Honigstaat - Hanni Münzer - E-Book

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Hanni Münzer

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Beschreibung

Eine Geschichte über Liebe und Obsession, Schuld und Sühne, Verrat und Rache … und die Stärke der Frauen. Berlin, 1933: Die politischen Ereignisse führen in der Familie von Tessendorf zu schweren Zerwürfnissen. Daisy muss sich ein unabhängiges Leben aufbauen und arbeitet als Assistentin für Albert Speer – im innersten Kreis der Macht. Als ihre Freundin Mitzi in eine tödliche Intrige gerät, nutzt Daisy ihre Position, um sie zu retten. Unterstützung erhält sie von ihrer französischen Mutter Yvette, die selbst ein Geheimnis hütet. Erst als Daisy dem Mann ihres Lebens begegnet – kultiviert, brillant und ein englischer Spion –, erkennt sie ihre wahre Bestimmung.  »Hanni Münzer ist eine hervorragende Erzählerin.« Buchmedia Magazin Zu Hanni Münzers bewegender Dilogie um die unangepasste und starke Heldin Daisy von Tessendorf gehören: Band 1: Honigland Band 2: Honigstaat

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

Redaktion: Myriam Welschbillig

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Covergestaltung: u1 berlin / Patrizia Di Stefano

Covermotiv: Richard Jenkins und ullstein bild / Paul Mai

 

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

DRAMATIS PERSONAE

historische Persönlichkeiten sind mit einem * gekennzeichnet.

Widmung

Kapitel 1

Berlin, 1932

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Berlin, 1936

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Epilog

Nachbemerkung/Danksagung

Interview

Literaturnachweise/Quellen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

DRAMATIS PERSONAE

historische Persönlichkeiten sind mit einem * gekennzeichnet.

Die Bewohner von Gut Tessendorf:

Marguerite (Daisy) von Tessendorf, eine junge Frau, die die Wolken spüren will

Ludwig (Louis) von Tessendorf, Daisys Bruder

Violette von Tessendorf, ihre jüngere Schwester

Yvette von Tessendorf, ihre französische Mutter

Kuno von Tessendorf, ihr weltfremder Vater

Hagen von Tessendorf, Sohn Kunos aus erster Ehe

Elvira von Tessendorf, seine Frau

Sybille von Tessendorf, Patriarchin des Tessendorf-Clans, Großmutter von Daisy, Louis und Violette

Waldo von Tessendorf, Sybilles exzentrischer Schwager

Winifred und Clarissa von Tessendorf, Waldos ledige Schwestern

Franz-Josef, Sybilles vornehmer Kammerdiener

Hermine (Mitzi) Gotzlow, Daisys beste Freundin

Theres Stakensegel, Mitzis Tante

Stanislaus (Zisch) Krejčínejznámíjšítující, übellauniger Stallmeister

Almut, Yvettes Zofe

Anton, Chauffeur der Familie Tessendorf

Nereide, Daisys geliebte Stute

Orion, Nereides Sohn

 

Andere:

Henry Prudhomme Roper-Bellows, ein britischer Gentleman

Sunjay Singh, sein Freund und Fahrer

Hugo Brandis zu Trostburg, Daisys Heimsuchung

Adelaide Kulke, eine Seelsorgerin

Simon Rosenthal, Louis’ Freund

Anna von Dürkheim, Daisy und Mitzis junge Freundin

Giacomo de Luca, Architekt und Heißsporn

Graf Andrasz Pocci, ein Mann mit einem Geheimnis

Joffrey Fleury, Direktor des Ritz

Bertha Schimmelpfennig, »die rote Olga«

Lotte Schimmelpfennig, ihre Schwester und angehendes Filmsternchen

Marie la Sainte, Pariser Bordsteinschwalbe

Pierre Bouchon, eine zwielichtige Gestalt

Martha E. Dodd*, Tochter des amerikanischen Botschafters in Berlin

Antoine de Saint-Exupéry*, Pilot und Schriftsteller

 

Reichskanzlei und Diverse

Paul von Hindenburg*, Reichspräsident

Oskar von Hindenburg*, Hindenburgs Sohn und Adjutant

Adolf Hitler*, Diktator

Martin Bormann*, Hitlers Sekretär

Benito Mussolini*, Diktator

Albert Speer*, Hitlers Architekt und Rüstungsminister

Ernst (Putzi) Hanfstaengl*, Hitlers Pressechef und Freund

Helene Hanfstaengl*, seine Ehefrau

Hermann Göring*, Wirtschaftsminister

Joseph Goebbels*, Propagandaminister

Joachim von Ribbentrop*, Außenminister

Werner von Blomberg*, Generalfeldmarschall

Hubertus von Greiff, SS-Hauptmann

Widmung

Eine Biene allein ist nichts.

Eine Biene im Staat vollbringt Wunder.

Jeden Tag.

Bis ans Ende der Nacht.

Kapitel 1

Berlin, 1932

Veritas temporis filia.

Die Wahrheit ist die Tochter der Zeit.

Daisy lag im frühlingshellen Gras und genoss die Sonne auf ihrem Gesicht, deren unerwartete Wärme das Ende des Winters verhieß. Der Tessenbach murmelte nahebei, und auf den frischen grünen Trieben der Uferweiden schimmerte das Licht. Ringsum begannen die Bäume auszuschlagen, und bald würden Sternhyazinthen in ihrem Schatten blühen und einen violetten Teppich über den Waldboden breiten. Daisys Gedanken wanderten. »Warum schauen wir so gern zum Himmel auf?«, fragte sie ihren Bruder Louis, der neben ihr döste.

»Vielleicht, weil die Ferne unser Herz weitet?«, antwortete er träge. Kleine Wolken zogen über sie hinweg wie friedlich grasende Schäfchen.

»Ich glaube«, meinte Daisy nachdenklich, »der Himmel ist die Brücke in unsere Kindheit. Als Babys guckten wir in unseren Kinderwagen ständig zu ihm hoch.« Sie wälzte sich herum, angelte ein Stück Rosinenkuchen aus dem Picknickkorb und biss herzhaft hinein.

Louis drehte sich zu ihr. »Da ist was dran. Vielleicht verbinden wir mit dem Himmel unsere einstige Unbeschwertheit. Damals mussten wir uns nur bis zur nächsten Mahlzeit sorgen.« Er grinste schelmisch. »Wenn ich es recht bedenke, Schwesterherz, hat sich daran bei dir nicht viel geändert.«

Sie knuffte ihn. »Immer musst du mich aufziehen.«

Plötzlich schwanden Licht und Wärme, und die Farben des anmutigen Frühlingsgemäldes lösten sich auf. Verwirrt blickte sich Daisy nach Louis um. Aber ihr Bruder war verschwunden. Mit einem erstickten Schrei fuhr sie hoch und begriff, dass sie das eben alles nur geträumt hatte. Das Picknick mit Louis war nicht mehr als eine ferne Erinnerung an sorglosere Zeiten. Womöglich würde ihr Bruder den weiten Himmel über Tessendorf niemals wiedersehen, nie mehr frisches Gras riechen, den Wind auf der Haut und die warme Frühlingssonne im Gesicht spüren.

Ihr Leben hatte sich in kürzester Zeit in einen Albtraum verwandelt. Erst war ihre beste Freundin Mitzi zu Unrecht verhaftet worden, und nun saß auch Louis im Gefängnis. Beiden drohte der Tod durch den Strang. Wie es überhaupt so weit hatte kommen können, ging über Daisys Verstand. Sie war am Vorabend zu Mitzis verwaister Wohnung gefahren, um sich dort mit Louis zu treffen, und musste zu ihrem Schrecken feststellen, dass er sich in der Gewalt der Anarchisten Willi Hauschka und Bertha Schimmelpfennig befand. Plötzlich fielen Schüsse, und die Polizei war aufgetaucht!

Nun saß sie seit Stunden im Präsidium am Alexanderplatz fest. Hugo Brandis zu Trostburg, der Leiter der Politischen Polizei und zugleich ihr Ex-Verlobter, hatte sie in sein Büro gesperrt und sich bisher nicht mehr blicken lassen. Dieser Idiot betrachtete sich immer noch als mit ihr verlobt, seit sie als Sechzehnjährige in einem Anfall von Dummheit seinen Antrag angenommen hatte. Am gleichen Tag hatte sie ihre Entscheidung bereut und ihm den Ring zurückgegeben. Den Klunker hatte er behalten, genauso wie seine Überzeugung, er sei der einzig richtige Mann für sie. Unablässig mischte er sich seither in ihr Leben und verfolgte sie mit geradezu krankhafter Besessenheit. Jetzt sah er seine Gelegenheit gekommen. Mitzi und Louis saßen in seinem Gefängnis, und er würde dies für sich zu nutzen wissen.

Endlich öffnete sich die Tür, und ein tadellos gekleideter Hugo trat ein. Heißer Ärger fuhr in Daisy. Er ließ sie hier schmoren, während er sich die Zeit nahm für frische Kleidung und eine Rasur! Es war ihr egal, wie zerzaust und schmutzig sie nach dieser grauenhaften Nacht aussah, aber zumindest Willis Blut hätte sie sich gerne abgewaschen. Sie stürzte ihm entgegen. »Du musst meinen Bruder freilassen, Hugo!«

Hugo führte sie zurück zur Sitzgruppe. »Beruhige dich.«

»Du hast gut reden! Es ist ja nicht dein Bruder, der zu Unrecht des Mordes beschuldigt wird!«

»Da du bald meine Frau sein wirst, Marguerite, und er damit mein Schwager, betrifft mich die Angelegenheit sehr wohl. Als Chef der Politischen Polizei fallen die Taten deines Bruders genauso auf mich zurück.«

Daisy schmeckte Galle. Eher würde sie in ein Kloster eintreten, als Hugo zu heiraten. »Welche Taten? Mein Bruder ist unschuldig!«

Hugo klopfte einladend neben sich aufs Sofa. Daisy setzte sich demonstrativ in den Sessel gegenüber.

