Hyphen - Luise Meier - E-Book

Hyphen E-Book

Luise Meier

0,0

Beschreibung

Als es 2025 zum ersten Mal weltweit zu einem wochenlangen Stromausfall kommt, bricht, wider Erwarten, keine Panik aus. Und selbst als Stromnetze und Lieferketten, Geldströme und das Internet endgültig zusammenbrechen, bedeutet es nicht den Untergang der Zivilisation. Stattdessen beginnt für die Menschen in Luise Meiers facettenreich erzähltem Roman Hyphen die aus der Not geborene Suche nach anderen, auch nichtmenschlichen Beziehungsweisen, die ein gemeinsames Überleben und Füreinander-Sorgen ermöglichen. Da ist etwa Anne, die versucht, den Krankenhausbetrieb aufrechtzuerhalten, ihr fünfzehnjähriger Sohn Tomasz, der plötzlich die Wirkmacht der Natur zu sehen lernt, oder Maja, die über all das für die ständig wachsende, den Globus umspannende Enzyklopädie Protokoll führt. Pilzfäden gleich legt Luise Meier Biografien, Erfahrungen, Träume und Wünsche aus, verwebt sie mit nichtrealisierten Zukünften und offenbart: Die Welt, sie geht nicht unter – sie entsteht vielmehr neu, in radikaler, allumfassender Verbundenheit.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 442

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hyphen

Für meine Geschwister

Philipp, Josefa, Max und Alma

I

Nr.0020000957925728827968114367-2032

Datum des Eintrags: 04-07-2032

Eintrag von: Henning Feldmann, Isa Borg

Typ: Protokoll

Ort: Rothwald, Vorpommern, Deutschland

Ursprüngliche Quelle: Henning Feldmann, Isa Borg

Übersetzung: keine

Übergabeprotokoll 4. Juli 2032, Rothwald

Wir, Isa und Henning, haben uns der Protokollaufgabe sporadisch seit dem Januar 2028 und in systematischer Form seit dem Dezember 2028 angenommen.1 Wie von einigen Initiativen der Enzyklopädie vorgeschlagen, gehen wir dieses Jahr auf Wanderschaft und hoffen, die anderen Gemeinschaften, die wir bereisen werden, mit unseren Erfahrungen bereichern und von ihnen lernen zu können.

Die Gemeinschaft Rothwald hat auf die ersten Stromausfälle in den Jahren 2025 und 2026 mit der Entwicklung von Notfallstrukturen reagiert, die uns Nachbar*innen viele, wenn auch zum Teil noch vereinzelte Erfahrungen in der schnellen, gemeinsamen und solidarischen Kooperation und Koordination gebracht haben. Mittlerweile haben die Dörfer einen Großteil der Häuser in funktionales Wohnen überführt. Häuser mit autarker Stromversorgung sind den Küchen und der Lebensmittel- und Medikamentenlagerung sowie den Wäschereien, Werkstätten, Computerarbeitsplätzen und der Druckerei vorbehalten. Die größte Herausforderung war und bleibt jedoch die Sicherstellung der landwirtschaftlichen Produktion und die Versorgung der Nachbar*innen mit medizinischen und Pflegebedarfen.

Nach dem Sterben großer Teile des Milchviehbestands im Gemeindeteil Rothwald-Vorbau im Zuge des ersten länger anhaltenden Stromausfalls 2025 haben sich beim nächsten Notfall Anfang 2026, während dem der Betrieb vergemeinschaftet wurde, bereits über fünfzig Freiwillige in der Milchviehzucht eingefunden, die Wasserversorgung sichergestellt, ausgemistet und per Hand gemolken oder Milch, für die keine Kühlmöglichkeit bestand, ausgefahren und ausgegeben und zu Trockenmilch oder Käse verarbeitet. Seitdem hat sich die Milchviehzahl erheblich reduziert, sodass mittlerweile nur noch dreißig Menschen dauerhaft, im Notfall bis zu sechzig Menschen abwechselnd, in die Milchviehhaltung eingebunden, dafür aber keine Notschlachtungen mehr nötig sind. Im Sommer 2028 konnte darüber hinaus erstmals eine mechanische Melkmaschine mit Pedalenbetrieb eingesetzt werden, die die Arbeit auch ohne Strom erheblich erleichtert und den Kreis derer, die eingewechselt werden können, entscheidend vergrößert. Die Tiere selbst haben auf die traumatischen Ereignisse mit der Reduktion der Milchproduktion reagiert.

In den letzten fünf Jahren sind insgesamt achtundsechzig Personen zugezogen, vor allem Familien mit Kindern und alte Menschen mit besonderen medizinischen Bedürfnissen, insbesondere aufgrund von Atemwegserkrankungen. Für pflegebedürftige Personen wurden bereits nach dem Stromausfall 2025 Sorgenetze von bis zu drei Nachbar*innen aufgebaut, die die Notfallversorgung schnell, ausreichend informiert und also vorbereitet übernehmen können. Zudem haben vor allem die Jugendlichen von Anfang an durch Kurierfahrten entscheidend zum Funktionieren der Notfallversorgung beigetragen. Die Organisation der Sorge- und Informationsnetzwerke, der Kinderbetreuung sowie der überlebenswichtigen Aufgaben übernimmt die Dorfversammlung, die in Ruhezeiten einbis zweiwöchentlich, in Notfallzeiten täglich am Abend im Anschluss an die Abendessen in den Kollektivküchen stattfindet. Seit 2027 führen wir zudem regelmäßige Gespräche, um Bedürfnisse, Erfahrungen, Ideen und Reflexionen unserer Nachbar*innen zu dokumentieren. An der Dokumentation, den offenen Gesprächsrunden und Schreibgruppen beteiligt sich in unterschiedlicher Intensität fast die gesamte Gemeinschaft.

Ein weiterer bestimmender Faktor im Alltag ist immer noch die Widerstandsfähigkeit der Dörfer, Böden und Wälder gegenüber extremen Wettererscheinungen und Waldbränden. In Rothwald leben seit Anfang der Zwanzigerjahre zwei Renaturierungsexpert*innen, die seit drei Jahren auch systematisch Wissen und Erfahrungen an Gäst*innen weitergeben und eigene Beiträge für die Enzyklopädie verfassen.

Der Großteil unserer Nachbar*innen beschreibt sich trotz aller Entbehrungen und traumatischen Erfahrungen, besonders in den ersten Monaten und Jahren, heute als zufriedener als vor 2025. Dafür gibt es verschiedene Gründe, der am häufigsten angegebene ist allerdings die enge Kooperation in der Gemeinschaft und die ganz eindeutig damit verbundene Zunahme von Selbstwirksamkeit oder »Sinn« sowie die Abnahme von Erfahrungen der Konkurrenz und Isolation.

Wir, Henning Feldmann und Isa Borg, planen, spätestens in einem Jahr nach Rothwald zurückzukommen, und sind über die Enzyklopädie erreichbar. Es ist vorgesehen, dass Maja Boran während eines vorerst einjährigen Gastaufenthalts die Protokollarbeit und Organisation übernimmt. Sollte es zu Ausfällen kommen oder Maja verhindert werden, übernimmt Gesine Lohr provisorisch das Protokoll und die Organisation eines längerfristigen Ersatzes.

