben war oder im besten Fall ein unangekündigtes Album veröffentlicht hatte. Doch allmählich begann sich angemessenes und nicht angemessenes Verhalten im Internet zu verändern.
»Menschen werden bösartig, wenn man es zulässt«, pflegte Harlon zu sagen. Jede Kränkung, die jemand verbreitete, ob vermeintlich oder echt, wurde zur Zielscheibe von üblen Drohungen, Schikanen und Doxing. Eine gemeine Nachricht an die Ex geschickt? Dein Name, deine Adresse, selbst dein Notendurchschnitt wurden nahezu augenblicklich aufgedeckt und ins Netz gestellt, was unter Umständen Hundertmillionen Nutzer gegen dich aufbrachte. Und dann war man Freiwild. Cassie erinnerte sich an eine Frau in ihrer alten Wohngegend, eine nette alte Dame, die die meiste Zeit mit Gartenarbeit verbrachte. Sie war die erste Person, die Cassie kannte, die praktisch zur Aussätzigen wurde, nachdem sie ein im Viertel aufgenommenes Foto einer missglückten Gartengestaltung gepostet hatte. Das Foto verbreitete sich in Windeseile und bald darauf hasste man sie im Internet. Sie war eine Mobberin, eine blöde Kuh. Ihre spitze Zunge war ein Werkzeug der Diskriminierung, eine Gefahr für die Gesellschaft. Am Ende musste sie ihr Haus verkaufen, nachdem Horden wütender Menschen ständig ohne Vorwarnung auftauchten, die Blumen in ihrem Garten ausrissen und so auf der Straße einen Friedhof der Farben hinterließen. Cassie wusste nicht, wo sie heute wohnte. Aber sie war sich sicher, dass die alte Dame sich nicht mehr über andere lustig machte, wo auch immer sie sich befand.
So ist es also am Anfang gewesen: Allmählich wurden die Internetnutzer zu Richtern und Geschworenen für jegliches »ungehobelte« Benehmen im Internet. Die kritische Masse der Mehrheit in den sozialen Medien wurde als Hive, Schwarm, bekannt und fühlte sich dafür verantwortlich, ein als gesellschaftlich unakzeptabel geltendes Verhalten zu erkennen und zu bestrafen.
Mit beängstigender Geschwindigkeit wurde der Hive für seine brutale Selbstjustiz berüchtigt. Da die Engagement-Rate in den sozialen Medien des Landes bei nahezu neunundneunzig Prozent lag, wurde jeder, dem man ein Fehlverhalten vorwarf, von wütenden Mobs verfolgt, die in den Augen des Internets »Gerechtigkeit« übten.
Anfangs nahm man das ebenso hin wie Massenschießereien – es war eben der Preis, den man bezahlt, wenn man in einer freien und offenen Gesellschaft lebt.
Dann kamen die Ausschreitungen. Nach einer Reihe von Randalen in mehreren Städten, die auf das Konto des Hives gingen, war die Regierung gezwungen, zu handeln und Gesetze zu verabschieden, um den Hive so gut wie möglich im Zaum zu halten. Aber der Hive war dezentralisiert. Er hatte keine Führungsebene. Er folgte keinem Plan, den man durchkreuzen konnte. Er war einfach.
»Er war wir«, hatte Harlon zu Cassie gesagt. »Wir sind dem Hive begegnet und er war wir.« Und dann lachte er auf eine Art, die ihr verriet, dass er gerade auf ein altes Zitat angespielt hatte, das sie nachschlagen musste, wenn sie es verstehen wollte.
Es war zu spät, um dem Hive die Macht zu entreißen – dafür war er mittlerweile schon zu groß –, doch man konnte ihn lenken. Kanalisieren. Mithilfe aller großen Firmen, die das Internet betrieben, entwickelte die Regierung neue Algorithmen, um das Justizsystem des Hives auf rechtliche Füße zu stellen. Ein soziales Netzwerk wurde eingerichtet, das den Namen BLINQ trug. Es war ausschließlich den Bürgern der Vereinigten Staaten zugänglich und seine Nutzung war verbindlich. Es sammelte die Inhalte aller anderen Plattformen, sodass man das gesamte Profil eines Menschen in den sozialen Medien auf einen Blick erfassen konnte. Man konnte die Aktionen anderer wie bisher mit »Gefällt mir« oder »Gefällt mir nicht« bewerten … aber man konnte sie nun auch »Verurteilen«. Und wenn die Anzahl der Verurteilungen bei einem Nutzer einen bestimmten Schwellwert überschritt, gewichtet nach Parametern wie der Verbreitungsgeschwindigkeit und früheren Beiträgen in den sozialen Medien, wurde eine offizielle Strafe verhängt.
Und das zog handfeste Konsequenzen außerhalb des Internets nach sich.
Die Gerichtsbarkeit in der analogen Welt blieb zwar bestehen. Straftaten wie Diebstahl, Veruntreuung und Körperverletzung wurden noch immer durch Polizisten, Anwälte und den ganzen altmodischen Kram geregelt. Doch jeder musste schließlich einsehen, dass man das Internet nur mit dem und durch das Internet kontrollieren konnte. Jahrelang hatte man versucht, der digitalen Welt mit alten analogen Werkzeugen zu Leibe zu rücken. Es war ein Kampf auf verlorenem Posten, wie sich jeder, der etwas vom Internet versteht, hätte denken können. Heute waren die Menschen für ihr Verhalten im Internet voll verantwortlich … und hatten mit Konsequenzen außerhalb des Netzes zu rechnen.
Und, wie Cassie immer wieder betonte, wenn Rachel sich auf einen ihrer Anti-Hive-Kreuzzüge begab, die Lage hatte sich gebessert. Die Internetnutzer waren nun vorsichtiger, verantwortungsbewusster. Was konnte falsch daran sein, egal, wie sehr ihre Mutter dagegen wetterte?
