12,99 €
»Manchmal frage ich mich, warum ich lebe, warum Menschen überhaupt leben. Aber das erzähle ich nur Dir – ich laufe nicht mit hängendem Kopf herum, sodass es jemand sieht. Falls Du weißt, warum Menschen leben, dann schreib und erzähl es mir.« Astrid Lindgren stand 1953 am Beginn einer beispiellosen Weltkarriere. Bei einem Berlinbesuch lernte sie die Deutsche Louise Hartung kennen, etwa ein Jahr nachdem Lindgren sehr plötzlich ihren Mann verloren hatte. Aus der Begegnung entstand eine ganz besondere Freundschaft. Wie wenig andere verstand Hartung die »kleine Melancholie«, die Lindgren an manchen Tagen überkam. Über elf Jahre hinweg teilten die beiden außergewöhnlichen Frauen Freude und Trauer und standen einander in über 600 Briefen bei, die sich wie ein Roman lesen. In den Briefen der Freundinnen, die die Weltschriftstellerin Astrid Lindgren von einer ganz neuen Seite zeigen, entsteht ein sehr persönliches Bild vom Leben in Deutschland und Schweden in einer Zeit des Wiederaufbaus und gesellschaftlichen Umbruchs. Berührend, klug, traurig und lustig zugleich: das Porträt einer engen Freundschaft, die alle Grenzen überwindet.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Das Buch
Astrid Lindgren stand 1953 am Beginn ihrer schriftstellerischen Weltkarriere. Bei einem Berlinbesuch begegnete sie Louise Hartung, etwa ein Jahr nachdem Lindgren sehr plötzlich ihren Mann verloren hatte. Aus der Begegnung entwickelte sich eine ganz besondere deutsch-schwedische Freundschaft. Wie wenig andere verstand Hartung die »kleine Melancholie«, die Lindgren an manchen Tagen überkam. Elf Jahre lang teilten die beiden außergewöhnlichen Frauen Freude und Trauer und standen einander in über 600 Briefen bei, die sich wie ein Roman lesen. Im Briefwechsel der Freundinnen entsteht ein sehr persönliches Bild vom Leben in Deutschland und Schweden in einer Zeit des Wiederaufbaus und gesellschaftlichen Umbruchs.
Die Autorinnen
Astrid Lindgren (1907–2002) ist die wichtigste Kinderbuchautorin des 20. Jahrhunderts, Pippi Langstrumpf, Michel aus Lönneberga, Karlsson vom Dach, Ronja Räubertochter und Die Brüder Löwenherz sind Klassiker. Astrid Lindgrens Bücher wurden in über 96 Sprachen übersetzt und haben sich mehr als 150 Millionen Mal verkauft.
ASTRID LINDGREN UND LOUISE HARTUNG
Ich habe auch gelebt!
Briefe einer Freundschaft
Ausgewählt und herausgegeben von Jens Andersen und Jette Glargaard Aus dem Schwedischen, Dänischen und Englischen von Angelika Kutsch, Ursel Allenstein und Brigitte Jakobeit
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de
Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.
Hinweise zu Urheberrechten
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.
Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Widergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
ISBN 978-3-8437-1488-4
© 2016 © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Umschlagkreation: Sabine Wimmer Umschlagausführung: zero-media.net, München Umschlagmotive: © Saltkråkan AB
E-Book: L42 AG, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
1 Astrid Lindgrens und Louise Hartungs erste Begegnung in Berlin, Oktober 1953.
Dieses Buch handelt von zwei Frauen, die sich im Europa der Nachkriegszeit kennenlernten, Freundinnen wurden und elf Jahre lang über mehr als 600 Briefe hinweg ein Gespräch führten. Sie sprachen tatsächlich auf dem Papier miteinander, Monat für Monat, in manchen Phasen Woche für Woche und mit der Zeit auch am Telefon und auf gemeinsamen Reisen.
Ihre Briefe zu lesen – Louise Hartungs deutsche und Astrid Lindgrens schwedische – ist so, als säße man in den 1950er Jahren in einem mitteleuropäischen Café und lauschte am Nebentisch zwei lebendigen, wissbegierigen Stimmen; mal eifrig erhoben, mal nachdenklich und gedämpft. Ein Brief der einen kreiste selten nur um diese selbst, sondern bezog die Existenz und Gedankenwelt der anderen stets mit ein. Ihre Fragen und Antworten betrafen Alltag, Arbeitsleben, Träume, den Zweck der Literatur, die Kunst der Freundschaft und nicht zuletzt die Grenzen der Liebe. So schrieb Louise Hartung im Januar 1957 an Astrid Lindgren: »Du wunderst Dich und kannst das Rätsel nicht begreifen noch lösen, warum so viele Menschen Dich lieben. Und ich wundere mich und kann das Rätsel nicht begreifen, wie Du ausgerechnet einen so wundervollen Menschen wie mich nicht lieben kannst! Einig sind wir uns nur im Wundern …«
Astrid Lindgren war nicht nur eine überaus fleißige Autorin, sondern auch eine engagierte Briefschreiberin, die ihr ganzes Leben lang mit Familie, Freunden, Kollegen und beruflichen Kontakten in schriftlichem Austausch stand. Für einen einsamkeitsuchenden Menschen wie sie bot die Briefform die Möglichkeit, sich anderen Menschen eng verbunden zu fühlen – aus der Distanz. Auch während ihrer Bürotätigkeit beim Verlag Rabén & Sjögren waren die Briefe ein wichtiges Kommunikationsmittel; als leitende Lektorin im Kinderbuchbereich schrieb Lindgren in den Jahren 1946 bis 1970 an Autoren in Schweden und Verlage in der ganzen Welt.
Als in den 1950er Jahren das internationale Interesse an der Schriftstellerpersönlichkeit Astrid Lindgren wuchs, entwickelte sie jedoch ein zunehmend gespaltenes, zeitweise sogar beschwertes Verhältnis zum Briefeschreiben. Die 75.000 »Fanbriefe« im umfassenden Autorenarchiv der Königlichen Bibliothek in Stockholm sprechen für sich – erst recht, wenn man bedenkt, dass Lindgren es sich zum Vorsatz gemacht hatte, allen Kindern und Erwachsenen, die ihr schrieben, zu antworten.
80 Jahre lang war Lindgren als Briefschreiberin aktiv, und auch in ihren Büchern nutzte sie die Briefform. Ihr Debüt aus dem Jahr 1944, »Britt-Mari erleichtert ihr Herz«, ist ein Briefroman, dessen Gerüst die Korrespondenz zweier Jugendlicher bildet. Und in ihrer 1975 erschienenen biographischen Familienerzählung »Das entschwundene Land« verwendet Lindgren die 80 Jahre alten Liebesbriefe ihrer Eltern als Rahmen und Leinwand zugleich, um von den småländischen Wurzeln ihrer Familie zu erzählen.
Auch in Astrid Lindgrens privater Lektüre spielten Briefe und Tagebuchaufzeichnungen anderer Menschen eine große Rolle. Geht man im Portal der Königlichen Bibliothek1 auf virtuelle Entdeckungsreise in Lindgrens Bücherregalen in ihrer Wohnung in Stockholm und ihrem Ferienhaus in Furusund, stößt man auf eine lange Reihe von Briefen und Tagebüchern großer Künstler – von Johann Wolfgang von Goethe über Gustave Flaubert, George Sand, Fjodor Dostojewski, Knut Hamsun, August Strindberg und Harriet Löwenhjelm bis hin zu Helene Schjerfbeck, Katherine Mansfield, Per Wästberg, Liv Ullmann und vielen anderen.
Interessanterweise war es Louise Hartung, die Lindgrens Interesse für die menschlichen Lebensgeschichten weckte, die sich in Korrespondenzen und Tagebüchern verbergen, bald nachdem sich die beiden Frauen 1953 kennengelernt hatten. In ihren Briefen diskutierten sie häufig über Klassiker und Gegenwartsliteratur und tauschten Lektüre- und Musiktipps aus. Angeführt von der belesenen Louise Hartung, die sich im Brief einmal »Schwester Goethe« nannte, wurde die elfjährige Freundschaft auch zu einer Bildungsreise durch die deutsche Literatur-, Musik- und Geistesgeschichte. Im Jahr 1964 schreibt eine überwältigte Astrid Lindgren: »Wenn man beschließt, nur mit Bruder Goethe und Bruder Beethoven zu verkehren, wird die eigene Seele wohl so überirdisch, dass es sich kaum mehr beschreiben lässt.«
Immer wieder kamen sie auf berühmte Briefwechsel wie den zwischen Goethe und Charlotte von Stein oder Gustave Flaubert und George Sand zu sprechen. Aber auch für die Veröffentlichungen der privaten Korrespondenz unbekannter Menschen interessierten sich die beiden Frauen glühend. Im Januar 1963 erkundigt sich Louise Hartung in Berlin, was Astrid Lindgren in Stockholm denn gerade lese. Die Antwort lautete:
»Ich lese ganz seltsame Sachen, ›Årstafruns dagbok‹, das sagt Dir wahrscheinlich nichts. Ende des 18. Jahrhunderts und Anfang des 19. gab es auf dem Årsta-Herrenhof eine Gutsherrin, da lag der Hof in der Brännkyrka-Gemeinde. Sie hat ihr Leben lang Tagebuch geschrieben, eigentlich nur wenige Zeilen am Tag, sie war ganz bestimmt ein Satan, aber ein tüchtiger Satan, und aus ihren kleinen trockenen Notizen schält sich ein Leben heraus.«2
Louise Hartung stimmte mit ihr darin überein, dass Tagebücher und Briefwechsel das Leben häufig origineller darstellten als ein Roman – »weil sich das wirkliche Leben nicht so um den Anschein der Wahrscheinlichkeit kümmern muss«3 – und mitunter eine »reine entwicklungspsychologische Historie«4 darböten.