Wir freuen uns aufs Berichten und Lesen

Isa und Henning

Rothwald

Ingos Weg ins Kollektiv war langsam und kurvig verlaufen. Er war erst 2028 wirklich aus der Rente zurückgekehrt, um sein Elektrotechnikwissen mehr als nur sporadisch und widerwillig an die Jungen weiterzugeben. Seinen Jeep, einen Benziner, hatte er erst abgegeben, als schon monatelang kein Benzin mehr aufzutreiben gewesen war und man ihm versprochen hatte, er dürfe, bei gutem Solarstromstand, mindestens eine Tour in der Woche mit dem E-Bus fahren. Seitdem hatte er sich mit den Mechaniker*innen im lächerlich kleinen Fuhrpark angefreundet, wo er auch hier und da aushalf. Im Boden zu buddeln und Regenwürmer zu pflanzen, wie er die Renaturierungsarbeiten beschrieb, bei denen mittlerweile fast alle im Dorf irgendwie mitmachten, hielt er dagegen bis heute ebenso wenig für seine Aufgabe, wie sein Innenleben mit irgendjemandem zu teilen. Stattdessen presste er die Gefühle, die angesichts der neuen Zustände um ihn herum in ihm aufkamen, in seiner Brust mit so viel Druck zu einem dermaßen dichten Ball, dass ihn seine Frau, wenn er in größeren Runden mal wieder die Bemühungen der Nachbar*innen herunterzuspielen begann, als »Rothwalder Stahlwerk« bezeichnete. Denn einmal losgelassen, das ahnte er, würden sie sich zu einer monströsen Lawine ballen und das ganze »So-und-nicht-Anders« seines bisherigen Lebens unter sich begraben, würden die Erinnerung an den Kollegen, den er, wie alle anderen aus der Feierabendtruppe, Ende der Zweitausender nicht in der Entzugsklinik hatte besuchen wollen, weswegen sie stillschweigend und wie zufällig alle Aufträge in die Besuchszeiten eben dieser Klinik gelegt hatten, und der kurz nach seiner Entlassung wieder zu saufen begonnen hatte und mittlerweile an Leberzirrhose gestorben war, oder an den an Lungenkrebs verstorbenen Nachbarn, mit dem er Ende der Neunziger dessen Asbestdach im Wald vergraben hatte, um dann die schwarz lackierten Ziegel fein säuberlich aneinanderzureihen, über ihn hereinbrechen. »Macht man so, ham wir immer so gemacht« und »Alles hat seinen Preis« waren die Mantras, die ihn über die Beerdigungen, wo er sich jeweils nur so kurz wie nur irgend möglich hatte blicken lassen, gerettet hatten.

Er war einer, der nach der Wende schnell begriffen hatte, wie der Hase läuft. Der sich nicht übers Ohr hatte hauen lassen. Neues Auto, Qualifizierung, Kredit, Hausausbau, der eigene Betrieb. Er war der Erste im Dorf gewesen, dessen Betrieb eine Internetseite gehabt hatte. Nicht eine Woche war er arbeitslos gewesen, nicht in den Neunzigern und auch nicht in den Zweitausendern. Klar hatte auch er sich damals mit den Telekom-Aktien verschaukeln und sich von Danny, dem Sohn eines Kollegen, der plötzlich Allianz-Vetreter gewesen war, die eine oder andere überflüssige Versicherung aufquatschen lassen und war schließlich auch mal knapp an der Insolvenz vorbeigeschrammt, aber auch wenn sich der Erfolg nicht immer ganz zweifellos am Kontostand hatte ablesen lassen, so doch zumindest sein Fleiß an der stetig wachsenden Anzahl der Aufträge und nicht zuletzt der Arbeits- und Überstunden. Die Richtung jedenfalls hatte er in über fünfunddreißig Jahren nicht in Zweifel ziehen müssen. Denn: Erst musste man etwas aufbauen, die Familie, Haus und Grundstück, den Betrieb, und dann alles dafür tun, um es zu halten – und was das Wichtigste gewesen war in der damals neuen Zeit: Was halten sollte, musste wachsen. Wer sich ausruhte auf dem, was er hatte, konnte es auch gleich sein lassen, der hatte es schon aufgegeben. Die neue neue Zeit fühlte sich daher wie eine des Aufgebens an. »Überholen ohne einzuholen«, hatte der knollnasige Alte auf dem Pferdewagen gelacht, als Ingo den letzten Liter Benzin leergefahren hatte und auf der Straße nach Rothwald liegen geblieben war. Und wie er da gesessen hatte auf der Kutsche, die im Schritttempo das Auto hinter sich her zog, hatte es, sehr zu seinem Ärger, vielleicht zum allerersten Mal tatsächlich gestimmt.

Bevor Ingo sich lange nach der Abschleppaktion endlich auf die Arbeit im Fuhrpark einließ, hatte sich seine Frau Christiane oft bei den anderen beschwert, hatte er tagein, tagaus missmutig auf der Couch im zweiten Stock ihres Einfamilienhauses gesessen, dessen erster Stock beim erstmaligen Übertritt der Randow schon unter Wasser gesetzt worden war und seitdem nicht mehr bewohnt werden konnte. Gesessen und gemeckert hatte er und sie schon mit Scheidung gedroht oder Schlimmerem: dass sie ihn überleben und auf dem Löcknitzer Friedhof neben seinem Vater begraben würde etwa. Ingo hatte über die letzten Jahrzehnte den Kredit für ihr Haus abbezahlt, hatte sich einen Swimmingpool, eine ebenerdige Regenwasserdusche, einen wirklich guten Grill, einen Rasenmähertraktor und mindestens acht Rasensprenger mit Zeitschaltuhr erarbeitet, und für den Fall, dass es so weit kommen sollte, hatte er Geld für einen Treppenlift auf dem Sparkonto gehabt, von dem er nun nicht wusste, wohin es denn verschwunden war. In diesem Haus in Rothwald wollte er bleiben und sich seine Unabhängigkeit so lange wie nur irgend möglich erhalten und niemals, wie sein Vater, in einem Heim landen und dort vor sich hin starren, während fremde Hände ihm den Hintern abwischen oder ihm seinen abendlichen Schnaps verbieten würden. Er wollte, wie man es seiner Meinung nach hier in Vorpommern schon immer getan hatte, im Garten neben den Bohnenranken umkippen, wo man ihn dann auch sogleich einbuddeln sollte, um die Regenwürmer, die ja heute allen so furchtbar wichtig waren, ihre Arbeit ungehindert erledigen zu lassen. »Ende im Gelände« nannte er das gerne und hatte seine Kinder, seine Frau und sämtliche Nachbar*innen mehr als einmal von seinem letzten Wunsch in Kenntnis gesetzt. Und insofern hätte das, was er Zusammenbruch nannte, also ein Gutes haben können, ein einziges und nicht ganz unwichtiges Gutes hätte es eigentlich haben können, dass die Behörden alle sang- und klanglos geschlossen hatten und die Sicherheitskräfte verschwunden waren, denn niemand von ihnen würde ihm diesen letzten Wunsch nun verwehren, würde ihm ein Begräbnis auf dem eigenen Grund und Boden verbieten oder es verhindern. Ingos Tod hätte also eigentlich gerettet sein können, würde Christiane Ingo nicht allabendlich beschwören, in eines der Kollektivhäuser zu ziehen, wo Wäscherei und Kollektivküche, die immerhin ab und an Strom hatten, nicht weit waren.

Christiane war es leid, für das, was Ingo Privatsphäre nannte und sie für reine Sturheit hielt, jeden Abend auf dem Grill kochen und die Wäsche mit dem Fahrrad ewig durch die Gegend kutschieren zu müssen. Sie genoss das Gemüseschnippeln mit den anderen, und überhaupt fühlte sie sich lebendig im Gewusel der allgegenwärtigen Absprachen, geteilten Alltagsaufgaben und Arbeitseinsätze. Ja, auch sie war sich dabei anfangs blöd vorgekommen. Ja, auch sie nahm die Worte Kollektiv oder Gemeinschaft oder Plenum nicht gerne in den Mund, aber sie trafen nun mal zu: Wenn sie etwas erledigte, wurde jemand anderem das Leben ein bisschen leichter, wurde das Dorf ein bisschen schöner.

Um sich seine Vorträge zu ersparen, nannte Christiane die Stromausfälle in Ingos Gegenwart zwar »Zusammenbruch«, aber eigentlich hatten die Veränderungen im Dorf ihr vor allem die eine riesige Last von den Schultern genommen, von der sie gar nicht richtig gemerkt hatte, wie diese sich angehäuft und Christiane mehr und mehr unter sich begraben hatte. Jahrelang hatte sie sich nämlich Monat für Monat intensiver und immer allein um Ingos kranke Mutter Sigrid kümmern müssen. Die etwas sture, aber stets liebenswürdige alte Frau war für Christiane und Ingo früher, als die eigenen Kinder noch klein und die Arbeitstage noch Vollzeit gewesen waren, immer eine unentbehrliche Hilfe gewesen. Doch dann war sie vergesslich, unzuverlässig, tollpatschig geworden, hatte sich tiefer und tiefer in Erinnerungen verloren und war für Christiane nach und nach, so sehr sie sich auch dagegen gewehrt hatte, nur mehr ein unüberwindlicher Berg an Arbeit und an rätselhaften Bedürfnissen geworden. In ihrer Gegenwart hatte Christiane dann zunehmend nicht nur die Schwiegermutter, sondern auch sich selbst nicht mehr wiedererkannt. Aber wenn sie jetzt ins Nachbardorf radelte und die weißhaarige Frau im Garten sitzen und die Kinder beim Spielen beobachten sah, kam die alte Zuneigung, kamen die altbekannten Gesichtszüge wieder unter dem Schleier hervor, auch wenn Christiane selbst für Sigrid eine Fremde blieb. Das Waschen und Füttern übernahmen nun meistens andere, und wanderte Sigrid einmal im Dorf herum, brachte sie jemand zurück in den Garten, den das Haus, in dem die Schlafzimmer der pflegebedürftigen Alten untergebracht waren, mit dem Kinderhaus teilte.

