Ich hänge im Triolengitter - Mary Bauermeister - E-Book

Ich hänge im Triolengitter E-Book

Mary Bauermeister

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Beschreibung

Die Biografie eines Jahrhundertgenies

Karlheinz Stockhausen ist einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Er experimentierte bereits in den 50er Jahren mit elektronischer Musik und beeinflusste neben der E-Musik auch Popgruppen wie Pink Floyd. In Mary Bauermeisters Kölner Atelier versammelte sich 1960-1962 die Avantgarde der internationalen Kunst- und Musikszene, neben Stockhausen etwa John Cage, Nam June Paik und Christo. Spektakuläre Happenings leiteten die Fluxus-Bewegung ein. Die Künstlerin, die ihren eigenen Durchbruch in New York errang, lebte mit ihm und seiner ersten Frau Doris mehrere Jahre in einer „ménage à trois”. In ihrem Buch erzählt sie, wie sie und Stockhausen sich künstlerisch beeinflussten und bei ihren Reisen durch die ganze Welt berühmten Künstlern wie Chagall, Miro oder Max Ernst begegneten. Sie schildert aber auch ganz ungeschminkt ihr unkonventionelles Lebens- und Liebesexperiment.

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Seitenzahl: 437

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Mary Bauermeister

Ich hänge imTriolengitter

Mein Leben mit Karlheinz Stockhausen

Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Autorin dankt Christina Riemann herzlich für Mitarbeit, Lektorat und Recherche.

Die Bücher der Edition Elke Heidenreich erscheinen im C. Bertelsmann Verlag, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe.

© der Originalausgabe 2011 by Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagfoto: © Peter H. Fürst/VG-Bild-Kunst, Bonn 2011

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-05676-6V002

www.penguin.de

für kamavon maka

Prolog

Der Urgrund von Karlheinz Stockhausens Musik ist Schmerz und das Heilmittel Liebe. Es war mir ein Anliegen, diese beiden Pole so aufs Papier zu bannen, dass sie nachempfunden werden können, miterlebt, miterlitten, miterlöst. Das Menschliche in ihm will ich beleuchten, und die Kräfte, die ihn immer wieder dazu bewegten, überhaupt Musik zu machen. Stockhausen war mir beim Schreiben dieses Buches sehr nahe. Manchmal dachte ich, er diktiere mir. Denn es kamen Gedanken und damit auch Gefühle in mir hoch, die ich zur Zeit des Erlebens noch nicht hatte. So als wolle er mir bedeuten: »Spür mal, wie sich das von meiner Seite aus anfühlt!«

In meinen Augen war er das größte Musikgenie des 20. Jahrhunderts. Wir verlebten die besten Jahre unser beider Leben miteinander. Warum sind wir nicht schon dieser Jahre wegen beisammengeblieben? Auf die Frage eines Journalisten, was ich denn für eine Funktion in Stockhausens Leben hätte, habe ich damals einmal geantwortet: »Wir leben seine Biografie.« Vermutlich habe ich ihn verlassen, um meine eigene Biografie zu leben.

Und doch weine ich heute im Alter Tränen um diese nicht bis zum Ende verwirklichte Liebe. »Die Liebe ist stärker als der Tod«, so singt die Sopranistin in Stockhausens Werk Momente. Es ist ein Zitat aus dem Hohenlied. Nun ist Stockhausen schon fast vier Jahre tot, und ich trage immer noch innerlich Trauer. Zum Schreiben dieses Buches habe ich sogar unseren Ehering wieder angelegt. Die Ringe wurden in San Francisco von einem Goldschmied mit der Silbenfolge Ka Ma ziseliert. Ka ist Karlheinz, Ma ist Mary. Kama – Maka, Figuren aus seinen Werken Momente und Hymnen. Beim Schreiben wurde mir wieder ganz bewusst, wie reich unser gemeinsames Leben gewesen ist.

Europa, Amerika, Asien, Afrika haben wir bereist. Ich hatte auf diesen Reisen Tage- und Skizzenbücher dabei, um das Erlebte festzuhalten, Ideen für Bildgestaltungen zu notieren. Wenn ich wieder irgendwo sesshaft war, ging es an die Verarbeitung dieser Reiseerkenntnisse, die ich dann ins Bildnerische übertrug. So kehrte ich nun an die Orte zurück und horchte in die Vergangenheit hinein. Was ist da noch an Geheimnis verborgen? An Orten verankert sich unser Schicksal, so als prägten wir Menschen der Erde unser Erleben ein. Mit aller Intensität verwunden wir sie, und diese Wunden fordern eine Heilung. Und ohne es planen zu können, bricht etwas aus den Tiefen unserer Erinnerung hervor und lässt uns neu empfinden. Anders handeln, zukünftiger. Wir besänftigen und mildern unsere damaligen Gefühle. Mit dem Wissen, dass alles und jedes wieder erlöst werden muss, befreit werden muss von den Überschattungen unserer Fehlentscheidungen, gehen wir nun etwas behutsamer den Rest unseres Lebens an. Mit Mokassins wie die Indianer, die der Erde beim Gehen nicht wehtun wollen, und nicht mehr mit klappernden Stöckelschuhen oder massiven Stiefeln. Deren Klang scheint uns zwar im Alltagslärm nicht zu stören, doch erst im leisen, stillen Kirchengewölbe merken wir, wie unpassend diese harten, lauten Schritte sich anhören.

1

Am Anfang war der Klang

Ein Nachmittag im Frühjahr 1957. Eine junge Frau geht die Kölner Hohe Straße hinunter, die zu den Hauptgeschäftsstraßen im Zentrum gehört. Schon zu Römerzeiten war sie eine der Schlagadern der alten Stadt gewesen. Nachdem im Zweiten Weltkrieg alles ringsum zerstört worden war, hatte man die Ladengeschäfte nach und nach zunächst behelfsmäßig wiederaufgebaut. Die junge Frau kann sich noch an die Schuttberge erinnern, über die nur ein schmaler Trampelpfad führte.

Inzwischen kann man überall das deutsche Wirtschaftswunder erkennen: glitzernde Schaufenster, Leuchtreklamen in allen Farben an den Fassaden, Bekleidungs-, Schuh-, Foto- und andere Geschäfte dicht gereiht. Da hinten ist das Café von Gigi Campi, Treffpunkt der Kölner Jazzfreunde, Literaten und Musiker. In der kommenden Woche erwartet man den Jazztrompeter Miles Davis in Köln, natürlich wird er dann auch bei Gigi Campi spielen.

Schräg gegenüber liegt das Lux, das beliebteste Filmkunsttheater der Stadt. Für Sonntag ist in der Matinee Buñuels Un chien andalou angekündigt, Ein andalusischer Hund. Da gilt es, früh um Karten anzustehen. Nur wenige Schritte weiter, wo die Straße sich zu einem kleinen Platz öffnet, geht es nach rechts auf den Dom und dahinter auf den Hauptbahnhof zu. Links liegt der Westdeutsche Rundfunk. Dort strebt die junge Frau hin.

Die Hohe Straße ist recht schmal und daher für die Fußgänger reserviert, die sich hier zu bestimmten Tageszeiten in dichten Strömen aneinander vorbeibewegen. Die junge Frau überragt in ihrer schlanken Größe die meisten Passanten. Sie hat blaue Augen und langes hellblondes Haar. Aufzufallen ist nicht immer angenehm, aber sie hat sich angewöhnt, die Blicke, die sie auf sich zieht, gar nicht weiter zu beachten und einfach ihren Weg zu gehen.

Heute ist sie mit einer großen Mappe unterwegs. Sie will dem Dirigenten Sergiu Celibidache, der im großen Sendesaal des Westdeutschen Rundfunks mit dem Orchester seine Spezialität, Musik von Ravel, einstudiert, ihre Bilder zeigen. Am Tag zuvor war sie schon bei den Proben, hatte noch im Überschwang des erinnerten Musikgenusses in ihrem Atelier ein Bild gemalt, eine ganz und gar kobaltblaue Arbeit mit wenigen winzigen gelben Farbtupfern. Das will sie Celibidache schenken und danach in ihre Atelierwohnung zurückkehren, die fünf Minuten entfernt in der wiederaufgebauten sogenannten Altstadt nahe zum Rhein liegt.

