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Das Letzte, was Gwen Cooper wollte, war noch eine Katze. Zwei hatte sie schon, außerdem einen schlecht bezahlten Job und ein gebrochenes Herz. Doch in Homer, ein vier Wochen altes, blindes Kätzchen, verliebt sie sich auf der Stelle. Das Katzenbaby wächst zum Lebenselixier für Gwen heran. Es erweist sich als ein regelrechter Lehrmeister fürs Leben und versöhnt Gwen sogar mit der Liebe ...
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
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10. Auflage 2023
© 2010 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,
Türkenstraße 89 D-80799 München Tel.: 089 651285-0 Fax: 089 652096
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2009 bei Delacorte Press, einem Imprint von The Random House Publishing Group, einem Teil von Random House, Inc., unter dem Titel Homer’s Odyssey.
© 2009 by Gwen Cooper. All rights reserved.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Übersetzung: Martin Rometsch, Mengen
Redaktion: Diane Zilliges, Wörthsee
Umschlaggestaltung: Melanie Madeddu, München
Umschlagabbildung: iStockphoto
Satz: Jürgen Echter, Landsberg
EPUB: Grafikstudio Foerster, Belgern
ISBN Print: 978-3-86882-489-6 ISBN E-Book (PDF): 978-3-316-7 ISBN E-Book (EPUB, Mobi): 978-3-86415-317-4
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
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Für Laurence, auf ewig
Alle Fremden und Bettler kommen von Zeus. Und eine Gabe, so klein sie auch sein mag, ist kostbar.
Homer, Odyssee
Vorwort
Prolog: Die Katze, die lebte
Ein namenloser HeldWas findest du an einer Katze ohne Augen?Der erste Tag vom Rest seines LebensDas Komitee für klitzekleine KätzchenDas neue KindSei nicht glücklich – mach dir SorgenGwen wohnt nicht mehr hierDie Ballade von El MochoWenn Hund und Katz zusammenleben ...Vertrauen ist gutMeine eigene EinzimmerwohnungHaustiergeräuscheHerr der FliegenMucho GatoMein Homer/mein SelbstDie Katzen und das ledige MädchenDie Katzentruppe auf TourneeKühl für KatzenEin Loch im Himmel12. September 2001Niemand ist so blindEin Lobgesang auf VashowitzVorzeichen der UnsterblichkeitJa, ich habe ihn geheiratet!Danksagung
Über die Autorin
von Patricia Khuly, Tierärztin
Als ich das Katerchen zum ersten Mal sah, war es ein winziges Etwas aus schwarzem Flaum in der ausgestreckten Hand einer jungen Frau. Es schien sich nicht von anderen Kätzchen zu unterscheiden – bis es den Kopf hob und miaute, erstaunlich laut für ein Geschöpf, das von der Nase bis zum Schwanz nur 10 Zentimeter lang war.
So winzig es noch war, es drehte sich um, als es meine Stimme hörte. Jetzt sah ich seine Augen. Dieser zwei Wochen alte Findling litt eindeutig an einer schweren Infektion, die ihm ziemlich sicher das Sehvermögen rauben würde, vielleicht sogar das Leben.
Das wohlmeinende Paar, das ihn gefunden hatte, bat mich fast händeringend, ihn sofort einzuschläfern. Trotzdem untersuchte ich ihn sorgfältig. Der Winzling zappelte, strampelte mit den Beinen und miaute kräftig auf dem stählernen Untersuchungstisch. Schließlich erklärte ich, das Kätzchen sei offenbar völlig gesund – abgesehen vom Augenproblem. Würden sie es aufnehmen, wenn es mir gelingen sollte, die Infektion zu heilen?
Aus zahlreichen Gründen konnten die beiden einem so jungen Kater kein Heim bieten. Sie arbeiteten. Sie hatten einen Hund. Sie hatten kein Geld. Und überhaupt – wie groß war die Chance, dass er jemals wieder sehen konnte?
Oh ... gleich null. Ich erklärte, dass ich seine Augen operativ entfernen wolle, um sein Leben zu retten. Ziemlich sicher gab ihnen das den Rest. Sie schüttelten ungläubig den Kopf und überließen ihn meiner Fürsorge. Seine kläglichen Schreie hatten sie in dieser Entscheidung sicher noch bestärkt. Sie waren davon überzeugt, dass er schreckliche Schmerzen haben musste.
Nachdem seine Besitzer ihn mir übereignet hatten, oblag es mir, ihn so gut wie möglich zu versorgen. Ich hatte auch meine Zweifel. Aber sie legten sich, als ich den Grund für sein akutes Unbehagen entdeckte: Hunger. Eine kleine Schale Katzenfutter mit Milchersatz beruhigte ihn. Minuten später war er friedlich eingeschlafen. Das bestärkte mich in meinem Entschluss, seine Augen zu behandeln, trotz der unabwendbaren Erblindung.
Immerhin, dachte ich, hatte dieses Kätzchen nie sehen können. Anders als menschliche Babys werden Katzen mit Augen geboren, die 10 bis 13 Tage lang verschlossen sind. Die relativ langwierige Infektion dieses zwei Wochen alten Katers hatte fast mit Sicherheit verhindert, dass sich das Sehvermögen allmählich hätte entwickeln können. Nach der Therapie würde er blind bleiben, ohne die Sehfähigkeit je zu vermissen. Wie viele andere Tiere können kleine Katzen sich gewissermaßen neurologisch umsortieren, um zu überleben. Diesen Vorgang nennt man individuelle Umweltanpassung – mein Lieblingsausdruck für: »Ich weigere mich, ihn einzuschläfern.« Durfte ich mich meiner Pflicht entziehen, Leiden zu lindern, wenn ich ein Leben erhalten konnte, das lebenswert war?
Fragen Sie junge, idealistische Tierärzte, und sie werden wahrscheinlich ähnliche Sünden beichten, wie ich sie beging, als mir dieses blinde Kätzchen begegnete. Wenn ein Tier krank ist, aber geheilt werden kann – und wenn die kleinste Chance besteht, dass es in gute Hände kommt –, dann ist das seine Bestimmung, argumentieren wir. Gerade diese Tiere rühren immer wieder unser Herz mit ihrer erstaunlichen Zähigkeit und dem unwiderstehlichen Charme des hässlichen Entleins.
Ich wusste, dass ich in meinem Haus, in dem es ein Kleinkind, eine Allergie und einen großen Hund gab, unmöglich ein blindes Kätzchen halten konnte. Andererseits konnte ich auf keinen Fall ein robustes Tier sterben lassen, nur weil es kein Heim hatte. Jemand in meinem Freundeskreis oder in meiner Familie wird diesen Kater bestimmt ebenso reizend finden wie ich, versicherte ich mir. Er würde ein Zuhause haben, wenn ich jemanden mit der notwendigen Mischung aus Exzentrik und Einfühlungsvermögen fand, der sich dieses »sonderpädagogischen« Falles annahm.
Es folgten einige Wochen, in denen ich eine Ablehnung nach der anderen einstecken musste. Ich schaltete meine Familie ein – einen tierlieben Clan –, und sie verbreitete pflichtschuldig die Nachricht, dass ein blindes Kätzchen ein sicheres Zuhause suchte. Ich gab Anzeigen auf und fragte ehemalige Studienkollegen, die eine mitleidige Ader hatten. Vergeblich.
