Hysteria - Eckhart Nickel - E-Book

Hysteria E-Book

Eckhart Nickel

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Beschreibung

»Hysteria« erzählt die Geschichte von Bergheim, der auf einem Biomarkt merkwürdig unnatürliche Himbeeren entdeckt. Auf der Suche nach dem Rätsel ihrer Beschaffenheit und Herkunft gerät er immer tiefer in eine kulinarische Dystopie, in der das Natürliche nur noch als absolutes Kunstprodukt existiert, weil das Künstliche längst alle Natur ersetzt hat. Aber keiner weiß davon. Nur seine Hypersensibilisierung befähigt Bergheim, die unheimliche Veränderung wahrzunehmen und ihr nachzugehen. Alle Fäden laufen im Kulinarischen Institut zusammen, wo er Charlotte wiedertrifft, seine Studienfreundin und ehemalige Geliebte, die nun als Leiterin an der Spitze der Bewegung des »Spurenlosen Lebens« steht. Allein mit Ansgar, dem dritten im Bunde des ehemaligen Uni-Triumvirats, wird es Bergheim gelingen, etwas dagegen zu tun.

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.de/literaturISBN 978-3-492-99257-2© Piper Verlag GmbH, München 2018Covergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotiv: Maria Sibylla Merian Der Raupen wunderbare Verwandlung und sonderbare Blumennahrung (Titelblatt), Nürnberg 1679Datenkonvertierung: Fotosatz Amann, MemmingenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Zitat

1 – Auf dem Markt

2 – Sommerfrische

3 – Baumschule

4 – Kulinarisches Institut

5 – Charlotte

6 – Das spurenlose Leben

7 – Meeresleuchten

8 – Schöpfer

9 – Die Box

10 – Weiss

11 – Aromabar

12 – Schaufenster zur Seele

13 – Esspapier

14 – Geschmack

15 – Appetit

16 – Im Käfig

17 – Tier

Für James Heinrichund Susan Ann

Es ist ein wunderlicher Vorgang, wie die Phantasie gleich einem Fieber, dessen Keime von weit her getrieben werden, von unserem Leben Besitz ergreift und immer tiefer und glühender sich in ihm einnistet. Endlich erscheint nur die Einbildung uns noch als das Wirkliche, und das Alltägliche als ein Traum, in dem wir uns mit Unlust bewegen, wie ein Schauspieler, den seine Rolle verwirrt.

Ernst Jünger

1

Auf dem Markt

Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht. Die kleinen geflochtenen Holzschalen, die Bergheim auf dem Markt immer hochhob, um zu sehen, ob sich das weiße Vlies am Boden schon von zerfallenden Früchten rötlich verfärbte, waren übervoll mit zu dunklen Beeren. Während der natürliche Prozess ihrer Auflösung sich in der Regel als Schimmel zeigte, der über die zum Platzen mürben Fruchtgefäße hinauswuchs, handelte es sich hier um einen zutiefst beunruhigenden Farbwechsel. Die Farbe, an die sich Bergheim bei Bio-Himbeeren seit vielen Jahren gewöhnt hatte, war ein blasses, bläuliches Rot, das bei Lichteinfall fast durchscheinend wirkte. Diese aber waren anders, sie leuchteten in schwärzlichem Purpur, was den Früchten etwas entschieden Jenseitiges gab.

Bei seiner Inspektion der Schalen stellte Bergheim fest, dass selbst die Papiertücher unter den Beeren schon tiefdunkelrot waren und sich erste Tropfen wie frisch ausgetretenes Blut am hellen Holz der Schale sammelten. Der Name der Kooperative, Sommerfrische, war in Fraktur mit einem Retrostempel aufgedruckt. Seit kurzer Zeit tauchten überall Typografien auf, die an das früher als reaktionär geltende Sütterlin erinnerten. Mit dem altertümlichen Schriftzug wollte man sich bewusst zu einer Tradition bekennen, die noch Bezug zur Herkunft hatte und das eigene Land als Produktionsort ausländischen Importen vorzog. Bergheim konnte die Adresse nur mit Mühe entziffern. Automatisch sortierte er die achtlos übereinandergestapelten Schalen und rückte sie zurecht, sodass ihre Ränder eine gerade Linie ergaben und genügend Raum zwischen ihnen entstand, um die Früchte nicht noch weiter zu zerdrücken.

Er nickte, während er sich das Ergebnis prüfend besah, und musste wegen der Farbe unwillkürlich an Samtvorhänge denken, wie sie vor die Fenster von Leichenwagen gezogen wurden. Der kitzelnde Flaum, der sich beim Zerdrücken der Frucht im Mund wie ein Pelz auf die Zunge legte, widerte ihn auf einmal an. Dazu kamen die weißen Poren im Inneren der Himbeere, die schon von Natur aus an bedenklichen Pilzbefall erinnerten, obwohl sie nur die Punkte bezeichneten, an denen sie mit der Pflanze verbunden waren.

Die Härchen, die wild zwischen einzelnen Waben herausragten, schienen sich noch dazu zu bewegen, und über den zellenartigen Fruchtbällen formte sich gräulicher Schimmer, der sie fast staubig aussehen ließ, wie ein dünnhäutiger Bovist. Die Fruchtzellen, die ihm bislang als Schlüsselreiz dienten, um seinen Mund wässrig zu machen, flößten ihm auf einmal Furcht ein. Er sah grässliche Spinnenköpfe aus den Himbeeren herausspähen, das Wachstum des Fruchtfleisches, zuvor Beweis für die wunderbare Vermehrung der Natur, erschien ihm nun als gefährliches Wuchern, bösartige Fruchtzellen, die sich unentwegt teilten und der Welt feindlich entgegenwuchsen, um sie zu beherrschen und am Ende zu vernichten. Bergheim sah sich ungläubig um: Merkten all die anderen Marktbesucher denn nicht, was hier gerade geschah?

