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Der Wattpad-Erfolg endlich als Buch! Amazon-Bestsellerautorin und Watty-Award-Gewinnerin Kelly Anne Blount legt mit Ich komm dich holen, Schwester einen atemberaubenden Psychothriller vor. Ein absolutes Must-Read für Fans des subtilen Horrors! Was eigentlich ein romantischer Abend werden sollte, entwickelt sich für Abriana zu einem wahren Albtraum. Gefesselt erwacht sie im Kofferraum ihres Blinddates Easton Pierce. Ihr Kidnapper bringt sie in ein abgelegenes Versteck mitten im Wald und hält sie dort gefangen. Schnell begreift Abriana, dass die Entführung nicht bloß die Tat eines gestörten Stalkers ist. Easton scheint mit einer unbekannten Person im Hintergrund zusammenzuarbeiten, die sie um jeden Preis tot sehen will. Doch Abriana weiß nicht, dass sich hinter dieser Person jemand verbirgt, der ihr nahesteht ...
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Seitenzahl: 180
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Dieses Buch ist den Millionen von Wattpad-Fans gewidmet, die Ich komm dich holen, Schwester verschlungen und mich von Anfang an so großartig unterstützt haben.
Blut rann mir über die Stirn und ich sah alles nur noch verschwommen. Ich schluckte, wischte mir rasch das Blut aus den Augen und an meinem zerfetzten Kleid ab. Bemüht, meine Atmung zu beruhigen, konzentrierte ich mich auf die dunkle Gasse vor mir. Ich wusste, er war irgendwo da draußen … Aber wo?
Meine Nackenhaare standen zu Berge, ich presste mich gegen die kühle Backsteinmauer. Wie konnte das alles nur so schieflaufen? Irgendwo schlug eine Tür zu und mein Herz fing an zu rasen wie ein Gepard auf der Jagd nach einer Gazelle. Ich kauerte mich nieder und suchte verzweifelt nach etwas, was ich als Waffe benutzen konnte. Schließlich ertastete ich ein verbogenes Metallrohr, ergriff es mit zitternden Fingern und drückte es an meine Brust.
Vorsichtig wagte ich einen Schritt nach vorn. Ich hielt mich dicht an der Wand und rannte los, so leise wie möglich. Eine Mischung aus Blut und Tränen tropfte von meinem Gesicht auf das Pflaster. Mein Körper drängte mich mit jeder Faser zu schreien, aber ich biss eisern die Zähne zusammen. Du musst erst aus dieser Gasse raus! Dann kannst du losbrüllen!
Eine tiefe, grollende Stimme hallte von den Wänden wider und fuhr mir bis ins Mark: »Lauf nur weg, Abriana, ich finde dich sowieso.«
Ich konnte nicht orten, woher sie kam, und wollte auch nicht anhalten, um es herauszufinden, sondern bewegte meine Beine so schnell wie noch nie zuvor. Dabei wiederholte ich in Gedanken ununterbrochen ein Mantra, das aus einem einzigen Wort bestand: Überleben. Überleben. Überleben!
Eine kühle Windbö fuhr zwischen den Gebäuden hindurch und über meinen schweißnassen Nacken. Ich schauderte. Vor mir konnte ich eine Straße erkennen. Zwar war es schon spät, aber es schienen immer noch ein paar Leute zu Fuß oder im Auto unterwegs zu sein.
Meine Brust schmerzte, als wollte meine Lunge jeden Augenblick in Flammen aufgehen. Ich saugte so viel Luft ein, wie hineinpasste, und trieb meinen Körper an seine Grenzen.
Gleich hast du es geschafft! Nur noch ein paar Meter!
Plötzlich gruben sich Fingernägel in meine Schulter und ich wurde nach hinten gerissen. Der abrupte Richtungswechsel ließ mich flach auf den Rücken fallen und verschlug mir den Atem.
Das Letzte, was ich registrierte, war der metallische Geschmack in meinem Mund und der dumpfe Schmerz in meinem Hinterkopf. Dann wurde es schwarz um mich.
Ein seltsames Geräusch, gefolgt von einem »Ts-ts-ts«, weckte mich.
Ich versuchte, die Augen aufzumachen, und geriet in Panik, als es dunkel blieb. Ich spürte Gänsehaut auf meinen Armen. Warum kann ich nichts sehen? Wo bin ich? Ich begann, mich hin und her zu winden, und stieß dabei an gepolsterte Wände.
»Du hättest eben nicht wegrennen dürfen«, rügte mich die grausige Stimme aus der Gasse. Der Mann, dem die Stimme gehörte, lachte hämisch. »Du weißt ja schon, wer ich bin und wie ich aussehe. Die Augen habe ich dir verbunden, damit du nicht siehst, wo wir hinfahren.«
Meine Unterlippe begann zu zittern und Tränen traten mir in die Augen, aber ich unterdrückte ein Schluchzen. Ich versuchte, die Hände an mein Gesicht zu heben – es gelang mir nicht. Meine Handgelenke brannten, als der darumgewickelte Strick über meine Haut scheuerte.