Inzwischen hatte ich aufgehört, vernünftig zu argumentieren und mich selbst zu geißeln. Der kleine Kater war nach der Operation wieder quicklebendig, so sehr, dass meine Mitarbeiter und ich uns unsterblich in ihn verliebten. Manchmal konnte ich den Gedanken, mich von ihm zu trennen, fast nicht ertragen.
Ich musste einfach in diese zottelige kleine Schwärze vernarrt sein, mit seinen eingesunkenen Augenhöhlen, seinem unersättlichen Appetit auf Futter, Streicheleinheiten, Schmusen und Spielen. Ja, er tollte sogar herum wie ein normales Kätzchen, auch ohne Augen. Kurz gesagt, er war enorm liebenswert, in jeder Hinsicht … abgesehen von dem Aspekt, der den meisten Menschen am wichtigsten ist: das Aussehen.
Eines Tages versprach eine junge Frau, deren zwei Katzen ich behandelte, sich den Kater anzusehen. Doch als ich ihr meinen dunklen Fellball reichte, spürte ich einen Anflug von Beklommenheit. Würde sie ihn voller Abscheu betrachten, so wie viele andere vor ihr? Würde sie zögern, eine derart seltsame und behinderte Kreatur zu sich zu nehmen?
Nein, sie flüsterte leise mit ihm! Sie hob ihn auf und hielt ihn. Er schnurrte in ihren Armen. Zu meiner Überraschung und großen Erleichterung sagte sie: »Ich nehme ihn mit.« Dafür werde ich ihr ewig dankbar sein.
Homer war der erste »hoffnungslose« Fall, den ich in meiner damals noch kurzen beruflichen Laufbahn übernommen hatte. Seither hatte ich viele ähnliche Fälle, aber er war der Bahnbrecher, der für die vielen anderen den Weg bereitete.
Zweifellos hat Homers »Odyssee« für jeden Menschen eine andere Bedeutung. Mir wird Homer immer ein sehr persönlicher Mahner sein, der mich daran erinnert, was die Tiermedizin erreichen kann, wenn sie mit dem Idealismus der Jugend gepaart ist. Ihm verdanke ich die Erkenntnis, dass eine Partnerschaft zwischen einer Tierärztin, einer liebevollen Besitzerin und einem kämpferischen Patienten alles erreichen kann.
Homers Geschichte ist für uns alle ein Ansporn.
Dr. med. vet. Patricia Khuly, MBA
Singe mir, o Muse, die Taten des klugen, weit gereisten Mannes ...
Homer, Odyssee
Wenn ich am Ende eines Tages nach Hause komme, folgt immer die gleiche Routine.
Das Kling! des Aufzugs ist für empfindliche Ohren der erste Hinweis darauf, dass meine Ankunft bevorsteht, und wenn mein Schlüssel ins Schloss trifft, höre ich an der anderen Seite der Tür leise Pfoten. Ich habe mir angewöhnt, alle Türen – auch die im Haus anderer Leute – so vorsichtig zu öffnen, dass kein pelziger Tunichtgut hinauspurzeln kann. Aber ich brauche gar nicht erst den Boden abzusuchen, denn schon nach wenigen Sekunden haben die Pfoten den Weg von der Tür zu meinen Beinen zurückgelegt, und ein kleiner schwarzer Kater bemüht sich nach Kräften, an mir hinaufzukriechen, als wäre ich ein Baumstamm.
Damit weder meine Kleider noch die Haut darunter zu Schaden kommen – seine Krallen sind klein, aber sehr griffig –, gehe ich in die Hocke und rufe fröhlich: »Hallo, Homer-Bär!« (Diesen Spitznamen habe ich ihm gegeben, als er ein winziges Katzenkind war und einen glänzend-schwarzen Pelz hatte wie ein Grizzly.) Für Homer ist das die Aufforderung, auf meine Knie zu springen, die Vorderpfoten auf meine Schultern zu legen, die Nase an meiner Nase zu reiben, dabei laut zu schnurren und eine Reihe kurzer, abgehackter Miaus von sich zu geben, die dem Jaulen eines Hündchens verblüffend ähnlich sind. »He, Kleiner«, sage ich und kraule ihn hinter den Ohren. Das löst bei Homer wahre Wogen des Entzückens aus, und da er jetzt mit bloßem Nasenkontakt nicht mehr zufrieden ist, presst er sein Gesicht an meine Stirn und lässt es hinunter zu meiner Wange und zurück gleiten.
Eine Hocke in den Stöckelschuhen, die ich trage (ich bin nur 155 Zentimeter groß, aber nicht bereit, als kleine Peson durchs Leben zu laufen), ist schmerzhafter, als es klingt. Also hebe ich Homer hoch und setze ihn wieder auf den Boden. Dann stehe ich auf und betrete endlich das Apartment, das ich mit meinem Mann Laurence teile. Schlüssel, Mantel und Einkäufe sind schnell verstaut. Wenn man mit drei Katzen lebt, lernt man, Fellknäuel an den öffentlich getragenen Kleidern zu vermeiden, indem man gleich nach der Ankunft saloppe Sachen anzieht. Darum gehe ich ins Schlafzimmer und ziehe mich rasch um.
Ein pelziger Schatten folgt mir durch die Wohnung und hüpft unterwegs auf sämtliche Möbel. Homer springt mühelos vom Boden aus auf einen Stuhl, vom Stuhl auf den Esstisch und zurück auf den Boden, wie ein rasender Q*bert. Wenn ich aus dem Wohn-/Essbereich in den Flur gehe, sitzt Homer auf einem Beistelltisch. Dann hüpft er wagemutig quer durch den Gang auf das dritte Brett des Bücherregals, wo er sich einen prekären Augenblick lang zusammenkauert, bis ich vorbei bin. Dann ist er wieder auf dem Boden und saust vor mir her, wobei er gelegentlich vor Begeisterung mit einer meiner beiden anderen Katzen zusammenprallt, ehe er die Tür zum Schlafzimmer erreicht. Dort hält er jedes Mal an genau der gleichen Stelle inne, legt eine fast nicht bemerkbare, kurze Pause ein und rennt dann mit einer scharfen Linkskurve ins Zimmer, als wolle er ein großes L zeichnen. Er springt aufs Bett, denn er weiß, dass ich mich darauf niederlasse, um die Schuhe auszuziehen. Er krabbelt auf meinen Schoß, um noch einmal zu schnurren und sein Gesicht an meinem zu reiben.
Diese Routine ist jeden Tag die gleiche. Was sich ändert, ist die Art der genauen Inspektion der Wohnung nach dem Umziehen. Homer hat viele verschiedene Hobbys, und man weiß nie, mit welchen neuen Projekten er sich von Woche zu Woche beschäftigt. Eine Zeit lang wollte er anscheinend einen Weltrekord aufstellen und an einem einzigen Tag möglichst viele Sachen vom Kaffeetisch werfen. Laurence und ich sind beide schreibend tätig, darum liegen die üblichen Utensilien – Kulis, Notizblöcke und Notizzettel – zwischen Zeitschriften, Taschenbüchern, Papiertaschentüchern, Ticketabschnitten, Sonnenbrillen, Zündholzheftchen, Fernbedienungen, Pfefferminzdrops und Speisekarten auf dem Tisch. Eines Tages kamen wir nach Hause und fanden unseren Kaffeetisch total leergefegt vor – alles lag verstreut auf dem Fußboden, der aussah wie eine Leinwand von Jackson Pollock. Wir legten die Sachen an ihren rechtmäßigen Platz zurück (nicht ohne etwas verschämt ein wenig aufzuräumen). So ging es mehrere Wochen lang weiter. Wir wussten nicht, welche Katze das dafür verantwortliche Phantom war, bis ich eines Abends nach Hause kam und Homer auf frischer Tat ertappte, bebend vor Stolz auf seine Leistung und ohne schlechtes Gewissen.
