Ich heiße Marvin - Andreas Engel - E-Book

Ich heiße Marvin E-Book

Andreas Engel

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Beschreibung

Marvin ist Anfang zwanzig und liegt nutzlos im Bett ­herum, als sein Leben eine ­unvorhersehbare ­Wende nimmt. Seine Mama schenkt ihm einen ­Gutschein für das ­örtliche Spa, das sich beim ­widerwilligen ­Besuch eher als ­Etablissement für ­untervögelte ­Männer ­herausstellt. ­Sowas traut ­Marvin sich nicht. Vicky, die sich ihm im Whirlpool mehr als ­offensichtlich anbietet, bleibt Marvin ­allerdings im Kopf. Als sich die beiden schließlich in ­seinem ­Kinderzimmer daten, passiert Marvin das ­größtmögliche ­Missgeschick - es hilft nur die Flucht. Zusammen mit seinen ­Eltern, dem ­Liebhaber der Mama und einem Mädchen aus dem ­Erdgeschoss begibt sich Marvin auf eine ­abenteuerliche Reise voller Verrücktheiten, Wendungen und ­Schweinescheiße.

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Inhaltsverzeichnis

ICH PROBIER HEUTE MAL WAS NEUES

WEGEN WEIHNACHTEN

ES WIRD DIR NICHT SCHADEN

HAST DU NACHGEDACHT?

STELL NICHT SO VIELE FRAGEN

ES BIETET SICH HALT GERADE AN

VIEL HILFT VIEL

ALS HÄTTE ICH ES GEAHNT

HÖR AUF ZU HEULEN UND DENK NACH

BIS ETWAS GRAS ÜBER DIE SACHE GEWACHSEN IST

ZIEH ES EINFACH DURCH

DAS WAR MIR GAR NICHT KLAR

WIR SIND DANN MAL RAUS FÜR HEUTE

WAS IST DENN MIT DIR LOS?

LASST EUCH NUR NICHT ERWISCHEN

ICH HABE NICHT DARÜBER NACHGEDACHT

SO SCHLIMM WAR’S AUCH NICHT

WAS BLEIBT UNS ANDERES ÜBRIG?

MAL SCHAUEN, WIE SICH ALLES ENTWICKELT

WAS HAT ER DENN MIT DENEN ZU TUN?

WIR FINDEN SIE NICHT!

ES GING NICHT ANDERS

HIER SIND ZU VIELE LEUTE

ES WIRD SICHER AUCH DIR GEFALLEN

TOI, TOI, TOI!

DAZU MUSS ICH VIELLEICHT NOCH ETWAS SAGEN

MACHT EUER DING

IST JETZT ALLES VORBEI?

JETZT WO WIR ES DOCH BEENDEN

ICH PROBIER HEUTE MAL WAS NEUES

Es war Dienstagmittag, kurz vor zwei, und ich lag belanglos auf dem Bett herum. Vor etwa einer Stunde war ich aufgewacht, aber ich hatte noch nicht mehr erreicht, als mich einmal um 180 Grad zu drehen. Durch die Vorhänge schien schon seit einiger Zeit grelles Tageslicht, doch erst vor ein paar Minuten hatte ich die Augen geöffnet. Jetzt lag ich mit dem Kopf übers Fußende hängend im Bett und starrte an die gegenüberliegende Wand. Mein PC stand auf dem alten Kiefernholzschreibtisch, neben der Tastatur auf der herausziehbaren Platte lehnte eine angebrochene 2 Liter Packung Eistee. Die Maus lag links, weil ich gestern Abend noch onaniert hatte. Irgend so ein FMF-Dreier, bei dem die ältere Frau die Stiefmutter der jüngeren sein soll. Hatte ich schon öfter gesehen. Auf der Kommode neben dem Tisch lag ein riesiger Haufen loser Socken, die eigentlich in die Schubladen darunter gehörten. Der alte Sessel, den ich von Opa geerbt hatte, damit ich mir darin gemütliche Stunden machen konnte, in dem ich aber nie saß, war eklig vergilbt und roch nach altem Mann. Der musste definitiv bald weg. Die Uhr an meiner Wand tickte super laut.

Ich hörte, wie Mama durch die Wohnungstür gepoltert kam und Papa, der im Wohnzimmer saß, etwas zurief. Mama arbeitete, seit ich denken konnte, halbtags bei Douglas in der Fußgängerzone. Dort verkaufte sie irgendwelchen übelriechenden Menschen übelriechendes Zeug. Für mich wäre das nichts. Weder Parfum noch ihr Job. Mama liebte ihn, er war eins der wichtigsten Dinge ihres Lebens.

Sie warf ihren Schlüssel laut scheppernd in die Aluschale auf der Anrichte unter der Garderobe und brachte trampelnd irgendwas in die Küche. Niemand lief so laut wie Mama. Selbst barfuß oder auf Socken klangen ihre kleinen Füße, wie wenn jemand mit so einem Holzhammer auf Schnitzel haut. Ich stöhnte kurz auf und zwang meinen Körper, aus dem Bett zu kriechen und sich zumindest in den Schreibtischstuhl fallenzulassen. Mama sah es nicht gerne, wenn ich tagsüber im Bett rum lag und ich wusste, dass sie als nächstes in mein Zimmer kommen würde. Mein Atem roch schlimm, weil ich mir seit gestern Morgen die Zähne nicht mehr geputzt hatte, ich schmeckte es. Meine Unterhose war verschwitzt und ich musste auf Klo. Meinen Halbsteifen klemmte ich hinter den Hosenbund und warf das Shirt drüber. Ich legte schnell eine halb leere Chipstüte auf die Taschentücher von gestern im Papierkorb. Mama war zwar das Gegenteil von prüde, die verklebten Dinger musste sie dennoch nicht sehen.

Sie öffnete schwungvoll die Tür, während sie sich mit einer Hand theatralisch die Augen zuhielt.

„Kann ich reinkommen?“, kicherte sie und blinzelte zwischen ihren Fingern hindurch in meine Richtung. So kam sie in mein Zimmer, seitdem sie mich vor einigen Jahren dabei erwischt hatte, wie ich unten ohne auf dem Bett saß und ein eingewachsenes Haar im Intimbereich begutachtete. Sie fand es immer noch witzig.

„Hallo Mama“, sagte ich leise, um mich selbst nicht zu sehr zu riechen.

„Hallo Schätzchen. Du siehst scheiße aus, wasch dich mal wieder!“, sagte sie lächelnd. Ich verdrehte bloß stumm die Augen.