»Ich komme zu spät zur Schule«, meinte Cassie beiläufig, inmitten der Tirade ihrer Mutter hinein. »Mir ist das ja egal.«
Rachel wurde nur äußerst ungern laut. Und sie tat es gewöhnlich auch nicht. Aber dass Cassie sich an Hive-Justiz beteiligte … nun, das torpedierte ihre Selbstbeherrschung hundertprozentig, ganz zu schweigen von der Migräne, die es auslöste. Hatte Cassie überhaupt zugehört? Das war schwer zu sagen. Cassie hatte ihren Gesichtsausdruck so im Griff, dass er Rachel nichts über den Gemütszustand ihrer Tochter verriet. »Perfektes Teenager-Pokerface«, hatte Harlon es genannt.
Harlon. Mein Gott, Harlon. Der Teil von ihr, dem sie das Träumen und Fantasieren noch gestattete, glaubte daran, dass nichts von alldem geschehen würde, wenn er noch am Leben wäre.
Aber in einem Punkt hatte Cassie recht.
Rachels Blick fiel auf die Uhr am Küchenherd. »Schei… Mist!« Sie versuchte, vor Cassie nicht zu fluchen. Sie hegte die wunderbar naive Vorstellung, dass ihre Tochter eines schönen Tages das Verhalten der Mutter nachahmen würde. »Wir kommen zu spät!«
»Jep«, sagte Cassie sanft. Womöglich hörte sie also doch zu? Rachel schüttelte den Kopf. Das war jetzt auch egal. Der heutige Tag war wichtig für beide: Cassie kam in die zwölfte Klasse an der Westfield Highschool, Rachel trat ihren Lehrstuhl an der Microsoft/Buzzfeed University an. Vielleicht, dachte sie, während sie einen Müsliriegel und einen Apfel in ihre Aktentasche warf, sollten sie heute Abend feiern. Sie könnte beim Thailänder bestellen. Das war zwar Geldverschwendung, aber auch Cassies Lieblingsessen.
Die Vorbereitung auf die neue Stelle hatte Rachel von Harlons Tod abgelenkt und dafür war sie dankbar. Aber tief in ihrem Inneren, an einem Ort, zu dem weder Cassie – oder sonst irgendjemand – Zutritt hatte, war sie zugleich zutiefst verängstigt. Als Teilzeitdozentin am Community College in ihrem alten Viertel hatte Rachel nur ein paar Seminare in Altertumswissenschaften pro Semester unterrichtet und so viel Zeit gehabt, dass sie dem Lehrer-Eltern-Ausschuss von Cassies Schule beitreten und bei den meisten Fußballspielen und Mathewettbewerben ihrer Tochter zuschauen konnte. Nicht, dass es Cassie besonders interessiert hätte, erinnerte sich Rachel. Egal, wie oft sie auf der Tribüne gesessen und Cassie angefeuert hatte, war Cassie stets enttäuscht, wenn nicht auch Harlon zugegen war.
Doch Harlon arbeitete als Informatiker bei einigen der größten Softwareunternehmen der Welt und auch bei einigen der kleinsten, aber einflussreichsten. Seine häufigen Dienstreisen waren ein Reizthema ihrer Ehe. Nach seinem Tod hatte sie festgestellt, dass sie trotz seiner lückenlosen Beschäftigung aufgrund einiger Fehlinvestitionen und Harlons teurer Technik-Hobbys in ziemlich großen finanziellen Schwierigkeiten steckten. Es war ihm ausgezeichnet gelungen, diese Tatsache vor ihr zu verbergen. Manchmal weinte sie deshalb vor Kummer, leise, wenn Cassie schlief. Manchmal, meistens im unbarmherzigen Licht des Tages, hätte sie deswegen am liebsten etwas an die Wand geschleudert. Warum hatte Harlon ihr nichts davon erzählt? Warum hatte er so lange geschwiegen?
Rachel blieb nichts anderes übrig, als ihr Haus zu verkaufen, die Schulden zu begleichen und eine kleinere (okay, deutlich kleinere) Wohnung im Stadtzentrum zu suchen, wo sie eine besser bezahlte Arbeit finden konnte. Es hatte sie dennoch überrascht, als die Universität sie zu einem Vorstellungsgespräch einlud. Es handelte sich um eine noble Privateinrichtung, die den wohlverdienten Ruf genoss, ihre Studentenschaft aus den Reichsten der Reichen zu rekrutieren. Die Eltern der Studenten waren Gründer und Geschäftsführer von schnieken Unternehmen und Technologiefirmen, Investmentbanker und Unternehmer, Öl- und Gasmagnaten. Obwohl Altertumswissenschaften keinen Studenten mehr hinter dem Ofen hervorlockten, erachteten die Eltern – die die Studiengebühren bezahlten – diese Bildung dennoch für notwendig. Wie sie solche Jugendliche erreichen sollte, war ihr ein Rätsel.
Cassie stand an der Wohnungstür und klopfte mit dem Fuß. Sie zog die Augenbrauen auf diese gelangweilt-fragende Art hoch, sodass Rachel bei ihrem Anblick erstarrte. Sie konnte nicht anders. Plötzlich war sie beeindruckt, wie erwachsen ihre Tochter war, mit ihrer Körpergröße und ihrer Haltung, mit der Art, wie ihre Augen scheinbar Millionen Geschichten zu erzählen hatten. Erwachsen, bemerkte Rachel, doch nicht mehr unversehrt.
Draußen warteten zwei Männer – es waren immer zwei – in einem schwarzen Zivilfahrzeug und schlürften die Reste ihres Kaffees. Der Kaffeesatz bildete in den weißen Pappbechern Pünktchenmuster, aus denen man die Zukunft hätte lesen können. Sie parkten dort schon geraume Zeit, und der Kaffee war so weit abgekühlt, dass es einen beim Trinken schüttelte und man sich fragte, warum überhaupt jemand dieses Gebräu in sich hineinschüttete.