Hugo lächelte, als amüsiere ihn ihr Verhalten. »Laut Polizeihauptmann von Greiff ist die Lage eindeutig. Beide Opfer wurden erschossen. Als er am Schauplatz des Verbrechens eintraf, hielt dein Bruder die Tatwaffe noch in der Hand.«

Daisy bekam schon Gänsehaut beim Gedanken an Hugos skrupellosen Stellvertreter Greiff. Der Mann schreckte nicht vor Folter zurück. »Ich leugne ja nicht, dass Greiff Louis mit der Waffe gesehen hat! Louis hat den Revolver an sich genommen, nachdem Willi Bertha erschossen hatte.«

Hugo nickte. »Das ist bereits der erste fragwürdige Umstand, Marguerite. Beide Tote waren bekannte Anarchisten. Was hatten sie in der Wohnung dieser Mitzi Gotzlow zu suchen? Warum seid ihr, du und dein Bruder, dort gewesen?«

»Ich wollte Louis da treffen. Als ich ankam, sah ich die aufgebrochene Wohnungstür und hörte einen lautstarken Streit. Bertha drohte, Louis zu erschießen!«

»Warum hätte die Frau deinen Bruder erschießen wollen?«

Eifersucht, wäre es Daisy beinahe entschlüpft. Stattdessen sagte sie: »Bertha hat meinen Bruder für einen Verräter gehalten.«

Hugos Augen wurden schmal. »Was hat er denn verraten?«

»Nichts, Hugo!«, erwiderte sie hitzig. »Das war nur das Hirngespinst dieser vollkommen irren Frau! Willi hat versucht, Bertha die Waffe zu entreißen, dabei löste sich ein Schuss und traf ihn in die Brust.«

»Woher willst du das so genau wissen?«, konterte Hugo. »Eben hattest du erklärt, du hättest nur gelauscht!«

»Bist du verrückt? Mein Bruder wurde bedroht. Natürlich bin ich in die Wohnung!«

»Das war höchst unvernünftig.«

»Dafür kann ich den Tathergang bezeugen. Willis Tod war ein Unfall!«

Hugos Miene vermittelte Zweifel.

»Du willst mir nicht glauben!«, rief Daisy erregt.

»Es geht nicht darum, ob ich dir glaube, Marguerite. Ich bin hier lediglich der Ermittler und nicht der Richter. Um es zu verdeutlichen: Du bist die Schwester des Verdächtigen, Marguerite, und das schmälert die Wirkung deiner Aussage. Wohingegen Hauptmann von Greiff bezeugen kann, Louis von Tessendorf in flagranti mit der Waffe ertappt zu haben.«

»Greiff hat die Wohnung erst nach den Schüssen betreten! Er kennt nur die letzte Szene und beurteilt sie völlig falsch!« Daisy merkte selbst ihren schrillen Tonfall. »Hör zu«, sagte sie ruhiger. »Bertha Schimmelpfennig ist an allem schuld. Diese Wahnsinnige hat sogar versucht, mich zu erwürgen! Schau …« Daisy deutete auf die blutunterlaufenen Flecken auf ihrem Hals. Die Geste hätte sie lieber unterlassen. Hugo ging vor ihr auf ein Knie und berührte leicht die Stelle. »Du darfst dich nie wieder derart in Gefahr bringen, Liebste. Hat sich unser Polizeiarzt um dich gekümmert?«

Daisy nickte.

»Ausgezeichnet. Kann ich dir sonst einen Wunsch erfüllen, Marguerite? Vielleicht einen Whisky? Oder möchtest du lieber frischen Kaffee?«

Wie wäre es mit Greiffs Kopf auf einem silbernen Tablett? »Nein, danke. Ich will nur, dass du mich zu Ende sprechen lässt, Hugo.«

»Natürlich.«

»Die Schimmelpfennig gab keine Ruhe. Louis musste sie mit einem Hieb außer Gefecht setzen, damit wir uns um den verletzten Willi kümmern konnten. Dabei entging uns, wie sie zu sich kam und sich hinterrücks mit einem Messer an Louis heranschlich. Aber Willi hat sie bemerkt! Er bekam irgendwie den Revolver zu fassen und hat die Frau erschossen, bevor sie Louis erstechen konnte.«

»Ich fasse deine Aussage zusammen, Marguerite: Bevor Hauschka an der verirrten Kugel starb, erschoss er die Schimmelpfennig in Notwehr.«

»Genau so ist es gewesen.«

Hugo nickte skeptisch: »Vier Personen vor Ort. Zwei davon tot, und die Überlebenden sind Geschwister. Der Bruder wird mit der Mordwaffe ertappt. Die Schwester sagt aus, die beiden Opfer hätten sich gegenseitig umgebracht.« Eindringlich betrachtete Hugo Daisy. »Das ist ein Fest für jeden Staatsanwalt.« Er stand auf und nahm sich einen Whisky.

»Verdammt, Hugo! Es gibt keinen Mord! Willis Tod war ein Unfall und Berthas Notwehr.«

»Trotzdem steht dein Wort gegen das eines hohen Beamten.« Hugo wollte die Diskussion sichtlich zu einem Ende bringen.

Aber Daisy hatte noch einen Trumpf in petto. »Ich war ehrlich erstaunt, Willi Hauschka plötzlich quicklebendig gegenüberzustehen. Dabei war überall in der Presse zu lesen, er sei im November hingerichtet worden. Wird sich der Staatsanwalt nicht fragen, wie mein Bruder einen angeblich Toten ermordet haben kann?«

Hugo tat, als sei ihre Bemerkung ohne Belang. Doch Daisy hatte durch ihren Freund, den britischen Diplomaten Sir Henry Roper-Bellows, erfahren, dass Hugo und von Greiff Willis Hinrichtung für die Öffentlichkeit nur vorgetäuscht hatten, um ihn als Spitzel für die Anarchistenszene anzuwerben.

Hugo stellte das geleerte Glas ab. »Wie gesagt, es ist auch in meinem Sinne, meinen künftigen Schwager vor einer Anklage zu bewahren. Aber ich gehe ein hohes Risiko ein, wenn ich mich für ihn einsetze. Ich muss Beweise verschwinden lassen und Greiff im Zaum halten.« Er sah sie an: »Bist du bereit, deinen Beitrag hierzu zu leisten, Marguerite?«

Alles in Daisy verkrampfte sich. Dennoch nickte sie. Es ging um ihren Bruder, und sie würde alles für seine Rettung tun.

Hugo strahlte. »Abgemacht! Ich werde die Verhaftung deines Bruders unter dem Deckel halten. Habe ich dein Wort, dass du mit niemandem über die Vorfälle in dieser Nacht sprichst?«

Daisy gab es ihm, obwohl sie das Gefühl beschlich, gerade etwas Wesentliches übersehen zu haben.

»Sei unbesorgt, mein Liebes«, missdeutete Hugo ihren Ausdruck. »Ich werde nicht zulassen, dass die Schwierigkeiten deines Bruders unsere Verbindung überschatten. Das ist ein Versprechen, Marguerite.«

Versprechen? Für Daisy klang es eindeutig nach Erpressung: Du heiratest mich, und dein Bruder kommt aus dem Gefängnis frei. Als Hugo sich zu ihr beugte, um ihr einen Kuss zu stehlen, wehrte sie sich nicht. Seine Hand wanderte höher und legte sich besitzergreifend um ihre Brust. Im selben Augenblick öffnete sich in ihrem Rücken die Tür.

»Ich sagte, ich wünsche unter keinen Umständen, gestört zu werden!«, versetzte Hugo ungehalten.

»Das gilt wohl nicht für mich!«, scholl es barsch zurück.

Hugo erhob sich ohne Eile und schloss sein Sakko. »Herr Polizeipräsident! Was verschafft mir die Ehre so früh am Morgen?« Er begegnete seinem Vorgesetzten Kurt Melcher ohne jede Befangenheit – im Gegensatz zu Daisy, die sich entsetzlich schämte. Das Gefühl wich sofort der Erleichterung, als sie hinter Melcher ihre Mutter Yvette entdeckte. Daisy sprang auf und ließ sich in ihre tröstliche Umarmung fallen.

»Ma petite«, murmelte ihre französische Mutter. Sie löste sich kurz von ihrer Tochter, um sich Polizeipräsident Melcher zuzuwenden: »Ich bin dir sehr zu Dank verpflichtet, Kurt. Meine Herren, wir empfehlen uns.« Den Arm um Daisy gelegt, führte sie sie hinaus.

»Warte, Maman!« Daisy versicherte sich rasch, dass sich niemand sonst im Flur aufhielt. »Louis ist hier! Er wurde verhaftet.«

»Ich weiß, Chérie. Darum bin ich nach Berlin geeilt und habe Herrn Melcher um seine Unterstützung ersucht. Aber zunächst lag mir daran, dich aus ’Ugos Fängen zu befreien.«

Verwirrt schüttelte Daisy den Kopf. »Wie konntest du so rasch von der Sache erfahren, Maman?« Sie betraten den Paternoster.

»Unser gemeinsamer Freund ’Enry rief mich aus London an«, entgegnete Yvette leise.

Daisy fragte gar nicht erst nach, wie Henry Roper-Bellows an diese Information gelangt war. Frühere Begebenheiten hatten sie gelehrt, dass dem Briten nur sehr wenig entging. Ihre Mutter musterte sie. »Was ist los, Chérie? Kam dir unsere Intervention etwas ungelegen?«

»Natürlich nicht, Maman. Es ist nur … Hugo hat mir angeboten, Louis’ Verhaftung geheim zu halten.«

»Ich hoffe, du hast ihm im Gegenzug keine Heirat versprochen?«

»Nein, das war gar nicht nötig, Maman. Hugo ist sich seiner Sache auch so absolut sicher.«

»Nun ist es, wie es ist, Chérie. Der Polizeipräsident weiß Bescheid, und ich musste auch deine Großmutter informieren. Louis ist ihr Enkel.«

Vor dem Präsidium wartete Anton, der Chauffeur der Familie von Tessendorf, und brachte sie zum Adlon.