Im Jahr 1964 verfasste Astrid Lindgren, die Kinderbuchautorin, die eigentlich für »das Kind in sich selbst« schrieb, plötzlich einen längeren Essay für erwachsene Leser über ein deutsches Buch, das Louise Hartung ihr im Jahr zuvor geschickt hatte. Sein Titel war für die beiden Frauen wie ein Spiegel, in dem sie sich selbst wie auch einander erkannten: »Ich war wohl klug, daß ich dich fand.«5
Es war der 200 Jahre alte Briefwechsel zwischen Luise Justine Mejer und Heinrich Christian Boie, deren Liebesbeziehung ein ebenso plötzliches und trauriges Ende nahm wie die Freundschaft zwischen Astrid Lindgren und Louise Hartung im Jahre 1965. Das ahnten die beiden Frauen im Frühjahr 1964 jedoch noch nicht, als Lindgren ihrer Begeisterung über diesen Briefwechsel aus der Zeit der Romantik freien Lauf ließ: »Manchmal bin ich richtig traurig darüber, dass so viele Menschen, unendlich viele, auf unserer Erde lebten und starben, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen, rein gar nichts, was uns, die wir jetzt leben, verkünden würde: Ich habe auch gelebt!«6
Ein solcher Mensch, der auch gelebt hatte, abgesehen von den Briefen an Astrid Lindgren aber keine sichtbaren Spuren hinterließ, nie eine Familie gründete, eine tiefe Abneigung dagegen hatte, fotografiert zu werden, und die Freunde regelmäßig daran erinnerte, Aufnahmen von sich zurückzuschicken und Briefe zu verbrennen, war Louise Franziska Hartung.
Sie kommt am 6. Januar 1905 in Münster unter dramatischen Umständen zur Welt; ihre Mutter stirbt bei der Geburt. Der Vater und die sieben älteren Geschwister nehmen sich ihrer an, so gut sie können. Dennoch verbringt Hartung als Kind viel Zeit allein und zeigt früh eine musikalische und geistige Begabung. Noch bevor sie sprechen kann, so erzählt sie in einem ihrer ersten Briefe an Astrid Lindgren, kann sie alle Lieder pfeifen, die ihr der Vater auf dem Waldhorn vorspielt, und lange vor seinem ersten Schultag an der Freiherr-vom-Stein-Schule in Münster hat sich das kleine Mädchen mit Hilfe der großen, schweren Familienbibel, die es stets mit sich herumschleppt, selbst das Lesen beigebracht. Hartung träumt davon, Gärtnerin zu werden, doch weil sie klein und schmächtig bleibt (in einem Brief schreibt sie, sie sei »fast ein Pygmäe«), entscheidet sie sich in jungen Jahren, auf ihr musikalisches Talent zu setzen. In den 1920er Jahren schult sie ihre schöne Gesangsstimme zunächst durch eine Ausbildung in der klassischen italienischen Oper, anschließend mit modernem Kabarett und Liedern der deutschen Romantik sowie bei Studienaufenthalten in Paris, Mailand und Berlin, unter anderem als Elevin von Sara Cahier, bekannt als Madame Charles Cahier, einer der großen Operndiven der damaligen Zeit.
2 Jugendbild von Louise Hartung.
1925/26 zieht die junge Louise Hartung nach Berlin und lernt in diesem Schmelztiegel für Künstler aus ganz Europa bald eine Reihe führender Intellektueller und Künstler kennen. Die schwedische Malerin, Kunstsammlerin, Kuratorin und Journalistin Nell Walden macht Louise Hartung nicht nur mit ihrem idyllischen Gärtchen mit »Schwedenhütte« am Glienicker See vertraut, das sie später übernehmen wird, sondern auch mit dem avantgardistischen Geist der Künstlervereinigung »Der Sturm« und ihrer gleichnamigen Zeitschrift. Einer Gruppe, an deren – organisatorischer – Spitze Nell Walden und ihr vormaliger Mann Herwarth Walden standen und der Maler wie Kandinsky, Kokoschka, Chagall, Franz Marc und Paul Klee angehörten.
In dieser Zeit steht Louise Hartung auch in Verbindung mit Autoren, Musikern und Bühnenkünstlern wie Bertolt Brecht, Kurt Weill und Lotte Lenja und wirkt im Jahr 1928 an der ersten Inszenierung von Brechts und Weills »Dreigroschenoper« mit, in der Lotte Lenja als Seeräuber-Jenny glänzt. Louise Hartung nimmt mehrere Grammophonplatten auf und hat Engagements im Ausland, unter anderem 1933 am Savoy Theatre in London.
3 Louise Hartung als Konzertsängerin in den Zwischenkriegsjahren in Berlin.
Als sie nach Deutschland zurückkehrt, hat sich vieles verändert, und progressive Künstler können kein freies Leben mehr führen; vielmehr müssen sie um ihr Leben fürchten. Wie viele andere ihrer Kollegen und Freunde ist auch Louise Hartung von der rigiden Kulturpolitik des Hitler-Regimes betroffen, sie wird aus der Berliner Theaterkammer ausgeschlossen und hat mehrere Jahre lang Auftrittsverbot. Dennoch bleibt sie in Berlin, hält sich mit verschiedenen freiberuflichen Tätigkeiten über Wasser und arbeitet einige Zeit als Regieassistentin und Fotografin bei Lucie Höflich, einst Stummfilmstar, nun Leiterin der Staatlichen Schauspielschule.
Während des Krieges zwingt man Louise Hartung gemeinsam mit anderen Kollegen, darunter auch ihre Freundin Maria Schreker, an Wehrmachtkonzerten an der Front in der Sowjetunion und Frankreich teilzunehmen und für verwundete Soldaten zu singen.
Wieder in Berlin angekommen, versucht sie, die letzten Reste ihrer künstlerischen Karriere zusammenzuhalten, und tritt unter anderem gemeinsam mit der Pianistin Hertha Klust bei Liederabenden auf. Gleichzeitig leistet Louise Hartung aktiven Widerstand gegen den Nationalsozialismus und versteckt in ihrem kleinen Haus in Potsdam jüdische Freunde. Im Sommer 1945 ist auch sie, wie so viele Frauen im besiegten und ausgebombten Berlin, sexuellen Übergriffen durch Angehörige der Roten Armee ausgesetzt. Es fiel Louise Hartung schwer, Astrid Lindgren in Briefen aus diesem Kapitel ihres Leben zu erzählen, eher noch sprach sie davon, wenn die beiden Frauen sich trafen oder gemeinsam auf Reisen waren.
Nach dem Krieg ist Louise Hartung zunächst arbeitslos, 1947 wird sie dann im Magistrat von Groß-Berlin angestellt, tritt nun als Lokalpolitikerin in Erscheinung und gewinnt als SPD-Abgeordnete ihren Wahlkreis Wilmersdorf, wo sie für den Rest ihres Lebens ihren festen Wohnsitz hat. In den darauffolgenden fünf Jahren erhält Louise Hartung eine immer größere Mitverantwortung beim Wiederaufbau der Kunstszene in der zerstörten Stadt. Anfangs spezialisiert sie sich vor allem auf den Bereich der klassischen Musik, der wie so vieles andere in der Stadt in Trümmern liegt. Während ihrer Tätigkeit als Sachbearbeiterin, Fachgutachterin und Rednerin wirkt sie im Namen der Stadt an der Gründung eines neuen Kammerorchesters, eines neuen Chors und eines Musikpreises mit und organisiert Musikfestivals und Konzertreihen zur Förderung musikalischer Nachwuchstalente.
Louise Hartung ist so erfolgreich in ihrem Tun, dass sie 1949 in der kommunalen Hierarchie aufsteigt. Aus ihrer Akte im Landesarchiv Berlin geht hervor, dass sie in diesem Jahr die Leitung des Amtes für Musik übernahm. In der Praxis bedeutete das, dass sie nun für die Förderung und Entwicklung der größten Orchester am Berliner Konservatorium zuständig war sowie für den Wiederaufbau und die Förderung des deutschen Musiklebens. Louise Hartung erweist sich in diesen Jahren als ebenso kompetent, effektiv und visionär, wie es auch ein Schild an ihrer Wand verkündet – mit dem selbstironischen Augenzwinkern, das so charakteristisch für sie ist: »Unmögliches erledigen wir sofort! Wunder dauern etwas länger!«
Im Jahr 1951 wurde die gesamte Berliner Kommunalverwaltung umstrukturiert, im Bemühen der SPD, die Verwaltung von den zahlreichen Kommunisten zu »bereinigen«, die der Alliierte Kontrollrat in Berlin nach dem Krieg eingesetzt hatte. Im Zuge dieser Neubesetzung mussten sich alle Angestellten noch einmal auf ihre Stellen bewerben. Louise Hartung wurde während dieser umfassenden Rochade als Kandidatin für den Spitzenposten der Senatorin für Volksbildung gehandelt, zu dieser Zeit einer der umfassendsten und komplexesten Aufgabenbereiche innerhalb der Berliner Kommunalverwaltung, der fast alle Aspekte des Kunst- und Sportlebens der Hauptstadt berührte.
Am Ende erhielt sie diese Führungsstelle allerdings nicht und wurde in den darauffolgenden Jahren immer enger an das Hauptjugendamt7 gebunden, das von der energischen und mächtigen SPD-Politikerin Ella Kay (1895–1988) geleitet wurde. »Neue Prägung« – dies war Kays sozialpolitischer Slogan, und so lautete auch das übergeordnete politische Ziel des Hauptjugendamtes. Ein neues Zeitalter der Pädagogik war angebrochen, das einen respektvollen Blick auf Kinder und Jugendliche und ihre Erziehung vertrat: Ein Amt war dies, »in dem Kinder recht kriegen«.
