Hotel Berlin - Vicki Baum - E-Book

Hotel Berlin E-Book

Vicki Baum

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Beschreibung

"Die Frage, die mich Tag und Nacht nicht in Ruhe ließ, war: Wie sieht es jetzt in Deutschland aus? Was denken, fühlen, fürchten und hoffen die Deutschen in einem Augenblick, da schon die ganze Welt das Menetekel an der Wand lesen kann?" Vierundzwanzig Stunden in einem Luxus-Hotel in Berlin in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs. Draußen fallen Bomben, drinnen haben die Nazigrößen ihr halboffizielles Quartier eingerichtet. Aber auch andere Menschen unterschiedlichster Herkunft finden Zuflucht im Hotel, darunter eine bekannte Schauspielerin namens Lisa Dorn, eine schillernde Figur, Freundin diverser Generäle. Sie entdeckt zufällig, dass sich in ihrem Zimmer der weithin gesuchte Student Martin Richter verbirgt, der kurz vor seiner geplanten Hinrichtung aus den Fängen der Gestapo fliehen konnte. Statt ihn zu verraten, versteckt sie ihn, und während draußen die Welt untergeht, verlieben sich die beiden ineinander … Ein temporeicher Schicksalsroman, den man atemlos und mit Tränen in den Augen verschlingt.

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E-Book-Ausgabe 2021

© 1944 by Vicki Baum, renewed by Valentina Lert & Peter S. Lert

© 2018, 2021 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Aus dem amerikanischen Englisch von Grete Dupont

Covergestaltung Julie August unter Verwendung eines Aquarells von Lindegreen (Bildpostkarte um 1928)/akg-images. Reihenkonzept von Rainer Groothius. Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803142375

Auch in gedruckter Form erhältlich: 97 8 3 8031 2840 9

http://www.wagenbach.de/​

________ EINLEITUNG

Ich glaube, daß fast jeder Schriftsteller eine Geographie ganz persönlicher Art mit sich herumträgt, eine kleine Welt, in der Landschaften, Städte, Gärten, Häuser, Zimmer mit Wesen seiner eigenen Fantasie bevölkert sind. Über Wochen, Monate, Jahre hinweg verbringt der Schriftsteller sein Leben mit den Gestalten seiner Fantasie so an erdachten Schauplätzen, die er erst verlassen kann, wenn das Buch beendet ist.

Nun denn, vor fast zwanzig Jahren verbrachte ich einige Monate an einem solchen Ort meiner Fantasie, und ich taufte ihn ›Grand Hotel‹. Mein Hotel existierte nicht wirklich, es hatte nichts mit dem ›Adlon‹ oder dem ›Eden‹ zu tun, obwohl es ganz bestimmt in Berlin stand. Es war eine Mischung aus den europäischen Hotels, die ich kannte. Ich nannte mein Buch ›Menschen im Hotel‹, und späterhin wurde es als ›Grand Hotel‹ ein internationaler Erfolg. Man machte ein Theaterstück daraus, einen Film, und nebenbei war es auch der Anlaß meiner Auswanderung nach den Vereinigten Staaten im Jahre 1931, zu einer Zeit, da Hitler nichts war als ein fernes Wetterleuchten am Horizont.

Ich weiß nicht, wie andere Schriftsteller an die Arbeit gehen; für mich beginnt alles Schreiben mit einer Frage – einer Frage von der Hartnäckigkeit eines Bohrwurmes. Im Falle des vorliegenden Buches begann sich eine solche Frage um die Zeit in meinem Kopf festzusetzen, als die Alliierten in Sizilien landeten. Die Frage, die mich Tag und Nacht nicht in Ruhe ließ, war: Wie sieht es jetzt in Deutschland aus? Was denken, fühlen, fürchten und hoffen die Deutschen in einem Augenblick, da schon die ganze Welt das Menetekel an der Wand lesen kann? Mit anderen Worten: Was geht zu diesem Zeitpunkt in meinem ›Grand Hotel‹ vor?

Die Antwort darauf gab ich mir in diesem Buch, das damit also eigentlich der zweite Teil von ›Menschen im Hotel‹ ist. Wie zuvor war mir das Hotel mehr oder weniger das Symbol für einen Ort, wo alle möglichen Menschen einander begegnen, wo ihre Wege sich kreuzen und wieder trennen. Da es mir nicht möglich war, nach Deutschland zurückzukehren, wo ich ebensoviele Jahre gelebt hatte wie in meinem Geburtsland Österreich und in meiner neuen Wahlheimat, den Vereinigten Staaten, versetzte ich mich im Geist dorthin. Ich sammelte jedes Fetzchen Information, das ich mir über Deutschland verschaffen konnte; es ist überflüssig zu sagen, daß die meisten dieser Berichte auf verschlungenen Wegen zu mir kamen: durch Mitglieder verschiedener Widerstandsbewegungen; als Mitteilungen, die aus Deutschland herausgeschmuggelt wurden, in Briefen und Erzählungen deutscher Kriegsgefangener, in Gesprächen mit Menschen, die in Gestapokellern gefoltert, in Konzentrationslagern bis an den Rand des Todes gebracht worden und durch irgendein Wunder entkommen waren. Ich erinnerte mich all der Deutschen, die ich gut gekannt hatte, vom Diplomaten über den General bis zum Gassenjungen; ich verglich die trübselige Wahrheit der Lage Deutschlands mit der aufgeblasenen Propaganda und gedachte der hoffnungslosen Unwissenheit, in der das deutsche Volk gehalten wurde. All dies versuchte ich, in meinem Buch lebendig zu machen.

Es ist eine Handlung, die sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden entfaltet und die unaufhaltsam der Katastrophe entgegentreibt. Heute, nachdem alles sich so tragisch erfüllt hat, was damals nur eine Ahnung war, scheint es mir bemerkenswert, daß zu der Zeit, da ich das Buch schrieb, nämlich im Frühsommer 1943, noch nichts von all dem geschehen war, was ich in meinem Buch schildere. Die schweren Fliegerangriffe auf Berlin, die Verschwörung der Generäle, der ganze Zerfall mit dem schließlichen Zusammenbruch des Dritten Reiches kamen erst später – aber sie kamen. Die ganze Welt sah die Vorzeichen und wußte, daß es so kommen mußte, nur die Deutschen glaubten nicht daran.

Ich möchte ein paar Worte zitieren, die ich diesem Buch voranschickte, als ich es mitten im Krieg in New York veröffentlichte. Damals schrieb ich: »Wie sehr auch die Nazis die äußere Lebensform der Deutschen verändert haben mögen, ich weiß, daß die Menschen im Grunde die gleichen geblieben sind. Der Nationalcharakter eines Volkes ist stärker als jene Veränderungen, die sich unter dem Einfluß irgendeiner zeitweiligen politischen Macht an der Oberfläche zeigen mögen. Zwar ist das Dritte Reich mit seinem seltsamen Gemisch aus Organisation und mystischem Schwulst, aus Sentimentalität und rücksichtsloser Brutalität eine Ausgeburt des deutschen Charakters. Aber zu denken, daß der Feind ausschließlich bösartig sei, ein bocksfüßiger Teufel sozusagen, das wäre eine gefährliche Simplifizierung. Ich gestehe, daß ich diese Simplifizierung, die eine Flut falscher Rückschlüsse hinsichtlich der Deutschen bewirkte, müde bin. Ich bin der Ansicht, daß man auch in einem Krieg nicht vergessen darf, daß es Menschen sind, aus denen eine Nation besteht, und daß die Menschen überall auf der Welt einander gleichen. Ausschließlich schlechte Menschen sind ebenso selten wie ausschließlich gute, hier sowohl wie im Feindesland.