In der Suite schilderte Daisy ihrer Mutter das nächtliche Drama in Mitzis Wohnung. Als sie Willi Hauschka erwähnte, ging ihr plötzlich auf, was sie übersehen hatte. Mit Willis vorgetäuschter Hinrichtung hatte ihr Ex-Verlobter nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch seine Vorgesetzten hinters Licht geführt! Daher rührte Hugos Bereitwilligkeit, Louis’ Verhaftung totzuschweigen! Er hatte selbst etwas zu verbergen. Hugo hatte sie hereingelegt, und Daisy ärgerte sich maßlos. Hätte sie das gleich erkannt, hätte sie Hugo eine Ohrfeige verpasst, anstatt sich von ihm küssen zu lassen!

Ihre Mutter erfasste die Wendung blitzschnell: »Alors, wenn Willi kein zweiter Jesus ist, wie ist er dann in Mitzis Wohnung gelangt?«

»Es war ein Handel. Willi erhielt seine Freiheit gegen Informationen über die Anarchisten.«

Yvette prustete verächtlich. »Diable! Verräter!«

»Sag, Maman, wie hast du es geschafft, den Polizeipräsidenten um drei Uhr morgens aus dem Bett zu holen?«

»Mithilfe meines guten Freundes Joachim von Ribbentrop, der ein enges Verhältnis zum Reichskanzler von Papen pflegt. Der wiederum hat Kurt Melcher für mich in Marsch gesetzt. ’Ugo schöpft Vorteile aus seiner Position – ich nutze meine Beziehungen, um meine Kinder vor Akteuren wie ihm zu schützen. Und wie ich sehen konnte, bin ich gerade zur rechten Zeit eingetroffen.«

Daisy seufzte.

»Bon! Und nun lass uns überlegen, wie wir deinen Bruder aus der Haft holen können.«

»Ich falle als Augenzeugin offenbar aus. Hugo erklärte, als Schwester hätte meine Aussage vor Gericht kaum Gewicht.«

»Vergiss die Wahrheit, Chérie. Hier geht es wie so oft um das, was Menschen vom Schlage ’Ugos glauben wollen, wenn sie sich davon einen Vorteil versprechen.«

Daisy seufzte abermals. »Und darum sitzt auch Mitzi im Gefängnis.«

»Ich weiß, was sie dir bedeutet.« Yvette fasste nach ihrer Hand. »Sie ist deine Seelenfreundin, und ihr habt schon so viel Gemeinsames durchgemacht. Was ich dir jetzt sagen muss …« Sie stockte.

Beunruhigt schaute Daisy auf. »Was ist, Maman?«

»Es geht um Bertha Schimmelpfennigs Schwester Lotte. ’Enry hat die Suche nach ihr abgebrochen. Er ist sich sicher, dass sie längst tot ist.«

»Berthas Schwester ist tot? Wie …?«, rief Daisy bestürzt. Die Schauspielerin Lotte war auf ihre Weise genauso wahnsinnig wie ihre Anarchisten-Schwester Bertha, aber gleichzeitig war sie auch Daisys letzte Hoffnung gewesen, um Mitzi vielleicht noch ihren Henkern entreißen zu können. Lottes Falschaussage zum Mord am Regisseur Theodor Fontane hatte Mitzi erst in die Todeszelle gebracht. Eine tote Lotte konnte ihre Lüge nicht mehr widerrufen. Auch hier hatte von Greiff von Beginn an seine Hand im Spiel. Er und Mitzi waren alte Feinde. Hatte er Lotte beseitigt?

»Es tut mir so sehr leid, Chérie. Du musst dich darauf vorbereiten, dass deine Freundin Mitzi verloren ist. Das Gericht wird sie verurteilen. ’Ugo und seine Vorgesetzten benötigen dringend einen Erfolg gegen die Anarchisten, und Mitzi ist das ideale Bauernopfer.«

Verzweifelt wiederholte Daisy in Gedanken Henrys Worte am Tag von Mitzis Verhaftung. »Nur ein Wunder kann deine Freundin jetzt noch retten …« Seit zwei Wochen klammerte sich Daisy an dieses mögliche Wunder. Nun beraubte sie Lottes Tod auch dieser Hoffnung.

Yvette dauerte der Schmerz ihrer Tochter. »Ich weiß, ma petite. Mitzi geschieht furchtbares Unrecht, und dass wir nichts tun können, ist schier unerträglich. Ein tonnenschwerer Felsen lässt sich nicht mit dem kleinen Finger aufhalten, und manchmal bleibt einem nur, sich in das Unvermeidliche zu fügen. Wir müssen uns jetzt auf deinen Bruder konzentrieren, Chérie. Er braucht uns.«

Daisys Augen brannten. »Wenn es Mitzi oder Louis hilft, werde ich Hugo heiraten, Maman. Und, bei Gott, ich werde dem Schwein das Leben so sehr zur Hölle machen, dass er sich vor Ablauf eines Jahres freiwillig von mir scheiden lässt!«

»Non! Ich werde nicht zulassen, dass du dich opferst und diesen grässlichen Wichtigtuer heiratest«, erklärte Yvette kategorisch. »Weder Mitzi noch dein Bruder würden das gutheißen.«

»Was zählt das? Sie sitzen beide im Gefängnis!«

»Deine Großmutter wird ihre Beziehungen nutzen. Sie steht sich gut mit Reichspräsident ’Indenburg und wird eine Audienz bei ihm erwirken. Louis ist nicht nur ihr Enkel, sondern auch der Erbe der Helios-Werft und Lokomotive AG, eines der größten Wirtschaftsimperien im Deutschen Reich.«

»Aber Louis hat sein Erbe ausgeschlagen, Maman!«

»Es wurde nie offiziell gemacht. Deine Großmutter wird einen Skandal zu verhindern wissen. Wir zerren ’Ugos Machenschaften ans Licht, und Louis kommt frei.«

Yvettes Optimismus entlockte Daisy ein verzagtes Lächeln. »Hat sich Henry während eures Telefonats dazu geäußert, wann er nach Berlin zurückkehrt?« Sie hatte nichts mehr von ihrem englischen Freund gehört, seit er vor einer Woche überstürzt mit dem britischen Botschafter nach London abgereist war.

»Heute ist der 24. Dezember«, erinnerte ihre Mutter sie sanft. »Ich vermute, ’Enry wird die Feiertage bei seiner Familie verbringen.«

Weihnachten! Herrje, das hatte sie vollkommen verdrängt. Natürlich besaß Henry eine Familie. Warum hatte sie ihn nie danach gefragt? Er wusste alles über sie und sie so wenig über ihn.

Yvette hatte sich dem Fenster zugewandt. Durch einen schmalen Spalt zwischen den schweren Vorhängen sickerte frühes Tageslicht und verlieh ihrem Gesicht eine beinahe ätherische Note. »Das erste Mal seit vielen Jahrzehnten«, murmelte sie, »treffen dieses Jahr das christliche Weihnachtsfest und das Lichterfest der jüdischen Gemeinschaft aufeinander. In dieser besonderen Nacht feiern Christen und Juden gemeinsam das Licht der Hoffnung. Das muss eine Bedeutung haben, Chérie.«

Für Daisy fühlte sich die Atmosphäre im Zimmer jäh an, als sei ihr jegliche Luft entzogen. »Warum sagst du das, Maman?«

Yvette drehte sich zu ihr. »Weil meine Maman Jüdin war.«

Daisy zuckte überrascht. »Das hast du bisher nie erwähnt.«

»Weil es nie wichtig gewesen ist, Chérie. Niemand weiß es außer deinem Vater, und für ihn besitzt es keinerlei Bedeutung. Möglich, dass auch deine Großmutter davon Kenntnis hat. Schließlich hat le dragon nach meiner Vermählung mit deinem Vater Informationen über mich eingeholt. Aber wir haben nie darüber gesprochen.«

»Warum erzählst du mir ausgerechnet heute davon, Maman?«

»Im jüdischen Glauben wird die Konfession stets von der Mutter an die Tochter weitergegeben. Herkunft ist wichtig, und ich wollte, dass du Bescheid weißt, Chérie. Es bleibt unser kleines Geheimnis, oui? Alles wird gut. Vertrau mir, Liebes. Dein Bruder kommt noch vor Neujahr frei.«

Ihre Mutter verbreitete Zuversicht, und Daisy war dafür nur allzu empfänglich. »Maman«, fragte sie mit frischem Eifer, »was genau hat dir Henry am Telefon über Lottes Tod erzählt?«

»Was willst du andeuten, Chérie?«

»Wir brauchen Lotte und ihre Aussage, um Mitzi zu entlasten. Könnte es sich bei Lottes Tod nicht um eine neuerliche Finte von Hugo handeln, um etwas gegen seinen Rivalen Hubertus von Greiff in der Hand zu haben? Womöglich ist Lotte Schimmelpfennig noch genauso am Leben wie zuvor Willi Hauschka?«

»Hauschka ist am Leben? Und wer ist Lotte Schimmelpfennig?«, tönte eine raue Stimme von der Tür.

»Großmutter!« Daisy sprang verblüfft auf.

Franz-Josef, Sybille von Tessendorfs Butler und seit Jahrzehnten ihr stiller Schatten, rollte sie in ihrem Stuhl herein. Die Vorstandsvorsitzende der Helios-Werft und Lokomotive AG verließ Stettin höchst selten. Zuletzt hatte sie Berlin am achtzigsten Geburtstag von Reichspräsident Hindenburg besucht, und das lag mehrere Jahre zurück.

Daisy umarmte ihre Großmutter. Diese hielt von solcherlei Zuneigungsbekundungen wenig, aber derart überrumpelt ließ sie es sich kurz gefallen. Schon schob sie sie energisch von sich. »Selbstverständlich bin ich gekommen! Mein Enkel wurde verhaftet! Ich erwarte einen vollständigen Bericht.«

Daisy und Yvette wechselten sich in ihrer Schilderung ab.