„Schätzchen, pass auf. Die Lydia hat mir heute was geschenkt, hat sie von ihrem Mann bekommen. Ich brauch’s nicht. Aber für dich ist es perfekt!“

Oje.

„Was denn?“

„Einen Gutschein“, sagte sie und zog einen Umschlag aus ihrem schwarzen Ohne dich ist alles doof Jutebeutel, in dem sonst nichts weiter zu sehen war als zwei Stangen blaue Gauloises. „Ein Gutschein für das Spa auf der andern Seite vom Beulenberg. Das ist genau das richtige für dich! Da kannst du mal so richtig entspannen und den Kopf freibekommen. Ein paar Stunden in der Salzwassergrotte und deine Zukunft ist gesichert. So oder so ähnlich steht’s im Prospekt, sagt Lydia.“

Ohgottogottogott. Nie im Leben.

„Warum gehst du nicht selber hin? Sie hat dir das Ding doch geschenkt!“, fragte ich sie.

Mama winkte ab. „Ach was! Die Luft ist schlecht für die Haut, das Salzwasser erst recht. Und da drin ist Rauchverbot. Ich bleibe doch keine vier Stunden irgendwo, wo ich nicht rauchen darf.“

Das mit der Haut bezweifelte ich stark, aber ich beließ es dabei. „Ich gehe auf keinen Fall dahin. Ich war das letzte Mal in der achten Klasse in einem Schwimmbad. Damals, als die anderen mir die Hose geklaut haben“, sagte ich.

„Ja, du musstest nackig durchs ganze Schwimmbad laufen. Hab neulich beim Einkaufen noch Frau Kraneburg getroffen, die damals dabei war. Sie hat die ganze Geschichte noch einmal erzählt, sie und die Frau an der Fleischtheke haben laut gelacht, aber ich habe ihnen gesagt, dass das gar nicht witzig ist!“, sagte Mama mit erhobenem Zeigefinger.

Oh Mann.

„Aber, Schätzchen, die Lotusblüte ist doch kein Schwimmbad. Dahin gehen keine Rabauken wie die Mädels aus deiner Klasse. Niemand nimmt deine Hose und zeigt dann mit dem Finger auf dich. Ein Spa ist ein Ort zum Entspannen, zum Runterkommen. Dort ist man ganz allein mit sich und seinen Gedanken. Wer weiß, vielleicht hast du dort deine Eingebung und weißt anschließend endlich, was du mit deinem Leben anfangen möchtest. Denk mal drüber nach. Ich fahr dich auch hin.“

Immer mal wieder kam Mama mit einer neuen Idee nach Hause, wie ich endlich die Erleuchtung erlangen könnte auf der Suche nach meiner Bestimmung. Sie hatte natürlich Recht, ich sollte so langsam mal irgendwas tun, außer zocken, wichsen und pennen. Seit ich vor zwei Jahren mit der Schule fertig geworden war, wusste ich nur leider noch nicht, was genau ich eigentlich machen wollte. Studieren tun nur Reiche, außerdem fand ich die Schule schon scheiße, da würde ich sicher nicht noch mehrere Jahre Uni hinten dranhängen. Backpacking in Australien konnte man sich so langsam sparen, das kam in keinem Lebenslauf mehr gut. War außerdem auch viel zu teuer. Für ein FSJ war ich nicht tauglich, dafür konnte ich einfach nicht gut genug mit anderen Menschen reden. Blieb eigentlich nur eine Ausbildung - aber als was? Mein handwerkliches Geschick beschränkte sich auf das Zerschneiden eines Brötchens in zwei Hälften, außerdem konnte ich schon immer ganz gut viele Dinge auf einmal tragen, weil ich viel zu große Hände habe. Aber mit den Skills gibt dir niemand einen Job. Bisher war ich recht hilflos, was das Thema anging.

Mama war also eigentlich immer auf dem richtigen Trip, mir auf verschiedene Weisen zu versuchen, einen Arschtritt zu verpassen. Sie zeigte mir aber keine Stellenanzeigen oder schickte mir Links, damit ich mich direkt bewerben konnte. Mama wollte mir nichts vorschreiben, sie hoffte darauf, dass ich selbst eine Lösung fand. Sie führte mich nur immer wieder in Situationen, die mich ihrer Meinung nach dazu anregen würden, den Gedanken freien Lauf zu lassen. Keine schlechte Idee, nur wie sie es anging, war durchaus fragwürdig. Beim ersten Mal hatte sie mir die Augenbinde erst abgenommen, als ich schon im Korb des Heißluftballons stand. Sie hatte monatelang dafür gespart. Ich sollte über der Landschaft herumgondeln und mir den Kopf freipusten lassen. Leider hatte Mama meine Höhenangst vergessen, sodass ich mir nach wenigen Minuten in der Luft aus Panik in den Pulli kotzte. Danach scheiterte ein Ausflug in den Wald (weil ich Wildschweine gerochen hatte, rettete ich mich auf einen Baum und rief die Feuerwehr - die kein Tier fand, mich aber vom Baum retten musste, ich kam mir vor wie eine Katze), ein Gin-Tasting (erneut Kotze, aber ich fragte mich eh, wie mir ein Besäufnis weiterhelfen sollte) sowie ein 1000 Teile Puzzle (Motiv liebendes Paar aus den Siebzigern), das mich so aggressiv machte, dass ich es in der Badewanne anzündete.

Diesmal also sollten es vier entspannende Stunden in einem Spa werden. Es war schon jetzt klar, dass auch das in einem Fiasko enden würde. Also durfte es gar nicht erst stattfinden.

„Vergiss es Mama“, sagte ich, „du kannst Lydia sagen, dass sie den Gutschein an wen anders verschenken kann. Oder sie geht halt selber hin.“

Lydia war Mamas Kollegin bei Douglas, ungefähr in ihrem Alter und genauso merkwürdig drauf. Ich hatte sie vor ein paar Jahren mal kennengelernt, als Mama mich mit in die Stadt genommen hatte. Auch das war so ein schrecklicher Tag, an dem ich bei einer schönen Shoppingtour auf frische Ideen kommen sollte. Ich war genervt von Laden zu Laden gezogen und irgendwann mit schlechter Laune und leeren Händen wieder bei Douglas aufgetaucht. Ich war zu arm und zu blöd zum Shoppen. Mama hatte das dann auch schon nicht mehr so richtig interessiert, so vertieft war sie in das Gespräch mit Lydia. Sie hatten da immer viel Spaß und quatschten den ganzen Tag. Ihr Arbeitgeber hätte ich nicht sein wollen.