»Vielleicht mag er keine Unordnung«, sagte ich zu Laurence. »Es stört ihn wohl, dass alles an einem anderen Platz liegt, wann immer er auf den Tisch springt.«
Laurence neigt weniger als ich dazu, die verborgenen Motive unserer Haustiere zu erforschen. »Ich glaube, der Katze gefällt es einfach, Sachen vom Tisch zu schubsen«, erwiderte er.
Wir haben auch gelernt, die Gleittüren an den Schränken abzuschließen. Für einen kleinen Kater ist es anscheinend leichter, als man meinen möchte, sich mit seinem ganzen Körpergewicht an eine Jeans zu hängen (der Stoff ist schön robust und eignet sich gut zum Klettern), dann in ein Fach zu hüpfen, in dem Schachteln mit alten Fotos oder eingepackten Geburtstags- und Festtagsgeschenken stehen (die angenehm knistern, wenn man sie mit den Krallen aufreißt) und weiche Kleider gestapelt sind. In Abfalleimer – egal, wie hoch sie sind – kann man hineinspringen, oder man kann sie umkippen. Mit Seilen umwickelte Kratzbäume lassen sich vollständig schälen, wenn man hartnäckig ist. Bücherregale kann man erklimmen und dann Bücher von den höchsten Brettern hinunterwerfen. Das Gleiche gilt für gestapelte Platten, CDs und DVDs. Wenn eine junge Katze genügend Fantasie hat, sind ihren Possen und kleinen Missetaten an einem durchschnittlichen Werktag keine Grenzen gesetzt. Ich habe von Homer die wertvolle Lektion gelernt, wie wichtig es ist, seine Zeit mit sinnvollen Projekten auszufüllen.
Neulich hat Homer gelernt, die Toilette zu benutzen. Warum er im Alter von zwölf Jahren plötzlich beschlossen hat, seinem Repertoire diesen Trick hinzuzufügen, weiß ich nicht. Ich habe von Katzen gehört, die von ihren Besitzen dressiert wurden, die Toilette anstelle des Katzenklos zu benutzen, aber ich habe noch nie von einer Katze gehört, die diese Fertigkeit von selbst erlernt hat.
Es war Zufall, dass ich diese neuste Heldentat bemerkte. Ich wachte früh am Morgen auf und taumelte ins Badezimmer. Als ich das Licht anknipste, sah ich, dass das Bad ... schon besetzt war. Homer balancierte an der Kante der Toilettenschüssel.
»Oh, tut mir leid«, sagte ich automatisch, noch im Halbschlaf. Erst als ich hinausging und die Tür sorgfältig hinter mir schloss, dachte ich: Moment mal ...
»Unsere Katze ist ein Genie!«, schwärmte ich später.
»Er ist ein Genie, wenn er selbst spülen lernt«, erwiderte Laurence.
Es stimmt: Die Kunst des Spülens beherrscht Homer noch nicht. Darum habe ich die Kontrolle der Toilette der mentalen Checkliste hinzugefügt, die ich abhake, wenn ich abends nach Hause komme und die Wohnung nach umgeworfenen Bilderrahmen, neugierig geöffneten Schränken und auf dem Boden herumliegenden Nippsachen absuche.
Da ich nie genau weiß, was mich erwartet, wenn ich durch die Tür gehe – und weil Homer für Uneingeweihte ein verblüffender Anblick ist –, versuche ich, Gäste vorzubereiten, wenn sie zum ersten Mal kommen. Seit ich Laurence geheiratet habe und nicht mehr mit anderen Männern ausgehe, muss ich das nicht mehr so oft tun, zumal ich allmählich ein Alter erreiche, in dem neue Freundschaften seltener werden.
Dennoch erinnere ich mich daran, dass ich es einmal versäumte, einen neuen Freund vor seinem ersten Besuch aufzuklären. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich ihn am Ende des Abends in meine Wohnung einladen würde. Und als die Entscheidung fiel, fürchtete ich, ein Gespräch über Katzen würde die romantische Stimmung trüben.
Damals liebte Homer es sehr, mit Tampons zu spielen. Nachdem er zufällig welche gefunden hatte, war er davon fasziniert, sie herumzurollen, und auch der Faden am Ende gefiel ihm. Er mochte sie so sehr, dass er herausfand, wo ich sie im Schrank unter dem Waschbecken aufbewahrte. Mit unermüdlicher Geduld und Präzision gelang es ihm, die Schranktür zu öffnen und die Tamponschachtel zu plündern.
Als ich mit meinem Freund hereinkam, lief Homer zur Tür, um mich zu begrüßen – und an seinem Mund hing ein Tampon. Der weiße Zellstoff hob sich auffallend von seinem schwarzen Pelz ab. Es war ein lebendiges, demütigendes Relief. Eine Weile tollte er vergnügt und triumphierend herum, dann rannte er prompt zu mir und hockte sich erwartungsvoll vor mich hin. Den Tampon hielt er zwischen den Kiefern wie ein Hund einen Knochen.
Meine Verabredung sah verdutzt aus, um es vorsichtig zu formulieren. »Was zum ... ist das ein ...« Er stotterte einen Augenblick, dann brachte er endlich einen Satz heraus: »Ist deiner Katze etwas passiert?«
Ich kauerte mich hin, Homer kletterte glücklich auf meinen Schoß und ließ den stibitzten Tampon vor meine Füße fallen. »Es geht ihm gut«, antwortete ich. »Er hat keine Augen, das ist alles.«
Das schien meinem Freund den Atem zu verschlagen. »Keine Augen?«, fragte er.
»Na ja, er wurde mit Augen geboren«, erklärte ich. »Aber man musste sie entfernen, als er ein kleines Kätzchen war.«
Man schätzt, dass es in rund 38 Millionen amerikanischen Haushalten etwa 90 Millionen Katzen gibt. Insofern ist Homer in gewisser Hinsicht typisch. Er frisst, schläft, schubst Papierknäuel herum und ist so unternehmungslustig, dass ich höchstens jedes zweite Missgeschick verhindern kann. Wie jede Katze weiß er genau, was er mag und was er nicht mag. Glück bedeutet für Homer, Thunfisch frisch aus der Dose zu vertilgen, auf alles zu klettern, was sein Gewicht trägt, mit gespieltem Grimm seine beiden arglosen (und viel, viel größeren) Schwestern zu boxen und im Sonnenlicht zu schlummern, das kurz vor Sonnenuntergang ins Wohnzimmer fällt. Unglücklich ist er, wenn er als Letzter einen Logenplatz neben Mama auf dem Sofa ergattert, wenn sein Katzenklo nicht tadellos sauber ist und wenn er wieder einmal nicht auf unseren Balkon darf (blinde Katze, große Höhe – es ist eine einfache Rechnung). Außerdem hasst er das Wort Nein.
