Hochzeitsglocken zum Fest der Liebe - Anne Herries - E-Book

Hochzeitsglocken zum Fest der Liebe E-Book

Anne Herries

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Beschreibung

Möglichst schnell soll Harry, der zukünftige Lord Beverley, eine adlige junge Dame heiraten! So verlangt es sein Vater. Aber die Liebe geht ihren eigenen Weg: In Bath begegnet er der entzückenden Pfarrerstochter Josephine Horne. Als er die rotgelockte Schönheit auf einem Weihnachtsball zärtlich küsst, weiß er: Er hat sich in Josephine verliebt, die doch niemals als seine Gattin in Frage kommt! Bis sie gemeinsam ein gefährliches Abenteuer bestehen. Plötzlich beschleichen Harry Zweifel: Ist es wirklich richtig, aus Gründen der Vernunft auf dieses große Glück zu verzichten?

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IMPRESSUM

Hochzeitsglocken zum Fest der Liebe erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© „Married by Christmas“ Originaltitel: „Married by Christmas“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe MYLADYBand 520 - 2009 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Barbara Kesper

Umschlagsmotive: Hot Damn Stock

Veröffentlicht im ePub Format in 08/2016 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733767419

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, MYSTERY, TIFFANY

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1. KAPITEL

„Zum Kuckuck, Harry!“, rief Lord Beverley und sah seinen Sohn wütend an. „Ich hätte doch gedacht, du würdest deiner Pflicht nachkommen. Dein Bruder ist tot …“ Ganz kurz blitzte Schmerz in seinen Augen auf, denn es lastete schwer auf ihm, dass sein ältester Sohn, kurz nachdem er sich mit ihm zerstritten hatte, gestorben war. „Seit du deinen Dienst bei der Armee quittiertest, hast du dich kaum hier blicken lassen. Ich verlange deine Anwesenheit! Du musst lernen, wie man den Besitz verwaltet, sonst wirst du nicht zurechtkommen, wenn ich dahin bin und alles allein auf deinen Schultern ruht.“

Hal verkniff sich die ärgerlichen Worte, die ihm auf der Zunge lagen. Zu gern hätte er seinem Vater gesagt, warum er im Moment keine Zeit auf den Besitz verschwenden konnte, doch die Mission, die er auf sich genommen hatte, würde kaum Gnade in den Augen Lord Beverleys finden. Hal forschte nämlich nach der Ehefrau seines verstorbenen Bruders, was sein Vater ihm sehr wahrscheinlich untersagen würde, wenn er davon erfuhr – und schon gar nicht konnte er ihm von seinem Verdacht sprechen, dass Matthews Tod kein Unfall gewesen war. Allerdings hatte Hal bisher keinen Beweis dafür, sondern nur das unbestimmte Gefühl, es müsse etwas faul gewesen sein, wenn ein so hervorragender Reiter wie Matt durch einen Sturz vom Pferd zu Tode kam. Die Schilderung des Unfalls hatte einige Ungereimtheiten enthalten. Seitdem lastete diese Sache schwer auf Hal, wenn man es ihm auch nicht anmerkte, da er nach außen weiterhin den unbekümmerten jungen Mann hervorkehrte, als den man ihn kannte.

Lord Beverleys Gesundheit ließ zu wünschen übrig, und wenn Hal auch die Behandlung nicht billigte, die sein Bruder und dessen Gattin durch den Vater erfahren hatten, so war er doch zu pflichtbewusst und dem alten Herrn zu sehr zugetan, als dass er ihm unnötigen Kummer zugefügt hätte. Er zuckte die Schultern und verbarg seine Gefühle hinter der Maske der Sorglosigkeit.

„Was das betrifft, Sir, zweifle ich daran, dass Sie so rasch das Zeitliche segnen werden, was heißt, dass mir noch viel Zeit zum Lernen bleibt. Außerdem haben wir einen äußerst fähigen Verwalter.“ Er setzte sein gewinnendes Grinsen auf. „Wenn ich mich wirklich in alles einmischte, würden Sie mich nur zu bald zum Teufel schicken, Sir. Übrigens habe ich mich mit ein paar Leuten in Newmarket verabredet, und Sie möchten doch nicht, dass ich mein Wort breche?“ Newmarket stand gar nicht auf seiner Reiseroute, doch ehe sein Vater die Wahrheit erführe, sollte er lieber glauben, sein jüngerer Sohn verschwende Zeit und Geld.

„Du tust, als wäre das ganze Leben ein Spaß“, grollte Lord Beverley. „Man sollte meinen, du würdest noch lachen, wenn man dich ins Grab senkt!“

„Wissen Sie, Vater, das lernt man in der Armee. Wir alle nahmen das Leben nicht ernst, sonst hätte es uns zerstört.“

„Du hättest dich gar nicht erst einschreiben sollen. Schlimm genug, dass dein Bruder mir trotzte. Er hätte eine viel bessere Partie machen können und heiratete dieses Mädchen! Ihr Vater ist ein Gauner und ein Narr! Versprich mir, dass du dir eine anständige Frau suchst. In einem halben Jahr will ich dich vermählt sehen. Der Besitz braucht einen Erben.“

„Ja, Vater, ich weiß es, wie Sie darüber denken. Ich will mein Bestes tun, Ihren Wünschen, so gut es mir möglich ist, nachzukommen.“

„Du wirst doch unter all den jungen Dingern, die in den Londoner Salons vor dir defilieren, etwas Passendes finden! Dein Bruder widersetzte sich mir und heiratete ein Mädchen, das ich in unserer Familie nicht willkommen heißen konnte. Ich habe ihn enterbt. Zwing mich nicht, dir das Gleiche anzutun.“