„Sie will da genauso wenig hin wie ich und ihr Mann hat doch da sowieso ne Dauerkarte, deshalb braucht er den Gutschein ja nicht. Überleg es dir, Schätzchen. Sonst gehst du hier noch irgendwann zu Grunde.“

Sie schaute sich angeekelt im Raum um, lächelte dabei gequält und schloss die Tür hinter sich.

Keine vier Sekunden später öffnete sie sie erneut und rief mir zu: „In zwanzig Minuten gibt’s Essen, ich probier heute mal was Neues!“

Das hatte mir gerade noch gefehlt.

Vierzig Minuten später lag ich frisch gewaschen auf meinem Bett, starrte den Rauchmelder an und wartete auf das nächste regelmäßige rote Blinken. Es kam alle 43 Sekunden, komisches Intervall, wenn man mich fragte.

Mama stampfte durch den Flur und stürzte in mein Zimmer. Sie trug jetzt eine fleckige Küchenschürze über ihrem Kleidchen, in ihrem Gesicht klebte irgendein sämiges Lebensmittel. Wahrscheinlich Spuren ihres Kampfes am Herd, vielleicht auch eine Gesichtsmaske. Das wusste man bei Mama nie so genau.

Sie ließ sich nicht viel Zeit, sondern sagte nur schnell „Essen ist fertig, hoffentlich…“, dann brach sie ab und machte kehrt.

Mama konnte echt viel. Sie machte ihren Job, hatte den Haushalt ganz gut im Griff, ihr Körper war ihr Heiligstes. Doch niemand kochte so schlecht wie Mama. Leider merkte sie es selbst nicht und versuchte es immer wieder. Mit Lydia schaute sie sich während der Arbeit Videos bei YouTube an, die Titel hatten wie „Erstaunliches Rezept, das sogar meine Oma mag. Seitdem koche ich es dreimal täglich!“ und versaute uns damit die Mahlzeiten. Selbst Rezepte mit nur wenigen Zutaten waren nichts für Mama. Vorgestern erst gab es verkohlte Fischstäbchen mit Flüssigkartoffeln und bissfestem Blumenkohl. Ein Gericht, das sie regelmäßig in den Sand setzte und anschließend auf die miesen Tipps in den Kommentarspalten von Chefkoch schimpfte. Viel furchtbarer als dieses Sonntagsessen konnte es heute eigentlich nicht werden.

Wurde es dann doch.

„Na dann“, sagte Mama mit noch vollem Mund, während sie sich bereits eine Zigarette anzündete. Keine Ahnung, worauf sie sich damit bezog, denn eigentlich hatte minutenlang niemand was gesagt. Papa redete sowieso so gut wie nie. Die allermeiste Zeit des Tages verbrachte er damit, vor dem Fenster zu sitzen, sich die Glatze zu reiben, in den Hof hinauszuschauen und dabei Radio zu hören. Das tat er nun schon seit ein paar Jahren. Viel Gelaber beim Deutschlandfunk, oft klassische Musik, manchmal auch Mainstreamscheiß. Das war sein Lebensinhalt, seit dem schlimmen Unfall damals. Papa hatte fast zwanzig Jahre als Kranführer in der Müllverbrennungsanlage gearbeitet. Immer Schichtdienst, also auch oft nachts und am Wochenende. Jeden Tag bewegte er Müll von einer Seite der riesigen Halle zur anderen, vermischte Haushaltsabfall und geschredderten Sperrmüll, schichtete Tonne für Tonne um, damit der ganze Bums verbrannt werden konnte. Auch Jahre später hatte er noch regelmäßig Kontakt zu ein paar der ehemaligen Kollegen und tauschte sich über Müllverbrennungsneuigkeiten aus.

Wie es genau zum Unfall gekommen war, hatte man mir nie erzählt. Zu Anfang nicht, weil ich in Mamas und Papas Augen noch zu klein für eine solche Horrorgeschichte gewesen war. Nachher nicht, weil es anscheinend niemand mehr für nötig hielt. Es war wohl so, dass Papa aus seinem Kran ausgestiegen ist und da, wo sich eigentlich nur der Abfall aufhält, von einem schweren Stück Müll am Rücken getroffen wurde. Keine Ahnung, warum es vorher nicht durch den Sperrmüllzerkleinerer gejagt wurde und was genau es gewesen ist. Vielleicht eine Heizung oder eine Tür. Es fiel auf jeden Fall vom Kran und zerschmetterte Papa unter sich. Seitdem war er von der Hüfte abwärts gelähmt und saß im Rollstuhl. Mit dem rollte er ein bisschen in der Wohnung hin und her, rauskommen tat er eigentlich gar nicht. War aber auch nicht so einfach, da wir im vierten Stock eines aufzuglosen Mehrfamilienhauses wohnten. Nur zu Arztbesuchen und sowas buckelten Mama und ich ihn die Treppen runter. Wir hatten einige Male versucht, eine neue Bude zu finden, aber Erdgeschosswohnungen waren selbst in einer Kleinstadt wie unserer unbezahlbar. Einmal waren wir kurz davor und hatten ein echtes Schnäppchen in der Nähe der Innenstadt gefunden. Die mussten wir dann allerdings ablehnen, weil Rauchen ausdrücklich verboten war.

„Ich habe mir heute Gedanken über Weihnachten gemacht“, sagte Mama schnell zwischen zwei Zügen, „ob wir das nicht dieses Jahr mal alles etwas anders machen.“

Ich verstand nicht. Es war Juni. Papa sah mich an und zuckte kurz mit den Schultern. Damit war klar, dass er sich dazu nicht äußern würde.

Mama sah zwischen uns beiden hin und her, aber auch ich senkte vorsichtshalber meinen Blick auf die Reste des Essens. Mama hatte es Tortellinisalat genannt, aber vielleicht vergessen, die Nudeln zu kochen. Manchmal knackte es beim Kauen. Ich erinnerte mich an ihre neuen Fingernagelsticker in Form von Blümchen und Schmetterlingen und sah unauffällig nach, ob sie noch alle dran waren.