Beim Anblick der vielen Menschen wurde ihm schwindlig, er hatte Schwierigkeiten, zu fokussieren, was dazu führte, dass er die Gesichter nicht mehr als Ganzes wahrnahm, sondern als Ausschnitt, wie durch ein Vergrößerungsglas betrachtet. Augenbrauen wuchsen zu wilden Hecken, hinter denen gewiss Schreckliches geschah, nur angedeutet durch die Falten des Mienenspiels, das sich auf der hohen Stirn eines jungen Mannes abzeichnete. Die wulstig aufgeworfenen Lippen eines Marktschreiers öffneten sich zum abgründigen Schlund, der alles Licht zu schlucken schien. Bevor ihm schwarz vor Augen wurde, wandte Bergheim sich ab. Mit jedem Schritt beschleunigte er seinen Gang, nur weg von dem Stand, und verfiel, den Blick starr nach vorne gerichtet, mehr und mehr in eine Art kontrolliertes Rennen. Bald verlor er den Überblick darüber, in welchem Teil des Marktes er sich gerade befand.

Er musste schon eine ganze Weile gelaufen sein, ohne nach rechts oder links zu schauen, denn weit und breit war auf einmal kein Obst oder Gemüse mehr zu sehen. Nur noch Tiere, die hinter provisorisch gezimmerten Holzverschlägen in den kühlen Morgen atmeten und von denen ein strenger Stallgeruch ausging. Um die Sonne, die sich langsam aus dem Hochnebel abzuzeichnen begann, bildete sich ein leuchtender Ring aus feinen Wolken. Der Halo sah weniger nach dem angekündigten spätsommerlichen Regen aus, er schien viel eher Schnee anzukündigen. Die Bauern aus der Umgebung in ihren ledernen Schürzen präsentierten stolz ihren Bestand an Vieh in Gattern und boten neben Schlachtfleisch, das sauber aufgeschichtet in den weißen Schalen der Vitrinen lag, auch frische Milch in Blechkannen mit Holzgriffen an.

Als Bergheim, weil es gerade vor einem Stand, der Wagyu-Rinder von einer organischen Farm an den Weidehängen des nahen Mittelgebirges anbot, nicht weiterging, seinen Blick über die schwärzlichen Tiere schweifen ließ, fiel ihm ein Rind auf, das weiter hinten im Pulk stand und sich eigenartig bewegte. Während die anderen bereitwillig zu den Kindern der Einkäufer am vorderen Rand der Koppel kamen, um sich streicheln zu lassen, blieb das Tier verstört an der Tränke stehen. Es kratzte mit den Hufen monoton das Stroh zur Seite und rieb sein Fell an den mit krumm geschlagenen Nägeln übersäten Brettern des Zauns. Dabei blieben Hautteile am Holz hängen, sodass allmählich das Fleisch durchzuschimmern begann. Als er genauer hinsah, entdeckte Bergheim, dass trotz der Verletzungen, die sich das Tier beibrachte, kein Blut zum Vorschein kam, sondern immer größere Flächen einer gräulich glänzenden Fleischmasse, die verdorbener Hähnchenbrust in Zellophan ähnelte.

In dem Moment, da Bergheim erschrocken aufsah, blickte er direkt in die Augen eines Marktaufsehers, der am anderen Ende der Koppel in ein Funkgerät sprach und einer Gruppe von Stallburschen, die um ihn herumstand, hektische Handzeichen in seine Richtung gab. Als er daraufhin zum Rind zurückschaute, war es nicht mehr da. Sofort drehte er seinen Kopf weg und ging unmittelbar hinter einer Familie mit einem Geländekinderwagen in Deckung, indem er vortäuschte, er hätte etwas fallen gelassen und müsste danach auf dem Fußboden suchen. Im Schutz der Menschenmasse bahnte er sich, weiter in die Knie gegangen, gebückt seinen Weg in die entgegengesetzte Richtung. Als er sich mehrmals umgesehen hatte und weder den Aufseher noch seine Burschen ausmachen konnte, rannte er hastig auf die Straße und wäre beim Überqueren fast von einem laut hupenden Lieferwagen erfasst worden.

2

Sommerfrische

Die Kooperative lag außerhalb der Stadt. Der Vorort grenzte direkt an die umliegenden Wälder, und die Besitzer hatten einen Teil ihres Grundstücks in eine Feldlandschaft für Selbstpflücker verwandelt, die sich wie eine kostenlose Werbefläche an der frisch geteerten Ausfallstraße entlangzog. Bergheim stieg aus der Straßenbahn und gelangte nach einiger Zeit zu einem Parkplatz für Elektroautos, neben dem ein Fachwerkhaus stand. An der Front des Hauses war, aus Holzscheiten gezimmert, der Name der Kooperative zu lesen: Sommerfrische.

Bei seinem Fußmarsch hatte Bergheim hinter dem unlängst abgebeizten Jägerzaun durch die Rauten hin und wieder Familien in Allwetterkleidung erkennen können, die mit Bastkörben gebeugt zwischen Erdbeerbeeten umherliefen und bisweilen triumphierend besonders riesige Exemplare hochhielten, um sie den anderen zu zeigen. Obwohl der Spätsommer kaum in Herbst übergegangen war und der Regen noch nicht eingesetzt hatte, trugen alle Gummistiefel und Wachsjacken. Im Laufen hatte er versucht, die Rauten des Jägerzauns aus seinem Blickfeld verschwinden zu lassen, indem er seine Augen auf das Geschehen dahinter fixierte, aber es war ihm nicht gelungen. Ein Umstand, der Bergheim an eine Eisenbahnfahrt erinnerte, die er vor Kurzem unternommen hatte.

Als er wie üblich im Abteil saß und die Landschaft vor dem Fenster vorbeiraste, begann er zufällig auf die Masten der Stromleitung zu achten, die parallel zur Strecke standen. Dann geschah etwas Seltsames. Weil er am Fenster entgegen der Fahrtrichtung saß, konnte er in Kurven bis zum Zugende sehen, aber das schöne Bild des silbernen Bandes, das sich elegant an einem See entlangschlängelte, wurde empfindlich durch die nun in den Vordergrund drängenden Masten gestört. Früher war es ihm immer gelungen, Dinge, die direkt vor ihm waren, mit seinen Augen wie ein Objektiv ins Unscharfe zu drehen und auszublenden, um sich auf etwas dahinter konzentrieren zu können. Nun hatte er Schwierigkeiten, überhaupt etwas von der Natur zu sehen, das nicht vom Stakkato der Strommasten verwischt wurde. Zwischen den Masten hing die Leitung noch dazu nach unten durch, was im Vorbeifahren den Eindruck eines Elektrokardiogramms entstehen ließ, das jemand heimlich vor das Zugfenster projiziert zu haben schien.