Das politische Klima des gegenwärtigen Deutschland ist anti-revolutionär. Ich glaube nicht, daß die Deutschen – ihrer Natur und Tradition nach eher gewöhnt, zu gehorchen als zu rebellieren – die Energie und Entschlossenheit aufbringen, die nötig ist, um die Naziherrschaft zu brechen. Die Alliierten werden das für sie tun müssen.«

Auch heute habe ich dem wenig hinzuzufügen, es sei denn, daß ich wünschte, die Deutschen wie ihre früheren Kriegsgegner würden einen klareren Unterschied zwischen Schuld und Verantwortung machen. Die Schuld am Krieg lag und liegt bei den deutschen Führern, die ohne jeden Grund die ganze Welt in dieses entsetzliche Elend stürzten. Aber die Verantwortung für den vernichtenden Ausgang dieses Krieges liegt beim deutschen Volk, das weder den Mut noch den Wunsch hatte, diese Führer abzusetzen, solange es noch Zeit dazu war. Und mein Buch will nichts weiter sein als ein kleiner, vielleicht sogar etwas getrübter Spiegel, in dem sich das Antlitz Deutschlands spiegelt, so wie es zwei Jahre vor Kriegsende aussah.

Vicki Baum

Los Angeles, September 1946

________ HOTEL BERLIN

Hotelportier Peter Schmidt zwängte eine Trittleiter in den engen Raum hinter dem Empfangstresen und machte sich daran, das Bild wieder aufzuhängen, das bei der ersten schwachen Erschütterung, die die Flakabwehr bewirkte, von der Wand gefallen war.

»Dat is schon das dritte Mal in vierzehn Tagen, dat er auf die Neese jefallen is«, meinte er, als er das Bild aufhob und mit dem Ärmel über das Glas wischte. Es handelte sich um ein offizielles, höchst schmeichelhaftes Porträt des Führers, auf dem das schäbige kleine Lächeln um den schlaffen Mund wegretuschiert war; der ordinären Nase hatte man edlere Linien verliehen, und die verschwommenen Augen in dem aufgedunsenen Gesicht waren von visionärem Feuer erfüllt. So populär war diese Ausgabe vom Antlitz des Führers in ganz Europa geworden, daß die Leute vergessen hatten, wie der Mann wirklich aussah. Aber das war schließlich ein Trick aller Diktatoren, von Cäsar angefangen über Napoleon … Schmidt betrachtete das Bild mit leichtem Widerwillen, kletterte auf seine kleine Leiter und begann nach einem Fleckchen zu suchen, wo sich der Nagel in die Wand schlagen ließ. »Nischt wie Löcher – der hält bestimmt keinen Luftangriff mehr aus«, brummte er. Er hielt ein paar krumme Nägel zwischen den Lippen, während er versuchte, einen Nagel geradezuhämmern. Neue Nägel waren schwer zu kriegen.

»Ausgeschlossen, daß sie heute nacht durchkommen! Gegen unsere fabelhaften neuen Flugzeugabwehrgeschütze? Vollkommen ausgeschlossen!« versicherte Hilfsempfangschef Ahlsen; er trug das Parteiabzeichen und entnahm seine Kenntnisse den Leitartikeln in Goebbels’ »Das Reich«. Herr Kliebert kam aus seinem Verschlag hinter der Glaswand, um Schmidt bei der Arbeit zu beaufsichtigen. Andere bei der Arbeit zu beaufsichtigen, darin war Herr Kliebert groß. Ehemals Bürgermeister einer kleinen Provinzstadt, war er in der Weimarer Republik in Pension gegangen und hatte späterhin den Aufstieg der Nazis verschüchtert und bestürzt beobachtet. Nun, da alle jüngeren Männer eingezogen waren, hatte man ihn hervorgeholt, ihn, samt seinem altmodischen Gehrock und der umständlichen Würde, und hatte ihn als höchst untüchtigen Empfangschef hinter den Tresen des Hotels gesteckt, das ganze Hotel wurde von alten Männern besorgt, von alten, kränklichen und invaliden Männern, untauglich für die männlich-hehre Aufgabe, den Krieg zu gewinnen. Schmidt war der einzige halbwegs junge, deshalb waren ihm die Pflichten derjenigen zugefallen, die draußen waren. Aber nun hatte auch er seine Vorladung zur militärärztlichen Untersuchung bekommen. Er hämmerte seine Wut gegen die Wand.

»Zu Lebzeiten meines seligen Vaters hatten se den ollen Bismarck hier hängen, und als ich Page im Hotel war, den Kaiser. Dann, nach dem vorigen Krieg, war das Bild von Hindenburg an der Reihe – na, und jetzt ham se Hitler. Bin bloß gespannt auf den nächsten!« brummte er.

Sieben Minuten vor acht hatten die Sirenen losgeheult; die Bevölkerung von Berlin hatte sich pflichtgetreu in die Keller oder Luftschutzbunker begeben, denn die Vorschriften waren streng, und Verstöße wurden mit hohen Geldstrafen geahndet. Die Hotelgäste hatte man in den Luftschutzkeller des Hotels gescheucht, dem man vergeblich versucht hatte, das Aussehen einer gemütlichen Ratsstube zu geben. Von ferne hörte man die Flak knattern, und es gab auch ein paar vereinzelte Explosionen, die klangen, als ob ein Riese in seiner Riesenkegelbahn »Alle Neune« schiebe. Die Fenster hatten geklirrt, und des Führers Bild war von der Wand gefallen: Das war alles gewesen. Wie immer während eines Fliegeralarms schien die Hotelhalle wunderlich düster und verlassen: die Lampen verdunkelt, der Rundfunk ausgeschaltet, das Telefon verstummt. Die Bank der Hotelpagen war leer. Eine strenge Vorschrift gebot, daß die Jungens sich während eines Alarms im Luftschutzbunker der Angestellten hinter dem Weinkeller aufzuhalten hatten; der Blumenladen war geschlossen, denn der dürftige Blumenvorrat war schon am frühen Nachmittag ausverkauft gewesen; und die ärmliche Witwe vor dem Zeitungsstand hatte ihren Posten in panischer Flucht verlassen. Überall in dieser Riesenhalle mit den prunkvollen Marmorpfeilern und dem vergoldeten Stuck lauerte der Verfall. Am Fahrstuhl hing ein Schild »Außer Betrieb«. Etliche Fensterscheiben waren seit dem letzten Luftangriff noch nicht wieder verglast, und man hatte sie provisorisch mit Brettern vernagelt. Manche der schweren Brokatvorhänge zeigten Risse, und aus einer Anzahl der tiefen, luxuriösen Sessel quoll die Füllung. Reparaturen waren in diesem kriegszerstörten Land, in dem sogar Nadel und Faden zu den Raritäten gehörten, zum Problem geworden. Der himbeerfarbene Teppich mit dem Ananasmuster war abgetreten und wies große Löcher auf; Herr Kliebert hatte den Versuch unternommen, diese Löcher mit Palmkübeln zu verdecken, aber nun waren die Palmen überall im Weg. Allerdings bestand die Hoffnung, daß dem Hotel bald Ersatzmaterial zugeteilt werden würde, da es in präsentablem Zustand gehalten werden sollte.

Unter den Nationalsozialisten war das Hotel nach und nach zu einem halboffiziellen Quartier der Regierung geworden; eine elegant ausgestattete Insel in der Misere des übrigen Deutschland. Hier lebte die Hitlerelite; hohe Regierungsbeamte, die sich während der Woche in Berlin aufhielten und nur über das Wochenende ihre Angehörigen auf den herrschaftlichen Gütern besuchten, welche sie mit ihrem allzu neuen Geld erstanden hatten. Schwerindustrielle, die aus ihren Maschinenburgen herausgebombt worden waren; Reiche und Privilegierte, die ihre komfortablen Villenviertel verlassen hatten, weil der Mangel an Automobilen ihre Heime nahezu unzugänglich machte, und die sich die exorbitanten Hotelpreise leisten konnten.