„Eine große Party wäre doch nicht schlecht. An Heiligabend, mit ganz vielen Gästen. Das ist doch mal was anderes als die immer gleichen, lahmen Abende mit Onkel Honig und Oma Hans. Es wird ein Buffet geben, was zu trinken. Vielleicht veranstalten wir einen kleinen Trödelmarkt, wo jeder Zeug verkaufen kann, das er nicht mehr braucht. Wir machen Musik an und tanzen. Wie hört sich das an?“

Gar nicht übel, da könnte ich mich sicherlich früher in mein Zimmer verziehen als sonst. Und auf die beiden üblichen Gäste könnte ich gut verzichten. Onkel Honig war ein Cousin neunten bis elften Grades von Mama, keine Ahnung wieso wir alle ihn Onkel nannten. Er war schwul, traute sich aber bis heute nicht, es auszusprechen. Nach dem zweiten Gläschen provozierte er sich selbst so weit, dass er es fast erzählte. Er redete dann nur noch über berühmte Schwule und zeigte uns deren Instagram Fotos. Neil Patrick Harris vor dem Weihnachtsbaum, Jochen Schropp beim Joggen, Reid Ewing am Set von Modern Family. Die Angst in ihm arbeitete aber weiter dagegen und nach dem dritten Gläschen tat er Sachen, die er für besonders hetero hielt und begann über Fußball oder Werkzeug zu reden und Mama anzugrabbeln. Da wir alle wussten, dass er schwul war, fanden wir es zwar irgendwie eklig, aber nicht besonders schlimm. Hauptsächlich war es traurig.

Oma Hans war nicht mal mit uns verwandt. Sie wohnte im selben Haus wie Mamas Kollegin Lydia, aber auch mit ihr oder ihrem Mann war sie nicht verwandt. Ich wusste nicht, in welchem Verhältnis sie zu unserer Familie stand und seit wann sie da war. Eigentlich wusste ich gar nicht, wer sie war und wie sie hieß. Ich nahm nicht an, dass Hans ihr richtiger Name war. Irgendwann war mir aufgefallen, dass ich keine Ahnung hatte. Dann war’s aber schon zu unangenehm gewesen, also hatte ich nie gefragt. Mit ihr war es aber eigentlich genauso wie mit der eigenen Großmutter. Sie war so eine typische Rassistenoma, die jeden scheiße fand, der nicht Deutsch, weiß, hetero und katholisch war. Also natürlich auch Onkel Honig, was an Weihnachten mitunter echt anstrengend werden konnte. Besonders schlau war sie dabei auch nicht. Na ja, es gibt Schwierigeres als Sachen doof zu finden und Menschen zu hassen.

„Und was machen Onkel Honig und Oma Hans dann stattdessen?“, fragte ich.

„Na die kommen natürlich trotzdem.“

Verdammt.

„Dazu halt noch ein paar andere Leute. Wir könnten die Nachbarn fragen, du kannst Freunde einladen. Dann natürlich noch Lydia und Sanne, vielleicht Kai oder Can.“

Ach, daher wehte der Wind. Kai und Can waren zwei von Mamas Liebhabern. Weil bei Papa seit Jahren der Ofen aus war, beschaffte Mama sich anderweitig ihren nötigen Input. Niemand hatte so gerne Sex wie Mama. Alle paar Wochen hatte sie einen neuen Kerl an der Angel, den sie zum Stillen ihrer Sucht einsetzte. Ganz oft brachte sie die Männer tatsächlich auch mit nach Hause. Papa war alles egal, er konnte ja eh nicht mehr und war froh, dass er dennoch mit seinem Rollstuhl vor dem Radio sitzen durfte. Außerdem ging es Mama bei den anderen Typen immer nur um Sex. Eine Beziehung kam nie in Frage. Hallo, Ficken, tschüss. Rein, raus.

Kai und Can waren so etwas wie Stammgäste in Mamas Schlafzimmer. Beide hatte ich schon oft im Flur getroffen, wenn sie nach erschöpfenden Stunden ins Bad schlichen. Mitunter wechselten sie sich täglich ab und ich hatte schon damit gerechnet, dass Mama irgendwann mal durcheinanderkommt und einer von beiden erst noch im Vorzimmer Platz nehmen müsste, wo er dann darauf wartet, bis er dran ist. Natürlich hatten wir kein Vorzimmer. Es gab nicht einmal ein weiteres Schlafzimmer für Papa, sodass der Sex meistens tagsüber stattfand oder Papa auf so einem blöden aufblasbaren Bett im Wohnzimmer schlafen musste.

Can war ein super Typ, mit dem ich mich gut verstand. Er brachte manchmal was Tolles zu Essen mit, Chinesisch oder so. Er war immer höflich und freundlich, auch zu Mama. Mit ihm konnte ich mich gut unterhalten, das musste auch erstmal jemand schaffen.

Kai war das genaue Gegenteil, ein richtiger Honk. Offenbar konnte er ausgezeichnet vögeln, aber ich glaubte kaum, dass er zu mehr in der Lage war. Er tat immer sehr weltmännisch, war aber schon überfordert, wenn ein Kind ihn auf der Straße nach dem Weg fragte. Im Restaurant berechnete er exakt 8% Trinkgeld, weil er mal in der Welt am Sonntag gelesen hatte, das sei das Mindestmaß. Er sprach zu laut, trank seinen Kaffee mit sieben Stücken Würfelzucker, hielt Papa die Tür nicht auf. Wenigstens hatte ich von ihm mal Pornhub Premium Zugangsdaten bekommen, dafür war ich dann doch dankbar. Leider war er es, der in den vergangenen Wochen fast so etwas wie unser Mitbewohner geworden war. Mir wäre Can lieber gewesen, aber es war nicht an mir, Mamas Sexpartner zu erwählen.

„Wer ist Sanne?“, fragte ich.

„Na, die junge Kollegin am Nachmittag“, sagte Mama.

„Mit der arbeitest du doch dann gar nicht zusammen.“

„Ist doch egal, Sanne ist toll. Vielleicht kannst du dann mal mit ihr tanzen.“ Sie zwinkerte mir zu. Als hätte ich was davon, in sechs Monaten vielleicht bei unserem merkwürdigen Weihnachtsfest mit irgendeiner Sanne zu tanzen. Warum zum Teufel sollte sie überhaupt herkommen wollen. Da müsste sie ihr Leben schon ganz schön wenig im Griff haben.

„Jo, ok“ sagte ich nur.

„Ich werde das in den nächsten Wochen weiter ausarbeiten. Keine Sorge, ihr müsst nichts tun. Außer vielleicht ein bisschen Begeisterung zeigen“, sagte Mama.

Wenn ich mir Papa so ansah, dürfte das schwierig genug werden.