Die beiden waren seit Sonnenaufgang da. Für die McKinneys begann ein neues Schuljahr, und die Männer wussten noch nicht genau, wie deren Planung für die einzelnen Wochentage aussah. Die Chefetage hatte den Männern aufgetragen, sich gleich auf den Weg zu machen. Und so hockten sie nun hier in ihren abgetragenen Anzügen.
Endlich kam Bewegung ins Spiel.
Mann eins stieß den Schuh von Mann zwei an, der seine langen Beine so übereinandergeschlagen hatte, dass sie Mann eins ins Gehege kamen. Beide Männer setzten sich auf, aber so cool, als hätten sie das schon millionenfach getan.
Was sie natürlich auch hatten.
»Zielpersonen entdeckt«, raunte Mann eins leise ins Headset. Er wartete auf weitere Instruktionen. Sie hatten nur ein Auto, sodass die Oberen entscheiden mussten, welcher Zielperson sie folgen sollten.
Die Anweisung, die sie nach ein paar Sekunden schließlich erhielten, war eindeutig.
»Verstanden«, sagte Mann eins und nickte knapp. Er wartete, bis die Zielpersonen das Ende des Häuserblocks erreicht hatten, und ließ dann den Wagen an.
Im morgendlichen Treiben der Stadt nahm keiner Notiz davon.
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3
Cassie stapfte über die abgewetzten Marmorböden der Westfield High. Rachel hatte sie eigentlich zur Anmeldung ins Sekretariat begleiten wollen. Der Gedanke daran war so erniedrigend, dass Cassie am liebsten im Boden versunken wäre. Doch es war ihr gelungen, ihre Mutter daran zu erinnern, dass sie selbst auch ihren ersten Tag hatte und sich beeilen musste. Und so war Cassie nun allein, was ihr auch lieber war.
»Entschuldigung«, sagte sie zu der einzig anwesenden Person hinter dem großen Empfangstresen im Sekretariat.
Die gestresste Frau, die ein Telefon ans Ohr geklemmt hatte und in einer Hand ein Tablet balancierte, hielt die andere Hand hoch. »Ich bin gleich für Sie da … setzen Sie sich!«, plapperte sie los.
Cassie nahm auf einem der Klappstühle an der Wand Platz und griff zögernd nach ihrem Handy. Alles, was sie den Sommer über verdrängt hatte, wie auch den Gedanken daran, das letzte Schuljahr an einer neuen Schule absitzen zu müssen, ließ sich nun nicht mehr abschütteln. Jetzt da sie tatsächlich hier war, jetzt da der Tag endgültig gekommen war, war es ja vielleicht an der Zeit, herauszufinden, was die Westfield High ihr zu bieten hatte.
Sie suchte in BLINQ nach Einträgen, in denen die Schule erwähnt wurde. Es war das Übliche: Schüler redeten über ihre Lehrer, über ihre Outfits und darüber, wer in den Sommerferien in die Schule eingebrochen und jetzt dafür einen Verweis kassiert hatte. Es gab ein paar ziemlich aktive Hashtags, wie #GewinnerDerWestfield (Klatsch und Tratsch über die Schulsportler und diejenigen, die mit ihnen rummachten) und #ÖstlichVonWestfield (dummes Gerede über die Schüler der rivalisierenden Highschool Huerta High). Cassie war gerade dabei, sich durch eine ausufernde Diskussion zwischen Dutzenden Schülern über die Kleiderordnung der Schule unter #WerTrugEsWestfield zu arbeiten, als sie von einem BLINQ-Benachrichtigungston in ihrem Ohr unterbrochen wurde.
Hive-Benachrichtigung, hieß es, #SkylarZumüllen!
Cassie studierte die Hunderten BLINQ-Einträge, die zu der Hive-Benachrichtigung gehörten. Ein merkwürdiges Kribbeln regte sich in ihrem Bauch. Sie leckte sich über die trockenen Lippen und schielte zu den Sekretariatsangestellten. Hatte man sie vergessen? Die Multitasking-Frau, die sie gebeten hatte, zu warten, war noch immer beschäftigt und drosch nun auf eine Laptoptastatur ein. Jetzt erst fiel Cassie auf, dass sie kein Headset aufhatte – was seltsam war, denn die meisten Menschen trugen eins, wenn sie wach waren. Und manche sogar, wenn sie schliefen.
Cassies Headset machte sich wieder bemerkbar. Hive-Benachrichtigung: Hof der WHS in fünf Minuten. #SkylarZumüllen!
»Liebes!« Die Vielbeschäftigte winkte Cassie heran. »Danke, dass Sie gewartet haben. Was kann ich für Sie tun?«
»Hi«, antwortete Cassie, steckte ihr Handy in die Tasche und ging zum Tresen. »Ich bin neu. Heute ist mein erster Tag, meine ich.«
»Es ist für alle der erste Tag, Liebes«, sagte die Frau und tippte auf dem Tablet herum. »Nachname?«
»McKinney.«
»Mal sehen … okay, Cassie, willkommen. Hier ist Ihr Stundenplan, die Spindkombination, ein Link zum Gebäudeplan …« Sie tippte noch ein paarmal, und Cassie spürte, wie die eintreffenden Informationen ihr Handy zum Vibrieren brachten. »Und – oh, toll! – Sie haben eine Patin. Sie müsste jede Sekunde hier sein.«
»Eine Patin?« Cassies Magen drehte sich um. Eine Patin konnte sie ganz und gar nicht gebrauchen. »Ist das wirklich nötig?«
Die Frau hielt inne und beäugte Cassie. »Na ja, wissen Sie denn, wo Sie die erste Stunde haben?«
»Nein, aber das finde ich ganz bestimmt allein heraus«, versicherte Cassie eilig.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Jeder Neuzugang bekommt einen Paten. Einen wunderschönen Tag noch!« Irgendwo im Hinterzimmer klingelte ein Telefon und die Frau eilte hin.