Wenn sich Christiane und Ingo auf eine Wohnung im Kollektivhaus einließen, würde ihr Haus auf den Reparaturplan kommen und könnte schon in zwei Jahren vielleicht ein weiteres Kinderhaus werden. Das jetzige Kinderhaus hatte zunächst bloß das ehemalige Gutshaus eingenommen, doch da die Anzahl an Kindern, für die das Leben in den Städten gesundheitlich zumindest vorübergehend unmöglich geworden war, stetig angestiegen war, war mittlerweile der ganze Dreiseithof zu Schlafquartieren, Krankenzimmern, Spiel- und Lernräumen umgebaut worden. Die Alten waren indessen in das Nebengebäude umgezogen, sie teilten auf eigenen Wunsch mit den Kindern nur noch den Tag im Garten, nicht mehr, wie anfangs, auch die Nächte im selben Haus.

Oft sah man ein Dreier- oder Vierergespann aus Hund, Oma und/oder Opa und ein bis zwei Kindern durch die Gegend spazieren, etwa den mittlerweile elfjährigen Max und seine kleine Schwester Leni, die bei gutem Wetter ihre Adoptivoma Gesine, die, da ihr ein halbes Jahrhundert in der Milchviehzucht die Hüfte zermalmt hatte, seit dem letzten Jahr auf einen Rollstuhl angewiesen war, über die Panzerplattenstraße durch das Dorf und am Maisfeld entlang zum See schoben. Der mit Gesine in die Jahre gekommene und hüftkranke Schäferhundmischling Gusti humpelte dabei stets vorneweg. Fragte man die vier einzeln, war jede*r für sich davon überzeugt, den oder die andere*n zu beaufsichtigen und nur ihre*seinetwegen den Weg auf sich zu nehmen, und doch strahlten alle, wenn sie mit Spitzwegerich oder Schirmpilzen oder gar Wiesenchampignons im am Rollstuhl befestigten Körbchen ins Dorf zurückkamen. Gesine, deren Mutter noch während des Kriegs aufgewachsen war, wusste mit jedem Gewächs etwas anzufangen oder wenigstens eine Geschichte darüber zu erzählen, doch seit mit der Enzyklopädie auch die Informationsbroschüren der Sporenbefreiungsfront ins Dorf gekommen waren, beschäftigte Gesine nicht mehr nur die heimische Pflanzenwelt. Auch die um sie herum wuchernde Pilzbevölkerung zog sie zunehmend in ihren Bann. Nicht nur in den Böden, auch in den Körpern der Tiere und Menschen, war dort zu lesen, konnte der richtige Pilz an der richtigen Stelle und im richtigen Moment erstaunliche und, wie es schien, bisher kaum ausgeschöpfte Wirkungen entfalten. Ein ganzes Universum, das weit über die paar im Pilzfreund aus der Dorfbibliothek verzeichneten Arten hinauswuchs, tat sich so für Gesine auf, die sich und ihre von den Pilzen regelrecht betörte Nase von nun an für Pionierinnen der mykologischen Forschungsbewegung hielt und dadurch trotz der grauen Haare und der kaputten Hüfte immer weniger wie eine fühlte, die die letzten Schritte in einer altbekannten, sondern vielmehr wie eine, die die ersten in einer neuen, erst zu entdeckenden Welt tat. Und so redete sie, sobald Ohren, egal welchen Alters, in der Nähe waren, in einem fort nicht mehr nur von der Vergangenheit, sondern auch von einer Zukunft, die – wenn man sie fragte – zweifellos eine der Freund*innenschaft mit den beschirmten, schwammigen, holzigen, gefächerten, krausen und fadenartigen Lebewesen sein würde, welche im Verborgenen lange vor der Ankunft der Vier- und Zweibeiner auf der Erde ihre Netze ausgeworfen und ihre Sporen entsandt hatten. Diejenigen jedenfalls, die mit Gesine und Gusti unterwegs waren, betraten den benachbarten Wald fortan als einen fremden Planeten.

Nach jedem Spaziergang war Gesines erster Anlaufpunkt stets das Museum, für das noch vor den Stromausfällen mit Fördergeldern des Bundes eine mobile Rampe für Rollstuhlfahrer*innen angeschafft worden war, die man allerdings nach der Überflutung nicht trocken gelagert hatte und die nun schon lange verrostet war. Gesine war deshalb noch am gleichen Tag, als ihr die Landärztin den Rollstuhl verschrieben hatte, zu Fuß in die Dorfversammlung gehumpelt und hatte eine ordentliche Rampe am Museum gefordert, die schließlich an einem Sonntag gemauert worden war. Vor den Stromausfällen hatte Gesine an die vierzig Jahre keinen Subbotnik mehr erlebt. Jetzt gab es jeden Sonntag solche Arbeitseinsätze, die sich wenig von denen an anderen Tagen unterschieden: Es wurde gelacht, gestritten und geackert, die Kinder packten mit an und ließen sich jeden Handgriff erklären, die Alten erzählten von früher, von Mähdreschern so groß wie Häuser etwa, und irgendwann war ein Stück Dach oder Mauer, ein Weg, ein Beet, ein Acker oder eine Baumreihe da, wo vorher nichts gewesen war.

Gesine saß nun oft im Museum, verzeichnete Pilzfunde und las in Urkunden und Dokumenten, die Leute von den Dachböden zerstörter Häuser heruntergeholt hatten, oder flickte Sachen aus dem Kinderhaus und wartete, bis ein Kind oder eine*r von den Jugendlichen hereinschneite und über irgendein zufällig aufgelesenes Fundstück Auskunft verlangte. Diese Art des Findens und Sammelns war ebenfalls eine Beschäftigung, die Gesine nur aus ihrer Kindheit kannte. Ihre eigenen Kinder und Enkel hatten nicht gesammelt, sondern gekauft, erst nach den Stromausfällen hatte sich das Sammeln langsam wieder in die Kindertage eingeschlichen. Es hatte im ersten Jahr, als alles drunter und drüber gegangen war, mit Essbarem angefangen, und schon damals war das eine oder andere Kind mit Plastikbechern, Zigarettenschachteln oder Radkappen zu ihr gekommen und hatte eine Erklärung verlangt. Für die Kleinen schienen die Erinnerungen an den Sinn und Zweck der langsam verschwindenden Dingwelt der Erwachsenen schneller zu verblassen. Aber auch die Produkte für Kinder verloren mit ihrer mal plötzlichen, mal langsam fortschreitenden Abwesenheit im Alltag ihre Selbstverständlichkeit. So stiefelte eines Tages etwa die kleine Kiki mit einem Happy-Meal-Spielzeug zu Gesine ins Museum und forderte Details ein. Kaum hatte Gesine das Konzept Happy Meal und Gratisspielzeug erklärt, musste das ganze System McDonald’s erläutert werden. Das Einzige, was Kiki kannte, war der Burger selbst. In der Kollektivküche wurden regelmäßig Burger aus allem Möglichen geformt und schon auch mal mit Tomatensoße und Brötchen geschichtet, aber alles andere, Drive-In, Markenzeichen, Strohhalme, Softdrinks, Preise, einzeln verpackter Ketchup, erschien ihr wie etwas aus einem Zauberland, in dem bedeutungsvolle Handgriffe aus ihr verborgenen Gründen ausgeführt wurden. Die Fließbandproduktion allerdings, die kannte Kiki in gewisser Weise, fiel Gesine ein: »Das ist, wie als du noch klein warst und die Schuhe nicht selber zubinden konntest und eine Person im Kinderhaus morgens, bevor ihr in den Garten getobt seid, auf dem Stuhl saß und euch reihum, einer*m nach der*m anderen, die Schuhe zugebunden hat.«

Kiki kicherte: »Meine Schuhe sind doch kein Hamburger.«

»Nein«, sagte Gesine, »deine Füße sind der Hamburger und die Schuhe das Brötchen und die Schnürsenkel der Ketchup.«

Kikis Kichern ging in ein lautes Lachen und dann in ein Japsen über. Sie fischte einen Inhaler aus der Brusttasche und nahm routiniert einen Zug.