In meiner Fantasie ist Homer überlebensgroß, und ich stelle mir seine Geschichte oft als Epos vor. Er ist die Katze, die lebte – ein verwaister, halb verhungerter Streuner, der eine Krankheit überstand, die so ernst war, dass sie ihm im Alter von zwei Wochen das Augenlicht raubte, und den niemand haben wollte, als feststand, dass er durchkommen würde. Er ist Daredevil, der berühmte Held der Marvel-Comics, der sein Sehvermögen bei einem Unfall verlor, als er einen Blinden rettete, wonach seine anderen Sinne eine übermenschliche Schärfe entwickelten. Wie bei Daredevil grenzt Homers Gehör ans Übernatürliche, ebenso sein Geruchssinn und seine Fähigkeit, alle Hindernisse in einem unbekannten Raum, den er nur einmal durchquert hat, zu erinnern und zu überwinden. Er ist ein Kater, der ein winziges Stück Thunfisch aus drei Zimmern Entfernung riechen, gut anderthalb Meter aus dem Stand hochspringen und eine summende Fliege in der Luft fangen kann. Jeder Sprung von einer Stuhllehne oder von einem Tisch ist Vertrauenssache und gleicht einem Sprung in den Abgrund. Jede Jagd nach einem Ball im Flur setzt großen Mut voraus. Jeder Vorhang, auf den er klettert, jede freundliche Begrüßung einer unbekannten Person, jeder Schritt nach vorn ohne Führung, hinein in die dunkle Leere seiner Umwelt, ist ein Wunder an Tapferkeit. Er hat keinen Blindenhund, keinen Stock, keine Sprache, in der man ihn aufmuntern oder ihm Form und Natur der vor ihm liegenden Hürden erklären könnte. Meine anderen Katzen können aus dem Fenster schauen, darum kennen sie die Grenzen ihrer Welt. Aber Homers Welt ist grenzenlos und letztlich unerkennbar. Jeder Raum, in dem er sich befindet, enthält alles, was ist, und ist daher unendlich. Obwohl er mit Zeit und Raum nur eine äußerst flüchtige Beziehung hat, transzendiert er beide.
Anfangs kam Homer zu mir, weil ihn niemand sonst haben wollte. Darum bin ich immer wieder erstaunt darüber, wie fasziniert die Leute sind – sogar jene, die sich nicht sonderlich für Katzen interessieren –, wenn sie ihm begegnen oder auch nur von ihm hören. Niemand bringt ein Gespräch so schnell in Gang wie er. Das hatte ich nicht erwartet, als ich ihn aufnahm. 90 Millionen Katzen im Land – das sind mindestens 90 Millionen Katzengeschichten. Aber – auf die Gefahr hin, unerträglich voreingenommen zu klingen – mir ist noch keine Katze begegnet, die so einzigartig ist wie Homer. Mindestens einmal in der Woche, in jeder Woche der vergangenen zwölf Jahre, tut er etwas, was mich amüsiert, wütend macht oder einfach verblüfft – und am erstaunlichsten ist er, wenn ich ihn wieder einmal mit den Augen eines anderen betrachte, als wäre er neu für mich.
Ach, wie traurig!, ist oft das Erste, was die Leute sagen, wenn sie hören, dass Homers Augen entfernt wurden, als er zwei Wochen alt war. Meist erwidere ich dann: »Zeig mir einen Kater auf der Welt, der glücklicher und ausgelassener ist – ich gebe dir 100 Dollar, wenn ich ihn nur einmal kurz anschauen kann.« Wie bewegt er sich?, fragen dann viele. »Mit den Beinen«, sage ich, »wie jede andere Katze auch.«
Manchmal, wenn er besonders ausgelassen spielt, höre ich einen dumpfen Ton, weil er mit dem Köpfchen an eine Wand gestoßen ist oder an ein Tischbein, das er vergessen hat. Das bringt mich immer zum Lachen, und gleichzeitig spüre ich den vertrauten Schmerz in meinem Herzen. Ich lache, weil jeder, der eine Katze beim fröhlichen Spiel, beim Runterfallen vom Sofa oder beim Zusammenstoß mit einer geschlossenen Glastür beobachtet hat, einfach kichern muss. Und mein Herz bricht, weil, wenn man Homer in der besten aller möglichen Welten eine Woche früher gefunden hätte, seine Infektion dann vielleicht schwer gewesen wäre, ihn aber nicht die Augen gekostet hätte.
Doch natürlich wäre Homer in dieser perfekten Welt mit großer Wahrscheinlichkeit nie in mein Leben getreten.
Mein Lieblingsmoment während der Feierlichkeiten zum Passahfest – es erinnert daran, dass Gott die Israeliten und Moses aus der ägyptischen Knechtschaft befreite und ins Gelobte Land führte – ist immer das Dajenu, ein fröhliches Lied, das laut gesungen wird, begleitet von Händeklatschen und Stampfen. Dajenu bedeutet auf Hebräisch »es hätte genügt«. Das Lied berichtet von den Wundern, die Gott für die Israeliten bewirkte, und von denen jedes Einzelne »genügt hätte«: Wenn er uns aus Ägypten geführt und den Ägyptern keine Plagen auferlegt hätte, dajenu! Wenn er ihnen Plagen gesandt, aber das Rote Meer nicht vor uns geteilt hätte, dajenu! Wenn er für uns das Meer geteilt, uns aber nicht 40 Jahre lang in der Wüste versorgt hätte, dajenu!
Und so weiter.
Nach zwölf gemeinsamen Jahren mit Homer habe ich mein eigenes Dajenu gedichtet. Hätte Homer es nur geschafft, länger als zwei Wochen zu leben, es hätte genügt. Hätte er nur gelernt, seinen Futternapf und sein Katzenklo allein zu finden, es hätte genügt. Wenn er nur gelernt hätte, in unserer Wohnung ohne Führung von einem Zimmer ins andere zu gehen, es hätte genügt. Wenn er nur gelernt hätte, zu laufen, zu hüpfen, zu spielen und furchtlos all das zu tun, was er ersten Prophezeiungen nach nie hätte tun können, es wäre genug gewesen. Hätte er mich nur dazu gebracht, mehr als ein Jahrzehnt lang jeden Tag laut zu lachen, es hätte genügt.
Und wenn er nichts weiter getan hätte, als eine der treusten, liebevollsten und tapfersten Quellen der Freude und Inspiration zu werden, die ich je gekannt habe ... nun ja, das wäre mehr als genug gewesen.
Wenn kein vernünftiger Mensch in einer scheinbar hoffnungslosen Situation irgendetwas Gutes erwarten kann und dann trotzdem alles Gute geschieht, sprechen wir von Wundern. Nur wenige von uns haben das Glück, solche Wunder im Alltag zu erleben.
Darum ist dieses Buch für Menschen bestimmt, die so sind wie ich, aber auch für jene, die nicht mehr an alltägliche Wunder und Helden glauben können. Ich habe es für Menschen geschrieben, die Katzen lieben, und für solche, die sich für überzeugte Katzenfeinde halten, für jene, die glauben, normal und ideal seien dasselbe, und für alle, die wissen, dass wir unser ganzes Leben bereichern können, wenn wir bisweilen einen kleinen Schritt von der Mitte weg tun, aus der Normalität heraus.
Ihnen allen stelle ich hiermit Homer, die Wunderkatze, vor.
Dajenu!