Hier war es, wo sich die Oberschicht des Dritten Reiches mit Auslandsvertretern traf, um sich mit diesen anzufreunden, sie zu beeinflussen, zu feilschen, zu handeln und zu bestechen. Hier war das Hauptquartier der Quislinge und ihrer Kompagnons; das Hauptquartier der großen und einflußreichen Bankiers und Industriellen, aber auch das der kleinen anrüchigen Agenten fremder Mächte. Hier war der Ort, wo Gerüchte entstanden und unterdrückt wurden, wo man Versprechungen machte und brach, wo man die Vertreter befreundeter Staaten einschüchterte und terrorisierte, wo man den Neutralen schmeichelte und sie zu Geschäften mit dem Dritten Reich überredete. Dieses alte, vornehme, erstklassige Hotel wurde von den Nazis als Schaufenster benutzt, in dem sie ihr neues Deutschland ausstellten; es war ein wichtiges Requisit ihrer Propaganda. Deshalb waren die Weinkeller wohlgefüllt mit den feinsten Weinen, während die Bevölkerung sogar ihre bescheidene Dünnbierration hatte aufgeben müssen. Deshalb wurde die Hotelküche noch immer mit Wildbret, Geflügel und Fisch versorgt, während die Jahre der Unterernährung das Volk zu Abfallsammlern gemacht hatten mit dem steten Drang, etwas zu erhaschen, auszugraben, zu erjagen, zu erstehlen; irgendwo irgend etwas Eßbares aufzutreiben. Ja, dieses Hotel und seine ausgediente Altherrenmannschaft, sie bewahrten Haltung, wenn auch der Teppich Löcher hatte und ein scharfer, bedrohlicher Wind durch die Stadt fegte …

»Sie wissen ja, was nach dem letzten Luftangriff los war«, sagte Schmidt, als er von seiner Leiter herunterkletterte. »Die Häuser wackelten derart, daß die Bilder vom Führer noch stundenlang danach aus den Fenstern geflogen kamen. Heil Hitler!«

Herr Kliebert gab vor, nichts gehört zu haben, und tauchte eiligst in seinem Verschlag unter. Aber Ahlsen bemerkte scharf: »Wenn Sie nicht lernen, die Schnauze zu halten, wird Sie eines schönen Tages einer anzeigen, und dann gute Nacht!« Schmidt folgte Ahlsens Blick auf einen untersetzten Mann in engem dunkelblauem Anzug, der neben einem der Marmorpfeiler nahe der Drehtür saß. Er las Zeitung und trank dabei zerstreut ein Glas Bier. Er gehörte zum Inventar des Hotels, war ein verhältnismäßig harmloses Mitglied der Gestapo, dieses tausendköpfigen Ungeheuers.

»Hinrichs? Ach nee –«, sagte Schmidt. »Der erzählt mir ja immer die neuesten Flüsterwitze. Prost, Hinrichs!«

»Prost«, erwiderte Hinrichs. Schmidt blieb mit seiner Leiter bei Hinrichs stehen, um sich mit ihm in eine kleine vertrauliche Unterhaltung einzulassen. »Sagense mal, Hinrichs, was geht denn eigentlich hier vor?«

»Wieso? Was soll denn vorgehen?«

»Na, Sie wissen schon, was ich meine. Das Polizeikommando, das hier überall herumschnüffelt. Sogar die Kohlen im Heizraum haben sie durchgewühlt.«

»Was Sie nicht sagen! Also, die sind wahrscheinlich hinter diesem Richter her. Jemand scheint da so ’ne Ahnung zu haben, daß er sich irgendwo hier im Block versteckt hält.«

»Donnerwetter noch mal! Haltense das für möglich?«

Hinrichs legte seine Zeitung beiseite, wischte sich mit dem Handrücken den Bierschaum vom Mund und lächelte wissend.

»Bei mir geht’s nicht um Ahnungen«, sagte er. »Bei mir geht’s um Tatsachen; und Tatsache ist, daß sich hier im Hotel nicht mal ein Floh verstecken kann. Jedenfalls so lange nicht, wie ich und meine Leute hier aufpassen.«

»Ganz meine Meinung, Hinrichs! Wo sollte sich denn ein entsprungener Sträfling hier auch verstecken?«

»Andererseits –«, meinte Hinrichs wichtigtuerisch, »andererseits muß man bedenken, daß dieses Gebäude der reine Karnickelbau ist und bis unters Dach vollgestopft mit verdächtigen Figuren. Da muß einer schon ziemlich helle sein, wenn er über alle die Fremden, die Tag und Nacht hier ein und aus gehen, die Kontrolle behalten will. Nehmen Sie nur mal die rumänische Militärkommission! Denen traue ich nicht, wenn’s auch Offiziere sind. Oder gar das ungarische Csárdásorchester! Wozu braucht das Hotel diese verdammte Zigeunerbande? Nur, um’s unsereinem doppelt schwer zu machen.«

»Das stimmt! Ein wahres Glück, daß wir ’nen Mann wie Sie zur Bewachung hier haben. Lassen Sie bloß mal so ’nen Kerl wie diesen Richter versuchen, sich hier zu verstecken – na, den würden Sie ja wohl bald bei die Hammelbeene kriegen, wie?«

»Nur immer mit der Ruhe! Den Kerl kriegen wir, wo immer er sich versteckt. Solche Landesverräter müssen ausgerottet werden.«

»Klar! Na, ich muß weitermachen. Heil Hitler«, sagte Schmidt, nur halb bei der Sache, und trottete davon, um die Trittleiter in die Gerätekammer ins Untergeschoß zu tragen.

»Haste schon gehört? Das ganze Haus ist voll mit SD. Die glauben, daß der Richter sich hier irgendwo versteckt hält«, berichtete er dem alten Elektriker, der an den zerrissenen Drahtseilen des Personalfahrstuhls herumbastelte.

»Hoffentlich kriegen sie ihn nicht«, antwortete der Alte ruhig. »Es heißt, der Richter war Frontsoldat und hatte vor Stalingrad gekämpft. Ist doch ’ne Schande, daß sie jetzt schon unsere Frontsoldaten hinrichten müssen, was?«

»Erst müssen sie’n mal kriegen«, sagte Schmidt. »Wenn sie’n nicht kriegen, können sie’n auch nicht hinrichten.«

Martin Richter: ein Name, an Mauern gekritzelt, im geheimen geflüstert; gefürchtet, verehrt. Eine Drohung für die einen; für die anderen ein Stern in schlafloser Nacht, ein Hoffnungsstrahl, ein Symbol. »Ihr könnt Richter töten – aber sein Geist wird fortleben«, stand an die Häuserwände geschrieben, an die Wagen der überfüllten Untergrundbahn, auf Parkbänke, Omnibusse, die Marmorsockel überflüssiger Denkmäler. Polizeipatrouillen übertünchten diese Wandschriften, und während der Nacht wurden Wachen an besonders exponierten Plätzen aufgestellt. Dennoch leuchtete es am nächsten Morgen von neuem von den Mauern: »Ihr könnt Richter töten – aber sein Geist wird fortleben.«

Die Vorübergehenden wagten nicht, stehenzubleiben, sie warfen nur rasche Seitenblicke aus verstörten Augen darauf und gingen weiter. Niemand wußte genau, wer dieser Martin Richter eigentlich war, denn die Behörden hatten Sorge getragen, daß alles, was ihn betraf, unterdrückt wurde. Trotzdem waren Gerüchte aufgekommen, wie sie in unterdrückten Ländern so üppig sprießen: An verschiedenen Universitäten war es zu Studentenunruhen gekommen; man hatte die Anführer verhaftet und versucht, sie mit Gewalt zum Reden zu bringen. Da die jungen Hitzköpfe sich weigerten, Näheres über ihre Organisation auszusagen, war den Behörden nichts anderes übriggeblieben, als sie zum Tod zu verurteilen. Sie waren alle geköpft worden. Alle, bis auf einen: Martin Richter. Ihm war es gelungen, bei der Überführung von einem Gefängnis zum anderen zu entkommen, und nun wurde das Hotel nach ihm durchsucht …

Als Schmidt von der Gerätekammer zurückkam, schlängelte er sich an den kleinen Tisch in der Ecke der Halle heran, wo Hotelarzt Dr.Hüningen dabei war, eine Patience zu legen. Zu seiner Seite stand auf einem Stuhl sein Notverbandkasten mit Beruhigungsmitteln, Morphium und Spritzen; falls es wirklich einmal ernst werden sollte …

»Haben Sie schon das Neueste gehört, Herr Doktor?« fragte Schmidt. »Die Polizei durchsucht das Hotel; sie glauben, daß der Richter sich irgendwo in unserem Block versteckt hält.«

»Das wäre idiotisch von ihm«, sagte Hüningen ohne großes Interesse. Schmidt trat von einem Fuß auf den anderen und seufzte.

»Na? Was gibt’s?« fragte der Arzt und schob seine Karten zusammen.