»Weißt du, Gesine«, setzte Kiki an, die jetzt nachdenklich klang, »als ich ganz klitzeklein war und mein ganz großer Bruder, der war ja Soldat, als der mal nach Hause kam nach so einer langen Zeit und mich dann kennengelernt hat, da hat er uns auch in einer Reihe aufgestellt, mich und meine Schwester und meinen kleinen Bruder, und uns der Reihe nach abgekitzelt, auch wie am Fließband, und dann hab ich so husten müssen, dass ich keine Luft mehr bekommen hab, und ich hatte keinen Inhaler, weil es die nicht mehr gab, die waren alle, und deswegen haben Mama und er sich dann gestritten, und dann musste er weg, obwohl er, wie er gesagt hat, gar nicht gewusst hat, dass ich nicht gekitzelt werden darf, er kannte mich ja noch gar nicht, weil er so lange weg war, wegen dem Strom, den’s früher gab, immer, überall, um den zurückzuholen.«

»Und seitdem hast du ihn nicht mehr gesehen?«

»Nee, nicht in echt. Nur geträumt hab ich manchmal von ihm. Mama hat ihm gar nicht gesagt, wo wir sind, glaube ich.«

»Sollen wir ihm einen Brief schreiben? Vielleicht finden wir eine Adresse.«

»Geht das?«

»Wir könnten es einfach probieren.«

»Kannst du mir das schreiben.«

»Wir können das zusammen machen, ich zeige dir, wie das geht.«

Von da an kam Kiki fast jeden Tag zu Gesine, zum Schreiben lernen und um den Brief an ihren Bruder, der länger und länger wurde, zu schreiben, und in der Kindergruppe fabulierte Kiki so viel von McDonald’s, dass Gesine, Christiane und einige andere sich schließlich dazu breitschlagen ließen, eine Woche lang in der Kollektivküche am Kinderhaus eine Filiale einer fiktiven Fastfoodkette einzurichten. Sie entwarfen ein Markenzeichen, das lose an Kikis Lieblingskuh angelehnt war, und stempelten es mit Kartoffeln und Rote-Beete-Saft auf T-Shirts, Mützen und Papierschnipsel, die als Zahlungsmittel dienen sollten. Und auch wenn Kiki fand, dass Einwegverpackungen noch komischer waren als Benzinautos, aber eben doch verstehen wollte, wie das damals gewesen war, übte sie mit anderen Kindern, angeleitet von Gesine, eine Choreografie derjenigen Bewegungen ein, die das Servicepersonal und die Kund*innen früher bei McDonald’s ausgeführt hatten: das Falten der Burgerpapiere, das Auswickeln der Burger, das Aufreißen der Ketchup- und Mayopackungen. Und von jedem Gast und jeder Gästin, die die Filiale der fiktiven Fastfoodkette besuchten, ließen sich die Kinder weitere Gesten vorspielen, etwa das Klopfen des verpackten Strohhalms auf den Tisch, damit sich die Papierhülle oben öffnete, oder das Abreißen des oberen Teils der Papierhülle mit den Zähnen, das Ausspucken des Papierrests und das anschließende Einstechen des Strohhalms in den Plastikdeckel des Softdrinks. Manche Nachbar*innen kamen jeden Tag, nur um die Show der Kinder und Jugendlichen zu bestaunen oder um sich selbst zu erinnern.

Nr.0000000000000000000193499131-20272

Date of input: 09-12-2027

Entry by: Joaquin Gerard

Type: Invocations

Place: Rothwald, Vorpommern, Germany

Original source: Memory

Translation: from Polish into English by Esperanza Program

Before the invention of the pedal operated milking machine

A Woman is sleeping

on the stool

leaning against the the loins

of the dairy cow

chewing her a lullaby

and waking her

after a while

with its tail

seeking to make contact with

this new

breathing rhythm

in her neighborhood.

Mooing

into the cold mist

of this winter dawn:

»Whose calf

is this?«

Marzahn

Die Filiale der Fastfoodkette eröffnete an dem Tag, an dem Maja in Rothwald ankam. Schon einen Monat vorher hatte Maja über einen anderen reisenden Protokollanten eine Nachricht aus ihrer neuen Gemeinde erreicht: Ob sie unterwegs bei Altlastlagern oder Reparaturhöfen nach einer Plastikflasche zum Soßenspritzen Ausschau halten könne, am besten eine, die sich in der Mitte zusammendrücken lasse, oder nach einem entsprechenden Flaschenaufsatz? In Berlin, wo Maja nur einen Tag Halt machte, um ein paar liebe Menschen zu treffen, die sie beinahe ein Jahr lang nicht mehr gesehen hatte, wurde sie dann im Lager an der Frankfurter Allee, in dem einmal ein Shoppingcenter gewesen war, tatsächlich gleich zweifach fündig. Dort fand sich sowohl eine alte Plastikflasche, die dem Aufdruck zufolge im Dönerwagen an der Warschauer Brücke benutzt worden war, als auch ein Soßeneimer mit Pumpaufsatz vom Currywurstkönig in der Unterführung am Alexanderplatz.

In der Zeit der Stromausfälle hatte Maja immer wieder in Lagern gearbeitet und das erste Lager in Berlin-Marzahn mit Mike zusammen organisiert, der 2015 aus Marokko nach Deutschland gekommen war und erst als Kurierfahrer und dann bis 2025 in einem Amazon Fullfillment Center gearbeitet hatte. Import-Export und Logistik sei sein Spezialgebiet gewesen, hatte er Maja erzählt. Beide waren damals, in den Tagen nach dem Stromausfall 2025, mit dem Fahrrad durch die Stadt gerast, um Informationen zu sammeln und weiterzugeben und das Notwendigste für Nachbar*innen, Freund*innen und Familie aufzutreiben. Irgendwann hatten sie sich so oft an denselben Orten wiedergefunden, dass sie damit begonnen hatten, sich die Absurditäten dieser ersten Tage im Chaos zu erzählen, etwa, dass es eigentlich alles gab, nur nicht da, wo es gebraucht wurde. Insofern hatte die dem Lager zugrunde liegende Idee auf der Hand gelegen: Die Leute brachten alles, was sie nicht mehr brauchten oder was kaputt war oder was in verbarrikadierten Geschäften auf sein Haltbarkeitsdatum wartete. Dann wurden die Dinge in Regale einsortiert, nummeriert und so katalogisiert, dass sie schnell griffbereit waren – eine Art Onlineshop, allerdings ohne Bezahlfunktion und quasi offline, weil ohne Internet programmiert. Und irgendwann gab es nicht mehr nur einen Katalog von Gegenständen, sondern auch eine Kartei von Reparateur*innen und Expert*innen für alles Mögliche. Das komplette Inventar konnte anfangs auf Listen, später in der Enzyklopädie eingesehen werden. Und für besonders seltene oder gefragte Gegenstände gab es Wartelisten, wobei diese Kategorie mit der Zeit immer kleiner geworden war. Kühlschränke etwa wurden fast nur noch von Leuten benötigt, die Medikamente kühlen mussten. Die meisten Menschen benutzten Kühlschränke in Kollektivküchen und aßen die Hauptmahlzeiten in Kantinen. Ähnlich wurde mit dem Waschen verfahren, denn der Großteil der Mietshäuser hatte eine Waschküche, die kollektiv genutzt wurde – etwas, was sich in Majas Block in der Zeit der Katastrophen fast automatisch ergeben hatte. Als nämlich in ihrem Plattenbau der Strom ausgefallen war, hatten sie und die übrigen Bewohner*innen bei einer Nachbarin, die sich 2024 ein Balkonkraftwerk mit Speicher installiert hatte, zu waschen angefangen. Irgendwann war es der zu nervig geworden, dass man ständig bei ihr klopfte, und als dann der Filialleiter eines Lebensmittelmarkts ausgezogen war, hatten sie die leer stehende Wohnung mit Solarstrom, Wasseranschluss und Waschmaschine ausgestattet, und fortan hatten dort alle gewaschen, die keinen Strom hatten, und alle, die Gesellschaft suchten, und irgendwann überhaupt alle. Dann war noch eine Wohnung frei geworden, in der die Kollektivküche eingerichtet wurde, worin Kerstin, die lange in Großküchen gearbeitet hatte, für das ganze Stockwerk Essen zubereitete. Und nur ein paar Monate später entstand mit Hatun und Ming, die das Restaurant im Erdgeschoss geführt hatten bis zu der Zeit der Starkregen, als die Keller zum zehnten Mal vollgelaufen waren und der ganze Boden unter Wasser gestanden hatte, eine Kantine für den gesamten Block. Maja hatte die drei während der ersten Zeit regelmäßig begleitet und ihre Arbeit protokolliert, und aus den Protokollen war schließlich die Idee für ein Kochbuch und einen Kurs für Kiez-Kantinen-Köch*innen entstanden.