„Was Sie mit Matt machten, ist Ihre Sache, Sir.“ Hal sah seinen Vater herausfordernd an. „Wenn Ihr Gewissen nicht schlägt, nun gut, doch ich nahm an, das Ganze wäre Ihnen eine Lehre gewesen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er die Bibliothek, in der sie sich oft aufhielten, weil sie der wärmste und angenehmste Raum dieses so kalten, manchmal freudlosen Anwesens war. Hal zog sein eigenes, modern ausgestattetes, gemütliches Haus, das ihm seine ziemlich berüchtigte, von ihm sehr verehrte Großmutter hinterlassen hatte, dem Sitz seiner Väter bei Weitem vor. Nie hatte er damit gerechnet, dass er einmal Beverley House erben würde, da er der jüngere Sohn war und der gesamte Besitz seinem Bruder Matthew zustand. Der wäre im Übrigen nie zur Armee gegangen, wäre nicht der Streit mit dem Vater gewesen. Matt hatte sich in Ellen Rowley verliebt, Tochter eines reichen Wollhändlers, und deshalb, nach Ansicht Lord Beverleys, seiner Aufmerksamkeit nicht würdig. Er hatte seinem Sohn geraten, sie zur Geliebten zu nehmen und ein Mädchen aus Adelskreisen zu heiraten. Matt hatte nicht auf seinen Vater gehört, sich mit der geliebten Frau vermählt und sie mit nach Spanien genommen, als er in die Armee eintrat.

So war Ellen ihm von einem Feldlager zum anderen gefolgt und hatte all die Mühsal ertragen, die sich aus diesem Leben ergab. Hal hatte sie gern gehabt. Wäre er zugegen gewesen, als sein Bruder starb, hätte er Ellen unter seine Fittiche genommen und für sie gesorgt, denn er besaß eigene Einkünfte und war nicht von seinem Vater abhängig. Er hätte es sich leisten können, ihr ein anständiges Leben zu ermöglichen. Leider war er damals, als Matt bei dem Unfall getötet wurde, gerade auf Heimaturlaub in England. Als er endlich in Spanien eintraf, lag Matt schon unter der Erde, und Ellen war nicht mehr aufzufinden.

Seitdem suchte er sie. Er wusste, sie besaß ein wenig Geld, denn sie hatte einige Besitztümer seines Bruders veräußert, um nach England zurückkehren zu können. Bisher hatte er jedoch ihren Aufenthaltsort nicht herausfinden können. Schließlich hatte er sich an ihre Eltern gewandt, nur um zu hören, dass ihr Vater, dem die Heirat nicht weniger gegen den Strich gegangen war als Lord Beverley, sie enterbt hatte, weil sie mit Matt durchgebrannt war.

Da sie ihren Schwiegervater nicht um Beistand gebeten hatte, bedeutete das, sie versuchte, allein zurechtzukommen, was ihr prinzipiell nicht allzu schwerfallen durfte, da sie eine hübsche, intelligente Frau war. Nur war sie, wie Hal inzwischen wusste, in froher Erwartung.

Der Gedanke, dass die von seinem Bruder so sehr geliebte Gattin in schwierigen Umständen lebte, machte Hal viel Kopfzerbrechen. Ihm war klar, dass auch er Gefahr lief, enterbt zu werden, wenn er weiterhin seine ganze Zeit auf die Suche nach Ellen verwandte, doch im Augenblick kümmerte ihn das nicht weiter. Mittlerweile hatte er, dem Willen seines Vaters folgend, der sich so sehnlichst einen Erben wünschte, eine standesgemäße Ehe für sich ins Auge gefasst, hielt es jedoch für vorrangig, Ellen zu finden. Außerdem war da noch die Sache mit dem Tod seines Bruders. Als Hal damals davon erfuhr, war er völlig niedergeschmettert, und seitdem nagte an ihm der Verdacht, dass dieser Tod nicht auf einen Unfall zurückzuführen war. Er musste sein Möglichstes tun, die Wahrheit herauszufinden.

Von einem Freund Matts stammte der Tipp, dass Ellen sich möglicherweise in Bath aufhielt. Wenn das stimmte, konnte Hal zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, denn dort weilte seit Kurzem Chloe Marsham mit ihrer Mutter und ihrer Tante.

Hal hatte sich so gut wie entschieden, um Chloe zu werben. Nicht, dass er in sie verliebt gewesen wäre, doch sie war hübsch, besaß ein nettes Lächeln und mochte Pferde. Da er vorhatte, wenn er erst sesshaft geworden war, sich der Pferdezucht zu widmen, kam es recht pässlich, dass seine zukünftige Gattin sich vermutlich nicht beklagen würde, wenn er hin und wieder Stallgeruch ins Haus trug.

Matt war bis über beide Ohren in Ellen verliebt gewesen und hatte für sie alles aufgegeben. Als er ihn einmal fragte, warum, lächelte sein Bruder nur und erklärte: „Solltest du einmal das Glück haben, die Richtige zu finden, wirst du mich verstehen, Hal. Man entscheidet sich nicht zu lieben, sondern die Liebe bricht über einen herein; man kann sich nicht dagegen wehren. Vater meinte, ich hätte meine Pflicht bezüglich unseres Besitzes über meine Liebe zu Ellen stellen müssen, aber das brachte ich nicht fertig. Dieses verflixte Haus, auf das er so stolz ist, ist ohne Liebe nur ein kalter, leerer Kasten, finde ich. Ich weiß, es befindet sich seit Jahrhunderten im Familienbesitz, doch wenn es nach mir ginge, würde ich es abreißen und etwas Moderneres hinsetzen. Ohne Ellen wäre das Leben nicht lebenswert. Sie ist mein Leben und ich bin ihres.“

Und nun war Matt tot, und Ellen hatte alles, was sie liebte, verloren – es sei denn, sie erwartete wirklich Matts Kind.