Der Mann stieß ein weiteres Lachen aus, bei dem es mich eiskalt durchfuhr. »Wir wollen schließlich nicht riskieren, dass du mir noch mal türmst, stimmt’s?«
Angst ließ meinen ganzen Körper erbeben und dann fiel ich entmutigt in mich zusammen. »Warum tust du mir das an?«
»Weil ich dich liebe.«
Wieder stellten sich die Härchen in meinem Nacken auf. Ist der Typ komplett verrückt?
»Glaub mir, ich liebe dich«, beteuerte er.
Unfähig, mein Entsetzen zu verbergen, senkte ich den Kopf. »Nein, tust du nicht«, entgegnete ich leise. »Wenn du –«
Bevor ich den Satz beenden konnte, legten sich seine kalten Hände um meinen Hals und drückten mir die Luft ab. »Und ob ich das tue. Noch ein einziges Widerwort und du wirst es bereuen.« Er verstärkte seinen Griff. »Verstanden?«
Ich konnte nicht antworten, nicht einmal richtig atmen, also nickte ich nur.
Seine Stimme klang belegt. »Braves Mädchen.«
Dann ließ er mich los. »Bis später, mein Herz.«
Ich zuckte zusammen, als ich seine kalten Lippen auf meiner Wange spürte. Dann knallte er ohne ein weiteres Wort den Kofferraum zu, klopfte dreimal darauf und verschwand.
Mein Magen verkrampfte sich, mir wurde übel. Ich zwang mich, die bittere Galle hinunterzuschlucken. In meinen Augen brannten Tränen und durchnässten die Augenbinde.
In dem engen Kofferraum spürte ich schmerzhaft jede Unebenheit in der Straße. Trotz meines dröhnenden Kopfes versuchte ich, vor mich hin zu zählen, um abzuschätzen, wie weit wir fuhren, verlor aber irgendwann nach dreitausend den Faden.
Im Geiste trug ich alles zusammen, was ich an Informationen über meinen Entführer hatte. Er hieß Easton Pierce – oder zumindest nannte er sich online so. Sein blondes Haar und seine grauen Augen mit dem durchdringenden Blick hatten sofort meine Aufmerksamkeit erregt. Er studierte Betriebswirtschaft oder Marketing oder irgend so was an der Universität von Wisconsin. Aufgewachsen war er in einer Kleinstadt in Minnesota und stammte aus einer großen, irisch-katholischen Familie. Seine Schwestern waren alle verheiratet und hatten jede zwischen zwei und vier Kindern. Seine Mutter und sein Vater waren bereits in Rente und lebten zufrieden in einer Wohnanlage außerhalb von Minneapolis. Heißt er wirklich Easton? Geht er tatsächlich hier in Madison zur Uni? Oder ist das alles gelogen?
Diese Fragen schwirrten mir durch den Kopf, als wir mit einem Ruck hielten und der Motor verstummte. Ich stemmte die Beine gegen die Innenwand des Kofferraums, um mich zu stabilisieren. Dann hörte ich, wie die Autotür und kurz darauf die Tankklappe geöffnet wurde.
Kurz überlegte ich, ob ich um Hilfe rufen sollte, verkniff es mir jedoch aus Angst vor den Konsequenzen. Während quälend langsam die Sekunden verstrichen, schien die Dunkelheit mich immer mehr zu verschlingen. Ein Gedanke formte sich in meinem Kopf, der immer mächtiger wurde: Das könnte meine einzige Chance sein.
Und plötzlich war da dieser Drang, es zu versuchen, und ich fing an, gegen den Kofferraumdeckel zu treten, und schrie aus vollem Hals: »HILFE! HELFEN SIE MIR! HILFE! Ich wurde entführt! BITTE! Ist da jemand? Ich bin hier im Kofferraum! HILFE!«
Easton schlug auf den Kofferraum und schimpfte gedämpft vor sich hin. Einen Augenblick später knallte die Autotür zu und Reifen quietschten. Ich wurde gegen die Wand geschleudert, rollte vor und wieder zurück.
Ob mich jemand gehört hat? Ob irgendwer die Polizei ruft? Ich hielt die Luft an und lauschte auf Sirenengeheul. Nach mehreren scharfen Kurven knirschte plötzlich Kies unter den Reifen und der Wagen kam zum Stehen. Easton stieg aus und öffnete den Kofferraum.
»Ich hätte es wissen müssen«, schäumte er. »Ich dachte, ich könnte dir vertrauen, Abriana. Da habe ich mich wohl getäuscht.«
Ich hörte, wie Klebeband von der Rolle gezogen und abgerissen wurde, und zuckte zusammen.