Direkt über der Küche wohnten Thomas und Karsten. Die beiden bewirtschafteten seit Jahren den Hof des Plattenbaus, bauten Essbares an und »liebten, lebten und pflanzten zusammen seit 1983«, wie sie gerne erzählten. Maja kannte sie seit 1987, seit die Platte eingeweiht und die Wohnung im siebten Stock von ihren Eltern bezogen worden war. Da war Maja zwei Jahre alt gewesen, und der Hof hatte noch einer Mondlandschaft geglichen. Karsten hatte damals noch eine Dreizimmerwohnung mit seiner Ehefrau Karin und der gemeinsamen Tochter Jenny bewohnt, und Thomas, der die Bepflanzungsaktionen der Marzahner Mondlandschaft schon geleitet hatte, »als die Parteibonzen noch reinredeten, wo immer sie konnten«, eine Einzimmerwohnung. Er kannte jede Hecke und jeden Baum. Als Maja dann das erste Mal mit Zettel und Stift vor ihm gestanden hatte, hatte er lange von der Umweltbibliothek erzählt, von der nach 1990 niemand mehr etwas hatte wissen wollen. Mike und Maja aber hatten den alten Dokumenten und Thomas’ Erinnerungen praktische Anleitungen über Informationsweitergabe, Forschung und Vernetzung unter erschwerten Bedingungen entlocken können, und schließlich hatte Thomas sogar angefangen, Maja in die Wachsmatrizen-Vervielfältigung einzuführen, aber weiter als bis zu einer Beschaffungsliste hatten sie es nicht gebracht, denn es war zu jener Zeit gewesen, dass Maja von der Enzyklopädie erfahren und beschlossen hatte, sich diesem Vorhaben anzuschließen.

Verkabelung

Mit dem Protokollieren hatte Maja im Block begonnen, und auch das hatte sich eher wie von selbst ergeben. Sie hatte Freund*innen oder Fremde auf der Straße oder im Lager getroffen und war mit ihnen über ihren Block oder über deren Überlebensstrategien ins Gespräch gekommen und hatte nach und nach angefangen, sich mehr und mehr Notizen darüber zu machen, welche Lösungen die anderen für Stromausfälle, Lebensmittelknappheit und all die neuen Probleme gefunden hatten, oder sie hatte von den Ideen der Leute in ihrem Block erzählt, war dann aber schnell müde geworden, jedes Mal wieder für einzelne Leute Zettel mit Rezepten und Anleitungen vollzuschreiben, abzuschreiben oder zu kopieren. Anfangs hatte ihr Karsten aus dem Keller, in dem noch der halbe Hausrat seiner verstorbenen Mutter gelagert hatte, eine Schreibmaschine mit uraltem und unzuverlässigem Durchschlagpapier mitgebracht, dann war die Idee mit den Wachsmatrizen aufgekommen, und schließlich hatte Maja einen Kopiermaschinentechniker aufgetrieben, der den alten Xerox-Kopierer in der Bibliothek wieder zum Laufen brachte, zumindest wenn man das bei einer Papierstauquote von eins zu zehn Kopien so nennen konnte, aber immer hatte es an irgendetwas gefehlt, Papier, Strom, Toner oder Kraft. Was also das Kopieren anging, sehnte sich Maja nicht selten an die Zeiten vor dem Stromausfall zurück, als all das noch überall im Überfluss vorhanden gewesen war und sie sich, wenn sie Materialien für die SBF produziert hatte, höchstens Gedanken über Druckqualität und Preis der Xerox-Maschinen im Vergleich zu denen von Canon oder diesem oder jenem Copyshop hatte machen müssen. Oft war sie nachts zu den Hipstercopyshops im Prenzlauer Berg geradelt, wo ein Genosse gegen ein, zwei Bier den Laden für sie bis weit nach Mitternacht offen gehalten und sie im Zwielicht der geschlossenen Jalousien und einer Stehlampe zwischen den Maschinen ihre Runden drehen gelassen hatte. Der studentische Mitarbeiter im zwanzigsten Semester hatte nach dreißig Jahren im Herzen der Gentrifizierung zwar längst jede Hoffnung an solcherlei Graswurzelaktivismus aufgegeben, war aber froh gewesen um die Gesellschaft und die Chance, seinen Chefs die Gewinnmargen durch diese regelmäßige Produktion von vermeintlichen Fehldrucken wenigstens ein wenig vermiesen zu können. Und nun hatte Maja zum Glück zwar noch einen ganzen Keller voll von in ihrer Zeit bei der Sporenbefreiungsfront angesammelten Zines, die sie den noch funktionierenden oder neu entstehenden Bibliotheken nach dem letzten Stromausfall 2027, seit sie keine Verhaftungen mehr zu befürchten hatten, zur Verfügung stellen konnte – vom Anbau über Pilzbestimmung und psychodelische Sporendrucke bis hin zu Heilpilzen und endlosen Ausführungen zur mykalen Weltrevolution war darin thematisch alles dabei, was die Herzen der jetzt überall aus dem Boden sprießenden Pilzfreund*innen begehren konnten –, trotzdem musste die SBF sich nach neuen Verbreitungswegen umsehen, wenn sie den Bedürfnissen und nicht zuletzt den mykalen Möglichkeiten, die die neue Zeit ohne Zweifel in sich barg, gerecht werden wollte.

Als das Internet dann in Gestalt eines reisenden Protokollanten in Marzahn aufgetaucht war, hatte Maja es kaum fassen können. Stundenlang hatte sie sich von dem Protokollanten Punit, der Englisch, Hindi, ein wenig Deutsch und offenbar mehrere andere Sprachen sprach, wieder und wieder das System erklären lassen, von dem niemand genau zu wissen schien, wo es erfunden worden war oder wer wie dafür sorgte, dass es funktionierte. Der Reisende hatte einen Laptop dabei, mehrere Festplatten, SD-Karten und USB-Sticks, auf denen jeweils die neueste Version einer ständig wachsenden Enzyklopädie gespeichert war. Es gab kleine Versionen ohne Fotos und Audioaufnahmen, mittlere mit Fotos und Audioaufnahmen und sogar große mit Filmen. Die Reisenden verteilten überall, wo sie hinkamen, die Speichermedien, sammelten alte Datenträger ein, bespielten sie, wenn sie den passenden Adapter fanden, mit der aktuellsten Version der Enzyklopädie und reparierten defekte Computer zumindest so weit, dass sie für die kleine Enzyklopädie und das Schreiben und Speichern von Protokollen benutzt werden konnten, ohne die wenigen Solarstromquellen allzu stark zu beanspruchen. Wo die Enzyklopädie schon einmal hingekommen war und fortan Ideen, Probleme und Lösungsversuche, Techniken, Praktiken, Innovationen protokolliert wurden, hinterließen die reisenden Protokollant*innen, die, wann immer sie auf eine neue Gemeinschaft trafen, mehr zu werden schienen, nicht nur die neuste Version, sondern erweiterten diese gleichzeitig um die vor Ort gesammelten Protokolle. Maja war völlig benommen gewesen vor Begeisterung. Hatte der Kybernetiker Stafford Beer 1972 in Chile ein Internet aus dem sozialistischen Enthusiasmus der chilenischen Arbeiter*innen und einem Haufen Telex-Maschinen geschaffen, waren es jetzt die Reisenden, die das W-Lan und die Kabel ersetzten. Sie waren das Internet. »Yes, you could say it like this. There is an article on the Encyclopedia about the question of decentralization and the bottom-up organization of this type of internet or even social structure, you might say that we are experiencing right now. There are a lot of articles discussing the Encyclopedia itself if this meta-stuff is your kind of thing.«3 Und das war es. Stundenlang, tagelang, wochenlang hatte Maja daraufhin an dem beängstigend flimmernden Bildschirm in der Bibliothek verbracht, den Punit wieder zum Laufen gebracht hatte und der von den wenigen, aber immer mehr werdenden Solarpanels auf dem Dach betrieben worden war, bevor sie selbst nicht nur zu protokollieren und zu überspielen angefangen, sondern sich langsam die Gewissheit in ihr breitgemacht hatte, dass sie reisen musste, dass sie all diese magischen Erscheinungen sehen, verstehen und protokollieren musste, die aufzutauchen schienen, sobald eine genügend große Anzahl an Menschen die Köpfe zusammensteckte. Sie würde ein Adapter werden, ein Verbindungsteil, das Stecken in zusammenstecken, und niemand konnte ihr von diesem Moment an begegnen, ohne die frohe Botschaft von diesem Wunder wenigstens in groben Zügen vermittelt, übermittelt, überspielt zu bekommen. Zu ihrer großen Freude waren auch einige internationale Genoss*innen der SBF längst mit Beiträgen vertreten. Manisch übertrug sie die Ideen, Rezepte, Anleitungen, Erfahrungsberichte, die Zines der SBF und unkonventionelleren Lösungen, auf die sie in Marzahn bisher gestoßen war und die bereits mehrere Ordnermeter in der Bibliothek einnahmen, in die zentrale Enzyklopädie.