WEGEN WEIHNACHTEN

Als ich am Abend wieder aus meinem Zimmer gekrochen kam, war ich gedanklich noch bei Fortnite, womit ich die vergangenen Stunden verbracht hatte. Beim letzten Battle Royale war ich völlig chancenlos schon als siebter von einem dreizehnjährigen Puerto-Ricaner abgeknallt worden. Keine Ahnung, woher die anderen immer so schnell diese Waffen hatten, während ich noch mit der Spitzhacke rumstocherte. Schon mehrfach hatte ich mir vorgenommen, mit diesem bescheuerten Kinderspiel aufzuhören. Nach dem Zocken hatte ich mir noch schnell einen Porno reingezogen, Lesbian diesmal. Funktionierte immer.

Ich merkte schnell, dass das Wohnzimmer voll war. Schon im Flur hörte ich die laute Stimme von Kai, Mamas Fickfreund. Er lachte wahrscheinlich mal wieder über eine seiner eigenen Geschichten, die sonst niemand lustig fand. Als ich die Tür geöffnet hatte, sah ich, dass auch Kim da war. Kim wohnte mit ihrem Vater in einem kleinen Apartment im Erdgeschoss unseres Hauses. Ihre Mutter war vor anderthalb Jahren von einem Rettungswagen überfahren worden. Sie war tot, noch bevor sie auf der Straße aufschlug, hatte der Fahrer damals fachmännisch erklärt, als Kim und ihr Vater an der Unfallstelle eintrafen. Von da an ging es steil bergab mit ihm. Er fing an zu trinken, zu kiffen, irgendwann hing er an der Spritze. Seinen Job bei einem Hersteller von Elektromotoren verlor er, fuhr jetzt für Uber, wenn er denn mal nüchtern war. Den Haushalt und alles andere schmiss Kim nach der Schule. Dort hatte sie aufgrund ihrer Situation einen solchen Sonderstatus, dass die Lehrerinnen gar nicht mehr nachfragten, wenn sie mal ein paar Tage nicht zum Unterricht kam. Was öfter vorkam. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie es ganz schön ausnutzte, einen Junkie als Vater und eine Tote als Mutter zu haben. Clever für eine Elfjährige.

„Marvin Masturbator! Wir haben gerade über dich gesprochen“, begrüßte mich Kim. Sie kannte meine Rituale.

„Da isser ja endlich. Dann lasst uns sofort los!“ schob Kai direkt hinterher und drückte sich von der Couch hoch.

Offenbar hatte man irgendetwas mit mir vor.

„Was ist der Plan?“, fragte ich. In den letzten Wochen war mir öfter aufgefallen, dass mir zunehmend alles egal war. Ich wollte aber noch gar nicht so gleichgültig werden wie Papa. Das hatte noch einige Jahre Zeit. Deshalb hatte ich mir vorgenommen, jetzt ab und an mal interessierter zu sein und nachzufragen.

„Wegen Weihnachten“, sagte Mama nur, drückte ihre Kippe aus und stand ebenfalls auf. Papa drehte sich demonstrativ mit seinem Rollstuhl um und schaute raus gegen das gegenüberliegende Gebäude. Mein fragender Blick erreichte ihn nicht.

„Wir nehmen besser deinen Berlingo, Kai, dann können wir mehr transportieren“, sagte Mama und griff sich ihre Handtasche. „Los, Kim, du kommst auch mit.“

„Sir, ja, Sir!“ rief Kim und sprang salutierend auf.

Obwohl ich weiterhin nicht wusste, was wir eigentlich vorhatten und was zum Teufel das Ganze jetzt schon wieder mit Weihnachten zu tun hatte, gingen wir bereits die Treppe runter Richtung Tiefgarage. Unser Haus hatte zwar keinen Aufzug, dafür aber reichlich Platz für die Autos seiner Bewohner. Tatsächlich war es ratsam, sein Fahrzeug hier nachts nicht draußen stehen zu lassen. Das Haus, ein hässlicher Betonklotz mit so komischen sechseckigen Balkonen, stand am Rande des Industriegebiets Beulenberg, weitere Wohnhäuser gab es im Umkreis von ein paarhundert Metern nicht. Direkt hinter unserem Haus befand sich eine Schlosserei, auf der anderen Straßenseite eine Firma, die Rohre und solche Sachen herstellte. Links neben uns stand das Bürogebäude einer zwielichtigen Firma, die angeblich Fußbodenheizungen vertrieb, rechts von unserem Haus war eine große Kreuzung, deren Ampeln die meiste Zeit ausgefallen waren. Warum auch immer man hier irgendwann mal ein einzelnes Wohngebäude gebaut hatte, so konnten wir uns heute wenigstens die Miete leisten. Wirklich sicher fühlte man sich hier allerdings nicht, da nach 18 Uhr keine Menschenseele mehr in der Gegend war.

„Was machen wir?“, fragte ich, als Mama Kais Auto die Einfahrt hochjagte. Oben an der Schwelle setzte der Berlingo auf, es krachte. Der Cola-Wunderbaum am Innenspiegel schleuderte an die Decke. Niemand fuhr so wild Auto wie Mama.

„Fantastische Geschichte, Junge!“, schrie Kai und ich hatte kurz Angst, dass er Mama erschrecken und sie einen Unfall bauen würde. Sie knallte ohne zu gucken über die Kreuzung, deren Ampeln mal wieder alle nur blinkten. „Die dummen Asiaten haben Sachen geliefert, die wir überhaupt nicht bestellt haben! Und weil der Chef sagt, dass wir den Schund sowieso nicht loswerden, durften wir alle was mit nach Hause nehmen. Es war alles dabei, was man sich vorstellen kann. Hundegeschirre, Furzkissen, Caps, Plüschtiere, sogar Sextoys.“ Er stieß Mama mit dem Ellbogen in die Seite, bis sie kicherte.

Kai arbeitete in einer Firma, die Werbeartikel vertrieb. Kugelschreiber, USB-Sticks und anderer Chinaschrott, den man mit dem eigenen Logo bedrucken lassen konnte.

„Und was wollen wir mit dem ganzen Mist?“, fragte ich.

„Es waren auch Weihnachtsartikel dabei, aber eben kein deutscher Kitsch, sondern mehr so Partysachen. Genau das richtige für die X-Mas-Party deiner Mutter!“

Ich sah uns schon vor mir, wie wir alle an Weihnachten mit Rentierpartyhütchen verlegen vor dem grausigen Buffet rumstehen, während die alte Christmas Partyhits CD läuft und Onkel Honig anfängt, mich zu beleidigen, weil er denkt, Heteromänner würden so etwas tun. Ich sagte nichts.