Nachdenklich schlenderte Hal zu seiner Karriole, wo sein Reitknecht schon wartete. Wenn das Kind ein Junge wird, ist es der rechtmäßige Erbe, überlegte Hal, und soweit es mich betrifft, gönne ich ihm das Haus und den Besitz von Herzen. Natürlich würde es ein gutes Stück Arbeit bedeuten, bis Lord Beverley die Tatsache akzeptierte, doch er würde sich dem Gesetz beugen müssen, denn Ellen besaß alle Papiere, die sie als Matts Gattin und somit das Kind als ehelich auswiesen. Allerdings war mit einem höllischen Familienstreit zu rechnen.

Nun, dem würde Hal sich stellen, wenn es so weit war. Zuerst einmal musste er Ellen finden und sich vergewissern, dass es ihr gut ging und sie genügend Mittel besaß, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Josephine küsste ihrer Mutter, die sie ermahnte, nur ja brav zu sein, die Wange und umarmte dann ihre Schwester noch einmal herzlich. Lucy mochte sie kaum wieder loslassen und sagte mit Tränen in den Augen: „Ich werde dich schrecklich vermissen, Jo, aber ich wünsche dir, dass du den Aufenthalt in Bath sehr genießt. Bitte, schreib mir nur recht oft, und sag mir, wie deine Geschichte weitergeht.“

„Ja, natürlich“, versprach Jo, „und wenn ich wieder daheim bin, werde ich dir die neuen Kapitel, die ich geschrieben habe, vorlesen.“ Mit einem Blick über die Schulter stellte sie fest, dass Lady Wainwright in der Kutsche schon ungeduldig auf sie wartete. „Auf Wiedersehen, Tante Bertha. Danke, dass ich dich besuchen durfte – und bitte hab gut Acht auf Mama und Lucy.“

„Aber gewiss doch, Jo“, entgegnete Lady Edgeworthy, die natürlich wusste, dass in Wirklichkeit Mrs. Horne auf sie Acht hatte. Rasch drückte sie dem protestierenden Mädchen eine Börse in die Hand. „Lass es dir mit Lady Wainwright gut gehen, und schreib, sooft du kannst. Und du weißt, du kannst jederzeit wieder heim zu uns kommen.“

„Danke, Tante, du bist so großzügig.“ Jo küsste ihre Großtante und fügte hinzu: „Und nun auf Wiedersehen! Tante Wainwright hat schon zweimal gerufen.“

Sie ging zu dem geräumigen Reisewagen, der zur Abfahrt bereitstand, wandte sich dann noch einmal zu ihren Lieben um, die vor dem Haus versammelt waren, und winkte ihnen tapfer lächelnd zu, ehe sie in die Kutsche stieg. Ungeduldig, mit säuerlichem Blick wurde sie von Lady Wainwright empfangen.

„Na endlich, Josephine! Ich dachte schon, du könntest dich gar nicht trennen! Hoffentlich wirst du in Bath ein anderes Benehmen an den Tag legen! Ich dächte, ich hätte ein wenig Rücksicht verdient.“

„Ja, gewiss, Tante. Verzeih, dass ich dich warten ließ, aber Lucy mochte mich nicht gehen lassen. Nachdem Marianne geheiratet hat, gehe ich nun auch noch, und das bringt sie ganz aus dem Gleichgewicht. Nun hat sie keinen mehr, der ihr Gesellschaft leistet.“

„Du wirst ja zweifellos in einigen Wochen wieder zu Hause sein“, sagte Lady Wainwright missbilligend. „Es wird deiner kleinen Schwester guttun, eine Weile allein zu sein. Sie ist kein Kind mehr und muss lernen, sich nützlichen Dingen zu widmen, anstatt herumzuspielen.“

Bei Lady Wainwrights unfreundlicher Bemerkung lagen Jo Widerworte auf der Zunge, doch sie dachte daran, dass ihre ältere Schwester gesagt hatte, sie solle nicht mit der Tante streiten. Eigentlich hatte nämlich Marianne als älteste der Schwestern Lady Wainwright nach Bath begleiten sollen, war jedoch stattdessen zu ihrer Großtante Bertha, deren Besitz in Cornwall lag, gereist, um ihr nach einer Erkrankung beizustehen. Anschließend bat die gütige alte Dame nicht nur Marianne, sondern auch deren Mutter und Schwestern, für immer bei ihr zu leben. Dort in Cornwall hatte Marianne auch ihren Marquis kennengelernt und ihn geheiratet, sodass nun an ihrer Stelle Jo mit nach Bath reisen musste.

Sie gab sich nicht der Illusion hin, dass Lady Wainwright mit dem neuen Arrangement glücklich war. Zu deren Ärger hatte Marianne nämlich eine exzellente Partie gemacht, und das ganz ohne Zutun der dünkelhaften Frau, die überzeugt gewesen war, nur ihre Protektion werde der jungen Dame, die ja keine Mitgift zu erwarten hatte, überhaupt eine mäßig vorteilhafte Heirat ermöglichen. Dass ihre schöne Nichte nun sogar eine bessere Partie gemacht hatte als die eigene Tochter, nagte an ihr und verstärkte ihre Launenhaftigkeit noch.