Nr.0000034989234342430089693417-20294

Date of input: 05-10-2029

Entry by: Fungal-Solutions-for-Toxic-Waste-Working-Group

Type: Document Retrieval

Place: Tokyo, Japan

Original source: Excerpt from Andrew Pickering’s The Cybernetic Brain. Sketches Of Another Future, Chicago, London 2010, p. 237.

Translation: none

Growing Solutions

»Beer’s goal, all along, was to improve management. The cybernetic factory was supposed to be an improvement on existing factories with their human managers. And yet the cybernetic brain of the factory was supposed to be a colony of insects, some dead leaves for them to feed on, the odd leech. Did Beer really think that his local pond was cleverer than he was? In a way, the answer has to be that he did, but we should be clear what way that was. Recall that Beer thought that the economic environment of the factory was itself an exceedingly complex system, ultimately unknowable and always becoming something new. He therefore felt that this environment would always be setting managers problems that our usual modes of cognition are simply unable to solve. This connects straight back to the above remarks on Beer’s scepticism toward representational knowledge. On the other hand, according to Beer, biological systems can solve these problems that are beyond our cognitive capacity. They can adapt to unforeseeable fluctuations and changes. The pond survives. Our bodies maintain our temperatures close to constant whatever we eat, whatever we do, in all sorts of physical environments. It seems more than likely that if we were given conscious control over all the parameters that bear on our internal milieu, our cognitive abilities would not prove equal to the task of maintaining our essential variables within bounds and we would quickly die. This, then, is the sense in which Beer thought that ecosystems are smarter than we are—not in their representational cognitive abilities, which one might think are nonexistent, but in their performative ability to solve problems that exceed our cognitive ones. In biological computers, the hope was that ›solutions to problems simply grow‹ […].«

Comradely Cooperation

Bevor Maja nach Rothwald aufbrach, war sie bereits seit drei Jahren als reisende Protokollantin unterwegs gewesen, um die Menschen in den Gemeinden, die sie bereiste, in die Arbeit mit der Enzyklopädie, falls sie dort noch nicht verwendet wurde, einzuführen und hier und da den Aufbau von Lagerhäusern und die Benutzung von Mikes Katalogisierungsprogramm anzuregen, das mittlerweile Teil der Enzyklopädie war und das Maja relativ problemlos selbst an die Situation in den jeweiligen Gemeinden anpassen und dessen Grundlagen sie gut genug erklären konnte. Kam sie dann zwischendurch einmal in Berlin-Marzahn vorbei, schlief sie bei Thomas und Karsten auf der Couch im Wohnzimmer. Die Wohnung des Paares war noch eingerichtet, wie es die Wohnungen vor der Ausbreitung des funktionalen Wohnens nach den Stromausfällen gewesen waren, denn Thomas und Karsten hatten so lange nicht als Paar leben können, dass sie das einmal Erkämpfte trotz all der Spießigkeit, über die sie sich selbst gern lustig machten, nicht aufgeben mochten. Es gab ein Schlafzimmer, ein Arbeitszimmer, ein Wohnzimmer und eine Küche, wenngleich ohne Kühlschrank und Waschmaschine, und von acht bis achtzehn Uhr ging hier der ganze Bezirk ein und aus, denn ihr Arbeitszimmer war die bestsortierte Samenbank und Gartenbaubibliothek im Umkreis von zwei Kilometern. Mike hatte sie an die wiederaufgebauten Kataloge der Bezirksbibliothek angekoppelt, und so war ihre Privatbibliothek von Büchern und Samen über den Bezirkskatalog einsehbar, und wer sich auf der Suche nach einer Kürbissorte oder einem Buch über Balkongemüse zu ihnen verirrte, nahm häufig noch einen Kaffee und einen mit Erdkrümeln verzierten Zettel voller Gartentipps von Thomas mit.

»Unsere kleine Parteisekretärin« hatten Thomas und Karsten Maja lange vor dem Zusammenbruch der Stromnetze getauft, schließlich hatte sie sich fünf Jahre lang mit einer Doktorarbeit über Gotterbauertum und Proletkult gequält und war selten bei Karsten und Thomas zu Besuch gewesen, ohne am Ende über die unverwirklichten Entwicklungspotenziale eines Kommunismus auf anderen Grundlagen als den leninschen zu predigen. Bei den beiden lösten die Worte Sozialismus und Kommunismus nur den alten Spott und die alte Wut über Apparatschiks, Bonzen, Spitzel und staatliche Bevormundung aus, und auch Majas Faszination für Kybernetik, für Systemtheorien und Formen und Erscheinungen von Komplexität stand Thomas misstrauisch gegenüber. Er war Ende der Zehner- und Anfang der Zwanzigerjahre zum dogmatischen Technikskeptiker geworden, hatte begonnen, auf Schulmedizin, auf Chemtrails und schließlich auf die »Zwangsimpfungen« zu schimpfen, und so war meistens gestritten, dann geschwiegen worden, bis Karsten die Würfel oder das Kartenspiel herausgeholt und den Schnaps und eingefordert hatte, dass man seine Wohnung mit Lachen fülle, was zu allseitigem Erstaunen nach einigen Runden auch geschehen war. Seit den Stromausfällen waren zwar die Grundsatzdebatten weniger geworden, aber der Spitzname war geblieben.

»Jeder Tag ist der schönste, den ich je erlebt habe«, hatte Thomas bei ihrem letzten Besuch einfach so auf die Frage »Wie geht’s?« geantwortet. Und Maja hatte eine Träne runterschlucken müssen, als sie über Thomas’ Schulter hinweg Ming über ihr Küchenbuch gebeugt entdeckt hatte. Auch Ming hatte einen Spitznamen für sie: Heulsuse. Denn wenn Maja Kerstin, Hatun und Ming in der Küche protokolliert hatte, waren ihr vor allem in der ersten Zeit nicht selten dicke Tränen der Rührung über das Gesicht gekullert. »Comradely Cooperation« hatte der russische Bolschewist, Arzt und Universalgelehrte Alexander Bogdanow dasjenige Phänomen Anfang des 20. Jahrhunderts genannt, das Maja mehr als hundert Jahre später, als sich das Wort Comrade beziehungsweise Genoss*in mit den Stromausfällen langsam mit Leben zu füllen begann, verlässlich Tränen in die Augen trieb. Denn sie arbeiteten ja nicht mehr für Geld, aber auch nicht unmittelbar füreinander, wie es etwa der Fall wäre, würde man für ein Kind oder ein krankes Elternteil sorgen oder eine*n Chef*in zufriedenstellen wollen. Nein, es gab da ein Größeres, ein Drittes zwischen ihnen allen, egal, ob man sich oberflächlich kannte, befreundet war oder verwandt, da war eine Verantwortung dem Netzwerk gegenüber, das man gemeinsam auf die Beine stellte, die alle spürten. Zu diesem Netzwerk zu gehören – egal, wer man war, und egal, woher man kam, und egal, wie lange man blieb –, bedeutete Freiheit. Die Freiheit, sich nicht gegen alles und jede*n absichern, nicht alles alleine bewältigen, nicht allein und im ständigen Kampf mit anderen für sich und seine Lieben sorgen zu müssen. Und so war im Block, im Lagerhaus und in den Kantinen spürbar geworden, dass es allen gut ging, wenn es jedem*r Einzelnen gut ging, wenn alle in die Entscheidungen, die sie betrafen, einbezogen wurden, war aus dem täglichen Kampf gegeneinander trotz der knapper werdenden Ressourcen langsam die Sorge umeinander geworden. Die Menschen brauchten wesentlich weniger Dinge, seit es nicht mehr so sehr darauf ankam, mit ihnen zu zeigen, wer man war, was man konnte und woher man kam, sondern vielmehr darauf, was man machte und vor allem wie, was sich auch in den Gesprächen unter Genoss*innen und Nachbar*innen zeigte. Anstatt eines Auftrumpfens mit Wissen und Storys, anstelle von Wettreden und verbalen Machtkämpfen, in denen es darum ging, die anderen schachmatt zu setzen, kam es nun zu gegenseitigen Absprachen, Austauschen, Anleitungen und Erklärungen. Denn eine abgestimmte, gemeinsam organisierte und abgesprochene Sache erschien ihnen faktisch oft Erfolg versprechender als das blinde Ackern im Alleingang. Weil Bit und Schraubenkopf dann zusammenpassten etwa oder weil ein*e andere*r die Fehler schon gemacht hatte, die eine*n Anfänger*in schnell erschöpften. Alles befand sich permanent im Austausch, war im Prozess, in Bewegung, als würden sich alle stetig mit ihren Worten, Gesten und Taten aufeinander einpegeln, kalibrieren. Und wer sich, wie zaghaft auch immer, einließ auf dieses gemeinsame Miteinander-, Füreinander-, Umeinander- und Aneinanderwachsen und -werden, war oder wurde ein*e Genoss*in, Angeschlossene*r, Verbundene*r und ein Verbindungsstück zugleich.

