Hoch oben im Tal der Wölfe - Jérôme Meizoz - E-Book

Hoch oben im Tal der Wölfe E-Book

Jérôme Meizoz

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Beschreibung

HOCH OBEN IM TAL DER WÖLFE geht auf ein tragisches Ereignis zurück: auf die Gewalt, die im Februar 1991 im Wallis gegen einen Umweltaktivisten des WWF verübt wurde. Nach der Untersuchung hat das Gericht die Einstellung des Verfahrens verfügt. In den Cafés hält man seine Meinung nicht zurück, nimmt kein Blatt vor den Mund. Es kommen Gerüchte auf. Eine Gruppe idealistischer junger Leute setzt sich für die Sache ein, die den jungen Mann fast das Leben gekostet hat. Die Beweise fehlen, die Untersuchung gerät ins Stocken … Wer ist daran interessiert, dass die Wahrheit nicht an den Tag kommt? Der Aktenordner des Falls ist so dick wie ein Roman, doch er bleibt geheim. Indes ist es mit dem Verschweigen manchmal nicht getan, und hier beginnt die Literatur. HOCH OBEN IM TAL DER WÖLFE erzählt die ungestümen, merkwürdigen Jahre einer ­Gruppe von jungen Leuten, die sich, grimmig entschlossen, die Natur zu retten und die Welt zu verändern, mit einer geschlossenen Gesellschaft angelegt hat. Dem Autor gelingt es auf beeindruckende Art, ein Stück Zeitgeschichte in Literatur zu verwandeln. Das Buch erscheint in der ch-reihe, übersetzt hat Andreas Grosz (Originaltitel: "Haut Val des loups", Éditions Zoé).

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Jérôme Meizoz

Hoch oben im Tal der Wölfe

Ein wahrer Roman

aus dem Französischenvon Andreas Grosz

Originaltitel: Haut Val des loups

© 2015, Éditions Zoé

www.editionszoe.ch

www.diebrotsuppe.ch

ISBN ebook 978-3-905689-91-4

Der verlag die brotsuppe wird vom Bundesamt für Kultur mit einer Förderprämie für die Jahre 2016–2018 unterstützt.

Alle Rechte vorbehalten

© 2017, verlag die brotsuppe, Biel/Bienne

Gestaltung, Satz, Umschlagbild: Ursi Anna Aeschbacher, Biel/Bienne

Druck: www.cpibooks.de

Inhalt

Erster Teil

1991

1991

1976

1976

1984

2014

1989

1987

1984

2006

1989

1989

1996

1990

1991

2014

1991

2011

1992

1991

2011

Zweiter Teil

1992

1992

1993

1944

1993

2008

1993

1994

2012

2011

1995

1997

2012

2013

2013

2012

2012

2011

2009

2013

2014

Dank

Zitate

Anmerkungen

Der Autor

Der Übersetzer

Erster Teil

Genug gelacht, charmante Elvire, Die Wölfe sind mitten in Paris.

Serge Reggiani

1991

Profis waren am Werk: einen Körperteil um den anderen brachen sie ihm, verschonten aber Genick und Hoden. Wohl kaum blindwütige Schläger. Weder bloße Raserei noch unkontrollierte Wut. Methodisches, überlegtes Vorgehen.

Solide Wertarbeit, wie man im Verbrechermilieu sagt.

Der Junge Mann liegt auf dem Fußboden, blutend, halb bewusstlos. Drei Kerle haben die Tür aufgebrochen. Er saß an seinem Schreibtisch, hörte nichts. Sie prügelten zielgerichtet, wortlos, ausgiebig. Endlos kam ihm dieser Hagel von Schlägen vor.

Er ist ein Umweltschützer, der keinen Aufwand gescheut hat, wenn er gegen einige große Bauvorhaben Widerstand leistete. Bei seinen Gegnern ist er als scharfzüngiger Debattierer gefürchtet und verhasst.

Dann nahmen sie sich seine Papiere vor, seine Briefe. Zerschlugen den Computer, rissen die Telefondrähte heraus. Heikle Informationen ruhten in den Schaltkreisen. Wurden Dokumente entwendet? Schwer zu sagen.

Während das Auto der Typen in die Nacht entschwand, konnte ihr Opfer sehen, wie das Scheinwerferlicht einem Pinsel gleich über den Schnee strich.