»Ach – bloß wegen meiner ärztlichen Untersuchung, Herr Doktor; ich hab’ doch meine Vorladung für morgen früh um acht«, sagte Schmidt.

»Gratuliere!« antwortete Dr.Hüningen. »Meine Einberufung kann auch jeden Tag kommen.« Im Knopfloch seines anspruchslosen Zivilanzuges trug er das Band des Eisernen Kreuzes aus dem Ersten Weltkrieg. Er hatte von damals ein steifes Bein zurückbehalten, hinkte und hegte einen nicht benennbaren, aber nichtsdestoweniger hartnäckigen Groll. Als Invalide war er bei der Musterung zurückgewiesen worden. Er war Pazifist, dieser Doktor Hüningen, allerdings ein halbherziger, der gern wieder dabeisein wollte …

»Hören Sie bloß auf, Herr Doktor, von wegen ›gratulieren‹! Ich hab’ noch die Neese voll vom Ersten Weltkrieg. Ich war dabei, ich kenn’ den Rummel – ich will nicht nach Rußland geschickt werden, damit sie Hackfleisch aus mir machen. Herr Doktor, glauben Sie mir, ich bin einfach untauglich. Ich hab’ doch die ganze Zeit so ’ne Stiche in der linken Seite, ich bin zu alt, um noch mal mitzumachen. Aber Sie wissen ja, wie’s immer geht: Gerade wenn ich bei der Untersuchung meine Stiche vorführen will, werden se weg sein. Herr Doktor …«

»Na – und?« machte Hüningen abweisend.

»Ich hatte gedacht, Sie können mir vielleicht was eingeben, Herr Doktor. Da gibt’s doch so ’ne Tropfen – ich kann einfach nicht noch mal Soldat sein, Herr Doktor, ich hab’s satt, ich könnt’s nicht aushalten. Manchmal bin ich so müde und kaputt, daß ich reineweg heulen könnte –«

Es klang verzweifelt. Alles Neurotiker, das ganze verdammte Herrenvolk, dachte der Arzt.

»Tut mir leid«, sagte er. »Nichts zu machen, mein Lieber. Von mir werden Sie kein Digitalis bekommen und keine Koffein-Einspritzungen, damit’s ordentlich Stiche in der Herzgrube gibt. Das ist nun mal Ihr Krieg, und Sie haben die Geschichte mit auszufressen. Sind Sie etwa nicht einer von denen, die jahrelang Heil Hitler! geschrien haben? Ihr wart ja so zum Platzen voll mit Kraft durch Freude! Erinnern Sie sich noch an die herrliche Rheinfahrt, von der Sie mir erzählt haben? Jetzt wird Ihnen die Rechnung für jene Reise präsentiert, und Sie müssen zahlen.«

»Ja – aber das war ganz was anderes –«

»Natürlich war es ganz was anderes! Es ist immer ganz was anderes, wenn man selber derjenige ist, auf den geschossen wird.« Der Arzt ließ die Karten durch die Finger gleiten und blickte nach der Drehtür hin, in der soeben eine merkwürdige Erscheinung auftauchte. Es war eine alte Frau, die sich in zu großen Männerstiefeln fortbewegte; sie trug eine zerfetzte Uniform und auf dem Kopf einen Helm, wie ihn die Luftschutzwarte benutzten. Mit automatischen Bewegungen schlurrte sie bis zum Empfangstresen, legte einen Stoß Telegramme darauf nieder und hielt Herrn Kliebert einen Block zum Unterschreiben hin.

»Was gibt’s Neues?« rief Schmidt ihr zu.

»Es heißt, daß die Tommies über der Lüneburger Heide zurückgejagt worden sind. Wir haben zwanzig oder dreißig von ihren Bombern abgeschossen. In New York ist Revolution ausgebrochen. Die Russen haben gestern achtzigtausend Mann verloren. Und den Richter haben sie noch nicht erwischt«, vermeldete die Frau völlig apathisch. Und, nachdem sie ihre Neuigkeiten mit ausdrucksloser Totengräbermiene abgeliefert hatte, setzte sie sich mit ihren großen Soldatenstiefeln wieder in Bewegung und verschwand. Doktor Hüningen stand auf und streckte sein steifes Bein. Er marschierte den roten Pfeilen nach, die den Weg zum Luftschutzkeller wiesen, und gelangte so auf Umwegen zum Empfangstresen.

»Telegramm für mich?« fragte er.

»Leider nichts dabei, Herr Doktor«, erwiderte Ahlsen und schneuzte in sein schmuddliges Taschentuch.

»Ich erwarte meine Einberufung«, bemerkte Hüningen. »Das Telegramm muß jeden Augenblick eintreffen.«

»Jawohl, Herr Doktor.«

»Vergessen Sie nicht, mich sofort zu benachrichtigen, wenn es da ist«, sagte der Arzt und kehrte zu seinem Tisch zurück. Die Pique-Dame starrte ihn mit fadem Lächeln an. Warum liegt mir eigentlich so viel an diesem Telegramm? fragte er sich und zuckte statt einer Antwort ironisch die mageren Schultern. Ich habe ja den anderen Krieg mitgemacht; ich kenne ja schließlich den Betrieb, und, weiß Gott, das alles geht mir gegen den Strich. Aber, du lieber Himmel, man möchte doch dabeisein! Was immer sich dagegen sagen läßt: Es wäre wenigstens ein anständiger Abgang; besser jedenfalls, als in dieser gottverlassenen Hotelhalle zu sitzen, Patience zu legen und darauf zu warten, daß eine Bombe einschlägt. Während er dies dachte, konnte er den süßlich-faulen Gestank eines Feldlazaretts riechen und wurde zu einem Teil des hektischen, aufreibenden Betriebs. Er spürte wieder den Schweiß, der ihm beim Operieren über das Gesicht rann, und hörte die Granaten pfeifen – und seine Kameraden waren um ihn, er war nicht allein, sein Bein war nicht steif, er war kein Krüppel …

»Nanu – was ist denn das?« fragte er sich, als er seinen Blick in Richtung der abgedunkelten Drehtür wandern ließ. Es hatte ja noch keine Entwarnung gegeben. Daher mußte man sich wundern, daß ein Gast von der menschenleeren Straße hereinkam. Der junge Flieger, den die Drehtür ausspuckte, schien es sehr eilig zu haben. Den Alarm hatte er wohl überhaupt nicht bemerkt. Er marschierte auf den Empfangstresen ein bißchen zu steif zu, so, als wäre er etwas betrunken.

»Zimmer mit Bad – und erzählen Sie mir nicht, daß es kein warmes Wasser gibt«, sagte er zu Ahlsen. Er war sehr jung, mittelgroß, und seine Taille war so schmal wie die eines jungen Mädchens. Was die Aufmerksamkeit des Arztes fesselte, war das Gesicht; mit den kindlich-unfertigen Zügen hätte es als hübsch gelten können, wären nicht die Augenbrauen und Wimpern abgesengt und die linke Wange sowie das Kinn mit einer weißen Salbe bedeckt gewesen. Das gab dem Gesicht eine geradezu obszöne Nacktheit. Die Augen waren wie auf Hochglanz poliert und wirkten trotzdem leer. Sie erinnerten an die milchigfarbenen Glasmurmeln eines kleinen Jungen. Mit den Handschuhen, die er in seiner linken Hand hielt, schlug der junge Flieger ungeduldig gegen seinen Stiefel; um die rechte war ein schlampiger Verband gewickelt.

»Bedaure außerordentlich, Herr Oberleutnant«, sagte Ahlsen. »Aber leider Gottes sind alle Zimmer vergeben. In ganz Berlin ist kein Hotelzimmer mehr zu haben, besonders jetzt, da die Ausgebombten von der Ruhr zu uns kommen –«

»Faule Ausreden!« sagte der Flieger, lehnte sich über den Tresen und streckte sein mit Brandwunden bedecktes Kinn gegen Ahlsens graues, verbindliches Gesicht vor. »Ich verlange ein Zimmer mit Bad, verstanden? Ich bin Oberleutnant Otto Kauders, falls Sie sich meiner nicht erinnern sollten. Nun aber dalli!«

Oberleutnant Otto Kauders war in den Zeitungen im Zusammenhang mit dem Abschuß einer ungewöhnlichen Anzahl feindlicher Flugzeuge rühmend erwähnt worden. Er hatte das Ritterkreuz erhalten.