Sie geht also mit raschen, ausholenden Schritten am Lux vorbei in Richtung Wallrafplatz, hat den Kopf voll mit tausend Dingen. Da geschieht etwas ganz und gar Unerwartetes, das sie so zuvor noch nie erlebt hat: Ihr Blick streift einen unbekannten Mann, der ihr inmitten der Passanten entgegenkommt, und bleibt an ihm haften. Er scheint einige Jahre älter als sie, aber doch auch noch jung, und er macht auf sie den Eindruck eines selbstbewussten, energischen Menschen. Sehr eindrucksvoll sind seine großen dunklen Augen, und sein Blick trifft nun, gerade als sie aneinander vorbeigehen, den ihren. Ihr Atem stockt, sie verspürt eine Art Schwindelgefühl, glaubt sich einer Ohnmacht nahe und weiß nicht, was mit ihr geschieht. Sie kann sich gerade noch genügend zusammenreißen, um nicht zu stolpern.

Was ist das? Erst nach ein paar Schritten hält sie inne, dreht sich um und will noch einmal Ausschau halten nach dem Menschen, der sie in diesen merkwürdigen, ja unheimlichen Zustand versetzt hat. Und siehe da: Er ist auch stehen geblieben und hat sich halb umgedreht. Noch einmal sehen sie einander an, nur einen Augenblick lang. Überrascht, verunsichert, fragend, irgendetwas Unbestimmtes ahnend und erhoffend, als ob sie ein unglaubliches Wunder erwarteten. Zugleich beginnt sie schon wieder zu zweifeln, sich gegen diese unsinnige Erregung zu wehren, Befreiung davon zu suchen und sich schließlich loszureißen – alles in wenigen Sekunden.

Beide wenden sich wieder um und gehen in ihre jeweilige Richtung weiter. Die junge Frau braucht eine Weile, um ihre Fassung wiederzuerlangen. Aber sie ist trotz einer gewissen Neigung zu Träumereien, Fantasien und gelegentlichen mystischen Anwandlungen im Grunde nüchtern und vernünftig. Achselzuckend legt sie also diese Begegnung mit einem Unbekannten und das, was sie bei ihr ausgelöst hat, in ihrem Gedächtnis unter »merkwürdige Erlebnisse« ab und kehrt zu ihrem Vorhaben zurück.

Celibidache ist gerührt von dem Geschenk. Die Pause ist kurz, viel Zeit hat er nicht für die junge Frau. Aber er besorgt ihr eine Ehrenkarte für das eigentlich längst ausverkaufte Konzert, die sie stolz nach Hause trägt.

* * *

Die junge Frau war ich, Mary Bauermeister, damals dreiundzwanzig Jahre alt. Ich war nach einer Vorfahrin benannt worden, die aus Schottland stammte. Mein Vater war Mediziner, wie es auch schon sein Vater gewesen war, und Anthropologe. Er lehrte als Professor an der Universität in Köln. Ich hatte einen älteren Bruder und drei jüngere Schwestern. Als ich fünfzehn Jahre alt war, hatten meine Eltern sich getrennt, und seitdem war die Familie auseinandergerissen. Meine Mutter, die aus Österreich stammte, zog mit meinen Schwestern in einen Münchner Vorort, ich selbst war mit dem Bruder beim Vater geblieben. Mit der neuen Stiefmutter und einer kleinen Halbschwester lebten wir in Bensberg, das auf der rechten Rheinseite nahe bei Köln liegt, dort, wo das Bergische Land mit seinen Hügeln, Tälern und Wäldern beginnt.

1954 hätte ich eigentlich das Abitur machen und danach, wenn es nach meinem Vater gegangen wäre, Mathematik studieren sollen, weil ich dafür einige Begabung gezeigt hatte. Aber kurz vor dem Schulabschluss war ich ihm davongelaufen. Mein Ziel war es, Künstlerin zu werden. Bei Günther Ott, einem äußerst anregenden, für die Moderne aufgeschlossenen Kunstlehrer an meiner Mädchenoberschule, der später das Museumsreferat Köln ins Leben rief, hatte ich bereits einige ungegenständliche Arbeiten angefertigt. Dass mein Vater auch noch meine Beziehung zu meinem Jugendfreund Benno missbilligte, gab schließlich den Ausschlag dafür, dass ich mein Elternhaus verließ und aus der Kölner Gegend fortging. Mein Vater hatte mir Stubenarrest verordnet, als er von meiner Freundschaft mit dem jungen Mann erfuhr. Ich war neunzehn und empfand das als entwürdigend.

Benno war ein gelernter und sehr guter Fotograf, er nahm unter anderem meine Bilder und Zeichnungen auf. Später wurde er auch zu einem Maler und noch später zum Kunstverweigerer. Doch er war der Sohn eines Friseurs, und da hatte mein Vater einen Dünkel: »Friseure, Offiziere und Schauspieler kommen mir nicht ins Haus.« Um ihm zu trotzen, musste es natürlich gerade ein Friseurssohn sein, mit dem ich mich zusammentat. Denn seit mein Vater unsere Familie auseinandergerissen hatte, revoltierte ich gegen ihn. Es war aber auch eine Revolte gegen alles, was die Erwachsenen sagten. Ich wollte mir keine Vorschriften machen lassen.

Wir kamen ja aus einer Kriegszeit, einer Chaoszeit. Wir hatten keine Orientierung, wussten nicht, wer Freund oder Feind war. Das uns früher eingeimpfte Feindbild war zusammengebrochen, als die Amerikaner uns vom Hunger erlösten und Bonbons verteilten, obwohl sie vorher unsere Städte zerbombt hatten. Diese absurde Situation hatte ich mit zehn Jahren erlebt und von da an keinem Erwachsenen mehr etwas geglaubt. Und das verband mich mit Benno. Wir waren beide äußerst skeptisch, uns konnte man nichts vormachen.

Wir wollten unser Leben ganz der modernen Kunst widmen und dafür die noch junge Hochschule für Gestaltung in Ulm besuchen. Benno hatte dort immerhin schon seine Ausbildung als Fotograf vorzuweisen und bekam sofort eine feste Anstellung: Er sollte die Fotowerkstatt einrichten. Ich dagegen hatte nur meine Arbeiten aus der Schule im Gepäck und musste mir meine Aufnahme »ersitzen«, da ich weder ein Abitur noch irgendeine Art abgeschlossene Lehre vorzuweisen hatte. Ich wartete drei Tage im Büro von Max Bill, dem Rektor der Hochschule, bis er endlich meine Mappe ansah. Nach dem zehnten Blatt sagte er schließlich: »Sie können bleiben.« Ich durfte den ersten Grundkurs besuchen, der in der gerade erst errichteten Hochschule auf dem Kuhberg stattfand. Der Mathematiker Hermann von Baravalle und der Philosoph Max Bense wurden dort zu meinen wichtigsten Lehrern.

Nach einem Jahr fühlten Benno und ich uns von dem recht dogmatischen Geist in Ulm zu eingeengt und zogen weiter an die Staatliche Schule für Kunst und Handwerk in Saarbrücken, um dort unsere Ausbildung fortzusetzen. Zugleich versuchten wir, uns eine Existenz als freie Künstler aufzubauen – wir mussten schließlich von irgendetwas leben. Und so pilgerten wir mit einer Mappe mit unseren Bildern unter dem Arm in bürgerlichen Wohnvierteln von Haus zu Haus, um sie zum Verkauf anzubieten.

Wir signierten die Arbeiten aber immer erst, wenn wir festgestellt hatten, wen von uns beiden der jeweilige Interessent bevorzugte. Es muss also in Saarbrücken einige falsch signierte Werke von uns geben. 1956 gingen wir zurück nach Köln und verkauften auch dort unsere Bilder. Das konnten wir nun schon ganz gut. Als wir ein bisschen Geld verdient hatten, mieteten wir ein Atelier in der Salzgasse.

Obwohl mir bald klar wurde, dass Benno und ich als Mann und Frau nicht zusammenpassten und unsere Beziehung ungesund war – er litt unter Wutausbrüchen, Zornesattacken und schreckte auch vor körperlicher Gewalt nicht zurück –, war es zu spät für eine Trennung. Meine Unschuld war dahin. Und für entjungferte Mädchen gab es damals nur wenige Alternativen, überspitzt gesagt: Kloster oder Bordell. Es waren prüde Zeiten. Es hieß also durchhalten.