Cassie sank in sich zusammen. Würde es jemandem auffallen, wenn sie sich ohne ihre Patin davonstahl?
»Scheiß auf euer Patensystem«, rief Cassie, sobald sie außer Hörweite draußen im Gang stand. Sie verdrückte sich in eine kleine Ecke mit Trinkbrunnen, um ein paar Minuten lang den #SkylarZumüllen-Feed zu studieren, bevor sie sich auf die Suche nach dem Unterrichtsraum machte. Schließlich würde sie ja keiner vermissen.
Es war nicht ganz klar, was Skylar verbockt hatte, aber den BLINQ-Einträgen nach zu urteilen, meinten die Westfield-Kids es ernst mit der Hive-Justiz. Es war ermutigend zu sehen, stellte Cassie fest, dass andere Jugendliche das gleiche Bedürfnis hatten, zu zerstören, zu rebellieren und das Unrecht der Welt geradezubiegen, das auch sie in sich spürte. Vielleicht konnte sie ja den Hof ausfindig machen und ihre schwache Vorstellung von gestern wettmachen. War das zu viel verlangt?
»Cassie!« Ein Vorhang blonder Haare erschien, aus dessen Mitte eine Hand ragte und bedrohlich nah an Cassie herankam. Um dem unerwarteten Körperkontakt auszuweichen, trat Cassie unwillkürlich einen Schritt zurück und knallte mit der Hüfte gegen die Kante des Trinkbrunnens. Sie rang nach Luft, als das blonde Wesen vor ihr ins Blickfeld rückte.
Das Mädchen kicherte und ließ die Hand sinken. »Hände schütteln ist nicht so dein Ding, was? Kein Problem. Ich bin Sarah Stieglitz, deine Patin.«
Cassie starrte sie perplex an. Das war ihre Patin? Oh Mann. Wie hatte die sie bloß gefunden? Der Zornesfunken flammte wieder auf. Cassie wollte ja nicht unhöflich sein – äh, Moment, eigentlich war es ihr egal, ob sie unhöflich war.
Wer auch immer für die Patenzuteilung zuständig war, hatte eine schlechte Wahl getroffen. Sarah war das genaue Gegenteil von ihr: klein, während Cassie groß war, blond, während Cassie schwarzhaarig war, weiß, während Cassie dunkelhäutig war, gut gelaunt, während Cassie … also, während sie genau das eben nicht war. Hundertpro nicht.
Sarah redete, doch Cassie hörte ihr nicht zu und schnitt ihr mitten im Satz das Wort ab. »Danke, aber ich brauche wirklich keine Patin – weshalb ich ja auch nicht auf dich gewartet habe«, fügte sie spitz hinzu.
Sie schlug einen Bogen um Sarah und suchte dabei bereits auf dem Handy nach dem Gebäudeplan.
»Cassie! Warte! Ich kann dir helfen!«
Cassie stöhnte und blickte zur Decke. Ihr Blick landete auf dem blinkenden, grünen Licht der dort angebrachten Überwachungskamera von Zi Technologies, und es dämmerte ihr, dass es dumm von ihr gewesen war, zu glauben, sie könne ihrer Patin entwischen. Oder irgendjemandem, genau genommen. Man vergaß leicht, dass es überall Kameras gab, die alles aufzeichneten, heimlich und dennoch für alle ersichtlich. Selbst in der Schule.
Sarah nutzte die Pause, die Cassie ihr verschafft hatte, und eilte ihr nach. »Hör zu, ich verstehe ja, dass es vermutlich beschissen ist, in der Zwölften die Schule zu wechseln. Das würde mich auch ankotzen. Aber ich habe den Auftrag, dich zu begleiten – so etwas beschließen wir hier im Schülerrat. Kann ich dich daher wenigstens ein bisschen herumführen? So bekomme ich keinen Ärger, weil sich meinetwegen eine neue Schülerin verlaufen hat oder so.«
Cassie stieß einen Seufzer aus. »Ich brauche aber wirklich keine …«
»Okay, offensichtlich nicht. Aber jetzt sind wir nun mal hier.«
Cassie verlagerte das Gewicht auf das andere Bein und beäugte den langen Korridor vor sich. Sie hatte keine Ahnung, wohin er führte. Den Gebäudeplan auf der Schul-Website konnte man in die Tonne treten.
»Ich schwöre, dass ich normal bin«, fuhr Sarah fort. »Ich werde dich nicht abmurksen oder so.«
Cassie hob die Hand. »Ist ja gut.«
Ein vorsichtiges Lächeln machte sich auf Sarahs Gesicht breit. »Oh, schön«, meinte sie leichthin. »Sie hat sich ergeben. Braves, kleines Opfer.«
Cassie schnaubte. Dieses Mädchen war schräg. Wäre Cassie tatsächlich auf der Suche nach neuen Freundschaften gewesen, hätte sie Sarah vermutlich in Erwägung gezogen.
Freundinnen, nein. Eine kurze Führung?
Also gut.
Die Westfield stach in keinster Weise hervor. Mit einem kurzen Anfall von Wehmut, den sie schnell beiseiteschob, dachte Cassie an ihre alte Schule, an ihre alten Freunde. Sechs Monate zuvor hatte Cassie nach dem, was mit ihrem Vater geschehen war, ihre Trauer begraben und eine Erleuchtung gehabt: Freundschaften oder Beziehungen jeglicher Art lohnten die Mühe nicht. Die alten Freunde hatten sich gemeldet – manche von ihnen wochenlang jeden Tag –, doch Cassie hatte schließlich alle Nummern geblockt, selbst die ihrer beiden besten Freunde, Adena und Max. Erst jetzt, als Sarah ihr erklärte, wie an der Westfield alles so lief, und sie so fröhlich plauderte, als würden sie dicke Freundinnen werden, begann Cassie sich zu fragen, ob sie unterschätzt hatte, wie schwer es sein würde, das letzte Schuljahr ohne die beiden zu verbringen. Oder ohne überhaupt irgendjemanden.