„Was ist? Hast du die Sprache verloren?“

Jo sah ihre Tante an und wägte ihre Worte sorgfältig. „Ich fragte mich gerade, wo Marianne und Lord Marlbeck jetzt sein mögen. Wollten sie nicht einige Tage auf Gut Marlbeck verbringen, ehe sie nach Italien weiterreisen?“

„Ja, ich glaube.“ Lady Wainwright klang abermals missbilligend. „Zu meiner Zeit gab es keine langen Flitterwochen. Dein Onkel reiste mit mir für zwei Wochen nach Devon, ehe er mich auf seinen Besitz brachte. Mir läge wirklich nichts daran, auf holprigen ausländischen Straßen durchgeschüttelt zu werden!“

„Aber wie aufregend, Italien zu entdecken! All die schönen Paläste und Kunstschätze! Ich habe Bilder davon gesehen.“

„Nun, mit den Bildern wirst du dich wohl zufriedengeben müssen. Marianne mag ja nun einen Marquis haben, doch wird dir kaum das Gleiche zustoßen. Schon dein Haar ist viel zu störrisch und wild, als dass es anziehend sein könnte. Du musst es unter einem Häubchen verbergen oder zu einem festen Knoten schlingen, damit es zumindest gefällig wirkt.“

„Ja, ich weiß, meine Haare sind grässlich“, gab Jo zu. In dieser einen Sache stimmte sie mit ihrer Tante überein; ihr Haar, dessen flammend rote Lockenpracht in ungebändigten Locken ihr Haupt umgab, war grässlich. Sie mochte es noch so fest zurückbinden und zusammenstecken, immer wieder lösten sich einzelne Strähnen, ringelten sich um ihre Wangen und gaben ihr ein wildes ungebärdiges Aussehen. Wie sehr sie sich wünschte, Mariannes honigblondes Haar zu haben oder Lucys, das hell wie silberne Mondstrahlen war! Auch Lucy würde einmal, genau wie Marianne, sehr schön werden, doch sie selbst war eben ganz durchschnittlich. Zwar besaß sie regelmäßige Züge, und wenn ein Häubchen die wilde rote Pracht verbarg, sah sie durchaus hübsch aus, doch ihre Haare hätten definitiv einer wilden Barbarin angestanden. Auch Papa hatte das immer gesagt, wenn auch mit liebevoller Zuneigung, wodurch das Wort seinen Stachel verlor. „Ich tue mein Bestes, doch noch so viele Haarklemmen halten es nicht auf Dauer in Zaum.“

„Nun, wahrscheinlich spielt es sowieso keine Rolle; du wirst Bath kaum im Handstreich erobern. Wenn du heiraten willst, wirst du dich mit einem respektablen Herrn geringen Vermögens einrichten müssen.“

„Da ich nicht auf Heirat aus bin“, entgegnete Jo möglichst würdevoll, „ist mein Aussehen wirklich nicht wichtig, da gebe ich Ihnen recht, Tante. Ich werde daheim bleiben, mich guten Werken widmen und Mama und Tante Bertha unterstützen.“

Lady Wainwright warf ihr einen niederschmetternden Blick zu. Jo wusste, sie hatte ihre Tante schon wieder verärgert, aber da ihr das permanent zu gelingen schien, wandte sie sich wortlos ab und schaute aus dem Fenster. Diese Reise nach Bath würde ihr sehr lang werden!

„Hier werden wir über Nacht bleiben“, verkündete Lady Wainwright, während sie den gemütlichen Salon des Gasthofs musterte. „Eigentlich wollte ich ja ohne Unterbrechung durchfahren, doch nun, da eins der Pferde lahmt, würde es sehr spät werden. Für die Weiterreise fühle ich mich jetzt zu erschöpft. Morgen ist immer noch früh genug.“

Jo stimmte ihr zu, denn auch sie war ein wenig müde. „Hat der Wirt Zimmer für uns?“

„Millicent wird bei dir nächtigen müssen, aber das ist ja keine große Beschwernis. In einem solchen Haus ist es für ein junges Mädchen sowieso besser, nicht allein im Zimmer zu schlafen.“

Zwar seufzte Jo im Stillen, doch sie konnte schlecht ablehnen, die Zofe ihrer Tante bei sich aufzunehmen. Es ist vielleicht sogar besser so, dachte sie, als im gleichen Augenblick aus dem Salon gegenüber lautes Gelächter an ihr Ohr drang. Dort hatte sich eine Gesellschaft junger Herren zusammengefunden, und dem Lärm nach zu urteilen, floss der Wein vielleicht in zu großen Strömen. Einer der Männer musterte sie unverhohlen, sodass sie, verärgert ob des dreisten Blickes, die Augen abwandte. Sein Verhalten war unhöflich und verursachte ihr Unbehagen, denn sie hatte ihr modisches Häubchen abgesetzt, und nun wallte ihr das Haar lose, in wirren Locken um das Gesicht und über den Rücken hinab. Mittlerweile wünschte sie sehnlich, sie hätte es in einem straffen Zopf gebändigt, da Lady Wainwright ihr schon zum zweiten Mal einen tadelnden Blick zuwarf.

Im Laufe des Abends lärmten die Herren in dem anderen Gastraum immer lauter, und so begrüßte Jo es, obwohl sie noch nicht richtig müde war, dass ihre Tante empfahl, sich zurückzuziehen.

Als sie in den Gang traten, kehrte eben einer der jungen Männer an die Tafel zurück. Mit spöttischem Blick musterte er Jo und stellte sich ihr absichtlich in den Weg, sodass sie sich an ihm hätte vorbeiquetschen müssen.