Am Ende nickte Sybille grimmig und versenkte sich in der Betrachtung ihres Siegelrings mit dem Tessendorf-Wappen. Ihr Blick glitt hinüber zu Daisy. »Louis hat sich böse verrannt. Er hat mit unserer Tradition gebrochen und sein Familienerbe ausgeschlagen, um die Welt von der Armut zu befreien! Nun schmort er im Gefängnis. Das geschieht, wenn man falsche Entscheidungen trifft.«

»Nein, Großmutter! Er ist seiner Liebe gefolgt und hat nichts getan. Wenn er dafür büßen muss, stimmt etwas mit dem Recht nicht.«

Ihre Großmutter lachte trocken auf. »Noch eine, die die Welt verbessern will. Aber bis es so weit ist, müssen wir nach deren Regeln spielen. Außer du hast eine Lösung für die unglückselige Lage deines Bruders parat, Marguerite. Das käme mir sehr zupass, so könnte ich Berlin sofort wieder verlassen.«

Stumm senkte Daisy den Kopf.

»Gut! Ein Rat, Marguerite. Nimm den Mund nicht zu voll. Du hast dir die Klette Hugo zu Trostburg selbst ans Bein geheftet. Bevor du Begierden weckst, solltest du dir überlegen, ob du auch bereit bist, sie zu stillen. Mit deiner unbesonnenen Verlobung hast du zur fatalen Lage deines Bruders erheblich beigetragen.«

Daisy presste die Zähne aufeinander.

»Zurück zu dieser Lotte Schimmelpfennig. Was muss ich über sie wissen?«

»Lotte Schimmelpfennig ist Schauspielerin und die Schwester der toten Anarchistin Bertha Schimmelpfennig.«

Sybille krauste die Stirn. »Das ist die Frau, die von Willi in Mitzis Wohnung erschossen worden ist?«

Daisy nickte. »Lotte Schimmelpfennig ist Hugos Kronzeugin im Mordprozess gegen Mitzi.« Daisy sprach bewusst weiter in der Gegenwartsform. Lotte durfte nicht tot sein! »Lotte hat Mitzi fälschlicherweise als Komplizin im Mord an Regisseur Theodor Fontane beschuldigt.«

»Weshalb sollte die Frau lügen? Wurde sie dafür bezahlt?«

»Lotte ist überzeugt, Mitzi hätte ihr die Hauptrolle in Fontanes neuem Filmprojekt weggeschnappt«, erklärte Daisy.

Sybilles Augen wurden hart und schmal. »Mitzi wäre nicht die erste Frau, die wegen Eifersüchteleien unschuldig auf dem Schafott landet. Aber was zum Teufel hat das Ganze mit meinem Enkel zu schaffen?«

Daisy schaute bestürzt zu ihrer Mutter. Seit dem Eintreffen ihrer Großmutter keimte in ihr die Hoffnung, die Familienpatriarchin könne neben Louis auch Mitzi aus ihrer Zwangslage retten.

Yvette hielt es für ratsam zu vermitteln. »Deine Großmutter bringt es vielleicht ein wenig zu drastisch auf den Punkt, Chérie. Aber sie hat nicht ganz unrecht. Mitzis Sache ist quasi aussichtslos …«

»Aber Maman, das ist es keineswegs! Wenn Henry …«

Sybille unterbrach sie mit einem Unmutslaut. »Eure Intrigen zur Rettung Mitzis interessieren mich nicht die Bohne. Das Mädchen hat ihr Schicksal selbst herausgefordert.«

»Aber Großmutter, sie …«

»Kein Aber! Tessendorf war deiner Freundin nicht gut genug, es musste ja unbedingt Berlin sein! Jetzt sitzt sie im Gefängnis, und ihre Tante Theres heult sich in der Küche die Augen aus und verwässert uns die Suppe. Schluss damit! Ich habe mich hierherbemüht, um zu verhindern, dass Louis’ Angelegenheit zum Politikum gerät und unser guter Name beschmutzt wird. Um neun Uhr heute Morgen ist ein Treffen mit Oskar von Hindenburg vereinbart«, rückte sie jäh mit der Nachricht heraus.

Das schreckte Daisy auf. Auch das noch! Der gute Oskar, der ihr zeitweilig den Hof gemacht und schmachtende Blicke zugeworfen hatte.

»Du triffst dich mit dem Sohn des Reichspräsidenten, Schwiegermutter? An Weihnachten?«, entfuhr es Yvette kaum minder überrascht.

»Nein. Wir treffen ihn«, berichtigte Sybille. »Er kommt hierher. Ich will, dass Marguerite dem jungen Hindenburg die Angelegenheit aus ihrer Sicht schildert. Um es nochmals zu verdeutlichen«, Sybilles Drachenblick fixierte die Enkeltochter, »Mitzis Schwierigkeiten tun hierbei nichts zur Sache, und du wirst Hindenburgs Sohn und Adjutanten keinesfalls damit belästigen. Habe ich dein Wort darauf?«

Sosehr es Daisy widerstrebte, sie willigte ein.

Oskar von Hindenburg erschien pünktlich auf die Minute. Er schickte voraus, dass er sich in einem Gespräch mit Polizeipräsident Melcher und Kriminalrat Hugo Brandis zu Trostburg bereits einen ersten Überblick über die Sachlage verschafft habe. Nach Daisys Bericht wählte er seine Worte sorgfältig. »Zunächst, Komtess, möchte ich Ihnen versichern, dass ich nicht am Wahrheitsgehalt Ihrer Ausführungen zweifele. Gemäß den vorliegenden Beweisen erfolgte die Verhaftung Ihres Bruders Louis von Tessendorf dennoch rechtmäßig.«

Daisys Blick glitt zur Großmutter. Mit dieser Form von diplomatischem Eiertanz würden sie hier kaum weiterkommen. Allerdings hatte sie Hugos dreisten Versuch, sie mit der Freiheit ihres Bruders zu erpressen, gegenüber Oskar noch zurückgehalten.

Ihre Großmutter erlöste sie. »Junger Oskar, Sie sehen meine Enkelin gerade in höchster Verlegenheit«, log sie fromm. »Herr zu Trostburg ist mit einem Ansinnen an sie herangetreten, welches ich ehrenrührig nenne.« Sybille legte eine kurze dramatische Pause ein. »Er hat sich erboten, meinen Enkel Louis vom Vorwurf des Doppelmordes zu entlasten, wenn Marguerite im Gegenzug einwilligt, die Ehe mit ihm einzugehen.«

Oskars Adamsapfel hüpfte. »Das ist eine sehr schwerwiegende Anschuldigung, Gräfin.«

»Es ist die schwerwiegende Wahrheit.«

Oskar sah zu Daisy. »Falls es sich so verhält, Komtess, wäre das Benehmen von Kriminalrat zu Trostburg tatsächlich höchst unehrenhaft. Ein Beamter des deutschen Staates, der seine Position missbraucht, ist nicht tolerierbar. Der Polizeipräsident sähe sich gezwungen, zu Trostburg aus seinem Amt zu entfernen.«

So gut Daisy diese Vorstellung gefiel, entging ihr nicht das Aber in Oskars Satz. Mit ihrer Wahrnehmung stand sie nicht allein.

»Ich weiß nicht«, meinte Sybille, »welche Bedenken Sie haben. Aber ich möchte sie gerne hören.«

»Selbstverständlich, Gräfin.« Oskar neigte den Kopf. »Ich meine mich zu entsinnen, dass Sie, werte Komtess, bereits einmal einen Antrag von Herrn zu Trostburg angenommen haben?«

Jede Wette, überlegte Daisy zähneknirschend, dass Hugo deiner Erinnerung vorhin erst auf die Sprünge geholfen hat. Sie holte Atem. »Sie täuschen sich keineswegs, werter Oskar. Nur war ich damals erst sechzehn und habe meine Einwilligung noch am selben Tag widerrufen. Nichts lag mir ferner, als Herrn zu Trostburg damit zu kränken. Ich fühlte mich einfach noch zu jung für eine Heirat«, erklärte sie diplomatisch. Oskar, ein Könner seines Fachs, drechselte den nächsten Satz ohne Ecken und Kanten: »Womöglich unterliege ich einem Irrtum, aber soweit mir zu Ohren gekommen ist, besteht ein Zusammenhang zwischen dem Nichtzustandekommen einer Ehe mit zu Trostburg und einem gewissen Vorfall auf dem Geburtstagsjubiläum Ihrer Frau Großmutter vor einigen Jahren.«

Daisy fiel es nicht leicht, ihre Empfindungen zu verbergen. Sie erinnerte sich ungern an den Eklat, den sie damals ausgelöst hatte. Innerlich zählte sie bis drei und zwang ein Lächeln auf ihre Lippen. »Tatsächlich muss ich Sie korrigieren, Oskar. Es gibt den besagten Zusammenhang nicht, das beweist allein schon der Zeitfaktor. Zwischen meiner Verlobung im Juni 1928 und dem Fest meiner Großmutter im Oktober 1929 liegen fünfzehn Monate. Und wie eingangs erwähnt, habe ich die Verbindung noch am Verlobungstag gelöst und nicht etwa Herr zu Trostburg. Er hat meinen Rückzug nie akzeptiert, und er besitzt keinerlei Hemmung, mich seit Jahren mit seinen Avancen zu verfolgen.«

Oskar von Hindenburg räusperte sich unbehaglich. Mit zwei Fingern lockerte er kurz den engen Kragen, während sein Blick von Sybille zu Yvette schweifte, um zu Daisy zurückzukehren. »Verzeihung, Komtess, ich bin wirklich bemüht, die Angelegenheit zum Wohle aller zu klären. Unglücklicherweise stellt Herr zu Trostburg den Sachverhalt völlig anders dar.«

»Selbstverständlich tut er das! Schließlich stehen sein Ruf und seine Karriere auf dem Spiel!«, entgegnete Daisy mit mühsam beherrschtem Zorn.

»Und wir wollen vor allem das Leben meines Sohnes nicht vergessen!«, warf Yvette ein.

Oskar zog eine Miene, als sei er in Feindesland geraten.

Sybille steuerte einen zischenden Laut bei, als wollte sie alle aufwallenden Gefühle in die Schranken weisen. »Was behauptet zu Trostburg?«, fragte sie forsch.