Gestern war der zwanzigste Tag, an dem ich auf dem Meer hin und her geworfen wurde. Der Wind und die Wellen haben mich von der Insel Ogygia abgetrieben, und nun hat das Schicksal mich an dieser Küste stranden lassen.
Homer, Odyssee
Vor Jahren, als ich noch zwei Katzen hatte, sagte ich gern: »Wenn ich mir je eine dritte anschaffen sollte, werde ich sie ›Miau Tse-tung‹ oder kurz ›der Vorsitzende‹ nennen.«
»Schaut mich nicht so an, das wäre doch süß«, beharrte ich, wenn meine Freunde mich für bekloppt hielten. »Der kleine Vorsitzende Miau.«
Es war ein doppelter Scherz: der Name selbst und die Idee, eine dritte Katze aufzunehmen. Vielleicht (so dachte ich mit 24) hätte ich nicht einmal den denkwürdigen Schritt gewagt, zwei Katzen zu mir ins Haus zu holen, wenn ich nicht drei Jahre lang mit Jorge gelebt hätte, dem Mann, den ich bestimmt heiraten würde. Nun hatten wir uns getrennt, und ich hatte das Sorgerecht für unsere Katzen bekommen: eine gutmütige, flaumig-weiße Schönheit namens Vashti und eine majestätische, launische, graue Tigerkatze namens Scarlett. Ich war jeden Tag für meine beiden Mädchen dankbar und hätte gern noch mehr Katzen um mich gehabt, aber die möglichen Komplikationen in meinem neuen Leben als Single waren mir ebenfalls schmerzlich bewusst. An solche Probleme hätte ich nie gedacht, als ich glaubte, Jorge und ich würden für immer zusammen sein.
Ich wohnte im Gästezimmer einer Freundin, während ich versuchte, Geld für eine preisgünstige Wohnung zusammenzubekommen. Aber ich wäre nie in ein billiges Mietshaus eingezogen, in dem Haustiere verboten waren. Und es war sinnlos, über eine Beziehung mit einem Mann, der allergisch gegen Katzen war, auch nur nachzudenken. Ich leistete gemeinnützige Arbeit für United Way of Miami-Dade und hatte am Ende eines Monats nie mehr als 50 Dollar auf der Bank. Dennoch musste ich natürlich selbst für Routineimpfungen, Verletzungen und Krankheiten aufkommen, unabhängig von den Folgen für meine Finanzen.
»Ganz zu schweigen von den sozialen Folgen«, pflegte meine Freundin Andrea zu sagen. »Ich meine, du kannst nur eine begrenzte Menge Katzen halten, wenn du 24 und Single bist. Die Kinder im Viertel werden dich ›die alte Witwe Cooper‹ nennen, Steine nach dir schmeißen und dir Beleidigungen an den Kopf werfen: ›Dort wohnt die alte Witwe Cooper, die Katzenfrau. Sie ist verrüüüüückt ...‹«
Ich wusste, dass sie recht hatte. Ich hatte den Kontakt zur Realität nicht total verloren, unter den damaligen Bedingungen war es absurd, von einer dritten Katze zu reden. Ebenso gut konnte ich davon träumen, mir nach einem Lottogewinn dieses und jenes zu kaufen.
Doch dann, eines Nachmittags, einige Monate nachdem Jorge und ich uns getrennt hatten, rief mich Patty an, eine junge Tierärztin, nur drei Jahre älter als ich. Sie war das neuste Mitglied in der Praxis, die Scarlett und Vashti behandelte. Patty erzählte mir eine lange, traurige Geschichte, die ideal für einen Fernsehfilm gewesen wäre, wenn es einen Sender namens Ein Leben für Katzen gegeben hätte. Ein verwaistes, wenige Wochen altes streunendes Kätzchen sei in ihrer Praxis abgegeben worden, sagte sie, und sie habe ihm wegen einer schweren Augenentzündung beide Augen entfernen müssen. Das Paar, das den Kater gebracht habe, wolle ihn ebenso wenig haben wie die Leute auf ihrer Warteliste. Selbst jene, die ausdrücklich Interesse an einer behinderten Katze bekundet hätten, seien abgesprungen. Anscheinend schreckten alle vor dieser Behinderung zurück. Ich sei ihre letzte Rettung, bevor ...
Sie beendete den Satz nicht, und das brauchte sie auch nicht. Ich wusste, dass ein augenloser Kater in einem Tierasyl kaum eine Chance hatte, von jemandem aufgenommen zu werden, ehe seine Zeit ablief.
Tu’s nicht, warnte der griechische Chor in meinem Kopf. Ja, es ist traurig, aber du bist wirklich nicht in der Lage, daran etwas zu ändern.
Ich war immer eine Leseratte, ein leidenschaftlicher Bücherwurm, und ich wusste, welche Macht Worte über mich hatten. Der Versuch, mich gegen Worte wie blind, unerwünscht oder Waise zu immunisieren, war etwa so sinnlos wie ein Soldat mit einer Spielzeugpistole im Schützengraben.
Dennoch erkannte ich die Weisheit der Worte meines inneren griechischen Chores, obwohl ich nicht so nüchtern analytisch sein konnte wie er. Also sagte ich: »Ich komme vorbei und schau ihn mir an.« Und nach einer Pause: »Aber versprechen kann ich nichts.«
Ich sollte erwähnen, dass ich nie zuvor »Ich komme vorbei und schau ihn mir an« gesagt hatte, wenn mir ein Kater angeboten worden war. Für mich kam es nicht infrage, ein Tier erst einmal zu inspizieren, um herauszufinden, ob es »etwas Besonderes« war oder ob es zwischen uns »funkte«. Was Tiere und Kinder anbelangt, ist meine Philosophie ziemlich gleich: Sie sind, wie sie sind, und man liebt sie bedingungslos, egal, wie ihre Persönlichkeit oder ihre Schwächen sich entwickeln. Als ich ein Kind war, zog meine Familie viele Hunde auf oder pflegte sie, und fast alle waren Streuner oder von ihren früheren Besitzern misshandelt worden. Wir hatten Hunde, die nicht stubenrein wurden, Hunde, die Teppiche und Tapeten zerkauten, Hunde, die zwanghaft unter Zäunen buddelten oder manchmal sogar zuschnappten, wenn man sie erschreckte. Meine Katzen Scarlett und Vashti hatte ich vor einem Jahr von Bekannten bekommen. Die sechs Wochen alten Kätzchen waren durch die Straßen von Miami gewandert, von Räude befallen, halb verhungert und mit Flöhen und Wunden bedeckt. Ich hatte spontan zugesagt, sie aufzunehmen, ohne sie gesehen zu haben. Der erste Tag, an dem ich ihnen begegnete, war auch ihr erster Tag bei mir.
Darum kam ich mir ziemlich unehrlich vor, als ich am folgenden Nachmittag zur Praxis meiner Tierärztin fuhr. Patty wusste es vielleicht nicht, aber ich kannte mich gut genug, um zu kapieren, was es bedeutete, wenn ich sagte: »Ich komme vorbei und schau ihn mir an.« Das hieß in Wirklichkeit: Ich will jetzt auf keinen Fall eine dritte Katze haben, aber ich würde mich mies fühlen, wenn ich sofort Nein sagen würde, nachdem ich diese Geschichte gehört habe. Darum verschaffe ich mir ein wenig Zeit, um mich vom Haken zu befreien.