»Jawohl, Herr Oberleutnant, werde mein Äußerstes versuchen, Herr Oberleutnant«, sagte Ahlsen eingeschüchtert.

Nun kam auch Herr Kliebert mit vielen gemurmelten Begrüßungsworten aus seinem Verschlag hervor. Portier Schmidt aber mit seinem unfehlbaren Gedächtnis hatte eine Erleuchtung: »Das letztemal haben Herr Oberleutnant Nummer 36 im dritten Stock gehabt. Jetzt wohnt Monsieur Rougier dort, aber den könnten wir schließlich in den Affenkäfig im fünften stecken …«

Jeder Stock besaß ein mieses Zimmer, eingezwängt zwischen dem Fahrstuhl auf der einen und der Herrentoilette auf der anderen Seite. Im Hotel hießen diese Zimmer bloß »die Affenkäfige«. Was nun Monsieur Rougier anbetraf – so war er ein kleiner Mann, dessen Nationalität nicht bekannt war und der zwischen den Balkanstaaten, Berlin und Paris hin und her reiste und für einflußreiche Leute anrüchige Geschäfte abwickelte, für die er hohe Provisionen einsteckte. Es bestand keinerlei Anlaß, Monsieur Rougier mit Glacéhandschuhen anzufassen.

»Na also – so gehört sich’s«, sagte Kauders, einigermaßen besänftigt, als Ahlsen ihm den Schlüssel aushändigte und Schmidt den Handkoffer aufhob. Kauders blickte mit seinen verglasten hellen Augen um sich und pfiff einmal laut und hoch durch die Zähne. »Menschenskinder – hier ist ja überhaupt kein Betrieb«, sagte er. »Was ist denn los? Hier ist es ja so tot wie im Grab vom ollen Tutenchamon!«

»Infolge des Fliegeralarms –«, erklärte Ahlsen.

»Infolge von was?«

»Fliegeralarm, Luftangriff, Herr Oberleutnant.«

Kauders sperrte den Mund auf, warf sich über den Tresen und begann zu lachen. Der Arzt verließ seinen Winkel, nachdem er im stillen die Verfassung des jungen Fliegers abgeschätzt hatte, und kam auf den Tresen zu. Schock, dachte er; die Nerven total heruntergewirtschaftet, weiß es aber nicht. Sie wissen es nie. Die Helden.

»Luftangriff!« brüllte Kauders, und sein Lachen klang fast wie ein Schluchzen. »Also das nennt man in Berlin einen Luftangriff! Bitte, packt mir doch euern Luftangriff in rosa Seidenpapier mit himmelblauem Bändchen; ich möchte ihn mitnehmen und vorzeigen, wenn ich dahin zurückkehre, von wo ich gerade herkomme.«

»Von wo kommen Sie denn, Herr Oberleutnant?« fragte Kliebert respektvoll.

»Das geht Sie ’nen Dreck an, Ollerchen«, sagte der Flieger und lachte nicht mehr. »Eines kann ich Ihnen sagen: Wo ich herkomme, da haben wir Luftangriffe, die wirklich Luftangriffe sind!«

»Es ist kein Luftangriff, Herr Oberleutnant – nur Alarm«, sagte Ahlsen. »Heute haben wir sie zurückgeschlagen.«

»Ihr? Ihr habt sie zurückgeschlagen?« fragte Kauders unhöflich. »Ist die Bar offen?« wollte er sodann von Schmidt wissen. »Gibt’s denn keine Mädels in dieser Absteige? Da war doch eine – Sie wissen schon, welche ich meine – Name ist mir entfallen – so ein ausgelassenes Luderchen, blond, aber oho«, sagte Kauders und malte ein paar ausdrucksvolle Kurven in die Luft.

»Herr Oberleutnant meinen das Fräulein Tilli«, sagte Schmidt; es klang, als hätte Kauders ihm ein Paßfoto der Dame vorgelegt. »Aber gewiß, Herr Oberleutnant, Fräulein Tilli wird gleich hier sein, wenn sie alle vom Luftschutzkeller heraufkommen.«

»Tilli – ganz recht! Großartiges Mädel! Wir haben uns nicht schlecht amüsiert, als ich das letztemal auf Urlaub hier war.« Beim Gestikulieren schlug er mit der verbundenen Hand gegen die Kante des Tresens. »Verdammter Mist«, fluchte er und starrte die schmerzende Stelle an. Doktor Hüningen war inzwischen beim Tresen angelangt. »Bitte, lassen Sie mich das mal sehn, Herr Oberleutnant«, sagte er. »Ihr Verband ist aufgegangen. Ich bin der Hotelarzt. Tut das weh?«

»Nicht im geringsten«, erwiderte der Flieger, aber er wurde bleich unter seiner Sonnenbräune, als der Arzt den Verband von der Brandwunde löste.

»Soll ich Ihnen ein Schlafpulver für heute nacht geben?«

»Zum Teufel mit Ihren Schlafmittelchen! Zum Schlafen habe ich keine Zeit. Drei Tage Urlaub. Mensch, Doktor, das ist nicht lange. Heiliger Vater im Himmel«, sagte er und sah plötzlich aus wie ein hungriger kleiner Junge, »diese drei Tage will ich leben und genießen, nicht schlafen.«

»Sind Sie denn nicht müde?« fragte der Arzt, während seine Finger unauffällig den Puls des jungen Helden fühlten; er ging unregelmäßig: tack, tack, tack, Tchk.

»Selbstverständlich bin ich müde. Alle sind müde, wenigstens alle, die ich kenne. Hören Sie, Doktor, ich brauche keine Beruhigungsmittel. Was ich brauche, ist etwas, damit ich aufgekratzt werde. Pervitin oder so was. Meine Ration habe ich aufgebraucht.«

»Tja, also –«, sagte der Doktor unschlüssig. Man gab diesen jungen Menschen Pervitin, Benzedrin, alle möglichen Aufputschmittel, um sie wach und angriffslustig zu halten. Nachher kamen dann die Depressionen, die Gefühle der Niedergeschlagenheit, der Katzenjammer, die bodenlose Erschöpfung. Aber schließlich, es ist nicht meine Sache, dem Jungen die drei Tage Urlaub zu verderben, dachte der Arzt. Er drückte ihm ein paar weiße Pillen in die gesunde Hand. Plötzlich gab sich Kauders einen Ruck. Die Linke an der Hosennaht, Hacken zusammengeschlagen, die Augen geradeaus, grüßte er unbeholfen mit der Rechten. Denn von der Treppe her näherte sich die imponierende Gestalt des Generals Arnim von Dahnwitz, des Siegers von Charkow.

Der General hatte die straffe Haltung eines wohltrainierten Sportsmannes, was ihn größer erscheinen ließ, als er tatsächlich war. Sein Kopf war glattrasiert, und sein Gesicht war von Linien durchfurcht, wirkte aber irgendwie alterslos. Der General trug die beiden höchsten Auszeichnungen, die sein Vaterland zu vergeben hatte: den Pour le Merite des Ersten Weltkrieges und Hitlers Ritterkreuz mit Eichenlaub und Schwertern. Bei jedem Schritt, den er tat, klimperten die Orden. In seiner rechten Augenhöhle saß das Monokel so selbstverständlich arrogant, als wäre es ein Teil seines Gesichtes. Neidvoll starrte Kauders darauf. Im stillen hatte auch er versucht, ein Monokel zu tragen, aber es paßte nicht zu der plebejischen Form seines Schädels. Was den General betraf, so war ihm das Monokel neuerdings recht beschwerlich geworden. Seit er die Fünfzig überschritten hatte, fingen seine Augen an, ihm Schwierigkeiten zu machen. Die Tatsache, daß er die Welt durch ein Auge sah, dessen Sehkraft durch das Monokel verstärkt wurde, während dem andern alles verschwommen und undeutlich erschien, verursachte ihm gelegentliche Kopfschmerzen und übermittelte ihm ein verzerrtes Bild der Dinge. Aber nur in der Zurückgezogenheit seines eigenen Zimmers, wenn nicht einmal sein Adjutant zugegen war, gestattete sich der General die zuchtlose Bequemlichkeit einer Brille. Eine Brille in der Öffentlichkeit zu tragen, wäre, seiner Ansicht nach, ebenso unmöglich gewesen, wie in Galauniform mit Pantoffeln herumzuschlurfen. Daß sich der General die Erleichterung einer Brille versagte, war nur ein kleines Symptom seines täglichen Kampfes um jene undefinierbare preußische Haltung. Nicht lockerlassen. Nicht einmal sich selbst zugeben, daß man ein nicht mehr junger, reichlich müder Mann war …

»Ist Fräulein Dorn noch nicht vom Theater zurück?« fragte der General mit einer überraschend sanften Stimme, und Herr Kliebert, Ahlsen beiseite schiebend, versicherte eifrigst, daß Fräulein Dorn noch nicht zurückgekehrt sei, daß sie aller Wahrscheinlichkeit nach durch den Alarm aufgehalten worden sei und daß er seine Exzellenz sofort benachrichtigen würde, sobald Fräulein Dorn käme.