Kim schaute aus dem Fenster, ohne zu blinzeln fast genau in die Sonne. Sie schien mit sich und ihrem Dasein im Reinen zu sein, aber das war ich auch noch, als ich elf war. Mit elf hatte man sein Leben unter Kontrolle, offenbar selbst wenn es so lief wie Kims. Im Moment hatte ich nicht so viel unter Kontrolle. Ich hatte mich nicht mal davor wehren können, Ramsch beim Stecher meiner Mutter abzuholen. Das wird sich alles mal ändern, wenn ich so weit bin, dachte ich. Ich wusste nur nicht, wie ich das erreichen sollte. Bisher hatte ich im Grunde gar nichts erreicht. Ok, ich hatte mein Abi geschafft, gerade so mit 3,7. Und das auch nur, weil es eine einzige Lehrerin gab, die mich nicht hasste. Frau Knock hatte immer Mitleid mit mir gehabt. Fair benoten musste sie mich trotzdem, was mir einige Fünfen beschert hat. Nur im Abi war sie dann gnädig und gab mir großzügig Punkte, die ich nicht verdient hatte. Sie war definitiv die Einzige, die ich verschonen würde, falls es mal zu einem Amoklauf kommen sollte. Freunde aus der Schulzeit waren so gut wie keine übrig geblieben, nur online gab es noch Kontakt zu zwei oder drei Wichsern von früher, die jetzt im Chat so taten als wäre Mobbing nie ein Thema gewesen. Mit Frauen lief sowieso gar nichts. Ich sah nicht scheiße aus, eher so mittel. Durchschnittlich groß, durchschnittlich schlank, dunkelblonde Haare, durchschnittlicher Typ eben. Mama sagte immer, ich hätte schöne Füße. Aber ich wusste nie, ob das ein Kompliment war oder eher das Gegenteil. Auf irgendeiner Oberstufenparty hatte ich mal mit Jana geknutscht, weil es dunkel war und sie viel zu viel Tequila getrunken hatte. Sehr wahrscheinlich wusste sie in dem Moment nicht mal, wen sie da gerade küsste. Jahre zuvor war ich in Sebil verknallt gewesen, so wie alle Jungs aus unserer Klasse. Auf Klassenfahrt machte sie sich an mich ran, aber nur weil sie eine Wette verloren hatte. Sie war die erste, auf die ich mir einen runterholte.

„Und, Schätzchen, hast du dir überlegt, wann du das Spa besuchen möchtest?“, fragte Mama wie aufs Stichwort. Sie schaute dabei in den Innenspiegel, um mich zu sehen. Kurz kam sie von der Spur ab und geriet in den Gegenverkehr. Hupend wich jemand aus.

„Absolut nie“, erwiderte ich.

„Ach komm schon. Es ist schön, es ist umsonst, es ist ein Zeitvertreib. Und wenn es bewirkt, was es soll, hast du für sowas hier vielleicht bald gar keine Zeit mehr“, sagte sie lächelnd. Manchmal konnte sie Gedanken lesen.

„Ich weiß, ich weiß. Aber das wird eh nicht klappen. Ich sehe nicht, wie mir ein Schwimmbadbesuch den Weg in eine goldene Zukunft bereiten soll.“

„Warte nur ab, Marvin. Vielleicht kommt alles anders, als du denkst“, sagte Mama.

„Ja, vielleicht ersäufst du oder fällst vom Dreier auf den Beckenrand, dann bist du behindert wie dein Daddy“, spottete Kim.

Ich schnallte sie ab und öffnete ihre Tür. Mama fuhr eine scharfe Linkskurve und ich trat Kim aus dem Auto. Sie schlitterte über den Asphalt wie ein Curlingstein und krachte mit Karacho in eine Bushaltestelle. Ein vorbeigehender Asi spuckte ihr hinterher. Leider alles nur in meinem Kopf. In Wahrheit schnalzte Mama nur kurz mit der Zunge.

Kai wohnte zwei Stockwerke über einer Pizzeria, vor dem Haus standen Stühle und Tische auf dem Bürgersteig. Es war nicht viel los und Mama versuchte so nah wie möglich an den Eingang zum Treppenhaus heranzukommen. Mit dem Kühlergrill schob sie einen der Rattanstühle beiseite, um weitere 20 Zentimeter zu gewinnen. Sie drehte den Zündschlüssel und riss die Handbremse hoch.

„So“, sagte sie bestimmt und drückte den Zigarettenanzünder hinunter.

Kai öffnete die Beifahrertür und knallte sie gegen einen der wenigen besetzten Tische, dass die Gläser schepperten. Er lachte kurz, entschuldigte sich nicht und zog dann die Schiebetür an der Seite auf, damit Kim und ich aussteigen konnten.

„Wieso hast du den ganzen Scheiß bei dir und nicht in der Firma?“, wollte Kim berechtigterweise wissen.

„Ich hab natürlich direkt gesagt, dass ich das alles nehme, wenn es keiner will. Ich sag ja immer, lieber Billiges geschenkt als Teures gekauft. Da hat Ulle aus dem Lager es sofort rübergefahren. Geil, oder?“

„Ja, Hut ab“, sagte Kim, blickte dann zu mir und tat so als würde sie sich mit einem Strick erhängen.

Kai war jetzt 46 Jahre alt und führte das bedauernswerte Leben eines ewigen Singles, das mich ebenfalls erwarten würde. Mit Ende zwanzig hatte er seiner damaligen Freundin Jutta („Sie war für mich auch so etwas wie eine Schwester, die ich nie hatte“, sagte Kai einmal über sie, sehr verstörend) publikumswirksam während eines Konzerts im Bürgerhaus einen Heiratsantrag gemacht. Er hatte alles mit der Sportfreunde Stiller Coverband abgeklärt, die extra ihren Gig unterbrach und Kai seinen gewünschten Auftritt bot. Begleitet von ein paar smoothen Gitarrenriffs kniete er sich auf die Bühne, sprach Jutta seine Liebe aus und stellte die magische Frage. Seit diesem Abend hatte er sie nicht mehr gesehen. Es existierte ein Video davon, das er uns mal beim Essen gezeigt hat. Darauf sieht man noch, wie sie aus dem Laden stürmt. Etwas später hatte er ihr einen Brief geschrieben und erklärt, beim Sex würde er noch immer meistens an sie denken und sie sei die Liebe seines Lebens. Gott sei Dank hatte sie nie geantwortet.