Der junge Hindenburg richtete seine Antwort direkt an Sybille: »Herr zu Trostburg vertritt die Auffassung, Ihre Enkelin habe die Auflösung der Verlobung nie verwunden und hätte ihn heute Nacht erneut zur Ehe gedrängt. Sie habe sich ihm …«, Oskar schluckte, »… Verzeihung, sie habe sich ihm angeboten, damit er im Gegenzug die Anklage gegen ihren Bruder Louis fallen lässt. Er berief sich dazu auf Polizeipräsident Melcher, der bezeugen könne, Komtess von Tessendorf in eindeutig kompromittierender Situation in zu Trostburgs Büro angetroffen zu haben. Tatsächlich hat Herr Melcher Letzterem nicht widersprochen.«

Daisy bebte vor Empörung. Angesichts Hugos schamloser Lüge verschlug es ihr die Sprache. Yvette stöhnte verärgert.

»Warum weiß ich davon nichts?«, grollte Sybille.

»Weil Hugo lügt!«, rief Daisy gepresst.

»Polizeipräsident Melcher hat also nichts beobachtet, was Sie kompromittieren könnte, Komtess?«, hakte Oskar nach.

Daisy verkrampfte die Finger im Zorn. Yvette sprang ihr bei: »’Ugo zu Trostburg stellt meiner Tochter seit Jahren nach. Sie will ihn nicht, und das begreift er als Niederlage. Heute Nacht bat ich den Polizeipräsidenten um Beistand, weil ich meine Tochter in zu Trostburgs Händen in Gefahr wähnte! Als ich mit Herrn Melcher Trostburgs Büro betrat, sah ich meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Ich wurde Zeugin dessen, wie sich zu Trostburg meiner Tochter gegen ihren Willen aufgedrängt hat. Und das ist die Wahrheit!«

Sybille stieß ihren Elfenbeinstock in den Teppich. »Ich glaube meiner Schwiegertochter, junger Hindenburg. Sprechen Sie mit Ihrem Vater, bevor die Presse Wind von der Sache erhält und das Ganze eine politische Dimension annimmt, die beiden Seiten schadet. Wir arbeiten eng mit der preußischen Regierung zusammen, und Paul hat sicher nicht das geringste Interesse daran, dass die Tessendorf’sche Helios-Werft in einen Skandal verwickelt wird, der bis in die Reichskanzlei hineinreichen könnte.«

Fasziniert verfolgte Daisy die Strategie ihrer Großmutter, die ihre Enkelin geschickt aus der Schusslinie manövrierte und den Schwerpunkt auf die politischen Interessen verlagerte, die, wie Daisy wusste, stets schwerer wogen als menschliche Schicksale. Es ging um vergangene und aktuelle Rüstungsaufträge, um geheime Absprachen unter dem Radar der Versailler Verträge, um die bewährten und gängigen Allianzen zwischen Rüstungsunternehmen und Politik – Machenschaften, über die Daisy lieber keine weiteren Mutmaßungen anstellen wollte.

Oskar nickte etwas irritiert und erhob sich. Yvette begleitete ihn zur Tür, kam zurück und stöhnte: »Mon dieu! Jetzt beginnt das Warten. C’est terrible!« Sie ließ sich in einen Sessel fallen.

»Du brauchst es dir gar nicht erst bequem zu machen, Schwiegertochter. Wir fahren zurück nach Tessendorf. In Berlin ist mir die Luft zu dick.«

Daisy und ihre Mutter wechselten einen schnellen Blick. Sie wollten in Berlin bleiben. In Louis’ Nähe.

Sybille entging ihr Austausch nicht. »Ihr könnt genauso gut zu Hause auf neue Nachrichten warten. Packt jetzt eure Sachen zusammen.«

Doch noch bevor Mutter und Tochter Einwände erheben konnten, läutete das Telefon. Daisy ging ran. »Hier steht ein Bote mit einer Nachricht für die Komtess Marguerite von Tessendorf«, informierte sie der Concierge.

»Am Apparat. Schicken Sie die Nachricht bitte in unsere Suite. Danke.« Daisy wollte auflegen, als der Concierge sie bat, in der Leitung zu warten. Nach kurzem Hintergrundgetuschel meldete er sich zurück. »Der Junge behauptet, ihm sei aufgetragen worden, er dürfe Ihnen den Brief nur persönlich in der Lobby übergeben.«

Yvette trat aufmerksam hinzu. »Was ist los, Chérie?«

Daisy hielt die Sprechmuschel zu. »Unten steht ein Bote, der mir seine Nachricht nur persönlich in der Hotellobby übergeben will. Jede Wette, dass Hugo ihn geschickt hat.«

»Oder er will dich damit in die Eingangshalle locken.«

»Fabelhaft! Ich kann es nämlich kaum erwarten, dem verlogenen Mistkerl meine Nägel durchs Gesicht zu ziehen!«

»Chérie …«

»Schon gut, Maman, ich werde mich zügeln. Für Louis. Bin gleich wieder zurück.« Sie gab dem Concierge Bescheid.

»Warte! Soll ich nicht lieber mitkommen?«

»Ach was, in der Lobby geht es doch ständig zu wie auf dem Opernball. In der Öffentlichkeit wird Hugo keinen Eklat riskieren.«

Daisy nahm die Treppe und hielt wenig später die Nachricht in der Hand. Sie entlohnte den Jungen und sah sich verstohlen um. Von Hugo weit und breit keine Spur. Sie öffnete den Umschlag.

Wenn Sie Ihren Bruder retten wollen, folgen Sie dem Boten. Kein Wort zu niemandem, sonst sind Sie für Louis’ Tod verantwortlich.

Was hatte das wieder zu bedeuten? Misstrauisch ließ Daisy ihren Blick durch die weitläufige Hotelhalle schweifen und entdeckte den Boten am asiatischen Brunnen. Sie nahm den schmalen Burschen genauer unter die Lupe. Seine Kleidung war sauber, seine Miene hatte etwas Pfiffiges. Sie schätzte ihn auf höchstens zehn, gefährlich war der nicht. Was sollte sie tun? Hätte sie nur nicht das Angebot ihrer Mutter, sie in die Lobby zu begleiten, abgelehnt. Unbewusst bewegte sie sich auf den Concierge zu und fand sofort den jungen Boten an ihrer Seite. »Fräulein«, sprach er sie leise an. »Falls Sie nicht mit mir kommen, darf ich dann gehen?«

Daisy erwog, ihn zu entlassen und ihm dann heimlich zu folgen, verwarf die Idee aber im gleichen Atemzug. Wer immer den Jungen zu ihr geschickt hatte, rechnete sicher damit und würde ihn entsprechend instruiert haben.

Daisy war nicht wohl bei der Sache. In ihrem Kopf schrillten sämtliche Alarmglocken. Es war ein Wagnis. Und dennoch … Es ging um ihren Bruder! Die Vorstellung, die Hindenburgs ließen sie im Stich und Louis könnte etwas geschehen, während sie die einzige Möglichkeit vertan hatte, ihn zu retten, brachte die Entscheidung. Gegen jede Vernunft hörte sie sich selbst sagen: »In Ordnung! Zeig mir den Weg.«

Sie verließen das Hotel. Der Junge führte sie zielstrebig in Richtung Tiergarten. Die Parkanlage war auch am Weihnachtsmorgen entsprechend belebt, die Berliner führten ihre Vierbeiner spazieren, Kindermädchen ihre Schützlinge, und vereinzelt oder in Gruppen wurde auf den Wiesen Frühgymnastik betrieben. Zügig durchquerten sie den Park, um sich dem Gelände des Zoologischen Gartens zu nähern. Er blieb während der Feiertage geschlossen, dennoch wähnte Daisy in diesem ihr Ziel. Statt durch das Elefantentor in der Budapester Straße betraten sie ihn durch eine Nebenpforte, für die der Junge einen Schlüssel aus der Hosentasche beförderte.

Ohne Besucher und noch früh am Morgen wirkte der Zoo eigentümlich friedlich. Sie schritten flott unter jahrhundertealten Eichen dahin, und Daisy, nur in Pullover und ohne Mantel, rieb fröstelnd ihre Arme.

Ein Zoowärter kam ihnen mit einer Schubkarrenladung dampfendem Mist entgegen, aber mehr als einen kurzen Blick hatte er nicht für sie übrig.

Die Stimme des Jungen riss sie aus ihren Gedanken. »Da sind wir.« Vor ihnen erhob sich eine umzäunte Anlage mit kunstvoll angeordneten Felsen und einem ziemlich trüben Wasserbecken.

»Warten Sie hier«, sagte er und verschwand eilig. Daisy schaute ihm verblüfft hinterher. Dabei entdeckte sie ein Schild am Gehege: »See-Elefant Roland«. Das massige Tier ließ sich allerdings nirgendwo blicken. Vermutlich döste Roland um diese Zeit noch.

»Fräulein von Tessendorf.«

Daisy wirbelte herum. Der Mann mit der Augenklappe! »Herr von Greiff«, entfuhr es ihr erschrocken. »Was soll das? Warum locken Sie mich hierher?«

Das verbliebene Auge glitt über ihr Gesicht. »Ich habe ein Angebot für Sie«, erklärte er ölig.

Daisy fasste sich. Hugo hasste von Greiff und fürchtete, dieser könne ihm eines Tages den Rang ablaufen. Zweifellos lag es in Greiffs Interesse, diesen Prozess zu beschleunigen. Der Gedanke ermutigte sie, und beherzt trat sie von Greiff entgegen. »Sie sehen mich verwirrt. Noch gestern trachteten Sie danach, meinen Bruder wegen Doppelmordes an den Galgen zu bringen, und nun bieten Sie mir an, ihn zu retten?«

»Es geht bei diesem Treffen nicht allein um Ihren Bruder, Fräulein. Ich nutzte ihn lediglich als Vorwand, um Sie aus dem Hotel zu locken.« Er lehnte sich neben sie ans Geländer und kreuzte die Knöchel. »Unter uns, Ihr Bruder verdiente einen Orden, falls er die beiden Subjekte Hauschka und Schimmelpfennig getötet hat. Ich habe diese Zusammenkunft anberaumt, weil uns gemeinsame Interessen verbinden. Sie wollen zu Trostburg loswerden, was exakt auch meinem Wunsch entspricht.«

»Der Feind meines Feindes ist mein Freund?«

»Wir wollen nicht gleich übertreiben, Fräulein. Nennen wir es eine Übereinkunft zweier Komplizen, um ein für beide Seiten vorteilhaftes Geschäft abzuschließen.«

»Sie klingen wie Mephisto.«

»Behalten Sie Ihre Seele. Es geht um Ihren Körper. Sind Sie noch Jungfrau?«

»Was?«

»Eine einfache Frage. Sind Sie noch Jungfrau?«

»Was geht Sie das an?«, fauchte Daisy.