»Danke, danke; sehr nett von Ihnen«, sagte der General liebenswürdig. »Aber sagen Sie ihr bitte nicht, daß ich hier bin. Soll ’ne Überraschung sein, verstanden?«

Des Generals Liebenswürdigkeit war sprichwörtlich in der Armee – von jenen Momenten abgesehen, wenn einer seiner schwarzen Wutanfälle über ihn kam, Wutanfälle, die ihn und sämtliche Zeugen allemal schwach und zitternd zurückließen. »Das ist das Tatarenblut in ihm«, pflegte seine Mutter zu sagen, wobei sie sich auf die Heirat eines gewissen Joachim von Dahnwitz bezog, der von 1765 bis 1772 Gesandter am russischen Hof gewesen war und auf das Dahnwitzsche Majorat Elgede bei Hannover mit einer Russin als Frau zurückkehrte. Tatsächlich hatte der rundlich geformte Schädel des Generals etwas Mongolisches, ebenso wie seine leicht schräg gestellten Augen, sein sinnliches Vergnügen an hübschen Frauen, seine Leidenschaft für Pferde und die dunklen Stürme seiner Wutausbrüche; aber das Tatarische war an die Kandare gelegt durch das Erbe seiner norddeutschen Ahnen, durch die Gesetze seiner Kaste und die unbeugsame Disziplin seiner Erziehung.

Als er sich vom Tresen umwandte, entdeckte der General den jungen Flieger, der noch immer in strammer Haltung dastand. »Schon gut, Herr Oberleutnant«, sagte er. Kauders nahm eine respektvoll entspannte Haltung an und nannte Namen, Rang und Truppenteil.

»Jagdstaffel Lützow? Da haben Sie wohl meinen Sohn gekannt, den Hauptmann von Dahnwitz?« fragte der General. Worauf Kauders erwiderte, daß er den Herrn Hauptmann gekannt, ja, in der Tat die Ehre gehabt habe, ein paar Beobachtungsflüge in Hauptmann von Dahnwitz’ Staffel mitzufliegen. Nichtsdestoweniger war er etwas erstaunt über die Frage des Generals. Es war nicht üblich, tote Flieger zu erwähnen, und er wunderte sich, daß der General die Regel durchbrochen hatte.

»Ja, Arnim war ein braver Junge. Nun, er hat seine Pflicht fürs Vaterland getan«, sagte der General. »Ich sehe, Sie sind verwundet?«

»Jawohl, Herr General. Nichts Besonderes. Nur ein paar kleine Blasen, Herr General.«

»Und wo haben Sie sich diese Blasen zugezogen?«

»Über Mühlheim, Herr General. Als meine Kiste Feuer fing und ich aussteigen mußte«, entgegnete Kauders, und während er es aussprach, begann die ganze gräßliche Geschichte wieder vor seinen Augen abzurollen wie ein Film. Er flog durch das Netzwerk der Leuchtspurgeschosse, hart am Heck der viermotorigen Lancaster; er gab dem großen Biest eine ordentliche Ladung zwischen die Rippen, und der Heckschütze gab es ihm zurück; zing, zing, zing sangen die Geschosse, als sie seine Maschine durchschlugen. Es wurde rasch heiß und immer heißer, der Fahrtwind trieb die Flammen von der rechten Tragfläche in den Führerstand, und er dachte: diesmal hat’s mich erwischt. Plötzlich war er starr vor Angst, und er brauchte eine Ewigkeit, um den Sicherheitsgurt loszuschnallen, während die heißen, weißen, glühenden Flammen ihm schon ins Gesicht züngelten … Er sprang – oder vielmehr, er glaubte, zu springen, aber seine Füße blieben in der Luke hängen, und er dachte: Jetzt ist alles aus. Dann folgte eine Ewigkeit trächtiger Angst, die ihm übel machte. Er riß sich los und stürzte hinaus in die bodenlose Hölle von Flakgeschossen und kämpfenden, donnernden, brennenden Flugzeugen.

»Ach ja, Mühlheim«, sagte der General. »Und wie sieht’s da draußen aus?« Er sagte »da draußen«, als ob der Westen Deutschlands ein anderes Land sei. Kauders riß sich zusammen.

»Ausgezeichnet, Herr General. Unsere PW-190 S mit den 20-mm-Geschützen schlagen alles, was die Tommies herüberschicken. Sie haben große Verluste erlitten. Erst gestern holten wir zwölf von ihren Lancastern runter. Wenn wir so weitermachen, kann’s der Engländer nicht mehr lang aushalten.«

»Gewiß, gewiß –«, sagte der General abwesend. Er hielt seinen Blick auf die Drehtür geheftet, durch die Lisa Dorn nun jeden Augenblick hereinkommen mußte. In der Ungeduld, mit der er sie erwartete, einer süßen, bohrenden, beinahe schmerzhaften Ungeduld, fühlte er sich wieder jung.

»Herr Major Kant hat uns versprochen, daß wir bald die neuen ME-109 G-28 fliegen dürfen; das bedeutet das Ende für die Tommies. Ein 20-mm-Geschütz, das durch den Propeller feuert, Herr General, dazu zwei 7-9mm über dem Motor, und, wenn’s nötig ist, noch ein 20mm unter jeder Tragfläche, Herr General! Wenn wir bloß genug von denen kriegen könnten –«

»Sie werden sie kriegen – bestimmt«, sagte der General zerstreut. »Und da haben wir die Sirene, der Alarm ist vorbei. Hals- und Beinbruch, Oberleutnant Kauders.«

Mit einem Male begann die Hotelhalle sich zu beleben und wurde wieder zu einem strahlenden, eleganten Mittelpunkt. Die Lichter waren angegangen, plaudernd und lachend strömten die Menschen von den Luftschutzkellern zurück. Telefone klingelten, das Radio spielte den Einzugsmarsch aus »Tannhäuser«, die Hotelpagen in ihren unpraktischen himmelblauen Uniformen flitzten durch die Halle, und um den Empfangstresen war ein Summen von Geschäftigkeit. Das Schild »Geschlossen« verschwand vom Eingang der Bar. Die hohen Doppeltüren öffneten sich, um eine Herde durstiger Gäste einzulassen. Es wimmelte von Uniformen jeglicher Art – da war nicht nur das Graugrün der Deutschen, es gab französische, italienische und sogar spanische Uniformen zu sehen, gar nicht zu reden von den operettenhaften überladenen Waffenröcken der rumänischen Militärkommission. Zum großen Teil bestand die Menschenmenge aus Mitgliedern der Handelskommission der europäischen Zentralmächte, denen zu Ehren an diesem Abend ein Bankett stattfand. Auch Damen gehörten dazu; manche bildhübsch und elegant, andere schwerfällig und häßlich, der Stempel »Hausfrau« unauslöschlich ihrer ganzen Erscheinung aufgeprägt. Die fetteste, lauteste und am meisten aufgetakelte von allen war Frau Plottke, Gattin des Gauleiters Heinrich Plottke. Der Gauleiter selbst, ein höchst unsympathischer Mensch, dessen Haare, Augen und Sommersprossen die gleiche bräunliche Rostfarbe aufwiesen und dessen weiches, schlappes Fleisch in eine enge braune SA-Uniform gezwängt war, hielt den Minheer Vanderstraaten, von der Vanderstraaten Kommerzbank in Amsterdam, in einer Ecke im Gespräch fest. Plottke machte sich nichts aus seiner Frau. Niemand machte sich etwas aus ihr. Aber sie gehörte zur alten Garde, die den Führer kriecherisch bewunderte – zu den hysterischen Weibern, die von den Parteihengsten die »Krampfaderbrigade« genannt wurden. Sie erfreute sich der Wertschätzung des Führers – und das war Grund genug, mit ihr verheiratet zu sein.