Ein Jahr, sagte sie zu sich, als Sarah sie wegführte von etwas, das wie die Tür einer Turnhalle aussah, und mit einer scharfen Linkskurve in einen langen Gang einbog. Sie musste nur ein Jahr an der WHS überstehen. Es war überflüssig, Wurzeln zu schlagen, wenn sie in zehn Monaten ja doch wieder verpflanzt werden würde.
»Hier geht es zu den Laboren und dort ist das Theater. Was machst du so?«
»Wie, was ich mache?«
»Kunst? Theater spielen? Tennis? Programmieren? Was ist dein Ding?«
»Oh.« In ihrer alten Schule … früher … wäre diese Frage leicht zu beantworten gewesen. Sie war die Tochter von Harlon McKinney, also programmierte sie. Aber jetzt? »Eigentlich nichts.«
»Na ja, bei uns kannst du ganz viel machen, wenn du willst. Hier ist die Bibliothek und da die Aula«, gestikulierte Sarah. »Und dort ist das Medienzentrum, direkt hinter dem Hof.«
Der Hof. Auf dem sich Dutzende Schüler zusammengefunden hatten, von denen einige schrien und johlten. Der Hive-Mob. Es war Zeit für #SkylarZumüllen.
»Cassie?« Sarah bemerkte endlich, dass Cassie stehen geblieben war, machte auf dem Absatz kehrt und trottete zurück. »Na los, wir … oh.«
»Da ist ein Hive-Mob«, sagte Cassie. Sie starrte die Menschenmenge an. Deren Geräuschpegel, ein unablässiges Summen von Stimmen und Scharren von Füßen, erfüllte den Gang. In Cassies Kopf blitzten Erinnerungsfetzen an den gestrigen Hive-Mob auf, die ihr Unbehagen verursachten und sie daran zweifeln ließen, ob das, was sich vor ihren Augen abspielte, Wirklichkeit oder ein Flashback war.
»Ja, schon. Aber es klingelt gleich, wir sollten jetzt gehen«, drängte Sarah.
Cassie nickte in Richtung der Menge, die den gesamten Hof einnahm, einen offenen Platz mit ein paar Bäumen, vereinzelten Grasbüscheln und einigen Bänken.
»Was ist mit denen? Die kommen doch alle zu spät, oder?«
Sarah zuckte mit den Achseln. »Grundsätzlich kann sich jeder Schüler jederzeit freistellen lassen, um sich an einem Hive-Mob zu beteiligen, bei dem es um einen Westfield-Schüler geht. Selbst während einer Prüfung« – Sarah verzog das Gesicht – »dürfen wir mitmachen.«
Cassie zog die Augenbrauen hoch. Beeindruckend. An ihrer alten Schule hatte es ziemlich strenge Anti-Hive-Regeln gegeben. Der Gedanke, dass sie sich beteiligen konnte, egal, wo oder wann ein Mob stattfand … und ihre Mutter es nicht einmal erfahren würde …
»Aber das Ganze ist ein Witz«, fuhr Sarah fort. »Nur die beliebten Schüler stehen im Netz wirklich gut da. Jede Woche entscheidet eine gewisse Gruppe von Leuten, wer das nächste Ziel sein wird, und die anderen folgen ihnen einfach. Das hat mit Gerechtigkeit wenig zu tun. Es ist einfach nur …«
Es klingelte.
»Cassie«, mahnte Sarah. Aber Cassie hatte sich bereits entschieden.
»Bis dann, Patin«, sagte sie und eilte auf den Hof. Ihre Haut fühlte sich an, als würde sie in Flammen stehen.
Auf dem Hof schien sich die gesamte Westfield zu tummeln, mit Ausnahme von Skylar. (Nun ja, und Sarah.) Alle schwatzten, schauten prüfend auf ihre Handys, und die BLINQ-Benachrichtigungstöne formierten sich zu einer Sinfonie, nach der Cassie sich verzehrte. Die Atmosphäre war beinahe schon festlich.
Wenn Cassie etwas über die Highschool wusste, dann das: Sie war ein Schlachtfeld. Sie erkannte sofort, welche Gruppen den Ton angaben. Die Schönen, wie man sie in ihrer alten Schule genannt hatte, waren am leichtesten zu erkennen: Die Sonne spiegelte sich in ihren glänzenden Haaren und prägnanten Gesichtern. Dann gab es die Tekkies, die Gemeinschaft, in die sich Cassie an ihrer alten Schule eingefügt hatte und die sich gern am Rand des Geschehens aufhielt. Sie hatten ein Selbstvertrauen, das es mit dem der Schönen aufnehmen konnte, aber sie waren zugänglicher. Cassie wusste jedoch aus Erfahrung, dass man, wenn man sich ihnen näherte, am besten etwas Schlaues zu sagen hatte.
Es gab die harten Typen und die Vermittler und die Künstler und die Sportler, obwohl die Grenzen zwischen diesen Gruppen durch die weltweite Digitalisierung aufgeweicht worden waren. Heutzutage interessierte es kaum noch jemanden, ob man einen Touchdown werfen oder ein Bild malen konnte, wenn man es nicht auch verstand, seine Erfolgsmomente massenwirksam in Bildern festzuhalten. Wichtiger war, ob man ein Thema zum Trend machen konnte, sodass es auf ein breites Interesse stieß. Besaß man die Fähigkeit zu doxen?
Wie man aussah, war wichtig – war es schon immer und würde es immer sein. Was man konnte, war fast ebenso wichtig, und das hatte sich dramatisch verändert, selbst zu Cassies Lebzeiten.