Greiff zuckte ungerührt die Achseln. »Sie sollten zumindest wissen, was Sie tun. Grundkenntnisse in der menschlichen Biologie wären von Vorteil.«

»Wenn es darum geht: Ich bin auf einem Gut mit Tieren aufgewachsen. Ich weiß Bescheid!« Und obwohl es ihr inzwischen jedes Härchen einzeln aufstellte, zwang sie sich zu fragen: »Was muss ich tun, um meinen Bruder zu retten?«

Von Greiff erklärte es ihr.

Mit jedem Wort stieg Daisys Entsetzen. Sie wäre davon davongestürmt, hätte nicht das Leben ihres Bruders auf dem Spiel gestanden. »Wenn ich mich auf Ihren Vorschlag einlasse, welche Garantie habe ich, dass Sie sich an Ihren Teil der Vereinbarung halten?«

»Keine. Sie müssen mir vertrauen.«

Daisy schnaubte erstickt. »Erlauben Sie, dass ich lache!«

»Lachen Sie, wenn Ihnen der Sinn danach steht, Fräulein. Sie kennen mein Angebot. Es bleibt Ihnen überlassen, ob Sie es annehmen. Mit oder ohne Ihre Unterstützung, ich gelange so oder so an mein Ziel.«

Das befürchtete Daisy auch. Sie wog ihre Chancen ab. Was würde ihre Mutter Yvette in ihrer Lage tun? Oder ihre Großmutter? Das brachte sie auf einen neuen Gedanken. »Ich gehe auf Ihr Angebot ein, wenn Sie auch meine Freundin Mitzi Gotzlow retten.« Herausfordernd stellte sie sich vor ihn.

Greiff schaute auf sie herab. »Für die Gotzlow kommt jede Hilfe zu spät. Ihre Taten verdienen den Tod.«

»Welche Taten? Sie ist unschuldig«, rief Daisy hitzig.

Ungerührt fragte Greiff: »Kennen Sie einen Pierre Bouchon?«

Daisy blieb fast das Herz stehen. Bei Bouchon handelte es sich um ein übles Subjekt aus der Vergangenheit ihrer Mutter.

Greiff beugte sich ihr entgegen. »Wie ich sehe, ist der Monsieur für Sie kein Unbekannter. Ich wünschte, jeder Übeltäter besäße Ihre Unfähigkeit, sich zu verstellen.«

Noch während Daisy sich fragte, was Greiff mit der Erwähnung Bouchons bezweckte, klärte er sie auf. »Meine Männer haben Pierre Bouchon vor einiger Zeit aufgegriffen. Nach entsprechender Behandlung begann er zu zwitschern wie ein Singvogel. Erstaunlich, was er so über Ihre Mutter zu erzählen wusste.«

Daisy wurde übel vor Zorn. »Nicht ein Wort davon ist wahr! Pierre Bouchon saß wegen Totschlags in einem Pariser Gefängnis. Jetzt betätigt er sich als Erpresser.« Dabei begriff sie Greiffs Vorgehen. Sie hatte ihn provoziert, indem sie versuchte, den Einsatz zu erhöhen. Er konterte prompt und gab ihr zu verstehen, dass sie keine Bedingungen zu stellen hätte.

»Jetzt werden Sie nicht gleich hysterisch. Mein Interesse gilt nicht dieser alten Geschichte. Vorerst. Was ist jetzt? Wollen Sie zu Trostburg bloßstellen oder nicht?«

Natürlich wollte sie das, aber sie traute Greiff nicht. Was, wenn er sich nicht an die Vereinbarung hielt? Einmal im Leben wollte sie nichts überstürzen. »Ich bitte um Bedenkzeit.«

»Gut. Ich warte.« Er verschränkte die Arme.

»Hier?«, fragte Daisy perplex.

»Wo sonst? Ihr Kopf ist klein, es wird nicht lange dauern.«

»Aber ich muss zurück ins Adlon! Meine Mutter und Großmutter werden sich inzwischen fürchterliche Sorgen um mich machen.«

»So läuft das nicht, Fräulein. Indem Sie dem Boten gefolgt sind, sind Sie ins Boot gestiegen. Sie können nicht ernsthaft annehmen, dass ich Sie einfach ziehen lasse, damit Sie mich beim Polizeipräsidenten anschwärzen. Oder den Hindenburgs. Oder Ränke mit einem gewissen Briten schmieden …«

Daisy erstarrte.

»Jetzt schauen Sie nicht wie eine Kuh beim Kalben. Ich bin über jeden Ihrer Schritte im Bilde. Nein, mein Fräulein, mitgehangen, mitgefangen. Es ist alles vorbereitet, und es gibt kein Zurück. Ihre Mutter habe ich als Rückversicherung ins Spiel gebracht, um Sie zu motivieren.«

»Das nennen Sie Motivation? Es ist Erpressung!«

»Da Ihnen so viel an Weihnachten liegt, darf ich Sie erinnern, dass Ihr Bruder die Feiertage im Gefängnis fristet, während Sie auf ein fettes Stück Weihnachtsgans hoffen dürfen. Wenn Sie mitspielen, werde ich dafür sorgen, dass Ihr Bruder noch heute Abend aus dem Gefängnis freikommt.«

Damit hatte er sie. Wenn sie jetzt nicht handelte, würde sie sich das später ewig vorwerfen. Außerdem hatte ihr Greiff unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er sich andernfalls an ihre Mutter halten würde. Was ist schon groß dabei, übte sie sich in Selbstbeschwichtigung. Sie musste ein wenig schauspielern und ihren Ruf opfern, aber sie tat es für ihren Bruder. »Also gut«, willigte sie ein.

Im Geiste leistete sie Abbitte bei ihrer Mutter, da sie ihr mit ihrem Verschwinden weitere Seelenqualen zumutete. Aber wenn von Greiff Wort hielt, würden sie heute Abend alle wieder mit Louis vereint sein.

Kapitel 2

Wenn ein Mann zurückweicht, weicht er zurück. Eine Frau weicht nur zurück, um besser Anlauf zu nehmen.

Zsa Zsa Gabor

Hubertus von Greiff hatte seine Palastrevolte gegen Hugo zu Trostburg generalstabsmäßig geplant. Als Kulisse diente eine im Stile Ludwig XVI. eingerichtete Wohnung in der Kurfürstenstraße. In einer Orgie aus Weiß und Gold warteten eine entsprechende Garderobe auf Daisy sowie eine überschminkte Frau unbestimmten Alters, die sie in ihre Rolle einweisen sollte. Von Greiff selbst würde erst zum Finale auf der Bildfläche erscheinen. Sollte sein Plan trotz akribischer Vorkehrungen aus dem Ruder laufen, überlegte Daisy verdrossen, stünde am Ende sie allein als Intrigantin und Leidtragende da. Von Greiff würde seine Anwesenheit glaubhaft mit einem anonymen Hinweis erklären.

Das Einauge hieß sie an einem verschnörkelten Schreibtisch Platz nehmen und diktierte ihr die Nachricht an Hugo, die ihn in die Kurfürstenstraße locken sollte.

»Warum der Aufwand mit der Wohnung? Weshalb kann ich nicht einfach an seine Zimmertür im Kaiserhof klopfen?«

»Strengen Sie Ihren Kopf an! Es muss aussehen, als hielte von Trostburg Sie gegen Ihren Willen hier gefangen. Die Räumlichkeiten wurden unter seinem Namen angemietet.«

»Dann sollten wir Hugo keine Nachricht senden, die ihm später als Beweis gegen mich dienen könnte«, wandte Daisy ein.

Greiff winkte lässig ab. »Keine Sorge. Ihre Nachricht lasse ich rechtzeitig verschwinden.«

»Was ist, wenn zu Trostburg die Falle wittert und gar nicht erst auftaucht? Oder der Bote ihn nicht antrifft? Gilt unsere Vereinbarung trotzdem?«

Er schaute beinahe amüsiert. »In diesem Fall habe ich einen Plan B, und Sie erhalten eine zweite Chance. Folgen Sie jetzt den Anweisungen von Annabelle. Wenn Sie Ihren Bruder retten wollen, legen Sie sich ins Zeug.« Danach überließ Greiff Daisy ihrem Schicksal und der reifen Annabelle.

»Na endlich«, meinte Annabelle forsch, nachdem die Haustür hinter ihm ins Schloss gefallen war. »Der ist wirklich ein eiskalter Bursche, was? In seiner Nähe überziehen sich selbst die Wände mit Frost.«

»Kennen Sie Greiff schon länger?«

»Schätzchen, wir sollten uns duzen. Und eins vorneweg: Ich werde keine Fragen beantworten, die nicht unmittelbar meinen Auftrag betreffen.«

»Und wie sieht dein Auftrag aus?«

»Komm mit.« Annabelle ging ihr voran ins Schlafzimmer, eine plüschige Angelegenheit in Rot und Gold. Auf einem Tisch stand ein Sektkühler. »Wir sollten erst eine Flasche köpfen, damit du etwas lockerer wirst.«

Daisy stürzte das erste Glas Champagner hinunter.

Annabelle nickte. »Und nun zieh dich aus, Schätzchen. Alles.«

»Was?«, rief Daisy entsetzt.

»Ja, was dachtest du denn? Ich will dich anschauen. Ich wette, unter deinen Kleidern bist du weiß und weich.«

»Na hör mal!«

»Jetzt stell dich nicht so an, Püppchen. Du bekommst diesen hier.« Sie griff nach einem seidenen Kimono von skandalöser Durchsichtigkeit.