»Wir müssen ihn nehmen. Wir müssen ihn hier leben lassen«, war die spontane Reaktion meiner Freundin Melissa gewesen, als ich ihr am Abend zuvor von dem blinden Kätzchen erzählt hatte. »Hier« war Melissas einstöckiges Haus mit zwei Schlafzimmern am Strand von South Beach. Dort teilte ich mit ihr die Kosten für Wasser, Strom, Lebensmittel und andere Dinge, während ich versuchte, Geld für meine eigene Wohnung zu sparen. Aber Melissa war schön und Erbin, die alltäglichen Hindernisse, die mir unüberwindbar vorkamen, waren für sie nicht einmal Punkte auf dem Radarschirm. Sie brauchte sich keine Sorgen über höhere Tierarztrechnungen zu machen, und sie musste nicht fürchten, keine Wohnung für sich und drei (drei!) Katzen zu finden oder von Männern ignoriert zu werden. (Ich hörte bereits imaginäre Gespräche zwischen diesen mythischen Männern, die ich noch nicht einmal getroffen und mit denen ich mich erst recht noch nicht verabredet hatte: »Mann, Alter, sie ist hübsch, sie ist nett, man hat ’ne Menge Spaß mit ihr – aber sie hat drei Katzen! Das ist einfach zu viel.)
Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich die richtige Person für ein Kätzchen wie dieses war, für ein Tier, das zweifellos besondere Pflege brauchte, von der ich keine Ahnung hatte. Vielleicht würde der Kater nie lernen, allein zurechtzukommen. Vielleicht würden meine zwei Katzen ihn auf den ersten Blick hassen und mir das Leben zur Hölle machen. Vielleicht war ich der Aufgabe einfach nicht gewachsen. Ich konnte mich ja kaum um mich selbst kümmern.
Was heißt »kaum«? Da ich momentan in einer fremden Wohnung lebte, konnte ich mich offensichtlich nicht um mich selbst kümmern.
Dass Melissa »wir« gesagt hatte, ermutigte mich kurz. Ich würde nicht allein sein. In einem kleinen, listigen Winkel meines Gehirns plante ich, das Kätzchen mit in ihr Haus zu nehmen – und wenn ich nicht mit ihm zurechtkam, konnte ja Melissa ...
»Natürlich ist es deine Entscheidung«, hatte Melissa einen Augenblick später hinzugefügt. »Du nimmst ihn ja mit, wenn du ausziehst.«
Was also trieb mich ebenso sicher wie die Räder und der Motor meines Autos der Tierarztpraxis entgegen? Was hatte mich zu dem Versprechen bewogen, mir diesen kleinen Kater anzusehen? Ein schlechtes Gewissen. Wenn ich ihn nicht nahm, würde niemand ihn nehmen. Ich hatte schon immer eine Schwäche für Tiere gehabt, und alle wussten es. Ich arbeitete seit Jahren ehrenamtlich in mehreren Tierasylen von Miami, und als Jorge und ich noch zusammen waren, war ich immer mit Tränen in den Augen nach Hause gekommen und hatte ihn wider jede Vernunft bestürmt, einen der Hunde oder Katzen aufzunehmen, die man sonst einschläfern würde. Im College war ich sogar einmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten: Man hatte mich auf einer Protestversammlung vor dem Primatenforschungszentrum der Universität festgenommen. Ich war das Kind, dem streunende Hunde und Katzen zur Schule folgten, weil ich ihnen alles gab, was mein Vesperbeutel enthielt, ohne daran zu denken, was ich in der Mittagspause essen sollte.
Und genau diese unreife, diffuse Denkweise, redete ich mir etwas boshaft ein, als ich auf den Parkplatz der Praxis fuhr, eben diese leichtsinnige Missachtung der Folgen, hatte mich in die aktuelle unangenehme Lage gebracht: Ich war pleite und allein, nachdem ich Jahre damit verbracht hatte, mir sorgsam eine Zukunft aufzubauen, die ich für felsenfest gehalten hatte.
Heute ist mir klar, dass ich versuchte, wütend zu werden. Es war viel leichter, mir weiszumachen, dass ich wütend war und mich gestresst fühlte, als zuzugeben, dass ich schreckliche Angst hatte.
Nun also stand ich vor der Praxis. Es war ein furchtbar schwüler Tag Ende August. Silbern schimmernde Hitzewellen stiegen wie böse Geister vom Gehweg der Einkaufsmeile nach oben. Die Frau am Empfang begrüßte mich freundlich und rief Patty, die den Kopf durch eine Tür hinter dem Empfangstisch streckte und fröhlich »Komm mit!« rief.
Ich ging mit ihr an Reihen von Käfigen vorbei, in denen Katzen und Hunde saßen, die ich schon früher bemerkt, aber kaum beachtet hatte. Ich hatte immer angenommen, die Besitzer hätten die Tiere der zeitweiligen Fürsorge meiner Tierärztin überlassen und würden sie bald wieder abholen. Nun fragte ich mich zum ersten Mal, wie viele von ihnen heimatlos waren und darauf warteten, von Menschen wie mir bemerkt und vielleicht mitgenommen zu werden.
Wir erreichten das letzte Untersuchungszimmer am Ende des schmalen, mit Holz vertäfelten Ganges, und Patty hielt mir die Tür auf. Auf dem Untersuchungstisch stand eine Plastikbox ohne Deckel. »Damit du dich mit ihm anfreunden kannst«, erklärte sie. Ich ging zum Tisch und schaute in die Box.
Er ist so winzig, war mein erster Gedanke. Meine beiden Katzen waren fast ebenso jung gewesen, als ich sie aufgenommen hatte, aber ich hatte vergessen, wie unglaublich klein ein vier Wochen altes Kätzchen ist. Er wog bestimmt nicht mal hundert Gramm und hatte sich zu einer Miniaturkugel in einer Ecke der Kiste zusammengerollt. Ein flaumiger Softball, der leicht in meinen Handteller gepasst hätte. Sein Fell war ganz schwarz und hatte die statisch-elektrische Flaumigkeit, die sehr kleine Kätzchen nun einmal haben, als lehne ihr Pelz sich gegen die Vorstellung auf, flach zu liegen. Wo seine Augen gewesen waren, befanden sich zwei kleine Nähte, und um den Hals trug er einen dieser Plastikkegel, mit denen man Tiere daran hindert, an Nähten oder Wunden herumzukratzen.
»Ich habe die Lider zugenäht«, sagte Patty. »Damit es so aussieht, als hätte er keine leeren Augenhöhlen, sondern als würde er die Augen immer geschlossen halten.« Sie hatte recht. Als ich die X-förmigen Nähte betrachtete, dort, wo seine Augen gewesen waren, erinnerte ich mich an die Comics meiner Kindheit. Bei ihnen deutete ein über die Augen gezeichnetes X an, dass eine Figur betrunken oder bewusstlos war.
»Hallo, du«, sagte ich leise. Ich bückte mich ein wenig, damit sich mein Mund auf gleicher Höhe wie das Kätzchen befand und meine Stimme nicht zu dröhnend oder furchterregend klang. »He, kleiner Kerl.«
Der schwarze Flaumball in der Ecke der Box entkräuselte sich und stand zögernd auf. Zaghaft streckte ich eine Hand – die mir plötzlich monströs vorkam – in die Kiste und kratzte leicht am Boden. Das Kätzchen ging langsam auf das Geräusch zu. Sein Kopf wackelte unsicher unter dem Gewicht des Plastikkegels, und seine Nase stupste einen meiner Finger an. Er schnupperte neugierig.