Bergheim war in der Nähe eines Umspannwerks aufgewachsen. Was ihn daran immer besonders beeindruckt hatte, war das monotone Brummen, das man bereits von Weitem hören konnte und das sich beim Näherkommen in sirrendes Britzeln verwandelte. Er fragte sich oft, wie Strom an sich wohl aussähe, warum man ihn im Freien hörte, wenn er von irgendwo herkam und gebündelt wurde und dann weitergeschickt, Gott weiß, wohin, aber niemals zu Hause in der Wohnung an den Steckdosen, wo er in die Lampen floss und die Geräte.

Was ging in den Masten vor sich, die wie Wachtürme aus einer anderen Zeit in seltsamer Melancholie das Land überzogen? Einer Melancholie, die wohl dem Umstand geschuldet war, dass sie sich nie vom Fleck bewegten, aber gleichzeitig ertragen mussten, wie eine Urgewalt endlos durch ihre Leitungen strömte, über Felder und Hügel, von einem Ort zum nächsten, aber keiner konnte ihrer je habhaft werden, weil sie unfassbar, ja nicht zu greifen war. Es gab Menschen, die über der Allgegenwart des Stroms fast verrückt wurden, die es nicht aushalten konnten, in einem Raum zu sein, wenn nicht jede installierte Steckdose auch mit einem Gerät verbunden war, weil sie das, was andernfalls aus der Wand kam, fürchteten wie nichts sonst. Bergheim hingegen misstraute selbst dem Ruhezustand seines Fernsehers, wenn er abgeschaltet war, und zog nachts den Stecker, um zu verhindern, dass Strahlung austrat.

Auf dem Parkplatz der Kooperative standen mehrere polierte Geländewagen an der Akkuladebank, daneben zwei Minitaxis und ein Kombi mit Allradantrieb. Der mit Kieselsteinen ausgelegte Weg vom Parkplatz zum Gebäude war von Brombeersträuchern gesäumt, was Bergheim zu einem, wie er es bei sich nannte, Mundraub im Vorübergehen nutzte. Die Brombeeren waren weder besonders groß gewachsen noch weich. Als er die erste Frucht beherzt mit der Zunge am Gaumen zerdrückte, zog sich seine Stirn in Falten: Der Geschmack war ernüchternd. Er glich einer mit Süßstoff gezuckerten Feige, die zu lang getrocknet war. Wie bei Most gab es einen Hauch von Fermenten, dann hörte die Brombeere auf, überhaupt nach etwas zu schmecken. Um sicherzugehen, dass er nicht einfach nur ein überreifes Exemplar gewählt hatte, aß er noch ein paar mehr, aber immer mit dem gleichen Ergebnis.

Zudem hatte sich auf der Hand mit den Brombeeren ein Marienkäfer niedergelassen, dessen Gestalt Bergheim irritierte: Er sah auf den ersten Blick ganz normal aus, nur dass er nicht rund war, sondern eher länglich. Auch konnte er seine transparent schimmernden Flügel nicht richtig zusammenfalten, sie bewegten sich auf und ab, während er hektisch über das dichte Flaumhaar von Bergheims Handrücken krabbelte, um nach einem Abflugpunkt zu suchen. Was Bergheim aber am meisten wunderte, war die Farbe: ein blasses Rostrot, über das die Natur ein paar dunklere Punkte gestreut hatte. Als hätte die jahreszeitliche Verfärbung der Blätter an den Bäumen auch von den Tieren Besitz ergriffen und das bevorstehende Ableben bereits in ihre Erscheinung eingeschrieben.

»Verzeihung, kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

Vor Bergheim hatte sich, während er dem Käfer zu folgen versuchte, eine kräftige junge Frau aufgebaut, die ihn um einen ganzen Kopf überragte. Sie trug ihr Haar zu einem Zopf geflochten, dazu schlammfarbene Latzhosen und ein weißes Hemd, über dessen Brusttasche Name und Emblem der Kooperative in grasgrünem Garn eingestickt waren. Obwohl er sich ihr sofort höflich zuwenden wollte, um die Frage zu beantworten, konnte er seinen Blick nicht von dem Symbol lösen, das auf ihrer Hemdbrust prangte: der zackige Umriss eines Blattes, der unmerklich in die Strahlen einer aufgehenden Sonne überging.

»Danke. Ja, vielleicht können Sie mir helfen. Ich bin wegen der Himbeeren hier, die Sie auf dem Markt in der Stadt verkaufen.« Er versuchte sich an die Stilfigur zu erinnern, die das Bild auf ihrem Hemd beschrieb.

»Wieso? Sind Sie Großhändler? Wir haben da schon jemanden unter Vertrag.«

Es war ja so: Das Chlorophyll kam erst durch die Einwirkung des Sonnenlichts und den Prozess der Photosynthese zustande. Aber auf dem Bild sah es so aus, als ob die Sonne bereits über einem vollends ergrünten Blatt aufging, da genau lag der Fehler. Bergheim war derart begeistert von seiner Erkenntnis, dass er sogar vergaß, die Stilfigur zu bestimmen, die ein solches Vexierbild bezeichnete, eine Art Umkehrung der logischen Reihenfolge des Geschehens.

Als er aufsah, bemerkte er die routinierte Bewegung, mit der die junge Gärtnerin ihn unauffällig Schritt um Schritt zurück in Richtung Parkplatz drängte. »Deswegen bin ich gar nicht hier, warten Sie, ich kann alles erklären.« Weil er ihr nun direkt in die Augen sah, blieb sie kurz stehen. Als er ihrem Blick folgte, während sie langsam an ihm herabschaute, bemerkte er entsetzt, dass er die Brombeeren immer noch in der Hand hielt. »Hier, wenn Sie mal probieren wollen, ein ähnlicher Fall wie bei den Himbeeren. Da war es die Farbe, hier ist es der Geschmack.«

Sie starrte Bergheim erstaunt an, nahm eine Beere und begann zu kauen. Während sie noch Reste deutlich sichtbar zwischen ihren Zähnen hin- und herbewegte, legte sie den Kopf schief, um ihrem Urteil Gewicht zu verleihen: »Die sind nicht zum Verkauf bestimmt. Die wilden Sträucher haben wir hier gepflanzt, um Lücken in den Hecken zu füllen. Weil die schneller wachsen als die anderen.«

Bei dem Gedanken, dass es sich am Ende um eine ungenießbare Sorte handelte, wurde ihm mulmig, aber die Frau hatte sie schließlich gerade selbst gekostet. Seine Zähne begannen zu kribbeln, als habe man ihnen eine wesentliche Substanz entzogen, und in seinem Magen wurde es unangenehm warm.