»Kann ich nicht wenigstens meine Wäsche anbehalten?«, feilschte Daisy.

»Nein. Du sollst zu Trostburg verführen, und er steht nun einmal auf möglichst viel nackte Haut.«

»Und woher weißt du das so genau?«

Annabelle überging die Frage. »Greiff hat mich vorgewarnt, dass ich es mit einem adeligen Jüngferchen zu tun bekäme. Sag, erzählen sie euch Püppchen immer noch, Beine breit für Gott, König und Vaterland?«

»Ganz genau«, zischte Daisy verärgert. »Und für wen macht das Annabellchen die Beine breit?«

Annabelle lachte herzhaft und entblößte ihre kräftigen Zähne. »Na also! Du bist goldrichtig. Wir zwei werden das Kind schon schaukeln.«

Auch Daisy versuchte sich nun an einem zaghaften Lächeln.

»So ist es gut. Wir Frauen müssen zusammenhalten. Also: Stell dir vor, wir sind zwei Schauspielerinnen, die eine Szene proben. Nichts von dem, was du heute tun wirst, ist wahrhaftig. Du schlüpfst in eine Rolle, schaffst für den Mann eine Illusion und wirst so zum Sinnbild seiner Wünsche. Verstehst du das, Püppchen?«

Das verstand Daisy durchaus.

»Fabelhaft! Du musst dafür jede Scham über Bord werfen.«

Oje, das klang nicht gut. Argwöhnisch verfolgte Daisy, wie Annabelle zum Nachttisch schritt, eine Schublade aufzog und dieser eine Fotografie und Handschellen entnahm. Letztere ließen Daisys Augen eng werden. »Wozu brauchen wir die?«

»Die Handschellen sind ein Requisit. Und das hier«, Annabelle schwenkte das Foto, »veranschaulicht das Schlussbild unserer kleinen Inszenierung.«

Die Abbildung überstieg Daisys Vorstellungskraft bei Weitem. »Ich brauche mehr Champagner«, forderte sie blass.

»Nur ein Glas«, bestimmte Annabelle. »Greiff meinte, wir hätten maximal zwei Stunden Zeit für unsere Vorbereitungen. Ab da sollten wir mit zu Trostburg rechnen.«

»Augenklappe kann es wohl kaum erwarten, Hugos Kopf rollen zu sehen.« Daisy wies auf die Handschellen. »Hugo wird misstrauisch werden, wenn ich die parat habe.«

»Dummerchen«, kicherte Annabelle. »Er besitzt natürlich seine eigenen. Aber du solltest wissen, womit du zu rechnen hast. Legen wir los!«

»Warte! Ist es für meine Rolle nötig, Hugo direkt ins Gesicht zu lügen?«

»Komische Frage. Warum willst du das wissen?«

»Weil ich das nicht kann. Weil ich bei der kleinsten Schwindelei Schluckauf bekomme.«

»Ist nicht wahr!«

»Doch, ein Schluckauf in der Verführungsszene dürfte sich eher kontraproduktiv auswirken.«

»Du bist mal ’ne vornehme Marke. Ich kann dich beruhigen, Püppchen. Du hast so gut wie keinen Text. Männer wollen rammeln, nicht reden. Keine Worte, keine Lüge. Bekommst du das hin?«

»Habe ich eine Wahl?«

»Nein. Und jetzt runter mit den Klamotten.«

Daisy ließ die Hüllen fallen.

Annabelle lächelte zufrieden. »Wie ich es mir gedacht habe. Weich und rund.« Ungeniert griff sie Daisy an die Brust. Die wich sofort entrüstet zurück. Annabelle seufzte übertrieben. »Schätzchen, genau so solltest du nicht reagieren, wenn Hugo dich anfassen will. Anfangs darfst du dich ein wenig zieren, aber du musst auch die entsprechenden Signale aussenden. Er muss führen und du verführen. Letzteres ist eine Kunst, und ich kann dir in der kurzen Zeit unmöglich mein ganzes Repertoire eintrichtern.« Sie schritt mit wiegenden Hüften zur Schlafzimmertür und pochte gegen den Rahmen. »Proben wir es. Ich bin Hugo, und du bittest mich herein.«

Annabelle nahm ihre Aufgabe sehr ernst. Sie bemängelte, wie Daisy Hugo begrüßte, wie sie lächelte oder den Kimono von den Schultern gleiten ließ. Eigentlich alles. »Du bist viel zu hölzern, Schätzchen. Du sollst lächeln und nicht die Zähne fletschen. Behalte immer im Kopf, du willst zu Trostburg deinen Sinneswandel beweisen. Nervös darfst du sein, aber nicht zögerlich.«

Nach über einer Stunde wiederholter Proben meinte Annabelle: »Na also, es wird langsam. Wenn du dich ans Drehbuch hältst, Püppchen, dürfte nicht allzu viel schiefgehen.«

Daisy war sich da nicht so sicher. Ihr graute besonders vor der Schlussszene mit Hugo, wenn von Greiff mit dem Fotoapparat auf der Matte stehen würde. Annabelle verabschiedete sich nun, um in der benachbarten Wohnung auf das Zuschnappen der Venusfalle zu warten.

Präpariert wie eine orientalische Odaliske, harrte Daisy Hugos Erscheinen. Wann kam er? Sie wollte es endlich hinter sich bringen. Aber die Zeit verstrich, und er ließ sich nicht blicken. Offenbar lief etwas quer in Greiffs schönem Plan. Daisy grübelte über die möglichen Gründe nach, als jäh die Wohnungstür aufflog und Greiff seine lange Gestalt vor sie pflanzte. »Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt. Ziehen Sie sich an, und verschwinden Sie«, schnarrte er.

»Was?«, stotterte Daisy.

»Sind Sie taub? Ich brauche Sie nicht mehr. Und kein Wort zu niemandem über heute. Ansonsten lasse ich Ihre Freundin im Gefängnis dafür büßen. Haben wir uns verstanden?«

Daisy verzichtete auf eine Antwort und sammelte ihre Kleider ein. Sie war zornig und durcheinander, aber genauso erleichtert, weil ihr Greiffs perfider Plan samt Hugo erspart blieb. Gleichzeitig sorgte sie sich um das Warum. Etwas war passiert.

Sie eilte ins Bad und zog sich an. Als sie zurückkehrte, war von Greiff verschwunden. Und Annabelle mit ihm.

Daisy verließ das Haus, hielt das nächste Taxi an und fuhr ins Adlon. Kaum hatte sie das Foyer durch die Drehtür betreten, da sah sie auch schon den Concierge auf sich zustürzen. »Fräulein von Tessendorf! Dem Himmel sei Dank, da sind Sie ja! Ich …«

»Nicht jetzt, bitte.« Daisy eilte zum Aufzug. Der Concierge lief ihr hinterher. »Aber ich …«

»Bitte, ich habe es eilig. Ich muss mit meiner Mutter sprechen.« Die Lifttür öffnete sich, Daisy schlüpfte in die Kabine, worauf der Concierge den Aufzug per Knopfdruck stoppte. »Bitte vielmals um Verzeihung für meine Hartnäckigkeit, Komtess. Aber die werten Damen Tessendorf sind gar nicht mehr hier. Sie haben sich in die Charité begeben.«

»Mein Gott, was ist passiert?«, rief Daisy schockiert.

»Ihr Bruder wurde in die Charité verbracht. Sind Sie selbst wohlauf, Komtess? Wir haben uns …«

In ihrer Ungeduld ließ sie den armen Mann erneut nicht zum Ende kommen. »Mir geht es bestens, danke. Wissen Sie, was meinem Bruder fehlt?«

»Bedaure, Komtess.«

Daisy war schon auf dem Weg. Verwirrt fragte sie sich, warum man Louis in die Charité gebracht hatte. Gab es im Gefängnis keine Krankenstation? Die Fahrt war kurz, doch sie reichte, um sich wegen Louis die fürchterlichsten Dinge auszumalen. Sie bezahlte das Taxi und rannte über die Treppe auf das Portal der Klinik zu und geradewegs in den Mann, der just heraustrat. Sie blickte hoch. Hugo!

»Marguerite, Grundgütiger, da bist du ja! Wo hast du bloß gesteckt?«, rief Hugo zu Trostburg.

Daisy unterdrückte einen Fluch. »Wieso bist du hier? Was ist mit meinem Bruder?«

Er fasste nach ihrem Arm. Sie riss sich los. »Sag mir sofort, wie es um Louis steht!«

»Gut, aber bitte bewahre Ruhe, Marguerite. Man beobachtet uns.«

»Als wenn mich das interessieren würde! Jetzt sprich!«

Hugo senkte seine Stimme: »Dein Bruder hat versucht, sich das Leben zu nehmen.«

Daisy taumelte. »Ich will sofort zu ihm. Bitte.«

»Natürlich, Marguerite.«

Vor dem Patientenzimmer im privaten Teil der Klinik stand ein bewaffneter Schupo. Er öffnete ihnen die Tür, und Hugo überließ Daisy höflich den Vortritt.

Fast die gesamte Familie hatte sich bereits um Louis’ Bett versammelt. Großmutter Sybille parkte in ihrem Stuhl mit dem Rücken zum Fenster, ihre Mutter Yvette saß Louis zur Seite, hinter ihr, die Hände auf ihre Schultern gelegt, verharrte Daisys Vater Kuno, an seiner Seite ihre jüngere Schwester Violette. Sogar ihr missliebiger Halbbruder Hagen und seine Frau Elvira hatten sich noch vor ihr in der Charité eingefunden. Elviras aufgesetztes Schluchzen füllte den Raum. Als fühlte sie die Anwesenheit ihrer ältesten Tochter, wandte sich Yvette als Erste um. »Chérie!« Schon spürte Daisy die Arme ihrer Mutter um sich. Es war für sie die erste tröstliche Empfindung des Tages. Yvette löste sich von ihr und tastete sie förmlich mit den Augen ab. »Bist du in Ordnung, ma petite? Wo hast du bloß die ganze Zeit über gesteckt?«

»Mir geht es gut, Maman«, murmelte Daisy. Sie drängte sich zum Bett vor, zwischen Violette und ihren Vater Kuno. Letzterer rückte bereitwillig zur Seite und legte nun ihr den Arm um die Schultern, ganz so, als hätte er diesen Halt nötig. Tatsächlich wirkte er ratlos und verloren. Daisy nahm es nur bedingt zur Kenntnis, zu sehr erschütterte sie der Anblick ihres Bruders. Louis war in eine Stille gehüllt, die nicht mehr von dieser Welt schien. »Wie schlimm steht es?«, fragte sie erstickt.