Maja hatte sie weniger gespürt in den letzten Jahren, die Peinlichkeit der Hoffnung und die Scham darüber, an die Möglichkeit einer utopischen Gesellschaft zu glauben, eine Möglichkeit, die jemand mal »Kitschkommunismus« genannt hatte und die in den marxistischen Kreisen, in denen sich Maja herumgetrieben hatte, zwar selten wirklich besprochen worden war, aber von der man gespürt hatte, dass sich ihr hinzugeben anrüchig war, ein Zeichen von Schwäche, Schwärmerei und Mangel an analytischer Härte. Ganz aber war diese Scham noch immer nicht verschwunden, und Maja beschlich oft noch das Gefühl, dass sie für all die utopischen Splitter, die in den letzten Jahren überall zum Vorschein gekommen waren, irgendwann bestraft oder von der grausamen Realität schmerzhaft korrigiert werden würden. Zu schön, um wahr zu sein, war das vielleicht alles, und Maja protokollierte vielleicht auch deshalb und schaute lieber zweimal hin, um es irgendwie festzuhalten, für was auch immer folgen würde. »Still waiting for the other shoe to drop …«

Nr.0000000000000000000000000004-2027

Datum des Eintrags: 03-05-2027

Eintrag von: unbekannt

Typ: Anrufung

Ort: unbekannt

Ursprüngliche Quelle: unbekannt

Übersetzung: keine

Opening Letters

Öffnende Briefe / Briefe Öffnen / Briefe Öffnen

Schreibend

Briefe,

Protokolle,

Enzyklopädien an die

Zukunft,

um sie einzuladen,

um sie heraufzubeschwören,

um ihr unsere Adresse mitzuteilen,

um ihr eine Kopie des Schlüssels

zukommen zu lassen,

damit sie gewusst haben wird,

von welcher Seite,

von welcher Richtung her

sie uns heimsuchen

können wird

und wo

die wie zu öffnenden Türen

sich befinden

im Jetzt

verschlossen noch

von außen.

Wir schreiben ihr von unseren Fantasien

und Vorstellungen,

nicht aus der festklemmenden Gegenwart,

sondern aus unseren Träumen,

damit sie gewusst haben wird,

in welcher Erscheinungsform

wir sie wiedererkennen können werden

und sie uns.

Ihre Antwort,

das sind wir,

das seid ihr

in der darauffolgenden

Sekunde,

Stunde,

im darauffolgenden

Jahrhundert.

So zusammenschraubend

die Zeitmaschine,

in deren Inneren

sitzend

eine Anleitung

in verschiedenen Sprachen

und Piktogrammen auch.

Spuren legen

für die zukünftigen

Genoss*innen,

denen wir uns angeschlossen,

mit denen wir uns zusammengeschlossen

gehabt

haben

werden,

uns vorauswerfend,

unsere Erinnerungen

an die kommenden Jahre,

mit der Bitte,

bei unbekannt verzogen

nicht zurückzusenden,

oder doch,

weil auch dort dann

Zukunft wohnhaft,

oder zuzustellen

an die jeweilige

Nachbarin.

Als Porto verklebend

all unsere Besitztümer

und Versicherungen,

grüßen wir

uns

später

hier

heraus.

Traumdeutung

»She is like a human symbiosis detector«, hatte Mike bei Majas letztem Besuch im Lager einem reisenden Protokollanten aus Uganda erklärt, »she cries as soon as people develop any trace of solidarity in their daily lives. She calls it comradely cooperation. This is what she is recording in her protocols. It’s like someone who believed in Jesus all their live and prayed and studied about it every day and people just ridiculed them and shrugged, but then suddenly Jesus rings their door bell and says: here I am. She is a believer and now that it’s here all the pent up energy that was needed for believing something that did not materialize has to come out somehow and it comes out in tears.« »Let’s get her a drink, the comrade believer must get thirsty from all this crying!«5 Und der ugandische Protokollant hatte drei neue Biere besorgt, und Maja hatte noch einige Tränen ins Bier tropfen lassen, während er von den Lagerhäusern und Kollektivküchen, ihren landwirtschaftlichen Kooperativen und Solarzellenkonstruktionen in Uganda und auf seinen verschlungenen Wegen bis nach Berlin berichtet hatte. Der ugandische Protokollant, der Max genannt werden wollte, war vor dem Umbau im Priesterseminar gewesen, und nach dem dritten Bier waren sie in ein mehrstündiges Gespräch über Gott vertieft gewesen, das ein unbestimmtes Erweckungsgefühl in Maja zurückgelassen und das sie mit kaum lesbarer Schrift fast wortwörtlich protokolliert hatte. »You can find this everywhere in the scripture, the Holy Ghost and all that. God is inbetween the people and inbetween the people and the things and the animals and the languages. I found him in translating first, you know«, stand in ihrem Notizbuch. »I knew a brother in the Seminar who used to say: ›God does not have money to pay rent for a room in your heart. Where there is money, where there is a price, God cannot afford to stay.‹ This was not a popular sermon in those times when people went crazy with the prosperity ghospel. He died before the big changes. We have to cry and record this for him too. I know, he is reading the Encyclopedia in heaven. Or I imagine this being his heaven. You can translate this into your belief of course, into your protcols, but I see the world becoming a monestary and every live touching another live is worship. You might call this revolution but for me this is all God.«6

Nach diesem Abend war der protokollierende Mönch weitergereist, und Maja las bis heute jedes seiner Protokolle in der Enzyklopädie immer mit dem verstorbenen Brudermönch im Rücken, der über ihre Schulter hinweg mitlas, las sie, wie man früher Tageszeitungen gelesen hatte, um zu begreifen, was um einen herum geschah, und kurz bevor sie nach Rothwald aufgebrochen war, hatte sie ihren Brief an Max geschlossen mit dem Satz: »Maybe we are only guests in your brother’s heaven or in comrade Lunatcharsky’s dream (that’s one of my prophets) but there is no place and time I’d rather be.«7