Die Nachkriegsjahre bis 1960 waren eine Zeit des Wiederaufbaus, aber auch eine Zeit des Umbruchs und notwendigerweise des Ausprobierens – der Orientierung auf die Zukunft und zugleich der intensiven Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Das galt auch für das Hauptjugendamt, das eine Reihe progressiver Initiativen verwirklichte und zugleich klare Ziele und Grenzen für moralische Normen und das Verhalten von Kindern und Jugendlichen absteckte. Eine der größten Herausforderungen in der Jugendarbeit in den 1950er Jahren in Westberlin war das Bemühen um die Entnazifizierung, die in den ersten zehn Nachkriegsjahren in ganz Deutschland erfolgen sollte. Wie aber entnazifizierte man eine Generation junger Menschen, die mit Adolf Hitler als großer Vaterfigur aufgewachsen waren und zu Hause wie in der Schule im Geiste und mit dem Menschenverständnis des Nationalsozialismus erzogen worden waren?
In einem Brief an Lindgren im Jahr 1954 berichtet Hartung über diesen lebenswichtigen Teil ihrer Arbeit, bei dem es im Grunde darum ging, die Bedingungen für eine demokratische Entwicklung in Deutschland zu schaffen.8 Das bedeutete unter anderem, dass man entschlossen und kritisch gegen die Flut von bunten, kriegsverherrlichenden deutschen Heftromanen wie beispielsweise »Der Landser« vorging, die im Kielwasser der amerikanischen Comics und Zeichentrickserien im Buchmarkt der 1950er Jahre immer mehr Raum einnahmen. »Wir müssen bei der kulturellen Erziehung unserer Jugend immer bedenken, dass sie alle kleine Hitlerjungen waren, und bei allem, was wir tun, ist mir immer im Vordergrund das Überwinden von Nationalismus und Rassendiskriminierung. Das ist den Kindern jahrelang eingepflanzt, und irgendwann wird es Früchte tragen, was da gesät wurde, wenn wir nicht unermüdlich auch noch anderes pflanzen.«
Nicht zuletzt dafür war Louise Hartung am 1. Januar 1954 im Hauptjugendamt fest angestellt worden: um gute, gesunde Literatur zwischen den Kindern und Jugendlichen »zu pflanzen«. Und im selben Jahr fasste sie ihre besondere Aufgabe im Amt mit den Worten zusammen, »bereits die Kinder durch Vermittlung des guten Buches zu einer sinnvollen Gestaltung ihrer Freizeit zu bringen«.
4 Ein Montags-Lesekreis in einer Berliner Bibliothek (Foto aus dem »Rundbrief«, 1957).
Schon vor ihrer Festanstellung hatte Louise Hartung ein Experiment ins Leben gerufen, das sie die »Montags-Lesekreise« nannte. An diesem festen Wochentag waren Kinder in ganz Westberlin eingeladen, in ausgewählte Jugendzentren oder Bibliotheken zu kommen und dort, im Kreis sitzend, einem Erwachsenen zuzuhören, der aus Kinderbüchern vorlas.
Die Lektüre hatte Louise Hartung zuvor empfohlen, und sie schrieb auch oft im »Tip« darüber, einem Heft mit kulturellen Angeboten für Westberliner Kinder und Jugendliche, welches das Jugendamt in den 1950er Jahren herausgab. Sehr häufig waren es Bücher von Astrid Lindgren, denn seit Louise Hartung in den Jahren 1952/53 auf »Pippi Langstrumpf« stieß, war sie überzeugt, es sei »das beste Buch der Welt«. Nach der Lesung fand stets ein Gespräch mit der jungen Zuhörerschaft statt, deren Kommentare niedergeschrieben und an Louise Hartung weitergegeben wurden. Die Rückmeldungen spielten eine wichtige Rolle, wenn es darum ging, eine ganze Generation von den körperlichen und seelischen Narben aus der Kriegszeit zu »heilen«. Diese Arbeit des »menschlichen Wiederaufbaus« fand in der gesamten Bundesrepublik statt, und die Erfahrungen wurden in monatlichen »Rundbriefen« gesammelt und geteilt.
Im Jahr 1953 hatte Louise Hartung zwölf Montags-Lesekreise angestoßen, schon vier Jahre darauf gab es allein in Westberlin 27 Lesekreise, und das Projekt inspirierte ähnliche Initiativen in ganz Deutschland.
1955 wurde der Aufgabenbereich des Hauptjugendamtes auf die Sportverwaltung in Berlin ausgeweitet. Seither hieß das Amt offiziell »Senat für Jugend und Sport«, in ihren Briefen an Astrid Lindgren sprach Louise Hartung jedoch weiterhin vom »Jugendamt« oder »Amt«. In den elf Jahren ihrer Korrespondenz und Freundschaft mit der schwedischen Schriftstellerin blieb Louise Hartung eine hochgeschätzte Mitarbeiterin und Ella Kays Stellvertreterin und den wechselnden Berliner Bürgermeistern von Ernst Reuter bis Willy Brandt direkt unterstellt.
5 Lesezeichen für Montags-Lesekreise.
Das Verhältnis zu ihrer Chefin war allerdings nicht ganz einfach, und »die Kay« bot Louise Hartung in ihrem Briefwechsel wiederholt Anlass zu gepfefferten Kommentaren, schließlich hatte Astrid Lindgren die dominant auftretende Vorgesetzte bei ihrem ersten Berlinbesuch im Oktober 1953 ebenfalls kennengelernt. Wenn man Louise Hartung Glauben schenkt, stammten die kreativen Ideen, die auch andere Jugendämter in ganz Deutschland inspirierten, häufig von ihr, aber Senatorin Kay verstand es, bei ihren Vorgesetzten die Lorbeeren dafür zu ernten.
In diesen Jahren genossen Louise Hartungs Person und ihre fachliche Kompetenz ein so großes Ansehen, dass sie weitere wichtige Posten im Bereich der Kinder- und Jugendkultur in Deutschland angeboten bekam. Neben ihrer Vollzeitstelle im Jugendamt war sie in den 1950er Jahren für die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) tätig und saß mit am Tisch, wenn entschieden wurde, welche Filme für deutsche Kinder und Jugendliche geeignet seien. Außerdem gehörte sie dem Prämierungsausschuss für den Kinder- und Jugendfilmpreis des Bundesministeriums an. Beide Ausschüsse tagten auf Schloss Biebrich im 600 km entfernten Wiesbaden, und so handelten nicht wenige Briefe von Louise Hartungs beschwerlichen, mitunter lebensgefährlichen Autofahrten in allen Wetterlagen und auf schlechten, nichtbeleuchteten Wegen, die sie in ihrem himmelblauen VW Karmann Ghia zurücklegte. Es war ein deutscher Sportwagen, dem sie den Kosenamen »das Heidenkind« gegeben hatte und in dem sie Ende der 1950er Jahre gemeinsam mit Astrid Lindgren mehrere Reisen nach Süddeutschland und Jugoslawien unternahm – mit offenem Verdeck und wehendem Haar.
Beide Frauen arbeiteten hart in diesen Jahren, und Louise Hartung, die ohnehin eine schwache Gesundheit hatte, litt unter dem Stress. Und so lehnte sie mehrere Arbeitsangebote aus dem Ausland ab, unter anderem von der UN, die sie als Leiterin eines größeren Kinder- und Jugendprojekts ausersehen hatte. Stattdessen beschloss sie, sich auf ihre Kernbereiche innerhalb des Jugendamts zu konzentrieren und nicht zuletzt auf die weitere Vermittlung und Verbreitung von Astrid Lindgrens Büchern in Deutschland.
Mit ihrem Wissen und ihrer Bildung, ihren rhetorischen Fähigkeiten, ihrem Ideenreichtum und ihrem politischen Gespür leistete Louise Hartung einen wesentlichen Beitrag zum Bemühen der Berliner Stadtverwaltung, eine Fürsorge aufzubauen, um verwaiste, kriegstraumatisierte oder kriminelle Kinder und Jugendliche zu betreuen – und auch die mitunter inkompetente, altmodische Elterngeneration, die ihrerseits in Zeiten der schwarzen Pädagogik aufgewachsen war.
So regte Louise Hartung unter anderem wechselnde Ausstellungen an, in denen Spiele und Spielzeug empfohlen wurden – eine »geniale« Idee, wie Astrid Lindgren befand. Man wollte die Eltern inspirieren und ihnen beibringen, eine Spielgemeinschaft mit ihren Kindern zu bilden: »Und sonntags spielt die ganze Familie« lautete das Motto. Es war ein wichtiger Aufruf in einem Land, in dem auch die Institution Familie durch den Krieg angeschlagen war und emotional wie sozial wiederaufgebaut werden musste. In der Begegnung zwischen Kindern und Erwachsenen, mit Spiel und Kunst als verbindenden Elementen, lag nach Louise Hartungs Auffassung der Schlüssel zu einem künftigen friedlichen Deutschland.