„Wollen Sie mich bitte vorbeilassen, Sir?“

Er grinste beinahe höhnisch. „Vielleicht, vielleicht auch nicht …“

„Bitte, meine Tante wartet.“

In diesem Moment sah Lady Wainwright sich um und bemerkte Jos Bedrängnis. „Lassen Sie meine Nichte freundlicherweise vorbei, Sir, andernfalls müsste ich den Wirt um Beistand bitten.“

Der Mann sah sie wütend an, gab jedoch den Weg frei, obwohl Jo spürte, dass er ihr mit den Blicken folgte, als sie die Treppe hinaufstieg. Jetzt war sie froh, dass Millicent bei ihr schlief – die Blicke des Fremden hatten ihr nachgerade eine Gänsehaut verursacht. Welch ein unangenehmer Mensch er doch war! Eben hörte sie stürmisches Gelächter heraufschallen; er hatte sich offensichtlich wieder seinen Freunden zugesellt, und wahrscheinlich war sie nun der Gegenstand ihres Gesprächs. Hoch erhobenen Hauptes hastete sie die Treppe hinauf. Sie fand den Mann abstoßend und hoffte, ihm nicht noch einmal begegnen zu müssen.

Allerdings wäre er der perfekte Schurke für die Geschichte, an der ich gerade schreibe. Ich werde ihm die Rolle des niederträchtigen Earls geben, überlegte sie.

Ehe sie zu Bett ging, trat sie ans Fenster und sah hinaus. Unten wandelte im Mondschein ein einsamer Gentleman im Garten umher. Sie glaubte in ihm den aus der Gesellschaft zu erkennen, der sich wesentlich ruhiger und gesetzter verhalten hatte als die anderen Herren.

Ihr Gedankengang wurde durch das Eintreten Millicents unterbrochen. Rasch machte sie Toilette und schlüpfte dann ins Bett.

„Na, was hältst du von ihr?“, fragte Ralph Carstairs den Mann, der rechts neben ihm saß. „Keine echte Schönheit – aber dafür recht ungewöhnlich, finde ich. Dieser Stolz in ihren Augen! Und Feuer unter ihrer kühlen Haltung.“

„Ja, auf jeden Fall attraktiv“, entgegnete Hal Beverley. „Aber nicht für dich bestimmt, Carstairs. Dieser Drache, der sie bewacht, wird jeden, der nicht reinen Herzens und reinen Sinnes ist, verschlingen. Du wirst keine Gelegenheit bekommen, dich ihr zu nähern, und mit Recht, alter Junge.“

Carstairs lachte rau auf. „Die Tante hast du ganz richtig beschrieben. Ich bin mit Wainwright entfernt bekannt und glaube, sie macht ihm das Leben sauer. Kein Wunder, dass er sich jahrelang ein loses Vögelchen in der Stadt hielt.“

„Wie wir alle, oder?“, sagte Hal milde, obwohl er selbst seit seiner Rückkehr aus Spanien davon abgesehen hatte. Die Suche nach seiner Schwägerin hatte Vorrang. „Aber du liebst das Verbotene, Carstairs, und deshalb sage ich dir, dieses Mädchen ist nichts für dich – oder jeden deiner Sorte. Bei dieser jungen Dame heißt es Heirat oder gar nichts, wie es sich gehört.“

„Nun spiel hier nicht den Prüden“, murrte Carstairs. „Haben wir dich nicht alle um die Gunst der heißblütigen Madalena beneidet?“

„Und sie selbst genossen, kaum dass ich ihr den Rücken gekehrt hatte“, sagte Hal, der wusste, dass die spanische Schöne ihre Liebhaber gewechselt hatte wie andere das Hemd. „Ich habe sie dir gegönnt. Mir war sie ein zu heißes Eisen; man musste seine Seele verkaufen, um ihr zu genügen.“

„Aber der kleine Rotschopf hat etwas, das an sie erinnert, findest du nicht?“

„Das ist mir nicht aufgefallen, doch ich habe sie ja auch nicht den ganzen Abend mit Blicken verschlungen, Carstairs.“ Er grinste träge. „Bestimmt hast du ihr Albträume verursacht. Und nun entschuldige mich, ich brauche noch etwas frische Luft, ehe ich zu Bett gehe.“

Hal überließ die Männer ihren prahlerischen Geschichten und ging hinaus in die kühle Nacht. Es verdross ihn, dass er an Carstairs und seine Genossen geraten war. Er gab sich nur ungern mit ihnen ab und hoffte, dass sie wirklich, wie sie erwähnt hatten, unterwegs zu anderen Vergnügungen waren und nicht in Bath auftauchen würden. Auf die Aufforderung, sich ihnen anzuschließen, hatte er dringende Geschäfte vorgeschützt – was auch stimmte, nur dass diese Geschäfte sehr persönlicher Natur waren. Er wollte seine Mission vorläufig geheim halten, doch Carstairs kannte Matts Ehefrau und würde wahrscheinlich die Neuigkeit, dass sie schwanger war, nicht für sich behalten. Hal wollte diese Tatsache indes seinem Vater persönlich und sehr behutsam beibringen, weil er fürchtete, der Schock könnte den alten Herrn an den Rand des Grabes bringen.

Jo war schon früh am nächsten Morgen auf und froh, dem engen, stickigen Zimmer entkommen zu können. Sie wollte, ehe es Zeit zum Frühstück war, noch ein wenig frische Luft schnappen. An ein paar Knechten und Mägden vorbei, die schon ihr Tagwerk begonnen hatten, ging sie durch den Gang nach hinten hinaus, wo sie einen von hübschen Beeten umgebenen Hof erspäht hatte. Doch kaum trat sie aus der Tür, sah sie auf einer Bank neben der Pumpe eben den Mann sitzen, der sich ihr gegenüber gestern so dreist verhalten hatte. Er schien gerade den Kopf unter den Wasserstrahl gehalten zu haben und bot nun seinen nackten Oberkörper den ersten Sonnenstrahlen dar. Peinlich berührt murmelte sie: „Oh, Verzeihung …“, doch ehe sie sich zurückziehen konnte, sprang er auf, kam ihr mit raschen Schritten nach und hielt sie am Arm fest. Hochmütig forderte sie ihn auf: „Lassen Sie mich gehen, ich war mir nicht bewusst, dass jemand hier sein könnte.“