Benno hatte ziemlich schnell andere Frauen. Das Kapitel Sexualität war damit zwischen uns abgeschlossen. Ich war erleichtert und steckte meine ganze jugendliche Vitalität in die Malerei. Als Künstler boten wir uns gegenseitig noch manche Anregung, teilten auch viele Interessen miteinander: Musik, Filme, experimentelles Theater. Ich fand ihn als Querdenker noch spannend. Wir hielten beide die Augen offen für alles, was sich in der internationalen Kunstszene tat. Denn so viel war uns klar: Nach den Katastrophen von Nazizeit und Zweitem Weltkrieg, nach all den demoralisierenden Erfahrungen, von denen die Älteren gezeichnet waren, musste es geistig und künstlerisch einen völligen Neuanfang geben. Die blinde Verehrung der Klassiker versperrte dabei nur den Weg, auch an die frühe Moderne war kein Anschluss möglich, allenfalls konnte man sich ihren Aufbruchsgeist, ihren revolutionären Elan zum Vorbild nehmen.

Schon während der Schulzeit hatte ich begonnen, mich außer für moderne Malerei für zeitgenössische Musik zu begeistern. Ich hatte mich in der Oberprima zum Beispiel in einem Aufsatz über die Moderne mit Schönbergs Zwölftonmusik befasst und verfolgte alles, was es an neuer Musik gab, mit größtem Interesse. Ich fragte mich oft, warum ich nicht Musikerin geworden war. War es die Klavierlehrerin, die mich nur Dur-Stücke üben ließ? Sie sagte, für die Moll-Stücke, die ich so liebte, sei ich zu jung, und mir Jazz beizubringen, lehnte sie erst recht ab. Mich reizten beim Jazz die Rhythmen, so wie mich als Kind die tanzenden Zigeuner fasziniert hatten, die mit der Fidel am Kinn den Takt mit den Füßen sprangen. Dagegen nun die fade Lehrerin mit ihrem Taktstöckchen … Mit siebzehn hatte ich aufgehört, selbst ein Instrument zu spielen, aber Musik war mir weiterhin wie Nahrung, ich brauchte sie wie das tägliche Brot.

Die elektronische Musik hatte es mir besonders angetan. Ich war aus den Nachtprogrammen des Radios mit den frühen Werken von Herbert Eimert, Gottfried Michael Koenig und Karlheinz Stockhausen vertraut, glaubte aber, diese Komponisten seien alle ältere Herren. Als ich nun eines Abends mit Benno in einem Musik-der-Zeit-Konzert saß, sah ich plötzlich den jungen Mann, dem ich auf der Hohe Straße fast verfallen wäre, auf die Bühne steigen. Es war der Komponist Karlheinz Stockhausen, dessen Werke ich so bewunderte! Nun war es doppelt um mich geschehen, musikalisch und, ja, erotisch.

Nach dem Konzert gingen wir wie üblich in ein Restaurant. Am Nebentisch saß Stockhausen mit seinen Kollegen. Einer davon war Cornelius Cardew, ein englischer Komponist und Pianist, der später Stockhausens Assistent bei der Ausarbeitung des Werks Carré wurde. Ihn kannten wir aus dem Café Campi, er kam zu uns herüber und bat uns an den Tisch der Musiker. Wir wurden allen vorgestellt, auch Stockhausen. Unsere Blicke trafen sich wieder, auch er erkannte mich. Doch ich würde ihn keinesfalls merken lassen, wie es um mich stand. Dem Zug, dem geradezu empfundenen Sog zu ihm nachzugeben, war mir undenkbar, zumal ich nun auch mit seiner Frau Doris bekannt gemacht wurde. Eine Ehe wollte ich niemals stören, das hatte ich mir geschworen.

In der folgenden Zeit begegneten Stockhausen und ich uns immer wieder bei Konzerten und anderen Anlässen. Jedes Mal pochte mein Herz wie wild, aber ich konnte es verbergen. Bei einem Konzert in Düsseldorf 1958 machte er mir Avancen und Komplimente. Ich sagte knapp: »Sie unterschätzen meine Beziehung zu Benno«, riss mich von ihm los und flüchtete in die Garderobe, um dort zitternd vor Aufregung zu weinen. Ich ahnte, dass ich nicht ewig standhaft sein würde. Aber noch gab ich mich der Illusion hin, dass ich die stürmischen Gefühle in mir im Platonischen würde belassen können.

Benno, Cornelius Cardew und ich trampten im Oktober 1959 zu einer Aufführung von Stockhausens Refrain nach Berlin. Nach dem Konzert begegnete man sich wie meistens im Restaurant wieder. Wir hatten aber nur gerade genug Geld, um die Übernachtung zu bezahlen – für zehn Mark ließ uns eine Zimmervermieterin alle drei in einem Raum mit zwei Betten und einem Sofa schlafen. Fürs Essen im Restaurant reichte es nicht mehr. So saßen wir mit den speisenden Musikern am Tisch. Stockhausen schenkte uns Wein ein, und wir behaupteten, nicht hungrig zu sein. An Alkohol, gar noch auf leeren Magen, nicht gewöhnt, war ich im Nu beschwipst und begann, an einem Blumenstrauß zu knabbern. Irgendwie half mir das wenigstens über meine verheimlichten Gefühle für Stockhausen hinweg. Ich weiß nicht mehr, wie es dazu kam, aber er berührte mit seinen beiden Mittelfingern meine Hände, und es fuhr wie ein Stromschlag durch mich. Ich ging hinaus, die Oktoberluft kühlte mich ab, und Cornelius war dann so nett, mich in die nahe Pension zu begleiten, ehe er zu den anderen zurückkehrte. In mir aber herrschte Aufruhr.

Ich wusste, dass ich meine Beziehung zu Benno nicht mehr lange würde aufrechterhalten können, einem Mann, den ich nicht mehr liebte und dessen Wutanfälle immer schlimmere Ausmaße annahmen. In unserer kleinen Atelierwohnung hatte er bereits alle Möbel zertrümmert. Außer einem auf der Erde liegenden Essbrett und einigen Matratzen war nichts mehr da, die von ihm zerfetzten Bilder hatte ich verschwinden lassen. Zen-Mönche wurden wir wegen unseres Verzichts auf jeden Komfort genannt. »Wenn die wüssten«, dachte ich oft, denn keinem hatte ich mich je anvertraut. Ich hütete Bennos Zustand wie ein Geheimnis. Mir wurde klar, dass ich ihn niemals würde heilen können, sosehr ich mir das auch eingebildet hatte.

Doch das Interesse an allem, was in der Kunstszene geschah, verband uns weiter. Vieles an moderner Kunst, das in den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur als »entartet« diffamiert und aus den Museen entfernt worden war, holte man jetzt nach. Und wir waren hungrig nach allem Neuen. Wir erhofften uns von der Kunst einen Einfluss auf die Gesellschaft, denn wir hatten uns ja zum Ziel gesetzt, sie zu verändern. Auch an den spannenden Entwicklungen in der Neuen Musik nahmen wir intensiv Anteil, an dem, was im Studio für Elektronische Musik, das Herbert Eimert im WDR begründet hatte, vor sich ging, am musikalischen Nachtprogramm und den Musik-der-Zeit-Konzerten von Otto Tomek, dem Leiter der Musikabteilung des Senders. Wir beobachteten, dass viele Komponisten, Interpreten und Theoretiker der Avantgarde nach Köln kamen und die Stadt sich zusehends zu einem Zentrum der modernen Musik entwickelte.

Durch die Vermittlung von Karlheinz Stockhausen, damals bereits die treibende Kraft am Elektronischen Studio, kamen John Cage, einige seiner früheren Schüler und der Pianist David Tudor, der zu einem der wichtigsten Interpreten für experimentelle Klaviermusik wurde, aus Amerika nach Europa. Auch der Koreaner Nam June Paik, der bei Wolfgang Fortner in Freiburg Komposition studiert hatte, war dem Rat seines Lehrers gefolgt und 1958 nach Köln gezogen, um am Elektronischen Studio arbeiten zu können. Paik war schon immer einer der kühnsten experimentellen Künstler. Er sammelte im Studio die Tonbandschnipsel auf, die die anderen Komponisten als Ausschuss zurückließen, und stellte daraus in seinem eigenen Studio Sprach-Musik-Krach-Collagen her. Er besaß als einziger Musiker in Köln zwei Revox-Vierspur-Tonbandgeräte.