6 Louise Hartung mit einem unbekannten Kind, 1956.
Im Oktober 1953, dem Jahr nach dem plötzlichen Tod von Astrid Lindgrens Ehemann Sture, begegnete die 45-jährige Schriftstellerin Louise Hartung zum ersten Mal. Auf dem Rückweg von einem internationalen Kinderliteraturkongress in Zürich, wo Autoren, Verleger und Bibliothekare aus 27 Nationen zusammenkamen und das Kinderbuchnetzwerk IBBY9 gründeten, kam Astrid Lindgren auf Einladung nach Berlin, um vor einer Gruppe von Bibliothekaren und Buchhändlern über ihr Werk zu sprechen. Die Einladung war im August eingegangen, und am 3. September antwortete Lindgren in ihrem – fast – formvollendeten Schuldeutsch: »Liebe Frau Hartung, vielen dank für Ihr freundliches Schreiben und für die Einladung. Natürlich will ich so fürchterlich gern nach (oder zu?) Berlin kommen. Ich habe mich schon sehr darüber gefreut, nur bin ich ein wenig bange dass Sie lange Reden auf deutsch von mir erwarten. Das kan ich nämlich nicht.«
Am 9. Oktober reiste Lindgren, von Zürich kommend, zunächst nach Hamburg und Bremen, um dort Lesungen zu geben und ihren Verleger Friedrich Oetinger zu treffen. Er hatte sich im Jahr 1949 die deutschen Rechte an den »Pippi Langstrumpf«-Büchern gesichert, nachdem eine Reihe großer deutscher Verlage höflich, aber bestimmt abgelehnt hatten. Am darauffolgenden Tag ging es dann nach Berlin, wo Astrid Lindgren offiziell vom Hauptjugendamt eingeladen war, im »Haus der Jugend« in Dahlem von sich und ihren Büchern zu erzählen: »Wir saßen ganz gemütlich im Sonnenschein auf einem grünen Rasen und ließen es uns gutgehen. Ich las eine kleine Erzählung aus einem meiner Bücher, und Ursula Herking, Deutschlands bekannteste Kabarettistin, las aus ›Pippi Langstrumpf‹, ›Polly hilft der Großmutter‹ und ›Kati in Amerika‹, und alle Buchhändler waren so nett und ermutigend. Aber das sind Buchhändler ja meist, nicht wahr? Anschließend nutzten die energischen Damen vom Hauptjugendamt die Gelegenheit zu einer Bitte an die Buchhändler, die Bücher unter den Kindern zu verbreiten.«10
Zuvor hatte Louise Hartung Astrid Lindgren am Tempelhofer Flughafen abgeholt und in ihrer kleinen Wohnung in der Rudolstädter Straße in Wilmersdorf aufgenommen. Am nächsten Tag besuchte die schwedische Autorin in Begleitung der unermüdlichen Senatorin Ella Kay Berliner Schulen, Jugendhäuser und Pflegeheime für behinderte Kinder. Louise Hartung war an jenem Tag auch mit von der Partie, und später würden sich die beiden Frauen noch oft daran erinnern, wie sie immer wieder irritierte Blicke über die höchste Chefin des Hauptjugendamtes gewechselt hatten. In einem Brief aus dem Januar 1964 schrieb Astrid Lindgren:
»Nie werde ich Deine Miene vergessen – wir kannten einander kaum, aber ich erinnere mich, dass gleichsam Ströme unausgesprochener Kommentare zwischen uns flossen.«
Am Abend fuhr Louise Hartung mit Astrid Lindgren auf deren Wunsch nach Ostberlin. Es wurde eine bewegende Autofahrt durch die zerstörte Stadt, auf die beide in ihrem elf Jahre währenden Briefwechsel immer wieder zurückkamen. Mit der untergehenden Sonne im Rückspiegel hatten sie die schwer bewachte Grenze zwischen West- und Ostberlin passiert und immer wieder in den zerbombten Vierteln im Ostsektor angehalten, wo eine zunehmend unglückliche Louise Hartung dem Gast aus Schweden all die Orte zeigte, wo sie als junge, talentierte Sängerin Konzerte gegeben und Grammophonplatten aufgenommen, Fotografieren gelernt und im Berlin der 1920er Jahre ein freies Künstlerleben gelebt hatte. Nach ihrer Rückkehr schrieb Astrid Lindgren an ihre Eltern und versuchte die Eindrücke der Fahrt durch die traurigen Ruinen von Berlin wiederzugeben: »Es war so ziemlich das Unheimlichste, was ich je gesehen habe. Ich sah die Stelle, wo Hitlers Bunker lag und wo sich heute nichts als ein Ruinenhaufen befindet, überall waren die Straßen von Ruinen gesäumt, Ruinen und Ruinen, es war wie auf einem anderen Planeten. An den wenigen unbeschädigten Häusern hatten die Russen riesengroße rote Fahnen und alberne Malereien angebracht. Die arme Louise Hartung ging umher und weinte, dies war einmal der vornehmste Teil Berlins gewesen, und sie erkannte ihre eigene Stadt nicht wieder, sondern musste die Straßenschilder lesen, um herauszufinden, wo wir waren.«11
Die Autofahrt durch Straßen und zu Plätzen, wo Louise Hartung als junge Frau gelebt hatte und wo sowjetische Truppen und Panzer am 17. Juni, nur wenige Monate vor Astrid Lindgrens Besuch, den ersten Volksaufstand der DDR blutig niedergeschlagen hatten, war der Beginn einer langen und tiefen Freundschaft. Astrid Lindgrens Tochter Karin war zu diesem Zeitpunkt 19 Jahre alt und erinnert sich immer noch daran, welchen Eindruck die Begegnung mit Louise Hartung und der Stadt Berlin auf ihre Mutter machte: »Ich kann mich erinnern, dass Astrid 1953 nach Hause kam und von dieser deutschen Frau fasziniert war, die den Krieg aus nächster Nähe erlebt und sie auf heimliche Ausflüge nach Ostberlin mitgenommen hatte. Sie erzählte von der sozialen Situation der Kinder nach dem Krieg in Deutschland und von den ›Halbstarken‹, das waren die kriminellen Jugendlichen, die laut Louise zugesehen hatten, wie man ihre Mütter vergewaltigte.«12
7 Straße in der Nähe von »Unter den Linden«, Berlin 1945.
Der Briefwechsel zwischen Astrid Lindgren und Louise Hartung ist nicht allein das faszinierende, mehrschichtige Doppelporträt zweier vielbeschäftigter, engagierter, intellektueller moderner Frauen, das Einblick in ihr Leben, ihre Gedanken, Gefühle und Träume in den Jahren 1953 bis 1965 gibt. Er vermittelt auch einen Eindruck von einer turbulenten Nachkriegszeit, in der das Leben im neutralen Schweden in grellem Kontrast zum Leben in einem zerstörten und gespaltenen Berlin stand.
In den 1950er Jahren wurde immer deutlicher, dass sich die Bedingungen im geteilten Deutschland politisch wie wirtschaftlich fundamental unterschieden. Berlin war und blieb das Zentrum der großpolitischen Machtkämpfe des Kalten Krieges. Der Strom von Flüchtlingen vom Ost- in den Westsektor wuchs an, und der Tonfall zwischen der Sowjetunion und den westlichen Alliierten verschärfte sich.
Auch aus den Protokollen des Hauptjugendamts geht hervor, dass man in Westberlin – von den »üblichen« Problemen mit Kindern aus schwierigen Verhältnissen einmal abgesehen – Mühe hatte, all die Jugendlichen unterzubringen, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben in den Westen flüchteten. Es herrschte ein akuter Mangel an Jugendheimen und Pflegefamilien, und man diskutierte die Möglichkeit, zumindest Minderjährige in den Osten zurückzuschicken.
Ende der 1950er Jahre führte das Chruschtschow-Ultimatum zu einer vorübergehenden Erwärmung im sogenannten Kalten Krieg. Astrid Lindgren verfolgte die politische Entwicklung in den schwedischen Medien besorgt und kommentierte sie in mehreren Briefen an Louise Hartung, wobei dasselbe humanistische Engagement und die Sorge um die Mitmenschen anklingt wie in ihren Kriegstagebüchern aus dem Zweiten Weltkrieg13, in denen Berlin ebenfalls eine zentrale Rolle spielte. Und so griff sie sofort zu Papier und Stift, als die Nachricht vom Bau der Berliner Mauer sie im August 1961 erreichte, um ihrer Sorge um die Freundin und ihrem Pessimismus über die Lage der Menschheit Ausdruck zu verleihen: »Ach, Du meine liebste Freundin, aus tiefstem Herzen aus tiefstem Herzen aus tiefstem Herzen hoffe ich, dass sich kein eiserner Vorhang über Berlin senkt, aber man wird pessimistisch, und ich bin froh, dass Du Ibiza hast. Du hast recht, man muss sich im Leben selbst helfen – viele Menschen verstehen das nicht, sie glauben, das Leben sei so eingerichtet, dass jemand eingreifen und einem helfen muss, wenn man in äußerster Not ist –, aber so ist das Leben nicht eingerichtet. Letzten Endes ist jeder Mensch ein kleines einsames Wesen ohne die Möglichkeit, sich an einen anderen zu lehnen.«14
Am 13. August 1961 hatten die ostdeutsche Parteiführung und die sowjetischen Truppen eine schwer bewachte Abschottung Ostberlins von Westberlin errichtet, die dem westlichen Einfluss, dem zunehmenden Strom an Flüchtlingen und der Abwanderung von Fachkräften aus der DDR Einhalt gebieten sollte. Die Mauer und die verstärkte Grenzziehung zwischen Ost- und Westdeutschland wirkten sich auf das Leben eines ganzen Landes aus, und aus Louise Hartungs Briefen zu Beginn der 1960er Jahre geht deutlich hervor, dass sie – wie auch Astrid Lindgren – auf lange Sicht kaum Hoffnungen auf ein freies und demokratisches Westberlin nährte.
8 (Quelle)
Nichtsdestotrotz erlebte Westdeutschland in den 1950er und 1960er Jahren das sogenannte Wirtschaftswunder, überwand Hungers- und Wohnungsnot, obwohl sich nach dem Krieg 13 Millionen Vertriebene und Flüchtlinge in Deutschland aufhielten, steigerte die Produktion um ganze 185 Prozent und erreichte eine Vollbeschäftigung. Finanzminister Ludwig Erhards Programm vom »Wohlstand für alle« wurde zur Realität.