Cassie umkreiste den Hof und blickte zur zweiten Etage der Schule hinauf. Selbst die Gänge waren voll und dienten als Ausweichort für den Hive-Mob. Es würde großartig werden. Wieder spürte sie die Energie, dieselbe wie gestern, die bis in ihre Fingerspitzen kribbelte. Die tiefe Wut in ihr stieg auf, ebenso begierig darauf, entfesselt zu werden, wie Cassie darauf brannte, sie loszuwerden.
Cassie stupste ein Mädchen mit glattem schwarzem Haar und einer Retro-Katzenaugenbrille an, die nicht gerade freundlich, aber zumindest nicht feindselig wirkte. »Was hat Skylar denn ausgefressen?«
Das Brillenmädchen musterte sie von oben bis unten. Nachdem sie Cassies schwarze Jeans und das zerknitterte Jeanshemd für akzeptabel befunden hatte, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, und sie erzählte die ganze Geschichte.
Mit jedem Wort spürte Cassie, wie ihr Enthusiasmus verflog.
Es stellte sich heraus, dass Skylar, ein Elftklässler, nach vier Jahren von seiner Freundin Izzy abserviert worden war. Um es ihr heimzuzahlen, hatte Skylar eine Hetzkampagne gegen Izzy lostreten wollen, indem er ihre »Geheimnisse« ausplauderte – Dinge, die sie zu Skylar über ihre Freunde, Familie, über die Schule und über ihn gesagt hatte. Sein Plan schlug fehl. Schnell war klar, was Skylar im Schild führte, und so drehte man den Spieß um und nannte ihn einen Frauenhasser und Mobber. Die Gegenreaktion war heftig. Nach seinem gescheiterten Versuch trendete der Hashtag #SkylarZumüllen innerhalb von Stunden an der gesamten Schule.
Das konnte nicht die ganze Wahrheit sein, mutmaßte Cassie. Denn wenn es bei #SkylarZumüllen nur um einen Typen mit gebrochenem Herzen ging, der öde Geheimnisse von seiner Ex-Freundin preisgab … also, dann musste Cassie etwas finden, wogegen sie treten konnte. Und zwar kräftig.
Mit beherrschter Stimme fragte sie: »Was ist das Hive-Urteil? Level 1? Level 2?« Sie könnte auf ihrem Handy nachsehen oder auf ihr Headset tippen, um eine Antwort zu erhalten, aber das Brillenmädchen sah so aus, als würde sie es ihr gern berichten.
Die Hive-Justiz umfasste fünf Level, wobei jedes die Schwere des Vergehens und das Spektrum der möglichen Strafen kennzeichnete. Die meisten Vergehen stießen nur auf lokales Interesse und wurden als Level 1 eingestuft. Innerhalb eines Levels gab es eine Spanne, die festlegte, wie lange der Hive Zeit hatte, die Strafe zu vollstrecken. Bei Spanne 1 hatte man nur einen Tag und musste daher schnell handeln. Die Spanne wuchs exponentiell, und für Spanne 5 blieb dem Hive ein ganzes Jahr, um den Missetäter dranzukriegen. Eine solch lange Zeitspanne war theoretisch für jedes Level möglich, doch in der Praxis ordnete der Algorithmus, der diese Parameter festlegte, einem kümmerlichen Level-1-Vergehen kaum eine höhere Spanne als 2 zu. Je höher das Level war, umso größer war auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Spanne erhöhte, ebenso wie der Schweregrad der Bestrafungen, für die der Hive sich entscheiden konnte.
Das Brillenmädchen kreischte förmlich: »Level 1! Spanne 1, also müssen wir ihn heute bestrafen. Wir dürfen ihn mit Abfällen bewerfen!«
Cassie schloss die Augen und atmete tief durch. Und natürlich piepte das Headset und eine Stimme verkündete Zeit für die#Müllabfuhr! Es musste mehr dahinterstecken. »Und was dann?«
Als Cassie die Augen wieder öffnete, kniff das Brillenmädchen seinerseits die Augen zusammen. »Was meinst du? Das ist seine Strafe. So ist es beschlossen worden. Es ist eine gerechte Strafe, denn er hat ja auch versucht, Izzy mit Dreck zu bewerfen. Verstehst du?«
Ein paar Mädchen, die die zunehmende Anspannung spürten, tauchten plötzlich hinter dem Brillenmädchen auf und musterten Cassie mit ausdruckslosen Blicken von der Art, wie Cassie sie selbst an ihrem dreizehnten Geburtstag perfektioniert hatte.
»Alle hier warten darauf, jemanden mit Müll zu bewerfen, der abserviert wurde und darauf übertrieben reagiert hat?« Cassie schüttelte entnervt den Kopf. In der Welt geschahen wirklich schlimme Dinge und an der Westfield High verschwendete man Zeit mit solchen Belanglosigkeiten?
Hätte sie Skylar und Izzy gekannt, wäre es vielleicht von Belang gewesen, aber so spürte Cassie, wie die kalte Genugtuung der Hive-Justiz wieder in brennende Wut umschlug. Das hier gab ihr nichts. Es war Kinderkram.
»Darauf hat der Hive sich geeinigt.« Das Brillenmädchen verschränkte die Arme so abwehrend vor der Brust, als hätte Cassie seine Mutter beleidigt.
»Das ist doch albern«, schimpfte Cassie. »Und ihr gebt euch wirklich mit so einem Blödsinn ab? Wollt ihr mich verarschen?« Etwas aus einem Gespräch mit ihrem Vater kam ihr in den Sinn: Schlag nach oben, Cass. Niemals nach unten. »Ich vergeude meine Zeit doch nicht mit irgendeinem Deppen, der traurig ist, weil seine Freundin ihn verlassen hat.«
Das Brillenmädchen schnappte nach Luft. Eines der anderen Mädchen – groß, mit rotem Haar – legte den Kopf schief und zeigte plötzlich Interesse. »Du bist neu hier, oder?«
Cassie schwieg. Sie hatte mehr gesagt, als ratsam war.