»Und was meinen Sie mit den Himbeeren?« Sie fixierte ihn mit verschränkten Armen, was der Situation den Charakter eines Verhörs gab. Die Stille, die auf ihre Frage nach den Himbeeren eintrat, wurde Bergheim so unerträglich, dass er die Brombeeren ungeschickt fallen ließ, was er mit einem etwas zu lauten »Hoppla« kommentierte. »Da liegen sie. Und siehe da: völlig intakt. Keine einzige zerplatzt.«

Sie lächelte ihn mitleidig an. »Wilde Strauchbrombeeren, nie probiert? Viel solider als ihre überzüchteten Verwandten aus der Feinkostabteilung.«

Bergheim sah sie staunend an: »Nein, nie gehört. Wo kommen die Pflanzen denn her?«

Sie lachte auf. »Ich glaube, ein Besuch in unserer Musterschule könnte interessant für Sie sein. Wenn Sie Zeit haben, kommen Sie doch einfach mit.«

Obwohl er nicht wusste, was man sich nun genau unter einer Musterschule vorzustellen hatte, folgte er der Gärtnerin zu einem Hintereingang, der als große Rampe für Lieferwagen diente. Während das bis zum Rohmaterial abgebeizte Holzportal sich automatisch öffnete, bemerkte Bergheim ein winziges Instrument, das die Gärtnerin diskret an der Brusttasche ihrer Latzhose befestigt trug und das parallel zum monotonen Surren der altertümlich anmutenden Mechanik dunkelrot aufzublinken begann.

»Kommen Sie herein, wir haben den alten Begriff der Musterschule etwas weiter gefasst.«

Sie öffnete die Tür zu einem Saal, in dessen Mitte die Miniaturdarstellung einer Landschaft unter Glas stand.

»Musterschule meint, wir zeigen, wie die Natur hier im Land früher ausgesehen hat: Fauna und Flora, die ganze belebte Welt mit allen indigenen Pflanzen, Bäumen, Sträuchern, Tieren, Fischen, Insekten, Vögeln – ein Abbild dessen, was so sein sollte, wie es einmal war. Woran wir, selbstverständlich, mit allem, was wir hier tun, unermüdlich arbeiten.«

Erst jetzt bemerkte Bergheim, dass das, was er sah, nicht nur eine perfekte Nachbildung der Natur in Form einer Spielzeugwelt war, sondern dass sich alles noch dazu bewegte. »Wie haben Sie das geschafft?«

Die Gärtnerin lächelte. »Sie meinen die Animation? Unsere kleine Welt erscheint in neuem Licht, so ging das Lied, das wir damals auf der Straße beim Hinkekästchen-Spielen immer gesungen haben. Mein absoluter Kindertraum. Nun haben wir ihn dank der Präparatoren verwirklicht. Eine Liliput-Arche. Wir haben sozusagen die Goethe’schen Urpflänzchen alle hier versammelt, damit sie uns nicht wieder verloren gehen, wie beim letzten Mal.«

Bergheim konnte die Augen nicht von dem Treiben unter Glas lassen und umschritt das Modell, um es von allen Perspektiven aus zu betrachten.

»Und wo arbeiten diese, wie sagten Sie, Präparatoren?«

Sie deutete auf eine kleine Tür an der Seite: »Die Dermoplastiker? Gleich hier. Wir haben heute Abend ein Forum mit vorangehender Führung durch die Baumschule – vielleicht wollen Sie kommen? Ich stelle Sie gern schon einmal meinem Kollegen vor, wie war noch ihr Name?«

»Bergheim. Und wie heißen Sie?«

Sie reichte ihm die Hand. »Asche. Henriette Asche. Sehr erfreut.«

Sie gingen durch den Flur in einen kleinen Zwischenraum, und nachdem sich die Tür hinter ihnen automatisch geschlossen hatte, reduzierte sich das Deckenlicht sanft und ohne Zutun auf Minimalbeleuchtung. Es dauerte eine Weile, bis sich Bergheim überhaupt an das Zwielicht gewöhnen konnte. Nach mehrmaligem Klopfen öffnete sich die Tür vor ihnen, und aus dem schummrigen Halbdunkel materialisierte sich langsam eine Gestalt, die zunächst nur als Umriss wahrzunehmen war, der sich schleppend zu einem Mann mit Vollbart im weißen Kittel entwickelte. Er trug an der hohen Stirn ein Vergrößerungsglas befestigt und trat auf die beiden zu.

»Dr. Haupt. Hocherfreut. Wie Sie sehen, ist es völlig dunkel hinter mir im Zimmer. Ich muss selbst diese Tür sofort wieder schließen, wenn Sie entschuldigen. Im Prinzip sollten wir ausschließlich nachts arbeiten, aber aus verständlichen Gründen geht das natürlich nicht immer. Daher auch die künstliche Nacht. Jahrelang haben wir an die Unabdingbarkeit des Tageslichts für die Entstehung des natürlichen Eindrucks der Tiere auf den Betrachter geglaubt. Die letzten Forschungen haben aber ergeben, dass ausgerechnet die Sonne neuen Hautpartikeln nicht nur deutlich sichtbaren Schaden zufügt, sondern diese in gewisser Hinsicht sogar zu zersetzen beginnt. Wie früher die sich selbst auflösenden Polaroidbilder. Oder, fast genauso schlimm, das kennen Sie bestimmt auch noch, die verblassenden Papierkopien, die unsere Lehrer mit diesen lilafarbenen Matrizen abzuziehen pflegten.«