Als Louise Hartung im Februar 1965 starb, hinterließ sie einen kleinen Pappkarton, angefüllt mit den Briefen Astrid Lindgrens. Auf den Karton, der bis heute erhalten ist, hatte sie geschrieben: »Nach meinem Tod ungeöffnet senden an: Frau Astrid Lindgren, Dalagatan 46, Stockholm, Schweden«. Diesen Auftrag erfüllte Louise Hartungs langjährige, treue Freundin Gertraud Lemke.
In der Dalagatan lagen die Briefe viele Jahre auf dem Dachboden, Seite an Seite mit denen Louise Hartungs. Die insgesamt 256 von Astrid Lindgren verfassten Briefe verblieben im Familienbesitz, während 315 Briefe von Louise Hartung an die Königliche Bibliothek in Stockholm übergeben wurden, wo sie heute Teil des Astrid-Lindgren-Archivs sind. Im Herbst 2015 tauchten in einem Schrank in der Dalagatan weitere 49 Briefe von Louise Hartung auf, was die Gesamtanzahl der Briefe, Postkarten und Telegramme in dieser Korrespondenz auf 620 anwachsen lässt.
Der elf Jahre währende Briefwechsel wurde so gut wie nie länger unterbrochen, nur selten vergingen mehr als zwei, drei Wochen, in denen die beiden Frauen nicht in Verbindung standen. Wohin auch immer in der Welt sich Astrid Lindgren oder Louise Hartung auf geschäftlichen oder Urlaubsreisen bewegten, immer sorgten sie rechtzeitig dafür, der anderen ihre zeitweilige Adresse mitzuteilen.
In all den Jahren war es Louise Hartung, die die längsten Briefe schrieb, auch schrieb sie insgesamt mehr, doch Astrid Lindgren hielt gut Schritt, wenn man die ungeheure Menge anderer Briefe bedenkt, die sie als Privatmensch, Autorin und Lektorin bewältigte. Ihre ersten Briefe an »Louisechen Berlinchen« waren auf Deutsch verfasst, dann folgten einige englische, und ab dem Jahr 1954, als sie erfuhr, dass Hartung (die durchgängig auf Deutsch schrieb) Strindberg in seiner Muttersprache lesen konnte, schrieb Astrid Lindgren ausschließlich auf Schwedisch.
Louise Hartung nahm es mit der Datierung ihrer Briefe nicht immer genau, und auf vielen Briefbögen fehlt zudem die Paginierung. Die Chronologie der Briefe wiederherzustellen und sie abschnittsweise zu rekonstruieren war eine Herausforderung bei der Erstellung dieses Bandes. Die fehlenden Datierungen werden in den Briefen beider gekennzeichnet und durch ungefähre Datumsangaben wie »Ende Januar 1956« oder »Anfang Juli 1960« ergänzt.
Um diesen in jeglicher Hinsicht großen und umfassenden Briefwechsel in einem Buch zugänglich zu machen, war es notwendig, Briefe auszulassen oder zu kürzen. Alle längeren Auslassungen werden durch »(…)« gekennzeichnet. Die Auswahlarbeit war ein langer und komplizierter Prozess. Laufend mussten wir die Relevanz dessen, was wir aussortiert hatten, beurteilen und prüfen, ob jeder Brief für sich genommen seine Aussage und Prägnanz bewahrt hatte.
Nach bestem Wissen haben wir versucht, der inneren Entwicklung dieser Korrespondenz möglichst treu zu bleiben: dem Ton und Temperament der beiden Briefschreiberinnen und den vielen Themen, die in dem elf Jahre währenden Gespräch auf Papier zur Diskussion standen. Brief um Brief, der uns – in Anlehnung an Astrid Lindgrens Worte im Jahr 1964 – heute erzählt: »Ich habe auch gelebt!«
Jens Andersen und Jette Glargaard
Kopenhagen im April 2016
9 Pappkarton, in dem Louise Hartung die Briefe von Astrid Lindgren sammelte.
10 Astrid Lindgren und eine deutsche Pippi, Haus der Jugend in Berlin-Dahlem, Oktober 1953.
1 Siehe www.ediffah.org.
2 Brief von Astrid Lindgren, 18. 1. 1963.
3 Brief von Louise Hartung, Mitte Februar 1963.
4 Brief von Louise Hartung, Anfang März 1963.
5 Ilse Schreiber (Hrsg.), »Ich war wohl klug, daß ich dich fand. Heinrich Christian Boies Briefwechsel mit Luise Mejer 1777–85« München 1963.
6 Astrid Lindgren: »Liv kan vara så olika« (»Leben können so unterschiedlich sein«, 1986)
7 Das Hauptjugendamt betreute eltern- und familienlose Kinder, Flüchtlinge aus dem Osten sowie Kinder und Jugendliche mit kriminellem Hintergrund und Pflegefamilien und organisierte Lesekreise und kulturelle Angebote für Kinder und Jugendliche.
8 Brief von Louise Hartung, 19. 7. 1954.
9 International Board on Books for Young People.
10 Astrid Lindgren in »Svensk Bokhandel«, November/Dezember 1953, zitiert nach: Jens Andersen, »Astrid Lindgren. Ihr Leben«, München 2015, S. 265.
11 Jens Andersen, »Astrid Lindgren. Ihr Leben«, München 2015, S. 66.
12 Jens Andersen, »Astrid Lindgren. Ihr Leben«, S. 267.
13 Astrid Lindgren, »Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939–1945«, Berlin 2015.
14 Brief von Astrid Lindgren, 8. 9. 1961.
Vom 10. bis 12. Oktober 1953 war Astrid Lindgren auf offizielle Einladung von Louise Hartung und dem Hauptjugendamt zu Besuch in Berlin. Die 45-jährige Kinderbuchautorin war schon im Voraus nervös gewesen, weil sie Deutsch reden und – vor allem – vorlesen sollte, aber Louise Hartung hatte bei dem Arrangement dafür gesorgt, dass eine bekannte deutsche Schauspielerin aus »Pippi Langstrumpf«, »Polly hilft der Großmutter« und »Kati in Amerika« las. Astrid Lindgren wohnte die ganze Zeit über bei ihrer drei Jahre älteren Gastgeberin in deren Wohnung in der Rudolstädter Straße in Wilmersdorf und nahm begeistert an den vielen gelungenen Veranstaltungen teil. Zwei Wochen darauf, als sie wieder in Stockholm angekommen war, bedankte sie sich auf Deutsch.
Stockholm, den 28. Okt. 1953
Liebe liebe süsse Frau Hartung!
Sie sind also ein ganzes Erlebnis für Ihre Umgebung. Ich weiß nicht wie ich anfangen soll, aber jetzt gehe ich los. Also – vielen, vielen Dank. Für alles! Verstehen Sie wie viel Freude mir dieser Besuch gemacht hat, nein, dass können Sie nicht verstehen, auch wenn Sie ein sehr kluger und intelligenter Mensch sind. Doch will ich Ihnen sagen, dass ich so furchtbar dankbar bin, dass ich es überhaupt nicht ausdrücken kann, ich versuche es auch nicht.
Ich habe Sie gequält, Sie haben keine Ruhe gehabt, Sie haben nicht schlafen können – aber dass ist mir egal! Ich habe mich so grossartig amüsiert. Doch – ich hoffe dass Sie jetzt gut schlafen können und nicht zu viel arbeiten und sehr glücklich sind und sehr oft mit Ihren guten Freunden zusammen sind. Sie haben mir alle so gut gefallen, Frau Doktor Lemcke (wie war sie klug) und Frau Herking1 und Frau Obrig2. Ich habe Ihren Name falsch geschrieben (Obrich) in einem Kati-Buch3. Hoffentlich haben Sie alle die Bücher bekommen, die ich gesandt habe. Verzeihen Sie mir bitte dass ich das ganze zu Ihnen schickte, ich wusste ja nicht die Adressen. Nachher habe ich gedacht dass die Kinder Herking wohl gar nicht Herking heissen, aber das ist mir zu spät eingefallen.
Ich habe Herr Oetinger4 gebeten Ihnen die deutsche Übersetzung von dem Teaterstück »Pippi Langstrumpf« zu senden und hoffentlich werden Sie das in einigen Tagen bekommen. Später sende ich Ihnen auch das Teaterstück über Kalle Blomkvist.
Wenn das Merkblatt über das Gesetz von Schmutz- und Schundlitteratur5 fertig ist, bitte senden Sie mir ein Exemplar.
Viel mehr möchte ich Ihnen schreiben aber Sie wissen wie es mit meinen deutschen Erkenntnissen ist. Kann man nicht wahnsinnig werden? Man wird doch ein ganz anderer Mensch wenn man die eigene Sprache nicht brauchen kann. Und ich finde dieser andere Mensch ganz langweilig mit seinem armen Wortschatz.
Doch – zuletzt noch einmal – Sie waren ein Erlebnis.
Mit den herzlichsten Grüssen
Ihre Astrid Lindgren
11 Astrid Lindgren umarmt eine deutsche Pippi, während Louise Hartung zusieht, Haus der Jugend in Berlin-Dahlem, Oktober 1953.
1 Die Schauspielerin und Sängerin Ursula Herking (1912–1974), die während Lindgrens Besuch aus ihren Büchern las.
2 Ilse Obrig (1908–1978), Radio- und Fernsehjournalistin und Kinderbuchautorin, die in den 1950er Jahren dem Hauptjugendamt verbunden war.
3 Astrid Lindgrens drei Mädchenbücher über Kati erschienen erstmals 1952–1954 in Deutschland.
4 Friedrich Oetinger (1907–1986) gründete 1946 den Verlag Friedrich Oetinger, der im Jahr 1949 die erste deutsche Übersetzung von »Pippi Langstrumpf« veröffentlichte, und blieb ein Leben lang Astrid Lindgrens Verleger.