Ich warf Patty einen Blick zu. Sie sagte: »Du darfst ihn hochnehmen, wenn du willst.«
Ich hob ihn vorsichtig auf und hielt ihn knapp oberhalb meiner Brust. Mit einer Hand stützte ich sein Hinterteil, die andere lag an seiner Brust und an seinen Vorderbeinen. »Hallo, Kleiner«, flüsterte ich.
Beim Klang meiner Stimme drehte er sich um und griff mit seinen Vorderpfoten in Richtung meiner linken Schulter. Sie waren so klein, dass sie zwischen den Fäden meines hellen Baumwollpullis versanken. Er zappelte ein wenig, und ich merkte, dass er auf meine Schulter krabbeln wollte. Aber seine Krallen waren zu winzig, um richtig zu greifen. Also gab er auf, drehte sich erneut um und näherte sich meinem Hals so weit, wie der Plastikkegel es ihm erlaubte. Er versuchte, sein Gesicht an meinem zu reiben, aber ich fühlte nur Plastik an der Wange. Dann begann er zu schnurren. Der Kegel verstärkte das Geräusch, bis es so laut war, dass es sich wie ein unglaublich kleiner Motor anhörte.
Ich hatte erwartet, dass ein blindes Kätzchen kaum mit mir würde kommunizieren können – und mir fiel ein, dass dies vielleicht die geheime Furcht der Leute gewesen war, die ihn nicht haben wollten. Ein Tier, das keine Liebe wahrnehmen und keine Gefühle ausdrücken konnte, fühlte sich womöglich immer fremd in einem Haus.
Doch als ich ihn hielt, merkte ich, dass es nicht die Augen sind, die einem sagen, was jemand fühlt oder denkt – es sind die ringförmigen Augenmuskeln. Sie ziehen die Augenwinkel nach oben oder unten und kräuseln die Lider an den Rändern, um Freude auszudrücken, oder verengen sie zu Schlitzen, um Zorn anzudeuten.
Dieser kleine Kater hatte zwar keine Augen mehr, aber die Muskeln waren unverletzt. Und die Form, die sie annahmen, verriet mir, dass seine Augen, hätte er welche gehabt, jetzt halb geschlossen wären. Dieser Ausdruck war mir so vertraut, weil ich ihn von meinen beiden Katzen kannte. Es war ein Ausdruck völliger Zufriedenheit, der ihm offenbar leichtfiel. Das ließ mich vermuten, dass er – trotz all der Qualen, die er schon erlitten hatte, und obwohl er allen Grund hatte, das Gegenteil zu erwarten – in den Tiefen seiner kleinen Katzenseele immer gewusst hatte, dass es einen Platz gab, an dem er sich völlig warm und sicher fühlen durfte.
Jetzt hatte er ihn endlich gefunden.
»O mein Gott.« Ich setzte ihn behutsam in seine Kiste zurück und wühlte in meiner Handtasche nach einem Papiertaschentuch. »Pack ihn ein. Ich nehme ihn mit.«
Aber Patty bestand darauf, dass das Kätzchen noch eine Weile bei ihr blieb. Sie wollte seine Nähte kontrollieren, weil sie mit Infektionen rechnete. Und sie hoffte, er werde ein wenig Gewicht zulegen, bevor man ihn mit festem Futter und zwei ausgewachsenen Katzen konfrontierte. »Du kannst ihn in ein paar Tagen abholen«, versprach sie.
Endlich würde ich meinen Vorsitzenden Miau bekommen. Aber irgendwie gefiel mir der lange vorbereitete Name nicht mehr.
»Nenn ihn doch Socket«, schlug Melissa vor.
»Auf keinen Fall!«, rief ich. »Er heißt nicht Socket.«
Sie zuckte gutmütig mit den Schultern. »Für mich wird er immer Socket sein, wegen seiner Augenhöhlen.«
Es war mir nicht sehr schwergefallen, Namen für meine zwei anderen Katzen zu finden, zumal Scarlett bereits getauft worden war. Sie hatte zu einem Wurf herrenloser Katzen gehört, den mein Mechaniker gefunden hatte. Er hatte sie Scarlett getauft, wohl weil sie in den ersten Tagen so ausgetrocknet gewesen war, dass sie immer wieder in Ohnmacht fiel. Vashti hingegen war der Name der biblischen persischen Königin, die sich geweigert hatte, auf einem Fest für ihren Gatten, den König, und eine Horde betrunkener Männer nackt zu tanzen. Sie wurde aus dem Königreich verbannt und war deshalb für mich eine der ersten feministischen Märtyrerinnen. Dass meine Vashti sich von einem traurigen, halb kahlen Beutel voller Katzenknochen zu einer exotischen, langhaarigen Schönheit entwickelt hatte, die ein wenig wie eine Perserkatze aussah, war ein glücklicher Zufall gewesen.
Ich wollte diesem neuen Kätzchen keinen kitschigen oder auf der Hand liegenden Namen verpassen (wohlmeinende Freunde hatten bereits »Ray« und »Stevie« als passende Namen für eine blinde schwarze Katze vorgeschlagen), aber der Name sollte auch nicht zu feierlich oder ominös klingen. Der Kater würde blind bleiben, das war eine unausweichliche Tatsache in seinem Leben, doch ich wollte von Anfang an verhindern, dass er immer nur »der blinde Kater« blieb.
In den nächsten Tagen besuchte ich das Kätzchen oft in der Praxis. Sein kurzes Leben war schon verwirrender gewesen, als man sich vorstellen konnte. Ich wollte, dass er mit mir vertraut war und sich bei mir sicher fühlte, wenn ich ihn endlich mit nach Hause nehmen durfte, selbst wenn es nur an meinem Geruch und am Klang meiner Stimme lag.
Dennoch war ich nervöser, als ich zugeben wollte. Er gehörte jetzt mir – es gab kein Zurück mehr –, aber ich wollte selbst sehen, wie er zurechtkam, wie er seiner Umwelt begegnete und lernte, sich in ihr zu bewegen. Darum hielt ich jeden Nachmittag nach der Arbeit vor Pattys Praxis. Sie holte das Kätzchen aus seinem Käfig und führte uns in ein Untersuchungszimmer, wo es frei herumlaufen konnte, während ich meist still in einer Ecke saß und ihm zuschaute.
Ich merkte bald, dass er ein unermüdlicher Entdecker war. Das Gewicht des Plastikkegels, der wie der Schild eines fahrenden Ritters in feindlichem Gelände an seinem Hals nach vorn ragte, erschwerte es ihm, den Kopf ganz aufrecht zu halten. Aber seine Nase beschnupperte ohnehin fast immer den Boden. Das Untersuchungszimmer war sehr klein, dennoch blieb kein Zentimeter von ihm unbeschnüffelt. Wenn er an eine Wand oder an einen Tisch stieß, schoben sich seine winzigen Pfoten vorsichtig an den Seiten nach oben. Er war ein Ingenieur, der Abmessungen überprüfte. Das Einzige, was er zu erklimmen versuchte, war der Stuhl, der in einer Ecke stand. Allerdings war auch eine große Topfpflanze in der gegenüberliegenden Ecke faszinierend. Als er sich an sie heranmachte, sagte ich zum ersten Mal Nein zu ihm. Ich wollte nicht, dass er sich das Fell schmutzig machte oder unabsichtlich die Pflanze zerfetzte.