(Bist du wirklich der Meinung, dass es wie ein Krimi beginnen soll? Und wenn du dir einen etwas beschaulicheren Anfang ausdenken würdest, einen Kontrast zur Brutalität der Fakten? Versuch es doch mal.)

1991

Fahren wir fort.

Ein rundum schmuckes Bergdorf, das bei Landschaftsmalern sehr beliebt ist. Die Chalets dörren im grellen Licht der Februarsonne. Die Touristen erfüllen ihre Ferienpflichten. Schließt man die Augen und dreht den Kopf nach dem Wald, hört man den Specht hämmern und die Gondelbahn schnurren.

Neutrales Land, schalltot, vom Krieg verschont, starrsinnig und wohlhabend. Ruhe, Geschäft und Profit.

Die höchste der Tugenden: Diskretion.

Du aber glaubst zu hören, wie die Truhen knarren und die Toten plaudern. Woher mag sie rühren, diese Faszination für die verborgenen Seiten der Dinge?

Hinter der geschlossenen Tür der Überfall: über den Boden verstreute Gegenstände, das Wimmern eines Körpers, der sich auf der Erde krümmt.

Auf einem Pressefoto: der Junge Mann, in einem Spitalbett versunken, ein paar Tage nach dem Attentat.

Das Gesicht ist gezeichnet, Arme und Beine liegen im Gips. Düster sieht er dem Fotografen des Einheitsblattes in die Linse. Tausende von Lesern mustern diesen verstörten Blick.

Du stellst dir die Reaktionen der Leute vor. Überraschung, Empörung vielleicht? Und die Stimmen, die in den Cafés zu hören sind:

»Eine Tracht Prügel hat noch keinem geschadet. Dieser Grüne hat sie sich doch verdient.«

»…«

»Diese Klugscheißer aus der Stadt wollen uns beibringen, wie wir hier leben sollen.«

»…«

»Mit ihren dauernden Einsprachen schmeißen die uns nur Knüppel zwischen die Beine.«

1976

Während seiner Jahre auf dem Gymnasium hat der Junge Mann (damals noch weit vom blutverschmierten Fußboden entfernt) den Alarmruf gelesen, mit dem ein bekannter Dichter des ewigen Schnees für den Landschaftsschutz eintritt. In seiner unvermeidlichen Militärhose, ein Cape über den Schultern, so gleitet dieser von einer Alp zu einem Bahnhof hinunter, nimmt an öffentlichen Streitgesprächen teil, beklagt auf der ersten Seite einer Tageszeitung das unerlaubte Bauen, den wild wuchernden Tourismus im Hohen Tal.

Der Dichter macht im Land von sich reden, selbst die Lichterstadt schätzt ihn, und seine Stimme ist am Radio zu hören:

»Wir tragen den Todeskampf der Natur in uns und unseren eigenen Abgesang …«

Ganz anders die Stimmung vor Ort: Die Leute bezeichnen ihn als nichtsnutzigen Erben, streunenden Träumer, als ungefähren Ehemann und nicht zuletzt als einen Geizhals, wie es keinen zweiten gebe. In den Bergen weckt ein Künstlerleben Misstrauen, es lässt an Faulheit und losen Lebenswandel denken. Man duldet es – mit einem spöttischen Lachen. Die einzig reale Welt dagegen: Material transportieren, Bäume fällen, Mauern errichten.

Im Sonntagsstaat begeben sich die Parteioberen zum Hochamt, ihre vollzählige Kinderschar im Gefolge. Dem Geistigen wird formell Genüge getan, doch im Mittelpunkt der Verehrung steht der Gott »Kommerz«.

Es ist das Jahr, in dem deine Mutter die Familie unversehens im Stich gelassen hat. Sind die Aprikosengärten erst einmal enteignet, wird die Autobahn eine tiefe Wunde ins ganze Tal schlagen. Eigensinnig und fruchtbar mildert die Natur die Verluste. Oft treibst du dich bei der Eisenbahnlinie herum und wartest auf ein Zeichen …

Im Park haben die Gärtner eine Blumenwand errichtet. Der Nachtfrost konnte den purpurnen und hellgelben Stiefmütterchen nichts anhaben. Sie hängen am Tropf einer bleichen Sonne, halten stand. Jeden Morgen kommst du an ihnen vorbei, überlebst finstere Gedanken dank dieser Stiefmütterchenwand.