5 »Der Schundliteraturlöwe«, der Kinder und Jugendliche vor schädlicher Literatur beschützen sollte.
Stockholm 3. 2. 1954
Liebste Frau Hartung!
Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich auf Englisch schreibe? Es fällt mir ein bisschen leichter als in dieser deutschen Sprache, die ich so liebe, aber mündlich und schriftlich so schlecht beherrsche.
Ich habe zwei wirklich liebe Briefe von Ihnen erhalten und mich sehr darüber gefreut.1 Ich musste oft an Sie denken, seit ich Sie in Berlin sah. Diese kurzen Tage mit Ihnen in Berlin haben mir sehr viel bedeutet, und ich könnte jederzeit einen Essay in »Reader’s Digest« über »die unvergesslichste Person, die ich je traf« schreiben oder wie immer Sie das nennen. Und sagen Sie nichts über »Versäumnisse« – Sie waren einfach wunderbar zu mir. Ich weiß, Sie waren sehr traurig wegen Ihres Freundes Reuter2, aber das hat man Ihnen nicht angemerkt, Sie waren so ruhig und eine perfekte Gastgeberin. Sie wissen gar nicht, wie angenehm ich meinen Aufenthalt in Ihrem Haus empfand. Und ich finde es sehr, sehr lieb von Ihnen, mir anzubieten, eine Urlaubsreise mit Ihnen zu machen. Wenn es nur ginge. Wenn ich nur könnte! Aber ich habe meinen Kindern versprochen (Tochter, Sohn und Schwiegertochter), in diesem Sommer mit ihnen nach England zu fahren. Im Augenblick steht mir der Sinn überhaupt nicht nach Reisen. Früher bin ich nie krank gewesen, aber jetzt bin ich es. Seit ungefähr einem Monat fühle ich mich unpässlich, und ich schreibe dies, während ich mit einem dicken Wollschal um den Kopf im Bett sitze. Ich habe furchtbare rheumatische Schmerzen im Nacken, und allem Anschein nach arbeitet irgendein Infekt in mir.
Inzwischen bin ich ihn wirklich leid, ich hoffe sehr, dass ich bald wieder aufstehen kann.
Es gibt so unendlich vieles, wovon ich Ihnen schreiben möchte, doch im Augenblick bin ich zu müde. Lassen Sie mich nur sagen, dass ich hoffe – und weiß –, wir sehen uns wieder. Es gibt nicht so viele Menschen in dieser Welt, die man als Freunde haben möchte, und ich höre mit großer Freude, dass Sie über unsere Freundschaft genauso denken wie ich. All das könnte ich Ihnen besser sagen, wenn ich es auf Schwedisch schreiben könnte … ach herrje, jetzt fange ich schon wieder damit an.
Ich danke Ihnen sehr für »Ferdinand«3! Ich habe das Buch vor einigen Jahren gesehen, als es in Schweden veröffentlicht wurde, aber jetzt erlebe ich es als etwas ganz Neues und Wundervolles. Vielen Dank! Sobald ich aus dem Bett bin, schicke ich Ihnen Pippi in ihrer schönsten schwedischen Ausgabe.
Bleiben Sie mit mir in Verbindung. Ich werde Sie nie vergessen.
Astrid Lindgren
(krank und müde)
Berlin, undatiert, Anfang Februar 1954
Liebe, sehr liebe Frau Lindgren, drei Emotionen auf einmal: froh über den Brief, erleichtert, weil er in Englisch war, und traurig, dass Sie krank sind – immer verstehen Sie es, gleichzeitig viele Saiten zum Schwingen zu bringen. (…)
Ich muss auf Ihren letzten Brief eingehen, den ich so lange nicht beantwortete, weil er mich eigentlich sehr unglücklich gemacht hat. Er war so endgültig. Endgültig durch die Sprachschranke, die für einen so von und in der Sprache lebenden Menschen wie Sie quälend sein muss; statt reich und verschwenderisch und überquellend wird man arm, sparsam und karg. Vor Jahren bin ich einmal Hals über Kopf von Paris abgefahren, weil ich es nicht mehr aushielt, diffizile Gespräche über bildende Kunst, Malerei und Musik zu führen, deren genauer Ausdruck mir in der fremden Sprache nicht zur Verfügung stand, Liebe und Freundschaft haben mir nicht ersetzen können, dass ich geistig arm wurde. (…)
Bitte mühen Sie sich nicht, diese umständliche deutsche Sprache zu gestalten, natürlich ist es mir viel lieber, wenn Sie Englisch schreiben, wenn Sie nur überhaupt schreiben. Aber besser wäre es schon, Sie bleiben bei Schwedisch. Wenn ich es auch nur sehr unvollkommen spreche, so verstehe ich es doch einigermaßen und bin auch bereit, dieser Sprache mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden, als es bisher nötig war. All unsere schwedischen Freunde, die hier lebten, sprachen zu gut berlinisch! – Ich hatte 1929 Unterricht bei einer berühmten amerikanischen Sängerin, Mme Charles Cahier, diesen Namen hatte sie von ihrem schwedischen Mann. Sie kaufte diesem in Schweden ein Schloss (Helgerum Slott), dann ließ sie ihn allein dort sitzen und kam fluchtartig nach Berlin. Gesangunterricht gab sie in einem Gemisch von Amerikanisch/Englisch und Schwedisch. (…)
Ich bin sehr froh, dass Sie denken, wir werden uns wiedersehen. Wann und wo auch immer das sein wird, ist gleichviel. Ich wusste schon, als ich Sie am Flugplatz abholte, dass die Begegnung viel mehr sein würde als der offizielle Besuch einer schwedischen Jugendbuchautorin beim Hauptjugendamt. (…)
Ich fragte Sie, ob Sie noch irgendeinen Wunsch hätten, den ich erfüllen könnte, und Sie wollten weiter nichts, als dass ich Ihnen die ganze Nacht von mir erzählen sollte. Ich wusste, dass ich nichts, aber auch gar nichts vor Ihnen zurückhalten würde, da Vertrauen ja nur unbegrenzt sein kann oder gar nicht. Nichts wäre mir lieber als der Beruf einer Scheherazade. Aber dann muss man eben 1001, nicht eine Nacht vor sich haben. Ich hatte Furcht vor den Schleusen, die sich öffnen, aber nicht so leicht schließen lassen. Und Furcht ist eben doch ein Grundübel, passt auch gar nicht zu mir und ist mir nur aus allen Erlebnissen des vergangenen Jahres erklärlich. Wir brauchen in der Welt viel mehr »Abenteurer der Hingebung«, sonst ersticken wir an der Geschäftemacherei und der Bürokratie.
Dass Sie Ihren Sommer schon verplant haben, habe ich mir fast gedacht, kein Mensch lebt ja im luftleeren Raum. Dann werden Sie wahrscheinlich doch nach Berlin kommen müssen, wo Sie ja noch so vieles zu tun übrig ließen … Nie werde ich den Abend um den Potsdamer Platz herum vergessen … und ich denke, dass Sie selbst wissen, dass man nicht zwei Tage lang in Berlin sein kann und dann wegfährt, um nicht mehr wiederzukommen.
Sie leben in der schönsten Stadt der Welt, umgeben von friedfertigen, wahrscheinlich wohlwollenden Menschen; diese zerrissene, zerschlagene, in sich hässliche Stadt voller Gegensätzlichkeit, mit Menschen wie gezähmten Raubtieren muss doch auf Sie mehr Anziehungskraft ausüben als auf den Normalreisenden. Sie sehen, was ich Ihnen als Verlockung hinstelle, würde in keinem Baedeker drei Sterne bekommen, und doch wage ich, Ihnen diese Gegend anzupreisen. Sie müssten kein Dichter sein, wenn Sie Berlin hinter sich lassen könnten wie einen abgetretenen Schuh. Lassen Sie nicht zu viel Zeit vergehen. Aber gleichviel, ob es lang dauert oder nicht, Sie wiederzusehen ist von allem, was ich wünsche oder plane, das Einzige, was ich noch erleben möchte.
Ihre Louise Hartung
Stockholm, 22. 2. 1954
Liebe süsse, heute bin ich zum ersten Mal auf den Beinen, und ich sehe mich in der Welt um wie ein neugeborenes Kind. Die Sonne scheint, und es ist nicht mehr so bitterkalt. Alles ist gut – außer dass ich mich schäme, Ihnen nicht schon längst geschrieben zu haben. Aber dafür schreiben Sie lange, schöne und äußerst geistreiche Briefe, und mich treibt der heftige Ehrgeiz, sie nicht allzu langweilig zu beantworten. Jeden Tag habe ich mir gesagt, »Heute schreibe ich – einen langen Brief an diesen umtriebigen, begeisterten und lebhaft süsser Mensch in Berlin«, und so habe ich mit der Schreibmaschine im Bett sitzend angefangen, aber mein Körper wie mein Verstand sagen: »Nein, ich bin zu müde«, und das Ergebnis war wirklich zu langweilig, um es einer intelligenten Frau wie Ihnen zu schicken. Nun aber lege ich meinen Ehrgeiz beiseite und schreibe einen langweiligen kleinen Brief, den Sie mit Geduld lesen müssen.