Bergheim hatte während seiner Ausbildung die Kopien für seine Kurzvorträge mit ihnen gemacht. Nachdem damals bekannt geworden war, dass gerade die Druckerschwärze, wie sie die Tintenstrahlgeräte seiner Jugend verwendeten, zu den schlimmsten Karzinogenen gehörte, war der Markt bald voll von alternativen Methoden zur Herstellung von Kopien. Ihr überraschender Erfolg, so viel schien Bergheim sicher, war dem klinischen Geruch geschuldet – war das eigentlich Formalin? –, den die Matrizen verströmten. Es kam ihm vor, als ob mit der hauchdünnen lila Farbschicht auf der Rückseite des Pauspapiers nicht nur Buchstaben auf die Abzüge transportiert, sondern auch eine olfaktorische Geheimschrift in die Köpfe der Menschen geschleust wurde: versteckte Botschaften, die das glatte Papier der Matrizen, auf dem in Mattlila die Hand- oder Druckschrift zu lesen war, mithilfe seiner unsichtbaren molekularen Hülle aus Duftpartikeln verströmte. Bergheim stellte sie sich als Äquivalent der prähistorischen Höhlenzeichnungen vor, die man im Südwesten Frankreichs entdeckt hatte. Nicht vom Inhalt her, sondern was die Form anbelangte.

Während des Studiums hatte er sich ausgiebig mit ihnen beschäftigt und damals am Institut einen Aufsatz dazu geschrieben, den er »Über die Jagd und die Sammler« genannt hatte, ein Wortspiel und Verweis auf Ortega y Gasset. Seine Aufmerksamkeit galt dabei einer besonders obskuren Zeichnung, die in der Nähe des Abstiegs zu einem Brunnen gefunden worden war. Für Bergheim war es ganz offenkundig, dass es sich bei der Darstellung um nichts Geringeres als die Urszene des menschlichen Sündenfalls handelte. Weit vor den Anfängen des Christentums hatten die Höhlenbewohner diesen symbolischen Moment als Zeichnung schockgefroren und verewigt.

Bergheim hatte sie dann in seiner Schrift mit einer Filmsequenz in Beziehung gesetzt, die den Beginn des Fleischverzehrs als eigentlichen Sündenfall präsentierte: Darin verwandelte ein übrig gebliebener Knochen des ersten verspeisten Tieres die vormals friedlich miteinander Lebenden, die sich ausschließlich von Pflanzen, Früchten und Gemüse ernährt hatten, in aggressive Monster, die, so erklärte er es, aufgeputscht durch brutale Jagd und blutigen Verzehr in einen Furor der Streitlust gerieten. Aus dem gierig abgenagten und von gefletschten Zähnen polierten Knochen wurde in den Händen eines machttrunken brüllenden Affenmenschen, der mit den Armen wild auf seiner Brust trommelte, ein provozierend in die Luft geworfenes Kriegswerkzeug, das sich mit einer einzigen elliptischen Drehung in eine Raumstation der Zukunft verwandelte.

Der Wissenschaftler musste seinen Vortrag bereits beendet haben, denn als Bergheim aus seinen Gedanken hochschreckte, führte Henriette Asche ihn gerade zurück in den Saal mit der Miniaturlandschaft und wies auf eine Tür, an der eine stilisierte Seife als Schild hing.

»Sie wollen sich vielleicht die Hände waschen, wir wissen ja nicht genau, mit was für Stoffen Dr. Haupt hier hantiert.«

Bergheim war ganz angetan von der Fürsorge, mit der Frau Asche ihn während seines Aufenthalts in der Sommerfrische bedachte. Als er dann aber beim Auftragen der Seife seine Hände ansah, erschrak er: Alle Farbe war aus ihnen gewichen, und übrig geblieben war nur weiß schimmernde Haut, unter der all die Adern und Venen sichtbar wurden, die dort verliefen. Durch die hauchdünne Schicht der Epidermis war alles, was sonst unter ihr versteckt war, zum Vorschein gekommen: Knochen, Muskeln und Nerven bis zum Fettpolster, das vor Verbrennungen schützte. Er nahm immer mehr von der Seife, als ob er den furchtbaren Effekt damit abwaschen könnte, aber jedes Mal, wenn er auf seine Hände sah, war es das Gleiche. Er drehte sie nach vorne, um zu prüfen, ob der Effekt auch im Spiegel zu sehen war, aber das machte die ganze Sache nur noch schlimmer, weil er nun erkennen musste, dass anscheinend selbst sein Gesicht von dem fremdartigen Verfallsprozess betroffen war.

Bergheim klatschte sich Wasser ins Gesicht und rieb sich die Augen, weil er in all seiner Verzweiflung hoffte, das Ganze könnte eine durch niedrigen Blutdruck und Schlafmangel verursachte Sehstörung sein, ein Zustand, den er aus Berichten von Drogenessern kannte, die auf einmal Ameisen aus Händen krabbeln sahen. Um sich von dem entsetzlichen Anblick abzulenken und etwas Sicherheit zurückzugewinnen, versuchte er, mit dem Taschenkamm vor dem mit Tropfen übersäten Spiegel seinen Scheitel nachzuziehen. Doch zunächst hatte er Schwierigkeiten, die Linie zu finden, die das kurze Haar an der Seite des Kopfes vom Deckhaar trennte, und dann verschwand der Scheitel vollends im beschlagenen Spiegelglas.

Bergheim nahm sich zusammen und trat, noch zitternd, zurück auf den Hof der Kooperative. Der Abschied von Frau Asche war hastig: »Vielen Dank nochmals, ich komme gern später zu Ihrer Führung.«

Sie nickte bestätigend: »Sicher, wir freuen uns, Sie nachher begrüßen zu dürfen.«

Erst als er auf die Straße trat und geistesabwesend über den hohen Bordstein stolperte, was ihn unglücklich zu Fall brachte, bemerkte er, was ihm schon die ganze Zeit an seiner Sohle geklebt haben musste: ein zerfaserter schwarzer Fellfetzen, aus dem eine mattgrau gallertartige Substanz auf den frischen Teer quoll.