»Bleibst du heute nacht in der Stadt?« fragte Gestapokommissar Joachim Helm im Vorübergehen den Gauleiter; er war ein kahler, langbeiniger, sanftmütiger Mann mit dünnen Lippen und einem festgefrorenen Lächeln im länglichen Gesicht, das niemals die Augen erreichte.

»Ich hatte vor, nach Ruppertshof rauszufahren und mich ein paar Tage auszuruhen. Warum?«

»Ich würde dir empfehlen, in Berlin zu bleiben. Morgen früh um elf Uhr fünfzehn möchte ich dich in meinem Büro sprechen.«

Seit wann erteilst du mir Befehle? dachte Plottke verärgert, aber er hatte nicht die Courage, es auszusprechen. Helm lächelte geringschätzig in das wütende Gesicht des Gauleiters und ließ diesen stehen, um auf Baron von Stetten zuzugehen.

»Hören Sie, Stetten, wenn Sie die Affäre Dahnwitz diskret für uns erledigen, denke ich, daß ich einigen Druck auf Plottke ausüben könnte«, sagte er leichthin. Stetten sah an ihm vorbei, als er antwortete: »Besten Dank. Ich wünschte bloß, der General wäre nicht gerade jetzt von der Front gekommen. Es wird ziemlich schwierig sein, kein Aufsehen zu machen. Überhaupt – warum muß ich immer derjenige sein, der die Kastanien für euch aus dem Feuer holt?«

Baron von Stetten, schlank und elegant in der grauen Uniform mit den weißen Aufschlägen des Ministeriums des Äußeren, war der offizielle Gastgeber des Abends. Er war in der Abteilung W des AA verantwortlich für den Ablauf des Empfangs, und es war wirklich Pech, daß der Fliegeralarm dazwischengekommen war. Eine Unterbrechung dieser Art mußte einen schlechten Eindruck auf die Gäste machen – gerade, wenn es darauf ankam, Vertreter der neutralen Mächte, der Alliierten Deutschlands und der übrigen Satelliten des Dritten Reiches günstig zu beeinflussen. Stetten, ein gewandter Diplomat alter Schule, war bald hier, bald dort zu sehen. Einige Momente mit dem türkischen Professor der Ökonomie Mazhar Cevdet Onat ins Gespräch vertieft, im nächsten Augenblick in eifriger Konversation mit Herrn Dahlin, Repräsentant der schwedischen Bolander-Minen; er hörte zu, was Minheer Vanderstraaten zu sagen hatte, und lachte mit Major Philippescu von der rumänischen Militärkommission über einen angestaubten Balkanwitz. Geschickt versuchte er überall, den Boden für die kommenden wichtigen Sitzungen vorzubereiten. Da halste man ihm nun auch noch diese höchst peinliche Affäre Dahnwitz auf. Er fing einen ironischen Blick Kommissar Helms auf.

»Dahnwitz behauptet, Zahnschmerzen zu haben; ich nehme an, daß er sich hier sicherer fühlt als im Hauptquartier«, sagte der Kommissar.

»Man kann auch an Zahnschmerzen sterben …«, erwiderte Stetten.

»Stimmt; besonders Generäle, die in Ungnade gefallen sind«, erwiderte Helm. In einem Wandspiegel sah er, daß Plottke hinter ihn getreten war, um die Unterhaltung mit anzuhören. Ohne sich umzudrehen und lauter fügte er hinzu: »Sogar Gauleiter kann’s von einem Tag zum anderen erwischen.« Damit wandte er sich ab und ging zum Fuß der Treppe, wo ein SS-Mann Haltung annahm und flüsternd Meldung machte.

Von Stetten, auf der Suche nach dem General, fand diesen schließlich an den Empfangstresen gelehnt und die Augen auf die Drehtür gerichtet.

»Ach, da bist du ja, Dahnwitz. Ich habe dich überall gesucht. Was machen die Zahnschmerzen?«

»Danke. Fischer hat mir den Abszeß heute nachmittag geöffnet – meinte, daß es höchste Zeit gewesen sei. Es scheint, daß unser Zahnarzt im Hauptquartier die Sache von A bis Z verpatzt hat. Geradezu lächerlich, daß man deswegen von der Front weg muß, aber andererseits – Generäle mit Zahnweh gewinnen keine Schlachten.«

»Napoleon hat’s geschafft –«, sagte Plottke hinzutretend und wie immer der Elefant im Porzellanladen.

»Also vergiß nicht, daß ich dich unbedingt nach dem Empfang noch sprechen muß«, sagte Stetten zu Dahnwitz und eilte davon, um seine Gäste in den Bankettsaal zurückzulotsen.

Monsieur Rougier bemühte sich, den Blick des Gauleiters auf sich zu ziehen, aber Plottke lag nichts daran, mit dem dubiosen Burschen in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Zäh wie Lava begann die Menge, in Richtung des Bankettsaales zu strömen. »Den letzten statistischen Berichten zufolge ist der Gesundheitszustand unseres Volkes noch nie so gut gewesen«, hörte man den Gauleiter sagen. »Denken Sie nur, meine Liebe, ich habe einen kleinen Händler entdeckt, der noch echte Seidenstrümpfe verkauft! Nur fünfundsiebzig Mark das Paar«, flüsterte Frau Plottke Frau Helm ins Ohr. »Ganz zu schweigen von unseren Erfolgen an der Ostfront –«, bemerkte von Stetten im Gespräch mit Dahlin. »In London ist die dänische Goldanleihe letzte Woche um fünfeinhalb Prozent gestiegen«, meinte Rougier zu Vanderstraaten, der dies ohnehin wußte und daraus bereits seine Schlüsse gezogen hatte. »Jawohl –«, entgegnete er denn auch, »und in der Schweiz ist die Reichsmark um sieben Punkte gefallen –«

»Eine schöne Suppe hast du uns da eingebrockt mit deiner Rede in Leipzig«, ging Helm ohne Umschweife Plottke an. »Studentenunruhen. Das hat uns gerade noch gefehlt. Als ob wir nicht schon genug Unannehmlichkeiten hätten!«

»Wenn die Gestapo tüchtiger wäre, gäbe es keine Studentenunruhen; es ist geradezu ein Skandal! Flugzettel, Broschüren, Tumulte; wenn wir diesen Grünschnäbeln nicht die eiserne Faust zeigen, solange es noch Zeit ist, werden sie uns in den Rücken fallen. Hätte ich etwas zu sagen in eurer Gestapo –«

»Aber du hast es nicht, mein Lieber. Dank sei Gott dafür und unserem Führer.«

Offener Haß loderte zwischen diesen beiden Exponenten des Reiches auf.

»Du wirst auch noch mal vom hohen Roß runtermüssen«, giftete Plottke.

»Möglich – aber nach dir, lange nach dir, Goldfasan«, lautete Helms Retourkutsche.

Aus dem Radio kam ein Fanfarenstoß. Die eindringliche Stimme des Radioansagers forderte die Aufmerksamkeit für einen Sonderbericht. Die Gäste hielten auf ihrem Weg zum Bankettsaal inne. Alle Gespräche verstummten. Die Hotelpagen erstarrten auf ihren Plätzen, und der französische Kellner Gaston, der ein Tablett mit Flaschen und Gläsern über seinem Kopf balancierte, stand so reglos, als sei er eine Figur in einem Film, den man angehalten hatte.