»Bist du dir zu fein für einen Hive-Mob?«, stichelte die Rothaarige leichthin.
»Für einen so beknackten? Ich sage ja bloß, dass ich mich gern mit Dingen beschäftige, die wirklich etwas verändern. Gestern habe ich an einem Mob gegen einen Typen teilgenommen, der das Leben seiner Familie ruiniert hat. Das war von Bedeutung. Mein Dad hat immer gesagt: ›Schlag nach oben, nicht nach unten.‹«
Die Rothaarige lachte. »Wer, zum Teufel, ist dein Vater, und wen interessiert das?«
Cassie spürte, wie ihre Wangen brannten. Sie war die Tochter eines Technik-Gotts, aber noch nie hatte sie aus dem Namen oder der Vergangenheit ihres Vaters Profit geschlagen. Und sie würde jetzt nicht damit anfangen.
»Egal. Ich meine ja nur, Sinn und Zweck des Hives ist Gerechtigkeit. Und bei Gerechtigkeit geht es um Bedeutsames, nicht um irgendwelche Beziehungsstreitigkeiten.«
»Allgemein herrscht die Ansicht, dass jede Hive-Justiz wichtig ist«, erwiderte die Rothaarige kühl. Sie schubste ein paar der Mädchen beiseite und stellte sich vor Cassie neben das Brillenmädchen. An der Art, wie man ihr Platz machte, erkannte Cassie, dass sie eine von den Schönen war. »Das versteht sich von selbst, denn sie ist laut Definition der Wille des Volkes. Es ist anmaßend, zu behaupten, dass ein Vergehen mehr oder weniger Gewicht hat als ein anderes. Das entscheidet der Hive, nicht der Einzelne.«
»Genau, Rowan«, pflichtete ihr das Brillenmädchen bei, und die anderen Mädchen nickten und verschränkten die Arme.
»Manchmal irren sich die Menschen«, entgegnete Cassie. Sie konnte förmlich die Worte ihres Vaters hören, die er ihr in all den Jahren über die Hive-Justiz gesagt hatte. Wie sie entstanden war, um das Internet zu retten und damit die Welt. Dass sie ein bewährtes Mittel für das Volk war, um der Regierung und den Technologiefirmen Macht aus den Händen zu nehmen. Wie die Hive-Justiz die lange verbreiteten Ansichten über Recht und Gerechtigkeit zerschlagen hatte. Bei ihrem Vater, erinnerte sie sich, und ein schwaches Lächeln zeichnete sich auf ihren Lippen ab, ging es immer um Disruption, um das Aufbrechen alter Strukturen. Sie deutete auf die Menge. »Wenn ihr wegen so eines Pupses einen Hive-Mob veranstaltet, macht ihr die ganze Sache lächerlich.«
Rowan, die Rothaarige, zog die Augenbrauen hoch. »Was für eine … interessante Ansicht. Wie heißt du?«, fragte sie.
»Warum? Damit du eine Kampagne gegen mich starten kannst, weil ich diesen Mob für eine Amateurshow halte?«, blaffte Cassie.
Rowan feixte: »Wäre doch auch nur ein Pups, oder?«
Bevor Cassie etwas erwidern konnte, begannen Rowan und ihre Freundinnen, sich unter die Menge zu mischen.
Cassie war froh, dass sie gingen. Sie suchte nach einer Lücke, durch die sie den Hof verlassen und wieder ins Schulhaus gelangen konnte. Sie hatte längst das Interesse an diesem armseligen Hive-Mob verloren. Sie musste ein anderes Ventil für ihren Zorn finden.
Als sie sich durch die Menge drängte und schließlich einen Abschnitt des Treppenhauses erreichte, der nicht brechend voll war, hörte sie hinter sich ein Johlen aufbranden. Skylar war eingetroffen. Sie überlegte einen Moment, ob sie bleiben sollte.
Doch dann sah sie ein Zucken. Oben, auf einer Reihe von Spinden, hockte etwas. Bewegte sich. Cassie nahm es aus dem Augenwinkel war, die Art Bewegung, die nichts oder alles bedeuten konnte.
Sie machte einen Schritt vorwärts und rang mit sich. Sie war sich nicht sicher, wie sie zu ihrem Unterrichtsraum kam (wo war ihre »Patin«, wenn man sie wirklich brauchte?), aber der lange Gang vor ihr erschien ihr der naheliegendste Weg zu sein. Also lief sie weiter auf das Zucken zu, das nun aufgehört hatte.
Und dann landete ein Junge hart auf dem Boden vor Cassie.
Seine Turnschuhe quietschten alarmierend. Seine schwarze Jacke blähte sich auf seinem Rücken wie ein Ballon auf, bevor sie sich wieder perfekt an seinen Körper schmiegte. Darunter trug er ein schwarzes T-Shirt, auf dem in weißer Konstantschrift CODE IST POESIE stand. Cassies Fäuste ballten sich: Die Zeichen standen auf Kampf oder Flucht, und ihr Körper hatte sich bereits entschieden, zu bleiben und zu kämpfen.
»Sorry«, sagte der Junge, richtete sich auf und streckte die langen Gliedmaßen. »Ich habe dich nicht gesehen.«
Na klar. Jemand hatte sie mit ihren 1,78 Metern nicht bemerkt, wie sie allein durch einen menschenleeren Gang lief.
»Ja, ich höre oft, dass ich unsichtbar bin«, entgegnete sie.
Er fixierte Cassie. Seine Augen waren grün, ernst. »Das würde ich nicht behaupten.«
Er blickte sie so lange an, dass sie ganz ruhig wurde. Irgendetwas an seinen Augen, seiner Lederjacke, der ganzen, blöden Situation ließ ihren Ärger verfliegen. Wie ein Eiswürfel, der in einer heißen Suppe dahinschmolz.