3

Baumschule

Die Wanderer näherten sich dem Parkplatz mit großer Geschwindigkeit. Bergheim entdeckte sie, weil er auf einmal marschartige Schrittgeräusche vernommen hatte. Was in seinen Ohren klang wie eine kleine Armee, erwies sich bald als Gruppe von drei Paaren, die hintereinander herliefen. Vorneweg ein tiefbraun gebrannter älterer Herr mit markantem, schartigen Gesicht, der über einem groß karierten Hemd einen hellen Anorak mit weit ausladendem Kragen trug. In der rechten Hand schwenkte er einen Spazierstock, mit dem er unentwegt knapp aus dem Takt den Stechschritt kontrapunktierte. Seine beige Hose mit scharfen Bügelfalten gab beim Laufen den Blick frei auf die roten Schnürsenkel seiner soliden Wanderschuhe. Die wollenen Kniebundhosen der Frau, die neben ihm ging, reichten ihr bis über die Hüften, und unter ihrer olivfarbenen Militärbluse trug sie ein weißes Unterhemd. Am auffälligsten fand Bergheim jedoch das Rautenmuster ihrer Kniestrümpfe, das ihn an die geometrischen Figuren der Testbildschirme seiner Jugend erinnerte.

Er war damals nachts extra lang aufgeblieben, nur um zu sehen, wie sich irgendwann mitten in der Nacht die Senderfrequenz änderte und das bis zum Morgen unterbrochene Fernsehprogramm plötzlich von einer anderen Funkstation ausgestrahlt wurde. Doch bevor er länger darüber nachdenken konnte, was genau ihn daran so fasziniert hatte, war die Gruppe schon fast bei ihm. Bergheim kam der Verdacht, dass sie gar keine wirklichen Wanderer seien, sondern eine getarnt arbeitende Spezialeinheit der Tierzüchter vom Markt, die auf der Suche nach ihm war, weil er zufällig etwas gesehen hatte, das niemand jemals zu Gesicht bekommen hätte sollen.

Er stand rasch auf, drehte sich von ihnen weg und rückte dabei seine Krawatte zurecht, um direkt in einen Laufschritt zu verfallen, erst langsam, dann, Schritt um Schritt, immer schneller, wobei die Wanderer, wenn er sich nach ihnen umsah, seinem gesteigerten Tempo unmittelbar zu folgen schienen. Der Gesichtsausdruck des Mannes, der den anderen Pärchen vorauslief, war dabei gelöst und entspannt trotz der sichtbar sportlichen Anstrengung. Er und die Frau neben ihm lächelten einander zu, seine Brauen zogen sich schmal, den Konturen des Schädels folgend, direkt über den tiefen Augenhöhlen zusammen, als seien sie es, mit denen er die Gegend überblickte und gedanklich durchmaß. Bergheim versuchte, sie zu verwirren, indem er absichtlich seinen Gang so stark verlangsamte, dass er fast stehen blieb, und dann aus dem Nichts wieder einen kleinen Trab begann, aber immer war es das Gleiche, am Abstand von den Verfolgern änderte sich kein Jota.

Die Frau neben dem Anführer zeigte nun direkt auf ihn, winkte mit den Händen hin und her und zog dazu die Augenbrauen hoch, als ob sie ihn vor irgendetwas warnen wollte. Auf der Straße näherte sich ein Bus, der mit metallenen Bügeln an der Oberleitung hing, beim Hin- und Herschwenken blitzte es gefährlich laut auf, weil die Leitung im Zickzack verlief. In Fahrtrichtung des Busses war in einiger Entfernung eine Haltestelle zu sehen, an der sich eine Menschenmenge versammelt hatte, und Bergheim nutzte den Moment, da der Bus ihn passierte und dabei die Blätterhaufen am Straßenrand aufwirbelte, für einen Endspurt.

Als er völlig außer Atem den Bus erreichte und sich unter die gerade einsteigenden Passagiere mischte, fühlte er, wie ihm der Boden unter den Füßen wegzusacken drohte und er kurz davor war, in Ohnmacht zu fallen. Bevor ihm vollends schwarz vor Augen wurde, half er sich mit einem Trick, den er als Kind in einem Pfadfinder-Handbuch gelesen hatte: Kneife in schneller Abfolge die Augen erst zusammen, dann auseinander und bewege dazu den gespitzten Mund abwechselnd nach links und nach rechts. Das sah nun für die Menschen, die in der Menge um ihn herum standen, seltsam aus, zumal er gleichzeitig nervös von einem Bein auf das andere trat und nicht von der Stelle kam.

Inzwischen waren auch die Wanderer am Bus angekommen. »Was ist denn da los?«, fragte die Frau mit den Kniebundhosen, die sich nach vorne zu drängeln versuchte. »Lassen Sie mich durch, ich kenne den Mann.«

Bergheim schob sich weiter in den völlig überfüllten Bus hinein, und eine automatische Ansagestimme ertönte von vorne: »Bitte Türen freimachen, dieser Bus ist voll, der nächste folgt in Kürze.« Erleichtert sah Bergheim, wie sich mit einem schrillen Fiepen die pneumatischen Bustüren schlossen und die Wanderer draußen zurückblieben.

Die Frau wandte sich ihren Leuten zu und signalisierte mit Handzeichen ein großes T, während sie mit dem Kopf zur Seite dem Bus hinterherdeutete. Erst jetzt bemerkte Bergheim, dass es sich bei den Mitfahrern um eine asiatische Reisegruppe handelte, die alle ungefähr einen Kopf kleiner waren als er. Sie sahen still und ehrfürchtig zu ihm auf, und er verbeugte sich im Gegenzug lächelnd in alle Richtungen hin, als wolle er sich für ihre Anwesenheit im Bus bedanken, die sein Entkommen ermöglicht hatte. Als er das Schild auf dem Revers des Gruppenleiters inspizierte, der mit einer Fahne direkt neben ihm stand, las er »Organischer Weltkongress, Sektion 808S, Osaka-Siedlung Düsseldorf«. Anscheinend besuchten sie im Rahmen der gerade stattfindenden Konferenz ausgewählte deutsche Vorzeigebetriebe, um sich mit den allerneuesten Entwicklungen der naturgemäßen Landwirtschaft vertraut machen zu können.