Nach Berlin kommen – das klingt wunderbar in meinen Ohren. Ich wünschte, ich könnte kommen, und ich komme bestimmt wieder, aber ich fürchte, in diesem Frühjahr wird es noch nichts. Diese verflixte Nierenentzündung hat mir schon zu viel von meiner Zeit geraubt, inzwischen sollte ich eifrig an meinem neuen Buch sitzen und habe noch nicht einmal angefangen. Außerdem muss ich noch schrecklich viel anderes erledigen, und mein Arzt sagt heute, vor Mitte März darf ich nicht mit der Arbeit beginnen. Das heißt, dass ich in den kommenden Monaten mehr denn je beschäftigt bin. Freunde von mir haben mich gebeten, im Mai mit ihnen nach Italien zu fahren, und ich habe natürlich nein gesagt. Viel lieber als nach Italien würde ich stattdessen nach Berlin kommen, aber bedauerlicherweise muss ich in beiden sehr angenehmen Fällen nein sagen. (…)
Es freut mich zu hören dass Sie waren draussen an der Havel. Ich werde diesen Abend nie vergessen und auch nicht das Abendrot und diese specielle Stimmung da. Ich verstand mit einem Mal was für ein ungewöhnlicher Mensch Sie waren. Kein anderer hätte daran gedacht mir so einen ersten Eindruck zu geben.
Und auch wenn Sie eine wilde Fahrerin sind (haha), werde ich Sie dafür immer bewundern – dass Sie Ihrem Gast dieses Ihr altes Berlin gezeigt haben, das ich noch nie zuvor gesehen hatte. Ich erinnere mich, dass ich an einem Abend im Mai 1948 nach New York kam und dachte, es sei Metropolis, und es einen tiefen Eindruck machte, aber das mit Berlin war ein noch tieferes Erlebnis und mit nichts vergleichbar. Und Sie waren diejenige, die verstand, dass ich genau das wollte. Dieser Abend im Ostsektor – auch den werde ich nie vergessen, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mir zumute war, als ich diese kaputte Stadt und Ihre Tränen sah. In letzter Zeit musste ich viel an Sie und Berlin denken, als diese unglückselige Konferenz der Großen Vier im Gange war.4 Ist es nicht hoffnungslos, so viel Gerede und kein Ergebnis, hoffnungslos, hoffnungslos. (…)
Es gibt so vieles, was ich mit Ihnen besprechen möchte, aber ich fürchte, es muss auf einen anderen Tag warten, denn jetzt tut mein Rücken weh – ich bin es nicht gewohnt, so lange aufrecht zu sitzen.
Ich danke Ihnen, liebe süsse Frau Hartung, für all das interessante Material, das Sie mir geschickt haben, und all Ihre netten Bemühungen, meinen Büchern zu helfen. Und am allermeisten danke ich Ihnen, dass Sie so freundlich zu mir sind und mir solche wunderbaren Briefe schreiben.
Astrid Lindgren
Berlin, undatiert, Ende Februar 1954
Liebste Frau Lindgren – nun hatte ich mich gerade zu der Überzeugung durchgerungen, dass es besser sei, Ihnen nicht zu schreiben, wenn Sie jetzt mit frischen Kräften an die Arbeit gehen wollen, damit Sie diesen Anspruch der Briefe, die gelesen werden wollen, und das drückende Gefühl, keine Zeit zum Beantworten zu haben, loswerden. Und irgendetwas in Ihrem letzten Brief sagt mir, dass ich schreiben muss, wenn ich will, dass Sie die Dinge, die hier wie in einem Wochenschau-Tempo an Ihnen vorbeiglitten, wenigstens in den emotionalen Beziehungen richtig einordnen. Sie erinnerten an den Abend im Ostsektor, der ganz offensichtlich für mich schwer zu ertragen war. Es waren nicht die Trümmer und die verlorene Mondlandschaft an dem Ostsektorabend – zerstörte Häuser haben durch die dauernde Gewöhnung nicht mehr die Macht, mein Gleichgewicht zu stören. Aber die 20-jährige politische Verknüpfung des Einzelschicksals mit den Mächten, Geschehnissen, die gerade an die Örtlichkeiten dort gebunden waren, und das Wissen der absoluten und gewissen persönlichen Gefahr, der ich mich eigentlich leichtsinnig aussetzte, das kam zu allem als Nervenzerreißprobe hinzu.
An dem Abend hatte ich Dr. Lemke gebeten zu kommen, um Ihnen Geschichten zu erzählen. Nun, sie hat nicht von dem gesprochen, was Sie hören wollten, sondern glitt an allen springenden Punkten, wo die Schicksale persönlich werden, virtuos über alles hinweg. Diese Virtuosität haben alle Berliner entwickelt, und infolgedessen ist es für jeden Fremden schwer – ich möchte glauben, fast unmöglich –, sich auch nur entfernt vorzustellen, was Menschen erleben, während sie erleben. Und dieses Verdrängen schafft die hektische, etwas ungesunde Atmosphäre dieser Stadt.
12 Astrid Lindgren und Louise Hartung waren vom ersten Moment an im regen Gespräch.
Und wenn ich auf den Abend des 10. Oktober zurückkomme (dieses Datum will ich nie vergessen!), ich hatte Sie mit einer mir unerklärlichen, nervösen Spannung erwartet, und diese Spannung legte sich so schnell, als ich Sie fragte, was Sie vorzögen zu tun. Ein tiefer, innerer Friede zog ein, Jugendamt, Buchhändler, Tagung, alles war mir plötzlich gleichgültig, am liebsten wäre ich mit Ihnen tief in die schöne Mark Brandenburg mit ihren verträumten, stillen Seen gefahren, wenn ich nicht gewusst hätte, dass unerbittlich nach jeweils 20 km der russische Schlagbaum kommt. Niemals noch sah ich einen Menschen mit so unmittelbarem Gefühl und warmem, teilnahmebereitem Herzen, der mit dieser Eigenschafteine kühl registrierende Beobachtungsgabe und einen reflektierenden Verstand verbindet. Selbst noch als Objekt dieser Beobachtungsgewohnheit kann man sich wohlfühlen und freuen, und das habe ich denn auch getan.
Mit allen lieben Gedanken und Grüßen Ihre Louise Hartung
Berlin, undatiert, Mitte März 1954
Liebste Frau Lindgren – ein einziger Satz von Ihnen (»Hier wohne ich«5) kann unabsehbare Folgen haben.
Sie werden gleich sehen, was Sie angerichtet haben. Es wurde mir plötzlich klar, wie wenig ich von Ihnen weiß: nicht, wo Sie wohnen, wie Sie leben, in welcher Gegend Schwedens Sie das Licht der Welt erblickten, wo Sie groß wurden, ob auf einem Dorf, in einer Stadt oder in Stockholm, wie das Land aussieht, in dem Sie leben, die Menschen, mit denen Sie umgehen, etc. – kurz, was blieb nun eigentlich übrig, was mir vertraut schien? Ihre Art zu denken, Ihre Kraft zu empfinden und die Lebenserfahrungen, die sich von Ihrem Gesicht ablesen ließen. (Leider fand ich da auch bittere Enttäuschungen eingetragen.)
Nachdem ich also derart anstrengend nachdenken musste über einen einzigen Satz, beschloss ich, statt nach Spanien lieber nach Schweden und Finnland zu fahren. Nun sieht es nicht sehr sinnvoll aus, wenn ich ausgerechnet in dem Jahr, in dem Sie in England sind, ein Visum nach Sverige beantrage. Aber nachdem mir dieses unbekannte nördliche Land auf einmal so verlockend erscheint, will ich diesen Plan nicht um ein weiteres Jahr verschieben. Wer weiß, was bis dahin passiert. Das jahrelange Dasein in täglicher Lebensbedrohung, genauer gesagt, die Gewöhnung an den Tod als ein täglich mögliches, sogar wahrscheinlich eintretendes Ereignis hat mich gelehrt, nichts aufzuschieben oder zu unterlassen, was ich aus irgendeinem Grunde in meinem Leben nicht missen möchte. Und man kann ja auch bei uns nicht wissen, wann sich die Landesgrenzen wieder für längere Zeit schließen …
Ich bin außerordentlich gespannt darauf, wie Ihnen England gefallen wird – oder kennen Sie es schon gut? Fahren Sie auch nach Irland? In den nächsten Tagen sende ich Ihnen ein kleines Büchlein »Seltsames England« von Čapek, es ist im Augenblick nicht vorrätig, aber sicherlich gibt es davon keine schwedische Übersetzung, so müssen Sie mit Deutsch vorliebnehmen. Vor zwanzig Jahren war ich in London am Savoy Theatre engagiert, eine season lang – ein Land präsentiert sich so völlig anders je nachdem, ob man dort arbeitet wie ein Eingeborener oder nur durchreist. (…)
Mein Engagement in England war während der Nazizeit, ich kreierte dort unter anderem einige Dinge meines Freundes Kurt Weill (Komponist der »Dreigroschenoper«), aber diese Tätigkeit brachte mir natürlich in Deutschland ein Berufsverbot ein. Da ich aus jahrelangem Umgang mit russischen Emigranten wusste, dass ich nie, nie, nie als Emigrant nur von außen am Geschick meines Landes teilnehmen wollte, schlug ich ein verlockendes Angebot nach Amerika aus und tat lieber alles Mögliche, wenn auch Illegale, in Deutschland – bis durch eine Verkettung glücklicher Umstände, wozu unter anderem eine englische Bombe, ins Archiv der Reichstheaterkammer geworfen, gehörte, die Möglichkeit des Berufs wieder gegeben war, denn dort waren alle Papiere verbrannt. Aber inzwischen durfte in Konzerten und Theatern nur noch singen, wer eingeschriebener Nazi war, andernfalls musste man sich verpflichten, wenigstens einmal im Jahr für drei Monate bei der Armee zu singen. Da meldete ich mich für Feldlazarette an der vordersten Front in Russland. (…) Und diese Lazarette lagen in Polen, Estland, Livland – das nördlichste zwei km von Leningrad – und dann in der Ukraine, am Schwarzen Meer, am Asowschen Meer – es gab abwechselnd –41 Grad Kälte und 50 Grad Hitze. Dieses unbarmherzige Leben in den russischen Sümpfen und Wäldern in der Winterkälte und die fast ebenso unerträglichen Temperaturen in den weiten russischen Steppen, der russische Himmel und die »russische Seele«, die nächtelangen Gespräche, verbotenerweise, mit der russischen Bevölkerung in ihren Lehmhütten, umgeben von Flöhen, und die Herzensgüte, mit denen wir – und sie mit uns – das letzte Brot teilten, die uns als Partisanen in die Luft sprengten und als Freunde vor dem Durchbruch warnten – niemals möchte ich die menschlichen Erfahrungen dieser Zeit missen.