Einen Gesang widmet der Dichter des ewigen Schnees dem verlorenen Tal, das sich den Ferienorten als »Luxusdirne« andiene und sich von den Immobilienkönigen »in den Arsch ficken« lassen müsse. Ein ganz neuer Ton für einen hundertjährigen Kampf, den die Schweizer Vereinigung für Heimatschutz sehr früh aufgenommen hat.

Einerseits klagt dieser Gesang die »Zuhälter« an, andererseits hat er den Mut zu künftiger Freude und feiert das wiedergefundene Paradies, wenn erst, nach der befreienden Katastrophe, die »Saukerle« weg seien:

Erster Morgen der Welt

Ein Hammerschlag auf einen Keller oder ein Grab.

– Höre!

Die grosse Leere? Sonne drängelt in die Felsspalten.

Früher gab es hier eine Stadt mit Rechtsgelehrten, die nicht ein einziges Gesetz anwandten, auch wenn sie deren Tausende fabrizierten.

Die beiden Archaeologen (zweihundert Jahre vorher hatten sie am Ufer der Rhone einen alpinem Jupiter geweihten Tempel gesucht) konnten nicht mehr vor Lachen. Sie zeigten einander die Inschriften her, unnütze Rätsel, und tranken wie gestern, wie damals, aus einer kleinen Putille gelben Wein mit dem Geschmack nach Honig.

Glück der Wüste, Glück der reinen Luft, darin ihr Zelt schlotterte.

Was für Gesetzgeber!

Sie platzten vor Lachen.

Noch ein Schluck gelber Wein.

In der Ferne machen sie, dem Lehm entsteigend, Umrisse von Ruinen aus, Mauern, wie hinskizziert in den Sträuchern.

All das war unverständlich.

– Man möchte meinen, Vögel seien über den nassen Sand gelaufen.

Ein Beduinen-Bauer hackte gegen den Berg.

Im Herzen der keimenden Obstgärten nur meine Gedichte. Weiter dann. Als sie Rinnsteine sondierten, stiessen sie auf das versoffene Kupfergesicht des Mafia-Vaters in Gold: Mafius. (1)

Vom Einheitsblatt wird der Dichter verspottet, auf der Straße rempelt man ihn an. Es heißt, er sei ein Nestbeschmutzer, er beiße die Hand, die ihn füttere:

»Künstler, behalte deine Theorien für dich!«

Beim Feierabendtrunk schwört man sich, man werde »den letzten Grünen am letzten Baum aufhängen, der noch steht«.

Freunde unterstützen ihn, einzelne Zeitungen berichten mit Sympathie über seine Sache. Dass ihm so viel Hass entgegenschlägt, dass der Aufschrei gegen seinen Gesang so heftig ist, freut ihn und verletzt ihn gleichzeitig tief.

In den folgenden Jahren bleibt der Dichter des ewigen Schnees standhaft, verspottet die Spekulanten und den »Hass auf die Vergangenheit«, der sie antreibt und für dieses kleine Wunder der Alpen verhängnisvoll ist.

Der Junge Mann trifft den Dichter des ewigen Schnees. Sie sprechen über einen bewunderten Maler, über Schneekanonen und die Rückkehr des Wolfes. Über die Natur, die als Schlachtfeld betrachtet werde. Überall Waffen, nichts als Waffen …

1976

Worte statt Taten!

Macht Platz der Spätlese gelöster Zungen!

Gleich einer Klinge schneiden die freien Verse ins Fleisch, nehmen den Karneval von König Geld aufs Korn, die Zerstörung von Landschaften, die seit zwei Jahrhunderten in ganz Europa bewundert werden.

Der Dichter des ewigen Schnees ergreift seine nichtige Laute und kämpft.

Und beim Leeren seines Briefkastens findet er einen Minisarg aus Papiermaché. Fast komisch, diese Warnung, ein Kinderspielzeug beinah.

Viele Jahre später prangert er wieder, diesmal vor einem eilig zusammengekommenen Publikum, »das Auschwitz der Natur« an, während Schnee fällt und den Spitalpark zudeckt. Aber es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um …

(Seltsame Art, die Spannung aufrechtzuerhalten, den Leser in Atem zu halten … Du beginnst zu abrupt. Es wäre besser, eine Szenerie aufzubauen.)