Mit einem Grinsen, dass sie nur als anzüglich bezeichnen konnte, sagte er: „Lauf nicht weg, meine Schöne. Gib zu, du hast mir nachgespürt. Ich weiß doch, wie du mich gestern Abend angesehen hast! Nun ist deine Anstandsdame nicht hier, da können wir ein wenig Spaß miteinander haben …“

„Nein!“ Jo wurde jäh bewusst, dass sie allein mit ihm war, und verspürte einen Hauch von Furcht. „Ich wünsche Ihre Bekanntschaft nicht, Sir. Ich muss gehen, meine Tante wird sonst nach mir suchen.“

„Wenn ich dich gehen lasse, kostet das ein Lösegeld!“ Carstairs zog sie an sich. „Mindestens einen Kuss wirst du mir zahlen.“

„Lass sie gehen, Carstairs!“

Unbemerkt von Jo war jemand herangekommen, und sein befehlender Ton bewirkte, dass Carstairs unverzüglich von ihr abließ. Hastig riss sie sich los und wandte sich um. Hinter ihr stand der Gentleman, der in der vergangenen Nacht im Garten gewandelt war. Nun, von Nahem bemerkte sie, wie gut er aussah, mit dunklem Haar und dunklen Augen und einem festen, von Entschlossenheit sprechenden Kinn.

„Danke, Sir“, sagte sie, „ich muss jetzt hinein, ehe man mich vermisst.“

„Sie wären besser gar nicht erst hinausgegangen“, entgegnete Hal scharf. „Dies ist nicht der richtige Ort für eine junge Dame, vor allem nicht zu einer so frühen Stunde.“

„Wahrscheinlich haben Sie recht“, sagte Jo leise und entfernte sich eilig, ohne sich noch einmal umzusehen, obwohl sie hörte, dass dort scharfe Worte gewechselt wurden.

„Verdammt, was musst du dich einmischen!“, fauchte Carstairs. „Schließlich wollte ich sie nur küssen!“

„Was du vorhattest, weiß ich, und ein Kuss war nur der geringere Teil davon. Wir sind hier in England, nicht mehr auf der spanischen Halbinsel; es herrscht kein Krieg – für dein Verhalten gibt es keine Entschuldigung. Wobei meiner Ansicht nach selbst der Krieg etwas Derartiges nicht entschuldigt. Und das Mädchen, das du gerade belästigt hast, ist jung und unerfahren und verdient, dass man ihm respektvoll und manierlich begegnet.“

„Na, es ist ihr ja nichts passiert“, murrte Carstairs, betrachtete Hal jedoch mit Unbehagen, denn er wusste, er selbst würde bei einem Faustkampf den Kürzeren ziehen. Um gegen Hal Beverley eine Chance zu haben, müsste er ihm schon mit einer Pistole in der Hand entgegentreten. Nun, die Zeit mochte womöglich noch kommen. „Sie ist ja schon zu diesem Drachen von Tante zurückgerannt. Vermutlich habe ich sie zum letzten Mal gesehen.“

„Komm, meine Hand darauf, wir müssen uns wegen dieser Sache nicht entzweien, Carstairs“, sagte Hal.

Carstairs ergriff die Hand mit einer gespielt freundschaftlichen Geste. „Willst du nicht doch mit uns kommen? Es wird viel Spaß geben.“

„Nein, danke, aber wir werden uns sicher in London sehen.“ Damit wandte er sich ab.

Mit wütend funkelnden Augen sah Carstairs ihm nach. Arroganter Teufel! Beverley und seine Clique haben sich schon immer für etwas Besseres gehalten, dachte er, aber das hat Matt Beverley nicht davor bewahrt, sich den Hals zu brechen – bei einem Sturz, dem ein klein wenig nachgeholfen wurde … und vielleicht ereilt dich ja das gleiche Schicksal wie deinen Bruder, mein feiner Bursche.

Jo ließ den Blick durch die Trinkhalle schweifen und stellte seufzend fest, dass fast alle Anwesenden etwa im Alter ihrer Tante standen. Sie langweilte sich inzwischen, denn in dieser Woche waren sie schon zum vierten Mal hier, doch wenigstens würden sie heute Abend die Gesellschaftsräume aufsuchen, wo sie hoffentlich ein paar jüngere Leute traf.

„Ich denke, ich werde die Bäder anwenden“, verkündete Lady Wainwright plötzlich zu Jos Erstaunen. „Du brauchst nicht zu bleiben, Josephine. Besuch doch die Leihbücherei oder mach Besorgungen. Ich werde hier anschließend auch den Lunch nehmen; also sehen wir uns dann zu Hause beim Tee.“

„Danke, Tante“, sagte Jo, erfreut, ein wenig freie Zeit zu haben. „Ich hoffe, Sie genießen die Anwendungen.“

„Nun, es geht nicht um den Genuss. Ich tue es für meine Gesundheit.“

„Ja, sicher, Tante. Gibt es irgendetwas, das ich für Sie mitbringen kann?“

„Oh, besorg mir in der Konditorei ein halbes Pfund Sahnetrüffeln, aber achte darauf, dass sie frisch sind. Nicht, dass sie dir die von der letzten Woche verkaufen!“

„Ja, Tante, ich werde frische verlangen.“

Jo eilte davon, bevor ihre Tante es sich vielleicht anders überlegte. Zwar durfte sie auf ihre dringenden Bitten hin an einem Damen-Diskussionszirkel teilnehmen, der sich einmal wöchentlich zusammenfand, doch ansonsten konnte sie kaum einmal allein ausgehen. Deshalb war es für sie sozusagen ein Fest, einen Nachmittag lang tun und lassen zu können, was sie wollte.