Jahr für Jahr waren Benno und ich gemeinsam nach Darmstadt zu den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik getrampt, die seit 1946 als Impulsgeber für zeitgenössische Musik galten – und das weltweit. Wir quartierten uns immer in der Jugendherberge ein und besuchten so viele Veranstaltungen wie möglich. 1958 und 1959 waren besonders spannende Jahre in Darmstadt. John Cage, David Tudor und Stockhausen unterrichteten, weitere Dozenten waren unter anderem der Belgier Henri Pousseur, der Franzose Pierre Boulez, der Italiener Luigi Nono. Der Amerikaner La Monte Young, damals noch Student, und viele andere Musiker und Komponisten tauschten sich hier aus. Doch auch Architekten, Maler und Bildhauer zog es in den Bannkreis der Musik, denn hier traf sich die kulturelle Avantgarde. Danach fuhr man nach Köln zurück, wo das ganze Jahr über weitere Konzerte stattfanden.

1959, auf der Rückreise von Darmstadt, geriet ich in einen Gewissenskonflikt. Benno war in diesem Jahr mit dem Fahrrad heimgefahren, und ich trampte mit Cornelius Cardew nach Frankfurt, wo wir mit David Tudor und dem Ehepaar Stockhausen verabredet waren, die dort noch einen Termin beim Rundfunk hatten. Wir wollten dann mit deren VW Käfer gemeinsam zurück nach Köln fahren.

Cornelius und ich hatten am Morgen in Frankfurt einen langen Spaziergang durch einen Park unternommen und uns vieles anvertraut. Wie sympathisch er mir doch geworden war! Ich fühlte mich ernst genommen, auch in meiner Arbeit – das war damals für Frauen noch gar nicht so selbstverständlich. Wir stiegen dann zu Stockhausens ins Auto und traten die Heimreise an. Nach einer Weile hielten wir neben der Autobahn an, um auf einer Wiese zu picknicken. Ich sammelte unter einem Baum einige Äpfel auf und warf sie den anderen zu. Stockhausen fing einen auf mit den Worten: »Mit einem Apfel fing ja unsere ganze Misere an.« Zur Belustigung aller Beteiligten konterte ich: »Dann essen Sie ihn lieber nicht.«

Auf der anderen Seite der Autobahn entdeckten wir einen Kiosk, an dem wir uns etwas zu essen besorgen wollten. Um dorthin zu gelangen, mussten wir über die Mittelleitplanke springen. Stockhausen und ich liefen spontan im selben Augenblick los, sprangen gemeinsam hinüber – er hatte mir die Hand gereicht –, kamen synchron auf und rannten weiter, alles in genau gleichem Sprungrhythmus. Es fiel uns beiden auf. Viele Jahre später würde er in einem Brief an mich auf dieses erste gemeinsame »Takten« zwischen uns zurückblicken. Im Einklang sein, sich im gleichen Schritt bewegen – nun, das war für den Moment doch noch innerhalb des Erlaubten. Dass wir uns mochten, war freilich nicht zu übersehen. Aber wir siezten uns, wie damals üblich, und dadurch war nach außen klar definiert, dass wir einen Abstand einhielten.

Wir fuhren weiter. Meine morgendliche Sympathie für Cornelius wechselte übergangslos zu Stockhausen. Ich war erregt und glücklich, dass ich nun neben ihm im Auto sitzen konnte, erschrak aber, als er meine Schulter in unmissverständlicher Weise berührte. Schon befand ich mich in einem Konflikt: Was ist Treue? Denn vorne saß doch seine Frau am Steuer, Doris, die aus einer Hamburger Reederdynastie kam. Mit ihr war Stockhausen seit 1951 verheiratet, sie hatten zu dieser Zeit bereits die drei Kinder Suja, Christel und Markus, zu denen später noch Majella kam.

Neben Doris saß David Tudor, die beiden waren sich sympathisch. David galt eigentlich als Asket. Ehe und Künstlersein schienen ihm unvereinbar, also hatte er seine Frau verlassen und lebte nun allein. Doch bei den Ferienkursen war er eines Morgens mit einer Frau aus seinem Zimmer gekommen. Nun, im Auto, wollte Doris es genau wissen: »Ach, David, ich dachte, du lebst ein asketisches Leben als Einsiedler und betreibst nur Nabelschau wie ein meditierender Buddha?« Er antwortete: »Ja, aber über wessen Nabel ich meditiere, ist doch egal.«

Vorne schäkerten also die beiden miteinander. Und hinten auf der Rückbank legte mir ihr Mann die Hand auf die Schulter. Nicht harmlos, sondern ein Zeichen gebend. Ich hätte mich in seinen Arm sinken lassen können, keiner hätte es gemerkt. Aber ich wäre mir schäbig vorgekommen. Das Idealbild der Ehe hatte für mich eine große Bedeutung. Es sollte noch lange dauern, bis es langsam, aber sicher zu verblassen begann. Im Übrigen lebte ich ja noch mit Benno zusammen, wenn auch unglücklich.

Cornelius Cardew berichtete mir später, Stockhausen sei unsterblich in die Frau eines Freundes verliebt und wäre Doris durchaus nicht treu. (Wer jene Frau war, sollte ich erst viel später erfahren.) Diese Nachricht hat vermutlich meinen Widerstand geschwächt, zumindest hat sie mich unterbewusst darauf vorbereitet, seinem Werben nachzugeben.

In den folgenden Wochen dieses Jahres 1959 wurde mir klar, dass die Beziehung zu Benno keine Zukunft mehr hatte. Ich wollte das kleine Zweizimmeratelier in der Salzgasse verlassen. Künstlerisch würden wir noch verbunden bleiben. Ich machte mich auf die Suche nach einem eigenen Atelier und fand auch bald eines: in einem nach altem Plan wiederaufgebauten Giebelhaus in der Lintgasse 28, mit wunderbarem Blick über den Rhein. Der Erbauer und Besitzer war der namhafte Architekt Peter Neufert, dem ich schon einige Pastellbilder verkauft hatte. Er akzeptierte mich als Mieterin und nahm statt der ersten sechs Monatsmieten und der Kaution eines meiner Reliefbilder an.

Unter dem hohen Giebel befand sich ein großer Arbeitsraum, teilweise zweigeschossig, der sich geradezu anbot für Veranstaltungen mit achtzig bis hundert Besuchern. Gemeinsam mit Cardew und Benno entwickelte ich den Plan, in diesem Atelier zeitgenössische Kunst und neueste Musik zu präsentieren, und zwar in multimedialen Veranstaltungen, die den Diskurs zwischen den Künsten vorantreiben sollten.

Das Atelier wurde schnell zum Treffpunkt eines festen Künstlerkreises. Cornelius Cardew war unser Hauptprogrammgestalter, er stellte den Kontakt zu den Musikern her. Ich schaffte das Geld herbei, indem ich Bilder verkaufte. Benno war für Fotografie und »Absurdes« zuständig. Er bezeichnete sich selbst mittlerweile als Kunstverweigerer, denn er zerstörte alle Arbeiten, die er mit viel Fleiß hergestellt hatte, beim nächsten Wutanfall wieder. Seine Haltung, das Ergebnis von schöpferischem Tun nach Fertigstellung des Werks wieder auszulöschen, brachte Spannung in den Diskurs über Kunst, zumal ich geheim hielt, dass bei ihm nicht eine bewusste Entscheidung, sondern unbeherrschte Ausbrüche zu der Vernichtung führten.

Wir baten unsere Freunde um Ausstellungswerke. Ich holte hauptsächlich die konkreten Künstler aus Ulm ins Atelier und die der Zero-Gruppe aus Düsseldorf, die von Otto Piene und Heinz Mack gegründet worden war. Aber auch Arnulf Rainers Übermalungen und Christos Verpackungsvorläufer wurden im Atelier gezeigt. Bald stießen Architekten, Designer und Fotografen dazu. Der in Köln lebende Schriftsteller Hans G Helms bereicherte das Programm, indem er aus seinem gerade erschienenen Buch Fa:m’ Ahniesgwow las und uns weitere Literaten brachte. Der damals dreißigjährige Heinz-Klaus Metzger, der zu einem der bedeutendsten Musikkritiker und Theoretiker der Neuen Musik avancieren würde, war für die Themen Philosophie und Musikwissenschaft zuständig.