Es folgten Jahre loser Beziehungen mit vielen Frauen, die sich nicht würdig erwiesen, ihr Leben mit Kai dem Großen zu verbringen. Das waren seine Worte gewesen, als er mir seine Geschichte erstmals ungefragt erzählte, während ich in der Badewanne lag und ihn fragend ansah. Da hatten Mama und er sich gerade erst kennengelernt, als er über eBay ihre alte Lavalampe ersteigerte. Mama war zu der Zeit 50 geworden und tief in den Wechseljahren, was uns allen schwierige Wochen bereitet hatte. Der viele Sex beruhigte sie und so waren wir erst einmal recht dankbar dafür, dass Kai in unser Leben getreten war.

Noch nie zuvor war ich bei ihm zuhause gewesen, warum auch. Seine Wohnung roch nach Katze, wobei ich mir relativ sicher war, dass er keine hatte. Ich fragte lieber nicht nach. Die Bude war ziemlich groß, sehr hell und fast leer. Vielleicht hatte er was gegen Möbel oder so, denn außer der Couch, einem kleinen gläsernen Esstisch und ein paar weißen Ober- und Unterschränken seiner offenen Küche gab es quasi nichts. Eine Vitrine, komplett aus Alu und Glas, stand noch als eine Art Raumtrenner zwischen Esstisch und Couchecke. Darin ein paar übergroße Gläser, aus denen offenbar Kaffee getrunken werden sollte, denn auf ihnen stand Mokka, Espresso, Cappuccino und so weiter. Es gab keinen Fernseher, dafür einen Beamer an der Decke, und an der Wand gegenüber eine riesengroße schlabbrige Leinwand. Daneben auf einem Tischchen stand die alte Lavalampe von Mama. Die paar Dekoartikel, die ich auf die Schnelle sehen konnte, waren vielleicht auch mal von einem Containerschiff aus China gefallen. Ungefähr zwölf Kaffeebohnen waren auf die Holzfronten der Küche geklebt, ihr Braun war einer von wenigen anderen Farbtönen in einer ansonsten sehr weißen Wohnung. Auf dem Couchtisch stand eine einzelne schwarze Kunststoffrose in einer beeindruckend dünnen Vase, ein nicht sichtbarer Lufterfrischer zischte alle zwei Minuten von irgendwo her undefinierbaren Duft in den Raum. Katze? „Die Maske meiner Zurechnungsfähigkeit droht herunter zu rutschen, weil in meinem Kopf ist jemand, den Du niemals siehst!“ stand in schnörkeliger Schrift als Wandtattoo im Flur, gegenüber von Kais Schlafzimmertür. Komisches Motto. Es wirkte wie schlecht übersetzt.

Die Kartons, wegen denen wir eigentlich da waren, standen in einem Zimmer, in dem offenbar alles gelagert wurde, was andere Menschen auf die verschiedenen Räume ihrer Wohnung aufteilen würden. Bis an die Decke gestapelte Kisten, einzelne kleinere Möbelstücke, Wäschekörbe voll mit irgendwelchen Stoffen, vollgestopfte Ikea-Tüten und Müllsäcke. Ich konnte überhaupt nicht sagen, wie groß dieser Raum eigentlich war, das andere Ende war kaum zu erkennen. Es war ekelhaft stickig, da es wohl nicht mehr möglich war, das Fenster zu erreichen. Kai schlängelte sich durch das Chaos zur linken Wand, wo auf Augenhöhe mehrere Kartons mit chinesischen Schriftzeichen gestapelt waren. Das mussten sie wohl sein. Er durchwühlte die Kartons schnell mit seinen langen Armen und entschied dann, welche wir heruntertragen durften. Obwohl Kai kein Riese war, waren alle seine Körperteile irgendwie lang. Sicherlich auch ein Grund, warum er Mama immer wieder besuchen durfte. Kim stapelte mir drei Kartons übereinander in die Arme und stupste mich Richtung Treppenhaus. Ich sah gar nichts, aber irgendwie schaffte ich es runter. Kai und Kim folgten mit je einem Karton und schon war der Berlingo voll. Mama machte sich eine neue Zigarette an und drehte dann umständlich das Auto. Kurz bevor einer der Restaurantbesucher uns verprügeln wollte, weil die Abgase viel zu lange in sein Essen geblasen wurden, gab Mama Vollgas. Kim beleidigte den Mann noch durchs offene Fenster und wir zischten ab.

Als wir zuhause vor dem Fernseher auf dem Boden saßen und das ganze Zeug wieder ausgepackt hatten, wurde mir die Unsinnigkeit dieser Aktion erst richtig bewusst. Statt von Ulle aus dem Lager zu Kai und von da aus mit dem Schrottberlingo zu uns gefahren zu werden, hätte der komplette Schwung von Anfang an in die Tonne gehört. Nichts davon war von einem normalen Menschen auch nur annähernd zu gebrauchen.

„Ach das ist ja alles wunderschön“, sagte Mama euphorisch und zog einen gefiederten Engel aus einer Tüte, der mit einem Fernglas in den Händen nach dem Weihnachtsmann Ausschau zu halten schien.

„Den find ich geil“, rief Kim und steckte mir einen Haarreif auf den Kopf, auf dem zwei Tannen standen, deren Spitzen kleine Discokugeln waren. Sie legte einen kleinen Schalter um und aus der Rückseite der Tannen ertönte die Melodie von Jingle Bell Rock. Mama strahlte mich an, ihre Augen funkelten richtig. Von hinten kam Papa angerollt und schlug mir mit einem fetten Couchkissen auf den Kopf. Ohne etwas dazu zu sagen, kloppte er weiter mit dem Kissen auf den Haarreif ein, der auf meinem Kopf Feuer gefangen hatte und nun kokelnd auf dem Teppich lag. Kai nahm panisch zwei Hände voll Wasser aus dem Aquarium und goss es über den brennenden Plastikhaufen. Kim kringelte sich vor Lachen, Papa seufzte genervt und rollte wieder davon. Mama fasste mir kurz mitfühlend in die versengten Haare, griff dann aber wieder in einen der Kartons. Es war nicht der erste Brand in unserer Wohnung. Wenn Mama beim Sex rauchte, ging auch schon mal was schief.