Gemächlich schlenderte sie durch die Hauptstraße und betrachtete die kostspieligen Auslagen der eleganten Geschäfte. Zusammen mit Marianne hatte sie daheim zwei sehr hübsche, ausgesprochen schicke Hütchen gefertigt, die mit dem, was hier angeboten wurde, durchaus mithalten konnten, und da ihre Tante sich nicht beschämen lassen wollte, hatte sie ihre Nichte mit einer für diesen Aufenthalt passenden Garderobe versorgt, deshalb verspürte Jo trotz des üppigen Angebotes nicht den Wunsch, etwas zu erwerben. Doch dann entdeckte sie in einem Laden, der Silberwaren ausstellte, ein entzückendes Döschen, aus dem, wenn man es öffnete, ein kleiner silberner Vogel auftauchte und eine Melodie zwitscherte. Vor kurzem erst hatte sie eine solche Spieldose bei einer mit ihrer Tante befreundeten Dame sehr bewundert. Ob ihr Budget zulassen würde, dass sie die Dose für Lucy kaufte? Nun, wenn erst der Zeitpunkt ihrer Rückreise feststand, würde sie sich nach dem Preis erkundigen, vielleicht war ja dann von ihren kargen Mitteln noch ausreichend übrig.

Sich von dem Fenster abwendend, stieß sie beinahe mit einem Herrn zusammen, der, um sie vor einem Sturz zu bewahren, ihren Arm ergriff. Als sie zu ihm aufblickte, erstarben ihr die Dankesworte auf den Lippen, und sie riss erstaunt die Augen auf, denn er schaute ihr kühn und mit verwegenem Blick ins Gesicht. Seine Lippen waren zu einem einladenden Lächeln verzogen, und einen winzigen Augenblick hatte sie das seltsame Gefühl, er wolle sie küssen. Es war der Gentleman, der sie auf der Herreise in jenem Gasthof vor dem grässlichen, unverschämten Mann bewahrt hatte.

„Ich bitte um Entschuldigung. Ich habe nicht aufgepasst …“ Jo errötete bei dem Gedanken an den bewussten Zwischenfall ein wenig verlegen, doch der Mann schien sich nicht daran zu erinnern – er benahm sich, als hätten sie sich nie zuvor getroffen.

„Vorsichtig, hübsches Kind, ich hätte Sie umstoßen können, und das hätte mich ganz schrecklich betrübt – ich hätte es mir nie verzeihen können.“

„Die Schuld hätte allein bei mir gelegen, Sir“, sagte Jo und trat einen Schritt zurück. Sofort ließ er ihren Arm los. Sie entschied, sich ebenso unbefangen wie er zu verhalten; vielleicht hatte er sie wirklich nicht wiedererkannt. „Sehen Sie, ich war in Gedanken vertieft – wegen der Spieluhr dort in der Auslage; die würde meiner Schwester Lucy ungemein gefallen.“

„Ah, ein hübsches Spielzeug“, sagte der Gentleman mit einem Blick in das Schaufenster. „Ihre Schwester findet Gefallen an solchen Dingen?“

„Sie hat noch nie etwas dergleichen besessen, doch sie ist romantisch und verträumt, bestimmt würde sie Freude daran haben; allerdings fürchte ich, es könnte zu teuer sein.“

„Nicht unwahrscheinlich. Aber vielleicht hat sie bald Geburtstag? Soll ich es Ihnen kaufen, als Wiedergutmachung dafür, dass ich Sie so erschreckt habe?“

„Oh, nein!“ Jo war entsetzt und peinlich berührt. Für was hielt er sie? „Das könnte ich niemals annehmen! Was für ein Angebot! Wie könnte ich mir von einem Fremden etwas schenken lassen?“

„Sind wir denn Fremde?“, fragte er mit blitzenden Augen. „Immerhin weiß ich schon, dass Sie eine entzückende Schwester namens Lucy haben, und ich bin mir sicher, wir könnten uns noch besser kennenlernen, wenn Sie mir erlaubten, Sie … sagen wir, zu einer heißen Schokolade einzuladen.“ Er sah sie, Schalk im Blick, herausfordernd an, was sie ein wenig verwirrend fand.

„Sir! Sie müssen einen falschen Eindruck von mir gewonnen haben!“ Jo schwankte zwischen Empörung und Verwunderung. „Ich bin eine ehrbare junge Dame. Der Vorfall neulich in dem Gasthof wurde nicht von mir provoziert, das versichere ich Ihnen.“

Hal betrachtete sie nachdenklich. Er hatte sie nicht auf Anhieb erkannt, denn sie hatte seitdem ein wenig städtischen Schliff erlangt, und außerdem war er bis jetzt nicht ganz bei der Sache gewesen. Eigentlich hatte er nur ein wenig mit einem hübschen Mädchen flirten wollen. Als er nun ihre Empörung bemerkte, überkam ihn plötzlich der boshafte Wunsch, sie zu necken, zu sehen, wie weit sie gehen würde. „Oh, ja, dessen bin ich gewiss.“

Sie sah, dass er im Stillen lachte.