Das Programm des Ateliers war also eine Mischung aus Absurdem und Konstruiertem, aus Gedachtem und Gefundenem, aus Entdecktem und Erfundenem. Es war meine Idee gewesen, die Künste zu verbinden. Wir kamen aus allen Sparten: Musiker, Bildhauer, Maler, Schriftsteller. Und alle waren wir bewegt von einer ähnlichen Fühl- und Denkweise, drückten unsere Impulse nur auf unterschiedliche Art, jeder in seiner Kunst aus. Die war sehr experimentell und huldigte nicht dem Bestehenden. Das war für uns die einzige Möglichkeit nach dem Scherbenhaufen, den der Krieg hinterlassen hatte, nachdem alles zertrümmert und vernichtet war – Häuser, Museen, Bücher, weltanschauliche Systeme, kulturelle Werte. Übrig blieben nur Ziegelsteine, von denen man den Mörtel abklopfte und versuchte, sich daraus etwas Neues zu bauen. Ich sah darin auch einen der Gründe für die Entstehung der Art informel: Alles nur Gebrösel, »Urstruktur«, man traute keiner Form und keiner Aussage mehr – Neubeginn mit und aus Staub und Asche.

Mit unserer Radikalität bei der Auswahl der Künstler, die wir akzeptierten und unterstützten, haben wir sicher andere, gemäßigtere oder auch nur den Schemata unserer Beurteilung nicht entsprechende übergangen, gar vor den Kopf gestoßen. Da gab es ja eine Generation vor uns, ehrliche und unabhängige Geister, die aus dem Krieg heimgekehrt waren und nun hofften, ihre Arbeit – »entartete Kunst« war sie genannt worden während des »Dritten Reichs« – wiederaufnehmen zu können. Die Komponisten Bernd Alois Zimmermann und Ernst Krenek, die Maler Georg Meistermann und Ernst Wilhelm Nay seien hier nur als Beispiele für diese Generation genannt. Nun trafen sie auf uns, aber weder verehrten wir sie als Lehrer, noch fanden wir ihre Beiträge von irgendeinem Interesse. Und dann reüssierten wir gar noch, die Presse verfolgte unser Tun, und selbst wenn Kritiken negativ ausfielen, war zumindest die Aufmerksamkeit auf unserer Seite. Die Rundfunksender führten die Werke der jüngeren Komponisten auf, Ausstellungskuratoren waren stets auf der Suche nach Ausgefallenem, noch nicht Dagewesenem. Manches verschwand im Lauf der nächsten Jahrzehnte wieder, und sicher wird noch einiges mehr dieses Schicksal ereilen, aber damals war das noch nicht abzusehen, und die Vernachlässigten waren bitter mit der Gleichgültigkeit konfrontiert, die viele ihren Werken gegenüber empfanden. Hindemith war eine rühmliche Ausnahme, an ihn wurde noch angeknüpft, aber Zimmermann wählte am Ende den Freitod.

Stockhausen, Gottfried Michael Koenig und Henri Pousseur waren zutiefst betroffen, als sie von Zimmermanns Tod erfuhren. Ob ihnen die Problematik bis dahin nicht bewusst gewesen war? Mir erklärt sich dadurch auch der Wandel, den Stockhausen im Lauf der Jahre in Bezug auf Hans Werner Henze vollzog. War Henze beziehungsweise Eimerts Begeisterung für ihn der Streitpunkt gewesen, an dem sogar die Freundschaft der beiden zerbrach, so verteidigte Stockhausen in späteren Jahren selbst Henze in einem Leserbrief, als dessen Werk in einer Zeitung einmal auf übelste Weise verrissen worden war.

Fast alle, die da in meinem Atelier zusammenkamen, waren von einem sprühenden Ideenreichtum. Geld hatten wir kaum. »Unsere bewusstseinserweiternde Droge war der Hunger«, pflege ich heute noch zu antworten, wenn ich gefragt werde, ob wir damals Drogen genommen hätten. Aber wir haben uns gegenseitig mächtig inspiriert. Wir wollten die Welt verändern. Und mit unseren Aktionen griffen wir der Fluxus-Bewegung voraus, die erst 1962 durch den amerikanischen Künstler George Maciunas ihren Namen bekommen sollte.

Köln war voller interessanter Menschen, und so stand bald das erste Programm fest. Es trug den Titel Musik-Texte-Malerei-Architektur. Am 26. März 1960 zur Ateliereröffnung stellte ich unter anderem zwölf Zeichnungen eines Schizophrenen aus, und wir verlasen die Texte, die dieser vom Krieg traumatisierte ehemalige Soldat auf die Bilder geschrieben hatte. Es war sehr erschütternd. Hans G Helms las Texte von James Joyce, Arno Holz und Edgar Allan Poe. Cornelius Cardew und David Behrman spielten am Klavier Stücke von Morton Feldman und John Cage. Im Atelier und im Treppenhaus waren Bilder und Partiturseiten ausgestellt.

Das Atelier war an diesem Abend brechend voll. Stockhausens waren auch gekommen. Es ging bis spät in die Nacht. Zum Abschied sagte Stockhausen: »Alle Achtung!« Ja, das konnte ich annehmen. Seit diesem Abend duzten wir uns, Doris, Karlheinz und ich.

Drei Monate später, im Juni 1960, trafen wir uns sehr oft. Die Internationale Gesellschaft für Neue Musik, genannt IGNM, hielt ihr 34. Weltmusikfest in Köln ab. Die Weltpresse war anwesend, Musikinteressierte, Konzertveranstalter, aber auch Kunstkritiker und Künstler aller Genres waren von weit her, zum Teil auch aus dem Ausland, angereist, um dieses Musikfest mitzuerleben. Wer hier im Zentrum der musikalischen Avantgarde bestand, hatte seine Eintrittskarte in den inneren Zirkel derer erworben, die über Jahrzehnte das Musikleben bestimmen würden.

So blickten die Kritiker besonders aufmerksam auf den Höhepunkt des Musikfestes, den Abend mit drei Uraufführungen: Stockhausens Kontakte, Mauricio Kagels Anagrama und Luigi Nonos Cori di Didone standen auf dem Programm. Die drei Komponisten waren zu der Zeit noch sehr eng befreundet, hatten sie sich doch in ihrer schwierigen Anfangszeit gegenseitig beraten und unterstützt. Die drei hatten bis kurz vor der Uraufführung noch an der Perfektionierung ihrer Werke gefeilt.

Schon bei der Generalprobe war der große Sendesaal des WDR besetzt mit Privilegierten aus aller Welt, die in den Genuss beider Konzerte, der Probe und der Uraufführung, kommen wollten. Das Dargebotene war so neu, den noch ungeübten Ohren so fremd, dass das mehrmalige Hören geradezu notwendig war, um es musikalisch zu erfassen. Im Übrigen wurde die ganze Woche über ein hochkarätiges Programm geboten. Der WDR hatte keine Mittel gescheut, hatte die besten Interpreten und Orchester engagiert. Die Zuhörer kamen voll auf ihre Kosten.

Anagrama erntete an dem Abend den meisten Applaus. Kagels spätere Spezialität, das musikalische Theater, zeichnete sich hier bereits ab. Nono verarbeitete in Cori di Didone Texte von Giuseppe Ungaretti. Für Nono hatte Musik eine politisch-soziale Aufklärung zu betreiben. Auch dafür fand er seine Anhänger.

Und auf das neue Werk Stockhausens war man nun besonders gespannt. Er galt mittlerweile als der wesentlichste Neuerer, sein Name war schon fast zum Synonym für Elektronik geworden. Mit Kontakte wollte er eine Art Klangmetamorphose erzeugen, eine Verschmelzung instrumentaler und elektronischer Klänge, Erstere gespielt von Instrumentalisten, Letztere erzeugt mit Hilfe eines Impulsgenerators. Das Publikum reagierte zweigeteilt: Auf der einen Seite gab es laute Buhrufe, auf der anderen frenetischen Beifall. Zu den Klatschenden zählte auch ich, hatte mich diese Musik doch wieder in die höchsten Höhen meiner Wahrnehmung geführt, meine Fantasie beflügelt, zu eigenen Ideen angespornt, wie schon so oft zuvor, wenn ich am Radio den musikalischen Nachtprogrammen gelauscht hatte. Ich fand mich noch Beifall klatschend, als alle anderen im Saal schon wieder ruhig waren.