Bergheim fiel ein, dass er sich ja auch für den Kongress angemeldet hatte, um am Nachmittag einen Vortrag seines besten Freundes aus Studienzeiten an der Hochschule für Kulinarik zu hören. Das war nun zu spät, über den Besuch bei der Kooperative hatte er Ansgar völlig vergessen, was ihn mit großer Ratlosigkeit erfüllte. Seine letzten Treffen mit ihm waren nicht gut verlaufen, wieder und wieder hatte sich Ansgar über Bergheims ungehörige Bemerkungen empört, was ihn schließlich zu der Frage verleitete, ob mit ihm oder Ansgar etwas nicht in Ordnung war.

Seit Bergheim nicht mehr viel unter Menschen war, schien er in völlig normalen Unterhaltungen oft missverstanden zu werden, was ihm ziemlich unangenehm war. Und das, obwohl ihm nichts Besonderes an seinem Verhalten auffiel. Im Gegenteil: Weil es so aussah, als ob er seine Gesprächspartner womit auch immer provozierte, hatte er beschlossen, sein seit jeher höfliches diplomatisches Wesen noch mehr als sonst zu betonen, indem er sich nachgerade überfreundlich verhielt. Weil es keine einfache Erklärung für die abweisenden Reaktionen gab, fragte er sich, ob eine Veränderung stattfand mit dem, was er sagen wollte, bevor es bei den Menschen ankam. Und das, ohne dass er etwas davon bemerken konnte. Er war sich nicht sicher, ob ihm überhaupt noch jemand helfen konnte, herauszufinden, was die Ursache für die feindliche Stimmung sein konnte, die ihm nahezu überall entgegenschlug.

Die automatische Ansage, ein dünnes, nur unschwer als Sprachcomputer zu erkennendes Stimmchen aus dem Nichts, klang so überdreht, als ob der Haltestellenname in viel zu hoher Geschwindigkeit eingespielt worden war. »Kulinarisches Institut/Baumschule« plärrte es in den Nachmittag, und Bergheim schreckte jäh aus seinen trüben Gedanken hoch. Er betätigte die Stopptaste zwei Mal hintereinander, um dem Wunsch Nachdruck zu verleihen, gleich beide Ziele besuchen zu wollen. Der Ausstieg war direkt an einem Waldrand, und während die Reisegruppe ihrem Führer nach links zum Institut zu folgen schien, ging er rechts in Richtung der von Frau Asche erwähnten Baumschule.

Weil das erste Stück des Weges direkt an der Ausfallstraße entlangführte, lief er eine Weile neben der Oberleitung, die, obwohl kein Bus mehr zu sehen war, ein gleichmäßig an- und abschwellendes helles Singen von sich gab, wie man es von Bahngleisen kannte, wenn sich ein Zug näherte oder entfernte. Die Abzweigung zur Baumschule führte in einen mit sehr hohen Kiefern und Fichten bestellten Wald hinein, und erst nachdem Bergheim eine Weile in die immer umfassender werdende Dunkelheit gelaufen war, fiel ihm auf, dass keine Wegweiser mehr kamen und auch das Tageslicht unerwartet früh am Nachmittag geschwunden war. Ein Blick auf seine Solararmbanduhr zeigte vier Uhr an und er bemerkte irritiert, dass der Batteriestand gegen null ging.

Er versäumte bewusst, der Betriebsanleitung zu folgen und die Uhr im Freien immer über der Manschette zu tragen, weil er es immer noch für unwürdig hielt, seine Armbanduhr wie ein lächerlicher Sonnenanbeter dem Licht entgegenzudrehen. Indem er es absichtlich nicht tat, rebellierte er insgeheim auch gegen alle anderen Vorschriften des »Spurenlosen Lebens«. Der Katalog an Dingen, die zu tun oder zu lassen waren, wuchs in letzter Zeit wirklich über jegliches Maß hinaus, fand Bergheim. Es hatte in seiner Jugend ganz harmlos mit der Abfalltrennung begonnen, war aber spätestens seit der letzten Neuerung, dem Verbot des Fleischverzehrs an allen Wochentagen, die kein oder nur ein N in ihrer Buchstabenfolge führen, um so die Treibhausgase halbwegs unter Kontrolle zu bringen, endgültig ins Alberne gedriftet.

Nun war ihm nicht ganz wohl bei der Vorstellung, in einen dunklen Wald zu wandern, ohne die genaue Uhrzeit zu wissen, weil es ihm vorkam, als sei die Tageszeit einer der wenigen verlässlichen Parameter zur Einschätzung der Lage, in der er sich befand. Denn ein sonderbares Phänomen hatte seine Aufmerksamkeit erregt: Obwohl es nach wie vor zwischen Fichten und Kiefern entlangging, entströmte dem Waldboden und den Bäumen ein starker Kampfer- und Eukalyptusduft. Doch nicht der aus synthetischen Ölen, an denen er sich früher regelmäßig mit seinen Studienfreunden an den Wochenenden in der Aromabar berauscht hatte, sondern der überwältigende Geruch frisch abgeholzter Wälder.

Aber damit nicht genug. Obwohl er weit und breit nur Nadeln auf dem ziemlich ausgetrockneten Waldboden sah, aus dem hier und da abgewetzte Wurzelteile hervorleuchteten, roch es streng nach Feuchtigkeit und Moos, nach Farnen und Waldbächen. Doch selbst als er kurz stehen blieb, um in der Einsamkeit der riesigen Nadelbäume zu lauschen, ob er das Geräusch eines nahen Gewässers vernehmen konnte, war nichts zu hören außer dem Wind, der Äste und Wipfel hin und her bewegte.

Nur eines passte nicht: ein Zwischenton, der sich in den Gesang des Windes mischte. Der Lautstärke nach handelte es sich um ein entlegenes Geräusch, das aber durch die aggressiv monotone Wiederholung etwas entschieden Bedrohliches bekam. Bergheim stellte sich beim Klang eine entsetzliche, schwere Fracht vor, die von rücksichtslosen Arbeitern verladen wurde, die angewidert ihr Werk verrichteten, weil sie um den schrecklichen Charakter der Ladung, die ihnen anvertraut war, wussten. Das metallische Dröhnen scheppernder Schwerlasten, die auf einem gigantischen Verladebahnhof in dafür bereitstehende Waggons fallen gelassen wurden und nach dem Wiegen einen leichten Abhang hinabrollten, bevor sie endlich mit einem Knall auf ihren vorbestimmten Güterzug aufprallten, setzte sich in Bergheims Gehörgänge fort. Dort verzweigte es sich wie die bizarre Zeichnung eines Gerüchts, das sich flüsternd und gierig durch Hochhausschluchten einer Großstadt windet, um die Menschen zur Weiterverbreitung seiner Unwahrheit zu verführen.