»Achtung! Achtung! Sie hören einen Sonderbericht des Oberkommandos der Wehrmacht«, tönte es schneidig aus dem Radio. »Von der Ostfront wird gemeldet, daß unsere siegreichen Truppen während der fünftägigen Offensive vor Kiew 1 197 russische Flugzeuge sowie 1 709 Panzer zerstört oder erbeutet haben; unsere eigenen Verluste belaufen sich auf 54 Flugzeuge und 26 Panzer. Die russischen Verluste an Toten, Verwundeten und Gefangenen sind enorm; sie betragen über 35000 Mann. Es kann mit Sicherheit gesagt werden, daß sämtliche russischen Panzereinheiten einschließlich ihrer Reserven in diesem Abschnitt vernichtet und die russischen Luftstreitkräfte aufgerieben wurden. Damit wurde jeglicher Versuch zum Gegenangriff im Keime erstickt.«

Alle hörten in strammer Haltung, aber mit apathischem Gesichtsausdruck zu. Natürlich gab es Ausnahmen; Gauleiter Plottke zum Beispiel lauschte in ostentativer Hingerissenheit, Hilfsempfangschef Ahlsen hielt sein Kinn drohend vorgestreckt, und aus seinen Augen leuchtete der unerschütterliche Glaube an das Dritte Reich. Auch einige der ausländischen Gäste stellten Begeisterung zur Schau. Zum Schluß des Kommuniqués ertönte ein neuerlicher Fanfarenstoß, worauf das Horst-Wessel-Lied folgte. Die Arme flogen zum Hitlergruß in die Höhe, die Köpfe wandten sich automatisch dem Bild des Führers zu, und das Stakkato eines dreimaligen Sieg-Heil, Sieg-Heil, Sieg-Heil schallte durch die Halle. Im Radio war jetzt »Deutschland, Deutschland über alles« zu hören. Die Anwesenden lauschten, respektvoll und zugleich mit einem gewissen Unbehagen, wie Nationalhymnen überall auf der Welt aufgenommen werden. In diesem Augenblick, da die Menschen in der Halle erstarrt wie ein Operettenchor zum Aktschluß dastanden, geschah es, daß Lisa Dorn durch die Drehtür hereingeweht kam.

Sie war sehr jung und bezaubernd hübsch. Kein Wunder, daß die Männer überall im Land in sie verliebt waren. Ihre Stirn war glatt, zierlich gewölbt und die blonden Augenbrauen, die immer etwas wie Verwunderung ausdrückten, lagen weit auseinander. Ihr Haar, das zu einer kleinen Krone hochgesteckt war, hatte die Farbe von frisch gefälltem Fichtenholz; auch die Wimpern waren sehr hell; es war ein Gesicht, wie es die niederrheinischen Meister des fünfzehnten Jahrhunderts ihren kindlichen und zugleich kapriziösen Madonnen zu verleihen pflegten. Auch Lisas Körper war zierlich und wirkte nahezu gewichtslos, was sie wie ein vom Winde dahergewehtes Blatt erscheinen ließ. Als gute Schauspielerin, die sie war, war sie sich durchaus ihrer Wirkung bewußt, und sie nutzte ihr Können geschickt, um weitere Effekte zu erzielen. In diesem Moment wurde ihre Zartheit noch betont durch den mächtigen Körper und das große, schwere Löwenhaupt ihres Begleiters. Er war hinter ihr durch die Tür getreten und ließ nun seine wasserblauen Augen mit einer Spur von Ironie über die Anwesenden gleiten. Er war der Dichter des Dritten Reiches. Johannes König. Lisa Dorn, die die Situation erfaßte, in die sie da hineingeschneit war, blieb stehen, erhob ihren Arm und heftete die Augen anbetend auf das Bild des Führers. Es war die Pose, die sie am Ende verschiedener vaterländischer Filme eingenommen hatte und die sie mit großer Selbstverständlichkeit beherrschte. Aber schon hatte ihr scharfes Auge den General in der Menge erspäht, und sie schenkte ihm eines ihrer strahlenden Lächeln, die wie flüchtige Sternschnuppen waren.

Nach all der drängenden Ungeduld des Wartens war Dahnwitz der erste, der ihren Eintritt bemerkt hatte. Behutsam schob er sich in ihre Richtung, und bei den letzten Worten der Hymne stand er dicht hinter ihr.

»Guten Abend, Kleines«, flüsterte er in ihren Nacken.

»Arnim! Was für eine Überraschung! Du solltest bloß mein Herz spüren – wie die große Trommel im Zirkus! Wann bist du angekommen? Wieso bist du hier?«

»Seit mehr als zwei Monaten habe ich dich nicht gesehen. Das hält kein Mann aus!«

»Und wer führt deinen Krieg, während du hier bist?«

»Der Krieg führt sich selber –«

Die Radiodurchsage endete mit einem abermaligen Fanfarenstoß, der ohne jede Überleitung in einen Walzer überging. Die Arme klappten herab, die Marionetten bewegten sich wieder. Gaston, der bejahrte Kellner, konnte, sein Tablett auf den Fingerspitzen balancierend, seinen Weg fortsetzen. Nahe einem der Palmkübel, die Herr Kliebert über die Löcher im Teppich hatte plazieren lassen, stieß er mit einem anderen alten Franzosen zusammen; dies war Philippe, der Kellermeister. Der große Schlüssel zum Weinkeller hing an einer Kette um seinen Hals, und er war dabei, eine Flasche Burgunder in einem Körbchen zu einem Tisch im Hintergrund zu tragen. Im Aneinanderstreifen wechselten die beiden Alten ein paar Worte auf französisch.

»Alles in Ordnung in deinem Keller, mon vieux?«

»In perfekter Ordnung.«

»Niemand hat versucht, einzubrechen?«

»Niemand. Der Keller ist sicher – vorläufig.«

»Bon, très bon.« Und Gaston ging mit seinem Tablett weiter.

»Jetzt überlasse ich dir die Bühne«, sagte Johannes König leise und verließ Lisa Dorn, um auf seinen Tisch zuzusteuern, auf den Philippe eben den Burgunder niedersetzte. Lisa, die Schauspielerin, spielte ihre nächste Szene mit dem General als Partner, wobei sie den venezianischen Springbrunnen in der Mitte der Halle als Kulisse benützte. Um sie herum wogten die Menschen, man lächelte ihr zu, man beobachtete sie mit neugierigen Blicken; es fehlte nicht viel, und man hätte ihr applaudiert …

»Kleines, du bist noch viel schöner, als ich dich in der Erinnerung hatte«, sagte der General, ihr die Hand küssend. »Viel, viel schöner.« Er hatte die Gewohnheit, Worte, denen er besonderen Nachdruck verleihen wollte, zu wiederholen; eine Gewohnheit, erworben in der Notwendigkeit, seinem Stab bestimmte Einzelheiten einzuschärfen.

»Wie gefalle ich dir in meinem neuen Kleid? In Paris gekauft«, erklärte Lisa und deutete eine Pirouette an, die den Rocksaum ihres silbergrauen Kleides wippen machte; sie trug stets silberschimmernde Farben, nebelzarte Stoffe, die ihre Pastellschönheit hervorhoben. »Ach, Arnim, es ist schön, dich hier zu haben«, sagte sie. »Ich hab’ mich so um dich gesorgt! Sag mir – ist es sehr gefährlich, was du tust?« Dabei sah sie keineswegs besorgt aus.

Der General lächelte auf sie hinab. Mit Lisa an seiner Seite fühlte er sich immer ein paar Zentimeter größer, und das war ein angenehm schmeichelhaftes Gefühl. Lisa ihrerseits wußte sehr genau, wie sie neben dem General wirkte. Ein Auftritt in seiner Begleitung war stets effektvoll und ließ sie noch einmal so zierlich und hilflos erscheinen als sie war. Sie war sich klar darüber, daß die Zierlichkeit ihrer kleinen Person – im Gegensatz zur kuhartigen Schwerfälligkeit der Nazifrau – alle Welt in sie verliebt machte. Alle Welt in sich verliebt zu wissen, das war ihr so notwendig wie Luft und Licht. Sie schob ihren Arm durch den des Generals und zog ihn fort, fort von den anderen.

»Gefährlich? Nein, Kind«, sagte der General lächelnd. »Es ist ja allgemein bekannt, daß die meisten Generäle im Bett sterben.«