Noch in der Nacht schrieb ich in mein Tagebuch: »Das ist gegenstandslose Musik, bedarf einer sehr hohen Auffassungsgabe, es gibt nichts Bekanntes, an das man sich halten oder anlehnen kann. Man muss sich selber total neu erschaffen, alle Konzepte, Erwartungen fahrenlassen. Das gelingt am besten mit geschlossenen Augen. Auf der Bühne passiert wenig. Für Kontakte ist die normale Konzertsaalbestuhlung total falsch, man müsste im Kreis sitzen, in abgedunkeltem Raum, nur den Tönen, Klängen und Geräuschen lauschen. Auch ein Programmheft mit Erklärungen ist fehl am Platz. Hier kann man üben, die Welt mit unverbrauchten Ohren zu hören. Welch kosmische Weite eröffnet sich, wenn man die Klangfigur erlebt vom Ton im oberen Spektrum, der sich wie im Vogelflug herunterschwingt, sich in Einzelimpulse auflöst, die sich dann verlängern, bis jeder Ton sich wieder so dehnt, dass er zur Fläche wird.«

Ich verließ anschließend ziemlich schnell das Funkhaus, weil ich jetzt ein Kunstobjekt fertigzustellen hatte, das ich noch am selben Abend bei einem Empfang mit Feuerwerk zu Ehren der drei Komponisten abfackeln wollte. Das Fest fand bei Ernst und Majella Brücher im Kölner Stadtteil Hahnwald statt. Ernst Brücher war der Verleger des Kölner DuMont Buchverlages und ein enger Freund Stockhausens. Ich hatte zu diesem Anlass ein großes, leuchtend rotes Bild mit Feuerwerkskörpern bestückt und Streichhölzer daraufgeklebt. Nun musste ich noch eine Aufhängung für die UV-Lampe an den Bilderrahmen montieren. Als es fertiggestellt war, transportierte ich das Werk mit dem Taxi zu Brüchers. Die Party war bereits in vollem Gange. Mein Beitrag fand im Garten statt, wo ich das Bildwerk an einem Baum befestigt hatte. Das Abbrennen dauerte leider nur ein paar Minuten, dann hing nur noch ein trauriger verkohlter Rahmen am Baumstamm, und ein unangenehmer harziger Geruch machte sich breit. Daran würde ich noch arbeiten müssen.

Die Gespräche an diesem Abend waren besonders lebhaft, man diskutierte über die drei neuen Werke. Mir fiel Stockhausens ernste Miene auf. Er stand irgendwie abseits, schien fast abwesend und blieb noch im Garten, als die anderen Gäste wieder ins Haus zurückgingen. Ich trat zu ihm, um ihm zu seinem Werk zu gratulieren. Er wirkte tieftraurig, und ich fragte vorsichtig, was ihn so betrübe. Erst zögernd, dann zusehends bereitwilliger offenbarte er mir, er habe das Gefühl, sein Stück sei nicht verstanden, seine monatelange Arbeit nicht genügend gewürdigt worden. Man müsse die Aufführungen elektronischer Musik anders gestalten, das sei ihm an diesem Tag bewusst geworden. Der altmodische Konzertsaal passe nicht zu den neuen Klängen.

Ich fragte ihn, ob er enttäuscht sei, dass er nicht so viel Applaus wie Kagel geerntet hatte. Zögerlich bejahte er. Ich glaubte, ihn trösten zu können, denn das kannte ich. Als Frau in der Kunst war ich es gewohnt, in der zweiten Reihe zu stehen. Ich hatte mich aber ganz gut im Windschatten der Männer etabliert, wie ich es nannte. So ließ es sich wunderbar arbeiten. Doch – das wurde mir an dem Abend wieder klar – Männer sind anders. Stockhausen ließ sich nicht recht aufheitern. War es der archaische Platzhirschinstinkt? Warum musste ein Mann unbedingt überall der Beste sein?

Für mich stand außer Frage: Ich hatte an diesem Abend der Uraufführung eines Meisterwerks beigewohnt. Mit den Jahren sollten das schließlich auch die Musikkritiker zugeben. Mein persönliches Lieblingsstückwürdeimmer Kontakte sein. Ich versicherte Stockhausen, dass er ein Jahrhundertwerk geschaffen habe. Doch er war nicht zu trösten. Da holte ich weiter aus: »Glaubst du denn, das weiße Quadrat auf weißem Grund von Malewitsch ist sofort verstanden worden? Er hat es bestimmt nicht gemalt, um gefeiert zu werden. Erst heute, Jahrzehnte später, verstehen wir ihn.«

Und dann hielt ich mich nicht mehr zurück, ich merkte, wie Stockhausens Stimmung sich aufhellte, und es sprudelte aus mir hervor: »Vergleiche dich nicht, denn dann bist du nicht bei dir selbst. Es wird immer jemanden geben, der besser ist – das macht depressiv. Oder jemanden, der schlechter ist – das macht arrogant. Bleib dir treu, schau nicht nach außen, arbeite einfach weiter. Und was Applaus oder Anerkennung betrifft, miss dem nicht so viel Bedeutung bei. Was heute ausgebuht wird, mag morgen gefeiert werden. Und umgekehrt. Du kannst das Opfer des guten oder des schlechten Geschmacks deiner Epoche werden – was willst du lieber?«

Ich hätte ihn in den Arm nehmen wollen, aber das verbot sich mir, hatte ich doch nun schon gute zwei Jahre seinen Avancen standgehalten. Ja, ich war fasziniert von ihm, wollte mir aber immer noch nicht eingestehen, wie sehr ich mich in ihn verliebt hatte.

Ich traf Stockhausen in der Zeit des IGNM-Musikfests noch sehr häufig, er kam allabendlich in mein Atelier. Was wir dort aufführten, wurde später als »Contre-Festival«bekannt, denn ich organisierte in der Lintgasse zu jedem offiziellen Konzert im WDR ein Gegenkonzert mit Künstlern, die dort abgelehnt worden waren, wie John Cage, David Tudor, La Monte Young, Nam June Paik oder George Brecht. Ihre Musik war dem Sender entweder zu experimentell, oder man hielt einfach ihre Werke überhaupt nicht mehr für Kunst.

Schnell entwickelte sich also ein ganzes Festivalmit Konzerten, Lesungen, Performances und dem, was der Amerikaner Allan Kaprow »Happening« genannt hatte. Das Ausleihen eines Flügels, die Einladungskarten, Getränke, nahrhafte Schmalzbrote und sonstigen Aufwand finanzierte ich mit dem Verkauf von Grafiken und Pastellen. Für das Anmieten von achtzig geliehenen Hockern fand sich ein Gönner. Für einige Künstler wurde das Atelier sogar zum Schlafraum, ein abgetrenntes Zimmer voller Matratzen stand bereit.

Wir versuchten, das, was es sonst in Köln gab, zu ergänzen. Das Desaster 1958 im Kleinen Sendesaal des WDR war uns in Erinnerung, als die interpretierenden Instrumentalisten John Cages Ansatz weder verstanden noch verstehen wollten: Sie trieben schlicht Unfug, klapperten mit Schlüsseln und Sonstigem und boykottierten damit jede Auseinandersetzung mit Cages Werk. Umso mehr bemühten wir uns nun darum. David Tudor, der beste Interpret von Cages Musik, brachte uns auch Partituren anderer, noch weniger bekannter Musiker aus den USA mit, machte uns mit Christian Wolff, Morton Feldman und avantgardistischen Japanern bekannt. Alle Kompositionen wurden lustvoll interpretiert und frei variiert, die Vorgaben mit Klängen, Geräuschen und Sprachfetzen in neue Zusammenhänge gebracht. Wir hatten dazu im Treppenhaus und im Atelier Bildwerke ausgestellt, im Flur und in einer Vitrine sah man filigran gemalte Notenblätter von Bussotti sowie Partiturseiten von Cage, Cardew und Kagel. Die wurden dann auch als Sprachkompositionen gesungen. Bei den Klavierstücken wurden nicht nur die Tasten bespielt, sondern auch die Saiten gezupft und das Gehäuse beklopft, es wurde auf Pfeifen und Kindertrompeten geblasen, mit Radios, Holzstöcken, Staffeleien, Kerzen hantiert und klanglich experimentiert. Es waren Grenzüberschreitungen in jeder Hinsicht.

Die Vorstellungen änderten sich von Abend zu Abend, es wurde frei improvisiert. Die Konzerte fanden zu Zeiten statt, zu denen keine offiziellen IGNM-Konzerte angesetzt waren, also um 15 Uhr und nach 22 Uhr, wenn die WDR-Aufführungen vorbei waren. So kamen auch einige Komponisten wie Bernd Alois Zimmermann oder Pierre Boulez, deren Werke im offiziellen Programm liefen, zu mir ins Atelier, um zu hören, was da passierte. Auch Otto Tomek vom WDR saß im Publikum, um sich Anregungen zu holen.