Es war inzwischen so dunkel geworden, dass Bergheim das kleine Licht, das am Horizont erschien, wie den ersten Sonnenstrahl nach einer endlosen Winternacht am Polarzirkel empfand. Er begann, der Helligkeit entgegenzurennen, weil er den Wald hinter sich lassen wollte und all die unheimlichen Geschehnisse, die sich in seiner Dunkelheit zu verstecken schienen, er wollte auch nicht mehr wissen, was sich tatsächlich dahinter verbarg, nur noch die Nacht verlassen und alles, was sie im absoluten Schutz ihres Vergessens der Sichtbarkeit entzog.

Selbst als er erkannte, dass es tatsächlich das Tageslicht war, dem er entgegenlief, fragte er sich nicht mehr, ob die Schwärze hinter ihm der Höhe der Bäume geschuldet gewesen war oder einem künstlich hervorgerufenen Lichtentzug. Er drehte sich kein einziges Mal mehr um, so grauste ihn die Vorstellung davon, was er, ohne es zu sehen, erlebt hatte. Am Ende übersah er fast, dass auf dem Schild, das in den Wald hineinwies, wo er ihn verlassen hatte, in Großbuchstaben das Wort »Baumschule« geschrieben stand.

4

Kulinarisches Institut

Die Höhe des Eisentors war schwer abzuschätzen. Der Eingang musste bewusst am Rand des Waldes eingerichtet worden sein, dachte Bergheim, um direkt vom Institut aus Zugang zur Baumschule zu haben. Unter dem schweren Schild, das leicht oxidiert den runenartigen Schriftzug »Kulinarisches Institut« trug, befand sich ein kreisrunder, rostiger Klingelknopf, den Bergheim vorsichtig und kurz betätigte. Die schmale Tür daneben war kaum sichtbar. Erst als sie sich mit einem leisen Summen zu öffnen begann und ihre Umrisse langsam aus der monochromen Fläche hervortraten, sah er, wo genau sie sich im Eisentor befand.

Der Weg durch den Garten schien endlos, es ging in Biegungen ein Stück bergab, dann wieder aufwärts, und er passierte einen Fluss über eine Brücke. Eine altmodische Stromleitung, die mehrfach den Weg kreuzte, erwies sich bei näherem Hinsehen als Überwachungsanlage. Winzige Kameraaugen waren mitten in den kreisrunden Flächen der blaugrünen Transformatoren angebracht. Bergheim wurde nur auf sie aufmerksam, weil unter ihnen ein rotes Licht pulsierte, das genauso aussah wie das auf dem Instrument an Frau Asches Brusttasche.

Je länger er über das Pulsieren nachdachte, desto bekannter kam ihm die Landschaft des Parks vor, als gehöre sie untrennbar zu einem Traum, den er vor Kurzem gehabt hatte. Gestalten begannen sich darin aus den Umrissen der Dunkelheit abzuzeichnen wie ein stetig wachsendes Elmsfeuer, das Bergheim sonst immer erst dann sah, wenn er seine Augen aufschlug, weil ihn etwas jäh aus dem Schlaf hochschrecken ließ, von dem er nach dem Erwachen nicht mehr wusste, was genau es war. Die Zweige eines Baums, dessen dünne Äste fast alles Laub abgeworfen hatten, wuchsen wie feine Knochen in das Bild hinein und gaben den flimmernden Wesen eine unheimliche Transparenz, als wäre Bergheim in Wahrheit ein Wächter, der Passagiere am Flughafen aus der Reihe zog, um sie zu durchleuchten.

Da ihm nicht ersichtlich war, ob es sich bei dem Phänomen nicht doch nur um eine chemische Reaktion auf der Oberfläche seiner Bindehaut handelte, kniff er mehrmals die Augen zusammen. Das führte aber zu dem entgegengesetzten Effekt, da sich das molekulare Schauspiel noch verstärkte. Es glich einem Zellentanz, den er sonst nur in seit Kindertagen selten gewordenen Zuständen totaler körperlicher Erschöpfung erlebte, wenn die paarweise auftretenden Gebilde wie Zikaden vor seinen Augen auf- und abstiegen. Ein Schleier, der in seiner Konsistenz an spektral zitternde Lauge erinnerte, die kurz vor dem Aufpusten einer Seifenblase im hohlen Mundstück zu sehen ist.

Bergheim hatte in ähnlichen Situationen schon mehrfach an sich selbst beobachtet, dass er in Momenten der Unsicherheit dazu neigte, ein Ereignis, das ihm nicht geheuer war, durch bewusste Steigerung zu potenzieren oder überhaupt erst heraufzubeschwören. Deswegen dauerte es auch eine Weile, bis er davon überzeugt war, dass das, was sich da vor seinen Augen abspielte, wirklich geschah und nicht nur ein banaler Trick seiner überreizten Empfindung war.

Später am Morgen, nach dem Aufwachen, hatte er kaum nachvollziehen können, warum ihm im Traum unmittelbar klar gewesen war, dass es sich bei den zwei aus der Finsternis auftauchenden Wesen um Boten handelte, die ihm eine Nachricht zu überbringen hatten. Genau wie seine Sicherheit, diese sofort als Paar zu identifizieren, als Mann und Frau. Die Körper der Illuminierten waren unaufhörlich in Bewegung, sie oszillierten munter wie der animierte Ball in einem uralten Bildschirmspiel, der immer so langsam zwischen den zwei auf- und abwärts zu schiebenden Strichen hin- und herflog, dass man seine Flugbahnen nahezu wie Rollspuren eines Schneeballs verfolgen konnte, bis ihn einer der Spieler nicht mehr erreichte und dieser als Irrläufer ins Nichts außerhalb des Monitors verschwand.

Ende der Leseprobe