Die neuerdings etwas dünner gewordene Schicht zwischen Wachen und Träumen hatte aber auch eine Kehrseite, die sich nicht nur in Majas Angst vor einer schmerzhaften Realitätskorrektur, sondern auch in manchen ihrer Träume zeigte, Albträume, in denen sie in der Welt vor den Stromausfällen aufwachte, und immer war da der alte Küchentisch mit dem unaufhörlich wachsenden Stapel ungeöffneter Mahnungen, ein überquellendes E-Mail-Postfach und ein Kalender mit rot eingezeichneten Deadlines und To-do-Listen und die plötzliche Gewissheit, nur geträumt zu haben. Es gab eine kleine Gruppe von Protokollant*innen, die die Träume, von denen nicht wenige vom Aufwachen in der Vergangenheit handelten, in die Enzyklopädie einpflegten, einer Vergangenheit, die oft ohne die Träumenden weitergegangen war und in der die ordnungswidrig Abwesenden nun Schulden angehäuft, Jobs verloren, Familienmitglieder vernachlässigt oder amtliche Schreiben unbeantwortet gelassen hatten. Mike etwa träumte immer noch von verpassten Terminen bei der Ausländerbehörde und von Polizist*innen, die mit dem Abschiebungsbescheid in der Hand an der Tür klingelten, und Max hatte in einem Brief von einer Genossin in Petersburg erzählt, die geträumt hatte, in der Psychiatrie aus einer Psychose aufzuwachen und dort zu versuchen, die Tabletten, die man ihr alle paar Stunden verabreichen wollte, um die Psychose von der neuen Welt zu heilen, unter der Zunge zu verstecken. In dem Moment habe sie aber schon gespürt, wie sich die Tabletten unter der Zunge bereits aufzulösen begonnen hätten, und sie habe gewusst, dass es zu spät sei, dass sie nun aus dem Albtraum der vorrevolutionären Realität nicht mehr entkommen würde. Andere Träume gestalteten sich da schon einfacher. Man saß am Tisch vor einem leeren Teller, und plötzlich stand ein Mensch vom Servicepersonal da und verlangte ganz selbstverständlich die Begleichung der Rechnung, und man griff in die Taschen, und sie waren leer. Den Träumen der vormals Reichen war demgegenüber schwerer beizukommen. Sie spielten häufiger in der Gegenwart oder in der Zeit kurz nach den Stromausfällen, und ihre Protagonist*innen würden darin, so schrieb ein Therapeut aus einem der Meditations- und Wellnesshäuser an der Ostsee in einem Protokoll, wieder und wieder den Moment der Deklassierung, des plötzlichen Statusverlusts, erleben, oft aufgrund eines zufälligen Aufeinandertreffens mit früherem Personal. Diese würden sie auslachen, Hilfe verweigern oder sonst irgendwie Rache nehmen. In der Realität allerdings hatte das frühere Personal oft Besseres zu tun und verschwendete wenig Gedanken an die vorherigen Arbeitgeber*innen. Selbst Plünderungen waren selten gewesen. Die Weinkeller im Grunewald waren zwar geleert worden, wobei sich diese Maßnahme nach dem Überlaufen der meisten Keller durch die flutartigen Starkregen eher als Evakuierung hätte bezeichnen lassen können, aber davon abgesehen waren die meisten übrigen Besitztümer der Reichen in der Zeit der Katastrophen ohne Strom, Benzin und Wasser ohnehin kaum von Nutzen gewesen.

Der protokollierende Therapeut sprach, um die Gegenwart nach dem Umbau zu charakterisieren, von der klassenlosen Gesellschaft. Das Leben der Reichen in der klassenlosen Gesellschaft zeichne sich nicht allein durch den Status- und Machtverlust aus, sondern eben durch eine Entwertung selbst ihrer materiellen Besitztümer. Die Jachten, Privatjets, Luxusautos, Designerklamotten und Villen würden nun schlicht jedes praktischen Gebrauchswerts entbehren, und die Stromversorgung vieler Gegenden mit Einfamilienhäusern, die ohnehin oft wegen ihrer isolierten Lage durch Feuer und Starkregen stärker als andere beschädigt worden seien, sei nicht wieder hergestellt worden.

Die ersten Gebäude, die mit Solarzellen versorgt worden waren, waren die Plattenbauten und Wohntürme gewesen, weshalb die ehemalige Chefin von Majas Mitbewohnerin Anna etwa, die eine Filmproduktionsfirma besessen hatte, bei der Anna bis zur Zeit der Katastrophen ein nahezu unbezahltes Praktikum absolviert hatte, nach dem zweiten Stromausfall und einer Übergangszeit im Wellnesshaus auf Rügen in Annas und Majas Wohnzimmer eingezogen war und jetzt schon im dritten Jahr die Tage hauptsächlich damit verbrachte, hervorragendes Brot für fast den gesamten Block zu backen, während Anna fast jeden Tag mit Kamera und Stativ im Lastenrad loszog und das Leben in der Stadt dokumentierte oder am Rechner saß und mit ihrem Kumpel Mo Episoden ihrer Langzeitdoku zusammenschnitt, die meistens schon tags darauf in der Enzyklopädie erschienen.

Nr.0000000000001271401049285778-2028

Datum des Eintrags: 20-03-2028

Eintrag von: Collective Prepping: Histories and Strategies –

Working Group

Typ: Dokumentrekonstruktion

Ort: Malmö, Schweden, Europa

Ursprüngliche Quelle: Stellungnahme des Schwedischen

Roten Kreuzes zu SOU 2021:19 – Teilbericht: Eine verstärkte Versorgungsbereitschaft für die Gesundheits- und medizinische Versorgung

Übersetzung: aus dem Schwedischen ins Deutsche vom

Esperanza-Programm

Das Schwedische Rote Kreuz hat die Gelegenheit erhalten, Kommentare zu SOU 2021:19 abzugeben, und möchte auf dieser Grundlage Licht auf besonders relevante Teile der Untersuchung werfen, in denen wir über besondere Erfahrungen und Fachkenntnisse verfügen.

Zusammenfassung der Ansichten desSchwedischen Roten Kreuzes

Das Schwedische Rote Kreuz begrüßt, dass es eine Überprüfung der schwedischen Versorgungsbereitschaft für Krisen und bewaffnete Konflikte gibt.

Das Schwedische Rote Kreuz weist auf den Mangel an Zivilgesellschaft im Untersuchungsvorschlag hin. Die Untersuchung wird daher gebeten, vor ihrem Abschlussbericht und bei der Umsetzung der vorgestellten Änderungen zu prüfen, wie die Zivilgesellschaft und die Ressourcen der Freiwilligenorganisationen die Aktivitäten vor, während und nach einer Krise oder einem bewaffneten Konflikt unterstützen können.

Das Schwedische Rote Kreuz fordert eine allgemein breitere und integrativere Perspektive, damit der Zugang zu Medikamenten, medizinischer Versorgung und Pflege für alle ermöglicht wird.

Das Schwedische Rote Kreuz nimmt an, dass die Untersuchung auf den bereits festgelegten Grundlagen für Prioritäten von Pflege, Medikamenten und medizinischer Ausrüstung basiert.

Das Schwedische Rote Kreuz begrüßt es, dass in der Untersuchung festgestellt wird, dass Informationen über die Verbesserung der Vorsorge privater Haushalte benötigt werden, das Schwedische Rote Kreuz betont jedoch, dass die Informationen verfügbar und für jeden geeignet sein müssen.

Das Schwedische Rote Kreuz betont, wie wichtig es ist, dass die Gemeinden und die Apotheken darauf vorbereitet sein müssen, sicherzustellen, dass jeder in Schweden auch im Falle von Krisen und bewaffneten Konflikten Zugang zu Medikamenten hat.

Das Schwedische Rote Kreuz drängt darauf, sicherzustellen, dass es Systeme gibt, die Beiträge und Spenden von Schutz- und anderem Material von Privatpersonen, Freiwilligenorganisationen und Unternehmen verarbeiten können.

Das Schwedische Rote Kreuz betont, wie wichtig es ist, eine breitere Perspektive auf Gruppen zu haben, die in Krisenzeiten besonders auf Informationen angewiesen sind, beispielsweise bei der Verteilung von Jodtabletten im Falle eines nuklearen Zwischenfalls.

Masters of Disaster

Maja war 2029, im zweiten Jahr des Umbaus, das erste Mal auf Rügen gewesen. Susanne, ihre frühere Arbeitskollegin aus dem Coffeeshop, von der irgendwann auch Protokolle in der Enzyklopädie aufgetaucht waren, hatte nach einem Urlaub zwischen zwei Stromausfällen mit ihren Freund*innen Zaid und Liv beschlossen, auf Rügen auszuharren und dort beim Aufbau des neuen Zusammenlebens und Überlebens unter veränderten Bedingungen zu helfen. Dabei waren Susanne immer wieder dunkle Erinnerungen an einen Master-of-Disaster-Lesekreis aus ihrer mittlerweile fast ein Jahrzehnt zurückliegenden Zeit bei einer ökoanarchistischen Politgruppe gekommen, und sie hatte sich geärgert, dass sie sich, wie es wohl ihrem Naturell entsprach, vor allem auf die Analyse dessen, was alles schief lief, konzentriert hatte, anstatt die praktischen Handbücher über Mutual Aid zu studieren. Alles, was ihr im Kopf geblieben war, waren, klar, die Gemeinschaftsküchen, überhaupt das Bündeln von Ressourcen in jeder Hinsicht, aber genau jetzt waren ja die Detailfragen interessant geworden. Und so war Susanne das Gefühl nicht losgeworden, dass sie bei Null anfingen und dass all das doch wenigstens im kleinen Rahmen schon mal ausprobiert worden war und man davon lernen müsste.

Auf Rügen hatte anfangs vor allem eine Gruppe Schwierigkeiten bereitet: die einer proportional zu ihrem Jahreseinkommen wachsenden Panik verfallenden Gäst*innen der Luxusferienhäuser und -hotels. Sie hatten versucht, dem Personal und Hotelmanagement zu verbieten, Lebensmittel oder Notstromaggregate mit den Inselbewohner*innen oder