Ich hatte Heinz-Klaus Metzger den Auftrag erteilt, ein Kölner Manifest zu verfassen und es an einem Abend zu verlesen, eine Schrift über die Unmöglichkeit der Manifeste, in der er sich zu John Cage bekannte und Stockhausen zu dessen ästhetischem Gegenpol erklärte. Er kritisierte Stockhausens Idee einer »geistlichen Funktion der Musik«, wie er sie mit seinem Gesang der Jünglinge verkörperte. Dieses elementare Frühwerk war für elektronische Klänge und Stimme komponiert, für die er sich vom Schlussgebet des katholischen Gottesdienstes hatte inspirieren lassen.

Stockhausen versuchte, diese Kritik zu relativieren, indem er argumentierte: »Geistlich bedeutet nicht unbedingt kirchlich. Der Geist ist nur das Schöpferische.«

Für Stockhausen war es schwierig, sich auf diese Spiritualität zu berufen, denn die Avantgardeszene in Europa war links, atheistisch, oft anarchistisch und sah sich in der Nachfolge von Denkern wie etwa André Gide, Sartre und Camus. Doch Stockhausen blieb seiner Haltung treu.

Die Berichte über unsere Aktivitäten machten unter den offiziellen Teilnehmern des Festivals schnell die Runde. Es entstanden kontroverse Diskussionen. Besonders spektakulär waren die Beiträge von Nam June Paik. In meinem Atelier pflegte er das Publikum zunächst mit irgendeiner klassischen Melodie am Klavier einzulullen, besonders gern spielte er zum Beispiel Chopins Nocturne in B-Dur. Und wenn alles schwelgte im Genuss des Bekannten, Wohltuenden, Harmonischen, dann tobte er los, bearbeitete das Piano mit Kopf und Fäusten, entlockte Tasten, Gehäuse und Klangrahmen die fremdartigsten Geräusche. Wer dem folgen konnte, fühlte sich bereichert, eingeführt in einen Experimentierraum und erlebte völlig abartige, das heißt dem Klavier abartige Töne.

Manchmal steigerte sich Paik in seinen Ausbrüchen bis ins Aggressive, attackierte die Zuhörer mit verschiedenen Gegenständen, schmiss Bohnen und Rosenkränze ins Publikum, zertrümmerte Klaviere oder warf sie um. In seinem Stück Hommage à John Cage shampoonierte er David Tudor und John Cage die Köpfe und schnitt John die Krawatte ab. Diesen Akt würde man später als Vatermord bezeichnen. Die Krawatte war ein Geschenk des Zen-Meisters Suzuki an Cage gewesen – »it had to happen, I liked it too much«, »das musste passieren, ich liebte sie zu sehr«, tröstete der sich über den Verlust hinweg und verzieh Paik. Dessen gefährliche Spontanität und seinen wilden körperlichen Einsatz konnten andere nur schwer verstehen. Er bezog immer weitere Erlebnisebenen mit ein, erfüllte nie Erwartungen. Er wollte das Bewusstsein für Kunst verändern. Mir fiel dazu Haydns Sinfonie mit dem Paukenschlag ein, man konnte Paiks Attacken ebenfalls als Weckrufe ans schlafende Publikum verstehen. Aber bei uns schlief eigentlich niemand, wer kam, wusste, dass Ungewohntes geboten werden würde.

Stockhausen besuchte alle unsere Vorführungen. Er hatte sich schon länger für John Cage eingesetzt, etwa beim damaligen Leiter der Darmstädter Ferienkurse, Wolfgang Steinecke, bei dem er hohes Ansehen genoss. Die beiden berieten sich stets über das Programm des kommenden Jahres, so konnte Stockhausen Cage und Tudor immer wieder als Lehrer für Darmstadt nominieren. Er vermittelte Cage auch seine ersten Konzerte im WDR.

Im Atelier führten wir als Erste in Europa auch La Monte Young auf. Stockhausen hatte den jungen Amerikaner schon 1959 in Darmstadt ermutigt, seinen eigenen Weg zu gehen. Er war bei den Ferienkursen sein Schüler gewesen und hatte ihm ein Stück gezeigt, das von seinem Lehrer in den USA stark kritisiert worden war. Karlheinz fand es gut und riet ihm, genau dort weiterzuarbeiten, sich nur nicht abhängig zu machen von Lehrern und ihren Meinungen. Beide hatten über den darin liegenden Widerspruch lachen müssen, falls La Monte sich nun an gerade diesen Rat hielte.

Stockhausen war also auf unserer Seite. So hatte er auch seinen Freund Ernst Brücher auf das kühne sprachexperimentelle Buch von Hans G Helms aufmerksam gemacht, das daraufhin – mit beigefügter Schallplatte einer Lesung, damals eine absolute Neuheit – bei DuMont verlegt wurde. Er war interessiert an allem, was das Atelier bot. Nun konnte er mich auch von einer anderen Warte sehen. Ich war nicht mehr nur eine Frau, die er erobern wollte, ich war für ihn eine Freundin in der Kunst geworden.

2

Die sieben Tage

Zum Jahreswechsel 1960/61 besuchte ich Benno, der seit Oktober in Paris lebte, und traf einige Leute, die ich für Ausstellungen und Konzerte gewinnen wollte: Daniel Spoerri und Gottfried Honegger, die Musiker Luc Ferrari und François Bayle aus der Pariser Gruppe Musique concrète. Nach der Rückkehr begann ich mit der Jahresplanung fürs Atelier. Mir schwebte als Nächstes ein Konzert mit Ausstellung unter dem Titel Grafische Notation vor. Kagel und Bussotti hatten schon zugesagt. Ich wollte auch Stockhausen zur Mitarbeit gewinnen und rief ihn mit der Bitte an, mir Partituren dafür zu leihen, die ich an die Wand hängen wollte, beispielsweise von seinen Werken Refrain und Zyklus. Er entgegnete entrüstet: »Ich bin doch kein Tapezierer.« Seine Partituren seien nicht zu Dekorationszwecken geschaffen. Er war gekränkt, riet mir gar, mir doch diesen gerade laufenden Film anzusehen, in dem eine Motorradbraut vorkomme, die so hart und kalt sei wie ich.

Mit dieser Provokation hatte er mich empfindlich getroffen, und ich konnte meine Gefühle nicht beherrschen. Ich heulte ins Telefon. Es brach aus mir heraus, meine Hand krampfte sich um den Hörer. Hätte er neben mir gestanden, ich hätte ihm widerstehen können, aber das Telefon, das uns körperlich auf gebührendem Abstand hielt, brach den selbst verhängten Bann. Warum legte ich nicht einfach auf? Wollte mein Unterbewusstes, dass ich alle guten Vorsätze vergaß?

Stockhausen stellte fest: »Du weinst? Dann liebst du mich also!« Ich legte auf, Leitung tot, Stille. Entsetzlich. Aber auch beglückend. Ich hatte die Kontrolle über mich verloren. Weinte und weinte alle verdrängten Tränen, war ein einziges Gewirr aus widersprüchlichen Empfindungen, und mein ganzes Gebäude aus Vorsätzen, Vorstellungen, Plänen und Idealen stürzte wie ein Kartenhaus zusammen. Stockhausen wusste es jetzt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Gewässer der Gefühle die Mauern ausgehöhlt haben würden, die ich aufgerichtet hatte, um meine Ideale zu schützen.

Mit diesem Zugeständnis, dass auch ich liebte, dass ich verletzbar war durch den anderen, dem ich mich öffnete, nahm mein Leben einen anderen Lauf. Immer weniger bestimmten nun Pläne und Konzepte mein Tun oder Fühlen, Wollen oder Denken. Immer mehr überließ ich mich diesem gewaltigen Trieb der Natur, des Lebens, der Schöpfung. Dem Unkontrollierbaren, dem Chaos. In mir war alles eine einzige Turbulenz.