13 Eine von mehreren Postkarten an Louise Hartung vom Långbersgården in Tällberg am Siljansee, wo Astrid Lindgren in den 1950er Jahren im Winter mit und ohne ihre Kinder und Enkel Ski fuhr.
Es ist schon fast ein halbes Jahr her, dass Sie hier waren, ich hätte nie geglaubt, dass man eine so unerträgliche Sehnsucht überhaupt so lange aushalten kann, aber der Mensch ist anscheinend so organisiert, dass er alles aushält. Selbst diese ewige Zwietracht zwischen Verstand und Herz, diese unaufhörlichen Diskussionen der beiden. Vernunft sagt immer dasselbe: Du törichtes Herz, was denkst du dir eigentlich, wer hängt denn sein Herz an einen Menschen, der in Stockholm lebt und dort auch immer sein wird, was ist das für ein Unfug … und das törichte Herz kichert zu allem nur leise … und inzwischen sind Sie in Dalarna! Und gehen am Siljansee spazieren. Ach ja, die Dichterinnen von Schweden sorgen schon dafür, dass bei jedem Namen Kindheitssehnsüchte wach werden – und alle Wünsche, mit den Wildgänsen nach Lappland zu reisen.6
»Seit gestern«, sagte der finnische Ministerpräsident, »befinden wir uns nicht mehr im Kriegszustand mit Deutschland.« – Bis gestern wusste ich nicht, dass wir überhaupt mit Finnland Krieg hatten! Komische Welt. Nun kann ich also getrost nach Lappland. Somit grüße ich Sie von Herzen.
Ihre Li. Hg.
Stockholm, 26. 3. 1954
Liebste süsseste Frau Hartung! Wie kann ich Ihnen nur für alles danken, die Blumen, das wunderbare Buch über Ernst Reuter (es ist wirklich wunderbar) und »Seltsames England«, von dem ich bisher nur ein paar sehr anregende Stellen lesen konnte. VIELEN DANK und vor allem vielen Dank für Ihre langen, interessanten und überaus freundlichen Briefe. Sie haben mir so viel über sich und Ihre Gedanken erzählt, und mir ist klar, dass Ihr Leben ein ganz und gar besonderes gewesen ist. Ich wusste nicht so recht, was wir da machten, als wir an jenem Abend in den Ostsektor gingen, aber hinterher und nachdem Sie mir so viel erzählt haben, verstehe ich es besser. Gott segne Sie, Sie sind mehr als mutig – Ihre Seele ist nicht die eines Feiglings.
Sie sagen, Sie wissen gar nichts von mir, nun, da gibt es nicht viel zu wissen. Ich nehme an, die meisten meiner Erlebnisse finden im Inneren statt. Wenn Sie etwas über meine Kindheit auf einem Bauernhof in Småland wissen möchten, kann ich Ihnen ein paar meiner kleinen Bücher über »Die Kinder in Bullerby« schicken. Sie sind noch nicht ins Deutsche übersetzt, es sind insgesamt drei, und Oetinger bringt das erste in diesem Herbst heraus. Aber sie sind sehr schlicht und leicht zu lesen, und wenn Sie schwedische Bücher lesen möchten, könnten Sie vielleicht mit diesen anfangen. (Aber ach, wann sollten Sie Zeit zum Lesen haben, Sie armes überarbeitetes Mädchen). Jedenfalls gefallen mir meine Bullerby-Bücher am besten, besser noch als Pippi und Blomkvist und Kati. Ich bin mir gar nicht so sicher, ob Sie diese Ansicht teilen. Aber sie sind richtig für alle kleinen Kinder, die gerade mit dem Lesen anfangen. Bitte tun Sie so, als wären Sie ein solches Kind!
14 Von Beginn der Korrespondenz an schickte Louise Hartung Blumen an Astrid Lindgren – als Sträuße, in Form von Zwiebeln oder gepresst.
Ich lebte in Småland, bis ich 18 war, ging in einer kleinen Stadt ganz in der Nähe zur Schule (diese Stadt ist die kleine Stadt in den Blomkvist-Büchern). Dann ging ich nach Stockholm, lernte Schreibmaschine schreiben und Stenografie und wurde Kontoristin (besonders gut in Stenografie, was später sehr nützlich war – da ich alles in Stenografie schreibe, selbst meine Bücher). Ich heiratete früh, mein Mann wurde später Direktor eines Automobilklubs namens Motormännens Riksförbund, ich bekam zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, während des Kriegs hatte ich fünf Jahre lang eine »geheime« Stelle, und in dieser Zeit, 1944, fing ich an zu schreiben. 1952 starb mein Mann sehr plötzlich, und auch wenn es ihm schon ein paar Jahre nicht gutging, kam es unerwartet und war ein harter Schlag. Mein Sohn ist verheiratet, und ich habe einen kleinen Enkel, drei Jahre alt. Meine Tochter, inzwischen 20, lebt bei mir und studiert Französisch an der Stockholmer Högskola. Ich habe eine Wohnung im Zentrum von Stockholm und ein kleines Sommerhaus in den Schären. Ich arbeite jeden Tag mehrere Stunden als Kinderbuchlektorin in dem Verlag, der meine Bücher veröffentlicht. Ich habe viele Freunde – genau wie Sie – und zu viel zu tun – genau wie Sie. Sie sehen, in meinem Leben gibt es keine großen, interessanten Dinge, es ist so simpel, dass man es kaum glauben möchte. Kein Wunder, dass ich Sie gedrängt habe, mir etwas von sich zu erzählen, als ich Sie traf, wahrscheinlich könnten Sie einen dicken Roman über Ihr Leben schreiben. Warum haben Sie nicht ein einziges Lied für mich gesungen???? Wenn wir uns wiedersehen, müssen Sie mir etwas vorsingen. Haben Sie wirklich vor, nach Schweden zu kommen? In diesem Fall hoffe ich sehr, dass wir uns sehen können. Es wäre sehr unbefriedigend, wenn ich in England wäre und Sie hier, finden Sie nicht?
Ich schicke Ihnen einen Ausschnitt aus der größten schwedischen Zeitung, damit Sie sehen, dass auch wir hier Herking kennen. Ach, wenn ich in Berlin wäre, könnten wir zusammen ins Kabarett gehen!
Ich hoffe, Sie wissen, wie dankbar ich für Ihre große Freundlichkeit und Ihre vielen Geschenke bin!
In Verbundenheit Astrid Lindgren
Berlin, den 29. 3. 1954
Liebe, bitte seien Sie so nett und schicken Sie die Bullerbüs! Ich denke, sie sollten einfach zu verstehen sein – vor zwanzig Jahren habe ich mit dem »Sohn einer Magd«7 begonnen. (Weil ich ihn liebte, den großen Exposer).
Und mir vorzustellen, ich sei ein kleines, kleines Kind, das beginnt zu lesen … da sehe ich vor mir ein vierjähriges, winziges, viel zu winziges Geschöpf, das schleppt sich, wo es geht und steht, mit einem dicken, dicken Buch. »Das ist mein Buch«, sagt es stolz, wenn es gefragt wird: »Was schleppst du dich denn immer mit diesem Buch herum?« Dieses fürchterlich schwere und unhandliche, große Buch war die Bibel, von Luther übersetzt, in einer ganz alten Ausgabe. Und was niemand wusste, war, dass dieses Vierjährige den ganzen Tag die Bibel las (las) und seine Lieblingsgeschichten längst auswendig wusste. Denn da war keine Mutter, die sich um dieses winzige Wesen hätte kümmern können, und die vielen älteren Brüder, die mit diesem Nichts spielen sollten, hatten sich das Leben leichtgemacht – sie brachten dem wissbegierigen Wesen bei, wie man liest, und von da an waren sie ungeschoren. Das Wesen las und hat es bis auf den heutigen Tag getan. Da ist kein Tag, der nicht sein Buch mit sich brächte, doch würden Sie sich wahrscheinlich wundern, wie sehr mich die Vergangenheit gefangen hält. Sie sehen, dass ich selbst bei Ihnen danach suche! –
»Kati in Paris«8 hat mir aus vielen Gründen der verschiedensten Art Freude gemacht. Tausend Dank. Aber das Alleraufregendste für mich war ganz abseitig. Wie in aller Welt kommen Sie auf Chevreuse? Das herrliche Chevreusetal?9 Chevreuse ist eine Weltanschauung …
Paris bei Chevreuse, so nannten wir die kleine Stadt an der Seine, wenn wir morgens um sechs Uhr durch die feuchten Kornfelder zum Frühzug nach Paris gingen. (…) Sie könnten natürlich ebenso fragen, wieso ich nach Chevreuse, Seine-et-Oise, kam und was daran so aufregend ist. Und das ist eine Geschichte, die etwas länger dauert, denn Chevreuse liegt genau zwischen Münster in Westfalen und Berlin, ganz genau am Ende einer verträumten Jugend und am Beginn vom Ernst des Lebens! Haben Sie noch nicht genug von meinen stories? Die gehen nie aus, denn ich lebe ja schon viel zu lange, als dass ich den Rest meines Lebens lang erzählen könnte, was alles vorher war.