Am Tag, bevor er mit mir nach Hause kommen sollte, war er immer noch namenlos. Anscheinend bestand die Gefahr, dass der Name Socket doch noch an ihm hängen blieb.
Er brauchte einen Namen, und es musste der Richtige sein. Also versuchte ich, mir den Kater als Figur in einer Geschichte vorzustellen. Sein Leben hatte bereits wie viele der besten Geschichten begonnen: mit Prüfungen und Leiden, wundersamen Wendungen und zahllosen Hindernissen, die noch zu überwinden waren. Aber mir war klar, dass er nicht nur das Thema einer Geschichte war, sondern auch der Schöpfer vieler Geschichten. Da er nicht einmal wusste, was Sehen war, deutete er seine Umwelt bestimmt auf seine ganz eigene Weise. Wie sonst hätte er sich einen Stuhl erklären können, der wie durch ein Wunder an einer Stelle auftauchte, wo gestern noch kein Stuhl gestanden hatte? Was war ein Stuhl? Warum und wie entstanden Stühle? Und wie war die Allwissenheit einer Adoptivmutter zu erklären, die es sofort merkte, wenn er an etwas Verbotenes dachte, einerlei, wie leise er kroch? Als er zum vierten Mal versuchte, in den großen, mit Erde gefüllten Topf in der Ecke zu klettern, stieß ich mein viertes klares und unerwartetes Nein aus. Verdutzt legte das Kätzchen sein Gesicht in Falten. Der Kleine konnte natürlich nicht zwischen »geräuschlos« und »unsichtbar« unterscheiden. Ich bin doch so leise gegangen! Warum ertappt sie mich immer?
Wenn Sie ein Tier zu sich nehmen, erwarten Sie, dass es Ihr Leben bereichern wird. Doch allmählich kam ich mir wie eine Figur in der Geschichte dieses Kätzchens vor. Aus einem einsamen Mädchen, das sich abstrampeln musste, an Selbstzweifeln litt und drei Katzen zu versorgen hatte, war eine allwissende, unerbittliche Göttin geworden, ein im Grunde wohlwollendes und vor allem rätselhaftes Wesen.
Ich schaute zu, wie er zögernd dieses Untersuchungszimmer durchquerte – eine Landschaft, die für mich klein und inzwischen sehr vertraut war, für ihn hingegen riesig und unbekannt. Er navigierte zwischen Scylla (einem Tischbein) und Charybdis (einer kleinen Wasserschale, die für ihn bereitstand). Einmal stolperte er mit dem Gesicht voran in diese Schale. Ich schnappte ihn mir und murmelte: Braves Kätzchen, braver Junge. Er schnurrte, erfreut darüber, dass der Himmel ihm abermals hold war. Einerlei, wie oft er den Grimm der Wasserschale zu spüren bekam oder die Höhe des Stuhls vor einem Sprung falsch einschätzte oder an ein Tischbein stieß, das er vergessen hatte – er machte weiter.
Da ist etwas Interessantes auf der anderen Seite, schien er sich zu denken, ich habe dort etwas zu tun.
Er war ein Held auf einer Mission und mehr als das: Er erschuf auch Helden und Mythen über die Götter – aus dem gleichen Grund, warum Mythen schon immer geschaffen wurden: um das Unerklärliche zu erklären. Er war Odysseus und zugleich der blinde Geschichtenerzähler, der Odysseus ersonnen hatte und für den das Leben ein Epos gewesen war, obwohl er nichts sehen konnte.
Auf einmal wusste ich, wie mein Kätzchen hieß.
»Homer«, sagte ich laut.
Er antwortete mit einem fröhlichen Miau.
»Also, abgemacht.« Es freute mich, dass wir uns einig waren. »Du heißt Homer.«
Es ziemt sich nicht für dich, kindisch zu sein, denn du bist diesem Alter entwachsen.
Homer, Odyssee
In der Woche, in der Homer und ich uns in Pattys Heiligtum kennenlernten, verbreitete Melissa in unserem Freundeskreis eifrig die Nachricht von Homers bevorstehender Ankunft. Die unverblümte Frage: »Hast du schon gehört, dass wir ein Kätzchen ohne Augen bekommen?«, gehört zu jenen Bemerkungen, die den Gang eines Gesprächs mit Sicherheit drastisch ändern und eine Flut von weiteren Fragen auslösen. »Ohne Augen? Ohne Augen? Du meinst, es hat keine Augen?« So kam es, dass Homers Geschichte, noch bevor er bei mir lebte, so oft und so gleichförmig wiederholt wurde, dass sie mir wie ein offizieller Teil der Familienlegende und der prägenden Anekdoten vorkam, aus denen meine Lebensgeschichte bestand. Meine Eltern erzählen beispielsweise seit über 35 Jahren in genau denselben Worten, wie meine Mutter mich zwei Wochen zu früh während eines Rockkonzerts zur Welt brachte, »weil Gwen diese Musik unbedingt hören wollte.« (Wäre ich übrigens Rockstar statt Schriftstellerin geworden, stieße diese Story heute auf eine viel dramatischere Resonanz.)
Es ist wahr, dass ich heute noch genau die gleichen Worte im gleichen Tonfall spreche wie damals, wenn ich Homers Geschichte erzähle – aber nur, weil die Fragen, die man mir stellt, sich überhaupt nicht geändert haben. Im Laufe der Jahre wollten Hunderte von Menschen mehr über Homer wissen, und immer – immer – zeigte sich das in Variationen derselben drei Fragen: Wie hat er seine Augen verloren? Wie kommt er damit zurecht? Findet er sein Katzenklo/Futter/Wasser?
Dennoch werde ich nie müde zu antworten. Nicht, weil ich so gern über meine Katzen rede, sondern weil seine Art für mich – obwohl ich mich längst an Homers Blindheit gewöhnt habe – nie selbstverständlich war und weil ich nie aufgehört habe, enorm stolz darauf zu sein, wie tapfer, schlau und glücklich mein kleiner Junge geworden ist.
Neulich nun aß ich mit einer neuen Kollegin zu Mittag, und wir kamen auf Homer zu sprechen. Sie hatte mir von ihrem Kätzchen erzählt, das sie vor knapp einem Monat bekommen hatte, und ich unterhielt sie mit Anekdoten über Homers Kindheitsabenteuer und -streiche. Ich hatte nie zuvor mit ihr über Homer gesprochen, aber sie fand ihn ebenso interessant wie die meisten anderen Leute, die zum ersten Mal von ihm hören. Dann platzte sie mit einer Frage heraus, die mich kalt erwischte:
»Warum hast du ihn zu dir genommen?«
Hätte jemand anders diese Frage gestellt, wäre sie vielleicht aggressiv oder feindselig gewesen, als ob damit gemeint wäre: Was findest du nur an einer Katze ohne Augen? Aber das Gesicht dieser Frau war freundlich, als sie die Frage stellte, und ihr Ton war sanft und mitfühlend. Es war eine direkte Frage, mein Gegenüber war offenbar aufrichtig an meiner Antwort interessiert.
Und ich wollte ihr diese Antwort geben – so einfach und geradeheraus, wie sie gefragt hatte. Aber diese Frage war mir noch nie gestellt worden, und ich hatte zum ersten Mal seit zwölf Jahren keine einfache, automatische Entgegnung parat.