Ich fand mich immer noch auf dem Boden hockend neben dem Telefon, als es an der Tür klingelte. Ich öffnete. Jemand kam die Treppe herauf, es war Fleurop, der Blumendienst. Er brachte einen Strauß mit einem Liebesgedicht von Karlheinz. Ich legte mir die Worte im wahrsten Sinne ans Herz, steckte den Zettel in mein Hemd, stand am Fenster und blickte auf den Rhein. Da klingelte es wieder. Und von jetzt an jede Stunde, die Sträuße wurden immer größer, die Gedichte immer kürzer. Ich badete in Tränen und Träumen. Die Zeit schien zu rasen, aber doch zugleich stillzustehen. Gegen Abend der größte Strauß, der kleinste Zettel, als Notenzeile gezeichnet, mit jenen drei unsterblichen Worten, die den Höhepunkt des Geständnisses aller Liebenden zueinander bilden.

Alles verschwamm mir. Ich würde glücklich sein, wenn ich mich auf dieses neue Gefühl einließ. Gleichzeitig war ich verzweifelt, weil ich ahnte, dass von dem Moment an, wo ich mich ihm öffnete, das Ende vorprogrammiert war. Begann mit dem Glück auch ein Verhängnis? Vielleicht könnte ich dieses Gefühl trotz meines Geständnisses noch im Ungelebten lassen? Aber in mir zerrte etwas, das weder aus meinem Denken noch aus meinem Wollen kam, etwas Irrationales, es zerrte in mir und zog mich zu ihm wie ihn zu mir.

Spätabends dann stand er vor der Tür. Ich ließ ihn ein, aber nur bis in den Flur. Warum schlug mein Herz so wild und doch widersprüchlich, voller Aufregung ihm entgegenfiebernd und doch mit schlechtem Gewissen seiner Frau gegenüber? Es war wie in einer archaischen Tragödie. Durfte diese Liebe gelebt werden? Und mit welchen Opfern! Wie viele Opern, Dramen, Verse erzählen von solchen Opfern. Schon fühlte ich die imaginären Schattenwürfe dieser Opferungen, wie lebende Wesen kamen sie mir vor. Sie würden ihren Tribut einzuholen wissen. Glück um Unglück, Freude um Trauer, Seligkeit um Verzweiflung – der Handel muss aufgehen, stets.

Während ich all dies ahnte, standen wir im Flur. Mir kamen Assoziationen an andere Lieben, verbotene oder gesegnete, Bilder von ganz jungen, unberührten Menschen, die zueinanderfanden im natürlichsten Sinne, ohne Belastungen, Erinnerungen und Enttäuschungen. Ich fühlte mich uralt. So viel hatte ich in den vergangenen sieben Jahren schon an Traurigem durchlebt! Wie gerne wäre ich noch unschuldig gewesen an diesem Abend im engen Flur meines Lintgassenateliers. Mit solch innigen Gefühlen hätte meine erste Beziehung auch beginnen sollen. Doch meine Entscheidung damals war eine Kopfentscheidung gewesen, und nichts hatte dabei gestimmt.

Karlheinz und ich standen uns gegenüber mit ein wenig Licht von der Flurlampe, gerade genug, um den anderen zu erkennen, und doch dunkel genug, um sich nicht auszuliefern, nicht zu verraten. Wir gaben noch nicht alles preis. Und all unsere Gefühle und Sehnsüchte lagen im Widerstreit mit unserem schlechten Gewissen.

Warum nahm ich das überhaupt wahr? War das ein Privileg oder ein Fluch? Das sollte ich mich noch unzählige Male fragen während der vor uns liegenden elf Jahre gemeinsamer Liebes- und Leidenszeit. Jedenfalls konnte ich nicht behaupten, ich hätte nicht gewusst, was ich tat.

Nur unsere Hände berührten sich. Wir lehnten an der Wand und sahen uns schweigend in die Augen. Dann, inzwischen setzte schon das Morgengrauen ein, ging er langsam, behutsam hinaus. Ich stand an der Tür und fühlte ihm und der Intimität unserer gerade verlebten Stunden nach. Ob wir uns je wiederbegegnen würden? Es lag an mir. Ich könnte weggehen. Wohin? Egal, nur fort! Ich könnte das Leck in meiner Deichmauer flicken, es war wohl noch reparierbar.

Auf einmal klingelte es. Es war das Klingelzeichen, das Benno und ich immer benutzt hatten. Benno, der aber doch inzwischen fünfhundert Kilometer weit entfernt in Paris lebte. Ich wachte auf aus meinem Halbtraum. Noch einmal die Klingeltöne, ich drückte den automatischen Türöffner. Aber niemand kam die Treppe herauf. Ich lief die Treppe hinunter auf die verschneite Straße, doch dort waren nur ein paar Fußspuren von Karlheinz zu sehen, der vorhin das Haus verlassen hatte. Kein Benno. Aber wer hatte geklingelt? Verlor ich den Verstand?

Zu müde, um weiter zu rätseln, legte ich mich hin und fiel rasch in einen tiefen Schlaf. Ich wachte erst nachmittags auf, schaute auf mein in den letzten Tagen angefangenes Bild – abstrakt, monochrom, konzeptionell, klar und eindeutig. Ich begann zu arbeiten. Wieder einmal überfiel mich dieser Schaffensdrang, dem ich dann nie ausweichen konnte. Mitten in der Nacht, zu beliebigen Zeiten und Unzeiten überkam er mich und zwang mich zum Arbeiten. Zum Abarbeiten alles Erlebten. Nährte er sich aus nicht gelebter Sexualität?

Ich nahm an diesem Tag nicht nur wehmütig Abschied von meinen moralischen Idealen, sondern auch von meinen künstlerischen Festlegungen. Etwas gänzlich Neues kündigte sich an. Ich würde sein Musikinstrument werden, ich würde zu Klang werden. Es war ein fast religiöses Gefühl. Die Zukunft schien sich mir in ungeahnte Weiten zu öffnen.

Es hatte aufgehört zu schneien. Da klingelte es erneut, es war Paik. Er war erstaunt über die vielen herumstehenden Blumensträuße, doch diskret genug, nicht nachzufragen, und lud mich in sein Studio ein, um die diesjährigen gemeinsamen Veranstaltungen zu besprechen. Er hatte die Idee, eine Omnibustournee mit musikalischen und allerlei sonstigen Aktionen durch verschiedene Städte zu organisieren, wollte mir aber auch seine neuen Tonbandcollagen vorspielen.

Mir war, als befände ich mich an einer Weggabelung. Als stünden hinter mir zwei Schicksalsengel, denen mein Entschluss zum eigenen Überleben diente. Sollte ich diesen oder jenen Weg gehen? Fast schien es mir, als blinzelten die beiden Wesen sich zu, während ich mich noch quälte mit meinem Entweder-oder. Mir wurde klar, dass ich, wenn ich jetzt mit Paik gehen würde, mich retten könnte in eine Welt der Kunst und des Kunstmanagements, zugleich jedoch des Verzichts auf jegliche ausgelebte Partnerschaft. Es wäre aber nicht nur ein Verzicht, es läge darin auch das Versprechen auf einen Gewinn, der nur errungen werden könnte, wenn alle Energie sich einem Ziel unterordnen würde: der Kunst. Ich wäre mir männlich vorgekommen in diesem Moment, hätte ich den radikalen Weg gewählt. Doch ich wählte den anderen, diffuseren. Den, den ich zwar noch nicht klar erkennen konnte, der mich aber mehr lockte.

So stolperte ich in mein Frausein. Sagte Ja zu allem Unwillkürlichen, nur Gefühlten, zum Irrationalen, zu allem Unbekannten. Es war mir dann plötzlich, als hätte sich mir der Tod gezeigt, von seiner sanften Seite, da, wo er beruhigt, einen eine Pause einlegen lässt in diesem reißenden Lebensstrom, in den zu stürzen ich mich anschickte.

Ich riss die Deichmauer also selbst nieder. Paik ging wieder, und kurze Zeit später kam Stockhausen. Wir verließen das Haus, draußen war wieder Abend, und er nahm mich bei der Hand. Wir liefen am Rhein entlang, liefen wie Kinder, sprachen nichts. Ich überließ mich ihm, vertraute auf das neue Gefühl, nicht für alles allein verantwortlich zu sein. Wir gingen zunächst chinesisch essen. Dann fuhren wir in seine Wohnung nach Köln-Braunsfeld. Dort lebte er mit seiner Familie, Doris war aber mit den Kindern schon in den Winterurlaub gereist. Wir vereinbarten, uns nicht zu berühren. Versicherten uns, dass wir nur beieinander sein wollten. Legten uns aufs Bett, schliefen angezogen – sozusagen das gedankliche Schwert zwischen uns –, wenn auch eng umschlungen miteinander ein, beherrschten unser Verlangen.