Und dann lächelte er. Cassie bezweifelte jedoch, dass er das zugeben würde, denn seine Mundwinkel hoben sich nur ganz leicht nach oben. Doch sie sah es. Und es ließ sie rot anlaufen. Ihr Mund wurde trocken. Sie bedauerte, dass sie keinen Lippenstift trug.
Aber vor allem stellte sie fest, dass dies der längste Augenkontakt war, den sie seit Monaten gehabt hatte. Keiner blickte sich mehr so an. Meistens interagierte man digital.
»Pass das nächste Mal auf, wo du hinläufst«, ätzte sie und ging um ihn herum. Und mit hallenden Schritten eilte sie den Korridor entlang.
Schließlich fand sie den Unterrichtsraum für die erste Stunde. Und auch den für die zweite, dritte und vierte. Der Vormittag bestand aus einer unbedeutenden Mischung von nervtötenden Lehrern, schrillenden Pausenglocken und Tratsch über Skylar, der offenbar in der Westfield umherlief, während Essensreste, alte Konserven und leere Flaschen an seinem Hals baumelten. Endlich gab es Mittagessen.
Als Cassie energisch ihr Lehrbuch in den Rucksack stopfte, kam Sarah auf sie zu, die ebenfalls am Matheleistungskurs in der vierten Stunde teilnahm.
»Woah!« Sie hob die Hände, als wolle sie sich ergeben. »Quadratische Gleichungen kotzen einen wirklich an!«
»Darum geht es gar nicht«, ärgerte sich Cassie. »Ich habe schon einen Matheleistungskurs belegt. Aber ihr habt keinen anderen Mathekurs für Fortgeschrittene, und daher verlangt meine Mom, dass ich ihn wiederhole, damit ich« – sie malte Anführungszeichen in die Luft – »nicht aus der Übung komme.«
»Albtraum!«, erwiderte Sarah. »Und was sagt dein Dad dazu?«
Cassie konzentrierte sich darauf, ihren übervollen Rucksack zu schultern. So konnte sie ausgezeichnet Sarahs Blick und damit der Frage ausweichen, obwohl sie sich sicher war, dass ein Funken Ärger sichtbar auf ihrem Gesicht aufleuchtete. Hätte Cassie sich mit Sarah anfreunden wollen, hätte allein diese Bemerkung dazu geführt, dass sie es sich noch einmal überlegen würde.
Aber wie die Dinge nun einmal lagen, hatte sie vor Wochen entschieden – fast schon unbewusst, tief in ihrem Inneren, das noch immer bei der Erinnerung an ihr altes Leben schmerzte –, dass Beziehungen, selbst besondere, sich letztendlich nicht auszahlten. Die Menschen waren den Preis nicht wert, den man bezahlte, wenn man sie verlor.
»Wo ist die Mensa?«, wechselte Cassie das Thema und ging voran in einen überfüllten Korridor. Sarah deutete in die entgegengesetzte Richtung.
»Hier geht’s lang, Magellan. Übrigens habe ich meine Freundinnen gebeten, dir einen Platz frei zu halten. Willst du mit uns essen?«
Cassie zuckte mit den Achseln. Es war ja nicht so, dass sie mit anderen verabredet gewesen wäre. Sie wanderte mit Sarah durch den Flügel der Zwölftklässler, vorbei an der Bibliothek, an Schülern, die verstohlen herummachten, für ein Selfie posierten und die Türen ihres Spinds zuschlugen. In der Mensa, die groß und voll war und nach gammligen Sandwiches roch, obwohl das eigentlich gar nicht sein durfte, zeigte Sarah Cassie, was es zum Mittagessen gab. Sie blieb dicht hinter ihr, als Cassie sich einen Apfel und eine Tüte Brezeln schnappte.
»Ich dachte, wir essen mit deinen Freundinnen?«, wunderte sich Cassie, als Sarah sie zu einem leeren Tisch führte.
»Hmmm«, machte Sarah und ordnete den Salat und die Essiggurken auf ihrem Sandwich neu an. »Vielleicht stehen sie noch an. Ist ja auch egal.«
Cassie runzelte die Stirn und lutschte an einer Brezel. Sarah bombardierte sie minutenlang mit Fragen, denen Cassie auswich. Es ging niemanden etwas an, warum sie hierhergezogen waren, fand Cassie, und Sarah begab sich auf gefährliches Terrain mit Fragen, die nur enge Freunde stellen würden. Cassies Dankbarkeit für ihre »Patin« schwand. Und dabei war sie von Anfang an eher gering gewesen.
Bei Sarahs nächsten Fragen war sie vollständig verschwunden.
»Wie ist deine Familie so?«, fragte diese zwischen zwei Bissen. Cassies Finger krümmten sich und ihre Hände ballten sich zur Faust.
»Nichts Besonderes«, sagte Cassie kühl, und ihr Körper verkrampfte sich.
»Ach, komm schon«, fuhr Sarah kichernd fort. »Brüder, Schwestern?«
Cassie funkelte sie an. Sarah begegnete ihrem Blick mit ernster Miene.
»Das ist eine seltsame Unterhaltung.« Cassie ließ die leere Brezeltüte fallen und trank ihre Flasche Wasser halb leer. »Hey, was ist mit deinen Freundinnen?«
Sarah zuckte mit den Achseln. »Es ist nicht seltsam, sich über die Familie zu unterhalten. Eigentlich ist es das wichtigste Gesprächsthema überhaupt. Findest du nicht?«
Cassie antwortete nicht. Sie konnte nicht – ihre Zunge war plötzlich zu dick für ihren Mund. Ihr Nacken wurde schweißnass. Sie griff nach dem Apfel, damit ihre Hände mit etwas anderem beschäftigt waren, als dem Drang nachzugeben, die Person, die ihr gegenübersaß, zu schlagen.