1984

Jeden Mittwoch findest du Abwechslung auf dem Bauernhof. Kaum hundert Meter weit zu Fuß, und dein Körper wird ein anderer. Mit einer Latzhose, eine Frucht in der Tasche, gehst du zum Stall hinüber und atmest dabei die Gerüche ein, die du liebst: von siliertem Mais, von Stroh und trockenem Kuhdung. Du genießt auch den mineralischen Duft der Traktorenschmiere, deren ölige Dämpfe. Fast weißes Licht fegt den Hof.

Die Klosterschule, in der du unter der Woche bist, der feuchte Speisesaal, die Vokabellisten, die auswendig gelernt werden müssen – binnen wenigen Minuten existiert all das nicht mehr. Etwas anderes hat in dir wieder die Oberhand gewonnen, ungeduldig wie ein junges Pferd.

Der hochmoderne Traktor mit Kabine fährt vor den Bauernhof hinaus, mit Pomme am Steuer. Diesen lustigen Namen hatte er schon immer, vielleicht – »Pomme« bedeutet »Apfel« – des runden, vollkommen glatten Schädels wegen? Er tritt auf die Bremse, dann fährt er rückwärts, um an die Maschine anzudocken.

Es sind die ersten Junitage, endlos flutet das Licht auf die Erde herunter. Jetzt wird das Gras gemäht, während Tagen mehrmals gewendet, dann zusammengerecht und schließlich zu Ballen gepresst, deren Schnur sich einem in die Finger einkerbt. Wie Bauklötze gestapelt, liegen sie auf dem riesigen Ladewagen. Schmerzende Hände, Heu in der Nase, Staub auf der gereizten Haut. Die Cousine von Pomme kommt mit einer Kanne voll Cassis-Sirup vorbei, aus der ihr mit großen Bechern schöpft. Grenzenloser Durst, überall sich verbreitendes Wohlbehagen.

Dann macht ihr euch auf den Rückweg. Nehmt Platz auf dem Ladewagen, diesmal streicht der Wind über den schweißnassen Nacken, es atmet sich freier. Nach getaner Arbeit spendiert Pomme in der Cosmos Bar ein Bier. Ein rotes, zur Hälfte in die Wand eingelassenes Motorrad ziert zur großen Freude des Ortsklubs den Kneipeneingang.

Eure T-Shirts fühlen sich an, als seien sie aus Stroh gewebt. Nun bist du ein Mann, mit müden, harten Muskeln, voll jugendlicher, unerschöpflicher Kraft. Der Körper ist zur Ruhe gekommen. Mit Schaum um die Lippen erzählt Pomme Geschichten von Vieh und Autos, zieht die herumsitzenden Kerle mit allerlei Scherzen auf. Alle kennen ihn, er ist der jüngste Sohn, den Hof wird er nicht übernehmen, der ist für seinen ältesten Bruder bestimmt. Pomme wird ihm helfen, wird sein Untergebener sein, diesen Platz gilt es zu akzeptieren. Er wird sein Leben lang der Zweite bleiben. Die geringste ihrer Familiensorgen. Doch Pomme macht sich anscheinend nichts daraus. Er liebt die Landarbeit, vor allem liebt er es, die mächtigen Maschinen zu spüren, ihre Geräusche zu hören, ihre Kraft zu fühlen. Sein Revier, das sind die Cafés, hier weiß er ausgezeichnet zu reden, umgeben von einer lauten Schar, die vor randvollen Gläsern sitzt. Und weiß wahllos die Mädchen zu verführen, die sich hier hereinwagen.

Zu dieser Zeit hast du gerade die ersten Entwürfe zu einer Art Roman über zwei Bauernbrüder verfasst. Du beschließt, ihn auf Lateinisch zu schreiben. In Wirklichkeit in einer Mischsprache, in der der Dialekt deiner Großmutter manchmal an der Oberfläche erscheint. Die tote Sprache soll dein Thema auf Distanz halten. Und es vor allem verherrlichen. Du hast mir deinen Mist gegeben, und ich habe Gold daraus gemacht! – oder so ähnlich.