»Dein Bruder hatte bereits das Bewusstsein verloren, als man ihn fand. Seitdem ist er in diesem Zustand. Er hat mehrere Bluttransfusionen erhalten.«

»Was sagen die Ärzte?«

»Was die Quacksalber immer sagen.« Ihre Großmutter rollte näher. »Abwarten, starke Konstitution, bla bla bla …«

»Der arme Junge. Warum bloß hat er das getan!« Elvira schniefte übertrieben laut. Niemand schenkte ihr Beachtung. Großmutter Sybille nahm es allerdings zum Anlass, Hagen auffordernd anzusehen. Er reagierte entsprechend, nahm seine Frau und verließ gemeinsam mit ihr den Raum.

»Sie sind ja immer noch hier!«, knöpfte sich Sybille als Nächstes zu Trostburg vor. »Hatten Sie sich nicht erst großspurig verabschiedet, um die Schuldigen ausfindig zu machen, in deren Obhut mein Enkel fast zu Tode gekommen ist?«

Hugo krümmte sich unter ihrem stählernen Blick. »Selbstverständlich, Frau Gräfin.« Es blieb ihm nur der geordnete Rückzug.

»Gottlob, den Hanswurst wären wir los«, schnaubte Sybille. Violette hatte es nun ebenfalls eilig: »Ich sehe nach Tante Elvira.«

Sybille vollführte eine Wende mit dem Stuhl. »Dann halte gleich Ausschau nach Franz-Josef, und schick ihn herein.«

»Ist gut, Großmutter.« Violette schlüpfte hinaus.

»Wie konnte sich Louis überhaupt im Gefängnis die Pulsadern aufschneiden? Woher hatte er die Klinge?«, fragte Daisy.

Sybilles Mund wurde schmal, während sich Yvette sichtlich bewegt zurück auf die Bettkante sinken ließ. Sie nahm Louis’ leblose Hand und drückte einen Kuss darauf. Niemand redete ein Wort. Kurz darauf klopfte es, und Sybilles Butler trat ein. »Franz-Josef«, sagte Sybille, »steht der Wagen bereit?«

»Jawohl, Frau Gräfin.«

»Sehr gut, wir kehren nach Tessendorf zurück.«

»Du willst nach Hause, Schwiegermutter?«

»Der Junge wird kaum schneller gesunden, wenn sich massenhaft Leute um sein Bett scharen. Es reicht, wenn seine Mutter an seiner Seite wacht.«

»Ich bleibe auch hier, Großmutter«, erklärte Daisy sofort.

Yvette verständigte sich kurz mit Kuno. Während er mit Violette und Sybille nach Tessendorf heimkehrte, blieben sie und Daisy alleine bei Louis zurück.

»Maman, was ist genau passiert?«, fragte Daisy sofort. »Woher hatte Louis das Messer?«

Ein erschöpfter Zug zeigte sich auf dem schönen Gesicht ihrer Mutter. »Chérie, dein Bruder benutzte keine Klinge. Er hat sich selbst mit den Zähnen verletzt.«

»O mein Gott!« Daisy presste ihre Faust auf den Mund. Alles schien ihr so erdrückend, selbst die Luft um sie war schwerer geworden.

»Der Arzt sagt, es käme nicht oft vor. Aber manchmal raubt einem die Verzweiflung den Verstand.«

»Oder die Liebe tut es«, murmelte Daisy.

Die Hand ihrer Mutter tastete nach ihr. »Chérie, willst du mir berichten, was du nicht vor den anderen sagen wolltest? Wo bist du gewesen? Von wem kam der Bote?«

Ungeachtet Greiffs Drohung lieferte Daisy ihrer Mutter einen vollständigen Bericht. Sie begann mit Pierre Bouchon. »Greiff hat ihn verhaftet und behauptet, Pierre habe ihm alles über deine Vergangenheit erzählt.«

Die feinen blonden Augenbrauen ihrer Mutter zogen sich zusammen. »Denkst du, er hat vor, mich zu erpressen?«

»Greiff behauptete, er habe kein Interesse an dieser alten Geschichte.«

»Dennoch hat er es zur Sprache gebracht. Er ist ein Spieler und macht uns klar, dass er über ausreichend Asse verfügt. Was hat er von dir gewollt, ma fille?«

Daisy erzählte. Yvette war entsetzt. »Meine arme Chérie! Dieser Greiff ist wahrhaftig der Teufel!«

»Ja … Chérie hat wahrhaftig ein Talent für Schlamassel«, murmelte Louis kaum hörbar.

Beide Frauen fuhren wie gestochen zu ihm herum. »Du bist wach!«, riefen sie gleichzeitig.

Louis’ Mund zuckte. »Eine Weile. Aber es war mir hier vorher zu voll«, formte er mühsam die Worte.

»Schh, mon fils, du musst nicht sprechen, wenn es dich anstrengt. Hast du Durst? Möchtest du Wasser?«

Louis nickte, und Yvette hielt ihrem Sohn das Glas. Nach wenigen Schlucken sank Louis mit geschlossenen Augen zurück. Seine bläulichen Lider wirkten seltsam durchscheinend.

Daisy und ihre Mutter lösten ihre Blicke von ihm und bemerkten jeweils die Verwirrung in den Augen der anderen. Sie fanden Louis’ Benehmen befremdlich. Er umgab sich mit einer Normalität, als hätte er nicht eben erst einen Selbstmordversuch hinter sich. Sein Atem ging nun regelmäßig.

»Schläft er?«, flüsterte Daisy.

»Ich hoffe es. Eine von uns beiden sollte immer bei Louis bleiben.« Yvette kritzelte etwas in ihr kleines Notizbuch und reichte es ihrer Tochter. Er wird es wieder versuchen, stand darauf zu lesen. Daisys Herz schwamm in Tränen.

Ihre Mutter schrieb weiter. Wir müssen ihn hier herausholen.

»Wie?«, hauchte Daisy.

»Ich lasse mir etwas einfallen.«

Es wurde eine traurige Weihnacht. Während Yvette und Daisy an Louis’ Bett wachten, feierte die übrige Welt die Geburt des Christuskinds.

Louis lag vollkommen reglos. Hin und wieder ertappten sich Mutter und Tochter dabei, wie sie auf seine Brust starrten, um sich zu vergewissern, dass sie sich noch hob und senkte – als fürchteten sie, Louis könnte sich still und heimlich aus dem Leben schleichen.

Ein Arzt schaute herein und kontrollierte mit einer Augenleuchte Louis’ Pupillen, prüfte seinen Puls und rauschte wieder hinaus. Eine ältere Schwester brachte ihnen Essen auf einem Tablett. Sie fanden darauf auch einen kleinen Tannenzweig und eine Kerze. Yvette und Daisy dankten dieser mitfühlenden Seele, und Yvette folgte ihr hinaus, um das nächste Telefon zu suchen.

Allein mit ihrem Bruder beugte sich Daisy zu ihm hinab und raunte: »Louis, kannst du mich hören?« Keine Reaktion. Sie nahm seine Hand. »Falls du mich hören kannst, bitte tu uns das nicht an. Du kannst nicht ohne Willi leben, aber genauso wenig könnte ich ohne dich leben. Bitte, Louis«, flehte sie, und eine einzelne Träne fiel auf Louis’ Hand. Er rührte sich nicht.

Ihre Mutter kehrte mit einer Kanne Kaffee zurück.

Die Heilige Nacht verging.

Kapitel 3

Nur ein Gärtner weiß im Voraus, was ihm blüht.

Yvette von Tessendorf

Kurz vor dem Morgengrauen gönnte sich Daisy eine schnelle Zigarette im Waschraum. Sie fühlte sich schuldig. Warum bloß hatte sie damals der Verlobung mit Hugo zugestimmt? Sie könnte sich selbst erwürgen.

Bei ihrer Rückkehr erfasste Yvette ihren Zustand mit einem Blick. »Ma petite, hör auf, dir Vorwürfe zu machen. Es führt zu nichts und ändert nichts.«

»Ich weiß, aber was wird, wenn Großmutter keinen Erfolg bei Hindenburg hat und wir Hugo niemals loswerden …«

Auf Yvettes Gesicht zeigte sich ein blasses Lächeln. »’Ugo hat zu hoch gepokert und verloren. Er muss nun damit rechnen, dass ihm der Polizeipräsident künftig mehr auf die Finger sehen wird.«

»Nichts würde ich mir mehr wünschen«, seufzte Daisy. Sie überließ sich einen Atemzug lang der Erleichterung, doch dann schaute sie wieder betroffen zu Louis. »Wir müssen ihn retten, Maman.«

»Das werden wir, Chérie. Vertrau mir.« Yvette zog sie abermals in ihre Arme. Daisy wünschte, sie besäße die Stärke ihrer Mutter. Woraus schöpfte sie ihre Zuversicht? Warum kannte sie niemals Unverzagtheit und sah in jedem Problem schon den Ansatz einer Lösung? Die Antwort war Liebe; die Quelle allen Mutes, der Ursprung aller Kraft. Daisy schniefte und richtete sich auf. »Was hast du vor, Maman?«

»Von Greiff davon überzeugen, dass es sich lohnt, das Richtige zu tun. Er giert nach ’Ugos Sessel als Leiter der Politischen Polizei. Wir werden dafür sorgen, dass Greiff ihn bekommt, indem wir im Gegenzug auch ’Ugo geben, wonach es ihn so sehr gelüstet.«

»Den Botschafterposten im Ausland?«

»Ja, so wie wir es mit ’Enry vor seinem Flug nach London besprochen hatten.«