„Huchi“, sagte Kai übertrieben laut und grinste blöd, „das war wohl ein Montagsprodukt.“

Ich hatte die Schnauze voll und verduftete wieder nach hinten. Vielleicht wäre es doch ganz sinnvoll, hier mal rauszukommen, dachte ich. Im Bad schaute ich kurz in den Spiegel und begutachtete die abgeflämmte Stelle an meinem Kopf. Zum Glück sah man es kaum.

Mama steckte ihren Kopf durch die Tür. „Sonntagvormittag holen wir noch was bei Can ab, Marvin! Der hat auch schon mal so ne Weihnachtsparty gemacht und noch jede Menge Zeug übrig. Wär schön, wenn du mir wieder helfen würdest. Aber sag Kai nichts, du weißt schon“, flüsterte sie und zwinkerte mir zu. Kai und Can wussten immer noch nichts voneinander, das war ja kaum zu glauben.

ES WIRD DIR NICHT SCHADEN

Dass Mama mich verarscht hatte, wusste ich am Kreisverkehr kurz vor der Innenstadt. Hätten wir zu Can gewollt, hätten wir die Erste rechts rausgemusst, bei Tedi und Action vorbei, Mama aber schoss links raus Richtung Kaufland. Ich blickte kurz nervös zu ihr rüber, doch sie sprach einfach weiter. Es war vollste Absicht.

„Wir brauchen dieses Jahr dann eigentlich auch gar keinen Weihnachtsbaum. Der piekst und harzt nur, die Nadeln findet man im Sommer noch in irgendwelchen Ritzen. Und er nimmt viel zu viel Platz weg, den wir ja zum Tanzen brauchen. Außerdem hat Kai Angst vor Bäumen.“

Kai hatte was bitte schön? Ich kam nicht mehr dazu, meine Verwunderung in Worte zu fassen, denn gerade rumpelten wir über die Bordsteinkante und hielten auf dem Gehweg denkbar knapp vor einer Laterne. Rechts von uns ein großer Parkplatz, den wir durchaus ebenso hätten nutzen können, dahinter ein rosa Gebäude mit dezenter Aufschrift: Lotusblüte. Ach Scheiße, ich hatte es geahnt.

„Reg dich bitte nicht auf, Schätzchen“, sagte Mama, die mir mein Entsetzen ansah, und zündete sich eine Zigarette an, „probier es bitte einfach mal aus. Es wird dir nicht schaden. Und wer weiß, vielleicht verändert der heutige Besuch den Rest deines Lebens.“

Das war jetzt aber ein schmaler Grat zwischen Optimismus und Schwachsinn.

„Mama, ganz ehrlich. Was soll der Kack? Das ist so unnötig.“ Ich war echt angepisst.

„Schau es dir wenigstens einmal an. Nimm deinen Rucksack von der Rückbank, darin ist der Gutschein und was man sonst so braucht. Geh vorne zum Eingang und wirf mal einen Blick rein. Wenn es dir nicht gefällt, kommst du zum Auto zurück und wir fahren wieder nach Hause.“

Arg. „Ach Mann, na gut.“

Ich schnappte mir meinen Rucksack und stieg aus. Während ich mich noch fragte, was sie mir da überhaupt eingepackt hatte, ließ sie das Beifahrerfenster runter und rief mir zu: „Sei mir nicht böse, Marvin. Hab Spaß!“ Mit diesen Worten und einem schnellen Luftküsschen fuhr sie mit quietschenden Reifen los. Ein Auto hinter ihr musste bremsen, der Fahrer hupte und fluchte laut. Auch mir war danach. Sie hatte mich tatsächlich einfach hier ausgesetzt wie einen Hundewelpen vor dem Spanienurlaub. Scheißdreck.

Kurz überkam mich eine derartige Verzweiflung, dass ich hätte heulen können. Ich blickte mich um auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit. Es gab nicht mal eine Bushaltestelle. Ich hatte keinen Schimmer, wo ich hier eigentlich war. Ein Blick auf Google Maps verriet mir, dass es zu Fuß gut 45 Minuten bis nach Hause dauern würde. Die dicken grauen Wolken sahen nicht so aus, als würden sie eine Dreiviertelstunde warten wollen, mir auch noch eins auszuwischen.

Ich hockte mich auf den Boden und dachte nach. Im Rucksack sah ich den Gutschein von Lydia, ein Handtuch, Adiletten von Papa, eine Badehose und eine kleine Tupperdose mit Keksen. Vielleicht war es ja doch eine Option, sich das Ganze mal anzuschauen. Zumindest Mama würde ich eine Freude damit machen. Seufzend stand ich auf, schlurfte zum Eingang und blinzelte durch die großen Scheiben der Flügeltür. Ehe ich meinen inneren Entscheidungsprozess anwerfen konnte, stand schon ein übermotivierter Mitarbeiter vor mir.

„Junger Mann, Sie sehen aus als seien Sie das erste Mal bei uns. Darf ich Ihnen helfen?“, fragte er, legte seinen braungebrannten Arm um meine Schultern und drückte mich viel zu doll in den großen, gut riechenden Vorraum seines blöden Spas. Die Deko in dem Schuppen war eine merkwürdige Mischung aus China Restaurant und Ikea Katalog.

„Wonach steht Ihnen denn der Sinn? Eine Massage, sinnliche Momente oder einfach ein paar Stunden für die innere Ruhe?“, fragte er fast schon singend. Steven stand auf seinem Namensschild. Unpassend.

Ich räusperte mich kurz und fummelte den Briefumschlag aus meinem Rucksack.

„Ich hab hier so einen Gutschein“, sagte ich und gab ihm die Karte.

Steven zog kurz die Augenbrauen hoch und lächelte dann wieder eklig hell. „Kommen Sie hier entlang, bitte. Ich zeige Ihnen alles.“

Nachdem Steven mir den Umkleidebereich, die Massageräume, eine schummerige Lounge mit Bar sowie die großen Sauna- und Badeanlagen gezeigt hatte, ließ er mich bei den Kabinen wieder stehen. Während er nach vorne eilte, quetschte ich mich in eine der kleinen Umkleiden. Zum Glück, und das hatte ich eben erst von diesem Singvogel erfahren, handelte es sich bei der Lotusblüte seit einiger Zeit nicht mehr um ein reines Freikörperbad. Es war nun auch bekleideter Aufenthalt gestattet. Lange in meinem Leben hatte ich nicht mehr ein solches Glück gehabt. Nach dieser Aussage war ich dermaßen erleichtert, dass mir alles andere schon fast egal war.