„Sogar sehr ehrbar“, fuhr er fort, „wenn auch ein wenig unbekümmert. Aber Carstairs ist ein roher Klotz und ein Narr dazu. Es tut mir leid, dass ich damals so harsch mit Ihnen sprach. Eigentlich galt mein Ärger ihm. Natürlich sind Sie eine Dame von Stand und verdienen Respekt. Außerdem sind Sie unwiderstehlich, wenn ihre Augen vor Zorn flammen. Mir ist, als hätte ich Sie schon immer gekannt, obwohl ich Ihren Namen nicht weiß – denn Sie nannten ihn mir nicht. Der meine ist Hal Beverley, falls Sie ihn erfahren möchten.“

Jo sah ihm fest in die Augen. „Sir, sind Sie bezecht?“

Sein Lachen verblüffte sie, denn es klang absolut ehrlich und war sehr ansprechend. „Das fragt man mich häufiger. Mein Vater behauptet, ich sei ein respektloser Frechdachs, doch ich versichere Ihnen, mein Angebot war ganz redlich gemeint. Sie haben eine Schwester, der Sie gern ein hübsches Geschenk machen möchten, in meinen Taschen befindet sich das Geld dafür – Sie müssen mir verzeihen, wenn ich Ihren Sinn für Anstand verletzt habe.“

„Nein, im Grunde fühlte ich nicht so“, entgegnete sie, selbst überrascht über ihre Worte. „Wissen Sie, mein Vater hätte vielleicht das Gleiche getan, wenn er es sich hätte leisten können. Oft genug schenkte er den Dorfkindern ein paar Münzen.“

„Vielleicht können wir uns wieder einmal unterhalten“, sagte er, den Hut vor ihr ziehend. „Sie müssen mich nun entschuldigen, ich habe eine Verabredung; wahrscheinlich komme ich schon zu spät. Geben Sie Acht, wohin Sie Ihre Schritte lenken. Es würde mich sehr bekümmern, wenn Ihnen etwas zustieße.“

„Ich werde besser aufpassen …“ Jo sah dem Davongehenden nach. Sein Haar war von dunkelstem Braun, und er hatte einen so verwegenen Blick – ganz wie der Earl in ihrer Geschichte.

Sie schüttelte abwehrend den Kopf. Ihre Fantasie ging mit ihr durch; solche Dinge sollten besser ihren Erzählungen vorbehalten bleiben – nicht dem wirklichen Leben.

Der Auslagen in den Fenstern müde, beschleunigte sie ihren Schritt. Sie musste sich beeilen, denn sie wusste nicht genau, wann die Bücherei schloss. Als sie das Gebäude erreichte, trat gerade eine Frau aus dem Eingang. Eben wollte Jo an ihr vorbei, da hörte sie sie aufstöhnen und sah sie zu Boden sinken.

Hastig kniete sie neben ihr nieder, fasste deren Handgelenk und suchte nach dem Puls, der jedoch kräftig schlug. Während sie noch überlegte, was zu tun wäre, seufzte die Frau abermals und schlug die Augen auf.

„Ah, ich muss ohnmächtig geworden sein“, sagte sie schwach. „Darf ich Sie wohl bitten, mir aufzuhelfen?“

Jo reichte der Fremden, die sich mühsam auf die Füße kämpfte, die Hand. Während sie noch schwankend ihre Kleider zu ordnen versuchte, glitt ihr der Schal von den Schultern, und Jo sah, dass sie offensichtlich in der Hoffnung war. Rasch legte sie ihr den Schal wieder um und fragte: „Ist Ihnen immer noch übel?“

„Nur ein wenig“, entgegnete die Frau mit schwacher Stimme. „Wenn ich einen Moment niedersitzen könnte …“

„Ich begleite Sie in die Teestube dort“, sagte Jo und bot ihr den Arm. „Stützen Sie sich auf mich. Ich bestelle uns Tee und ein wenig Gebäck. Vielleicht wird Ihnen dann besser.“

„Ja, das wäre gut. Heute Morgen war ich in solcher Eile, dass ich nichts zu mir nahm. Daher vermutlich der Schwächeanfall.“

„Das wird es sein“, stimmte Jo zu. „In Ihrem Zustand sollten Sie wirklich das Essen nicht vergessen, Madam.“ Sie bemerkte den Ehering am Finger der Dame und fügte hinzu: „Soll ich Hilfe für Sie holen? Ihren Gemahl etwa?“

Die Augen der Frau verdunkelten sich vor Schmerz. „Mein Gatte lebt nicht mehr, und sonst habe ich niemanden. Ich bin ganz auf mich gestellt, das war auch der Grund für meine Eile. Ich arbeite in Heimarbeit als Näherin und hatte einem der Modesalons hier versprochen, schon früh eine Stickarbeit auszuliefern. Danach wäre ich besser direkt wieder heimgegangen, doch ich wollte mir noch ein Buch ausleihen. Wenn ich mich vorstellen darf: Mein Name ist Ellen Beverley.“

„Es tut mir leid, von Ihrem Verlust zu hören“, sagte Jo, während sie die Dame zu einem Tischchen am Fenster führte und sie sanft auf den Stuhl drückte. „Wie schrecklich für Sie, besonders in Ihrem Zustand.“

Lächelnd legte Ellen eine Hand auf ihren gewölbten Leib. „Oh, Matts Kind ist meine ganze Freude. Wäre das nicht gewesen, hätte ich mich, glaube ich, bei seinem Tod der Verzweiflung hingegeben. Doch um des Kindes willen muss ich leben – anders hätte es mein Gatte nicht von mir erwartet. Er war ein tapferer, gütiger Mann, und ich werde sein Kind lieben, wie ich ihn geliebt habe.“

„Das ist nur natürlich.“ Ganz kurz kam Jo der Gedanke, ob ihre neue Bekanntschaft wohl mit dem Herrn verwandt war, der sich ihr vorhin als Hal Beverley vorgestellt hatte. Doch das konnte nicht sein; die Dame hatte gesagt, sie sei alleinstehend. Die Namensgleichheit musste zufällig sein. „Gibt es denn niemanden, der Ihnen beistehen könnte?“