»Das dürfte reichen«, murmelte er, als er mir den Mund zuklebte.
»Mmmmm! Mmmmmmm!«, protestierte ich, aber ich war kaum lauter als meine Großtante, wenn sie ihre liebsten Kirchenlieder vor sich hin summte.
»Schon besser«, sagte er, schloss den Kofferraum wieder und ließ mich erneut in vollkommener Dunkelheit zurück.
»Aufwachen«, kommandierte eine ruppige Stimme.
»Mmmm?«, machte ich benommen. Was ist los? Wo bin ich?
Ich spürte eine Hand, die mich unsanft an der Schulter packte und aufrichtete. »Wir bleiben über Nacht hier.«
Die Geschehnisse der vergangenen Stunden stürzten wieder auf mich ein. »Mmmmm! Mmmmmmm!«
Mit einem boshaften Lachen riss er mir das Klebeband von den Lippen.
Glühender Schmerz breitete sich auf meinem Gesicht aus und mir entfuhr ein Aufschrei.
»Hier draußen hört dich sowieso niemand«, knurrte er.
»Bitte«, flehte ich. »Bring mich einfach wieder nach Hause. Ich behalt’s für mich, dass du mich entführt hast. Das verspreche ich!«
»Tut mir leid«, antwortete er leise. »Das kannst du vergessen.« Ohne weitere Umschweife hob er mich aus dem Kofferraum und stellte mich auf einen weichen Untergrund.
Das Tuch über meinen Augen hatte mich ganz benommen und orientierungslos gemacht. Ich ignorierte das Schwindelgefühl und versuchte, mich zu bewegen – alles würde ich tun, wenn ich nur von ihm wegkam. Doch bevor ich auch nur einen Schritt machen konnte, fühlte ich seine Finger um meinen Arm.
»Nicht so schnell«, blaffte er.
»Lass mich los!«, kreischte ich und wand mich in seinem Griff.
Er ließ sich nicht beirren, sondern packte mich nur noch fester und zog mich mit sich. »Entweder du läufst allein oder ich trage dich. Such’s dir aus.«
Meine Stimme zitterte, als ich sagte: »Ich laufe.«
»Gut. Hier lang«, erwiderte er und zerrte mich weiter.
Ich stolperte durch nasses Gras. Ich muss fliehen. Soll ich wegrennen? Doch dann atmete ich tief durch und sagte mir, dass das sinnlos war, solange ich die Augenbinde trug und sie wegen der gefesselten Hände nicht abnehmen konnte.
»Noch ein Stückchen weiter.«
Schweigend lauschte ich auf irgendwelche Geräusche der Stadt. Doch alles, was ich hörte, war Grillengezirp und hin und wieder das Quaken eines Froschs. Wo hat er mich hingebracht?Wie weit sind wir von zu Hause weg?
»Fuß hoch«, befahl er.
Ich gehorchte und spürte dann festen Boden unter meiner Sohle.
Brrrrt. Brrrrt.
Ist das sein Handy?
Wie zur Antwort auf meine Frage meldete er sich: »Ja? M-hm.«
»HILFE!«, schrie ich.
»Nein. Da war nichts. Ich muss jetzt Schluss machen. Tschüss.«
Seine rauen Fingerspitzen pressten sich in meine Wangen. Die Tränen schossen mir in die Augen, als er den Druck erhöhte und meine Zähne sich von innen in mein Fleisch gruben. »Das machst du nicht noch mal. Kapiert?«
Ich nickte und meine Tränen sickerten in das ohnehin schon komplett durchtränkte Tuch vor meinen Augen.
Mit einem grollenden Laut, bei dem mir ein Schauder über den Rücken lief, ließ er mich los. »Sei ein braves Mädchen – lass den Scheiß.«
Der Duft von Gemüsesuppe, die leise auf dem Herd köchelte, erfüllte den Raum. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, aber ich wagte nicht, um etwas zu essen zu bitten. Wie komme ich nur hier raus und weg von ihm?
Ich versuchte, die Fessel zu lockern, rieb meine Handgelenke gegeneinander und spreizte sie, immer im Wechsel. Es brachte mir jedoch nur einen brennenden Schmerz ein.
»Du gehst nirgendwohin.«
Hatte er meine Gedanken gelesen? Ich biss mir auf die Unterlippe und schwieg.
»Ich mache Suppe warm. Hast du Hunger?«, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf und bemühte mich, meinen leeren Magen zu ignorieren, der protestierend zu knurren begann.
»Na schön, wie du willst.«
Er öffnete eine Schranktür. Einen Augenblick später wurde klappernd eine Schale auf die Arbeitsplatte gestellt, dann klirrte ein Löffel. Vor sich hin summend schöpfte er die Suppe in die Schale. Das vertraute Zischen eines Kronkorkens brachte mein Blut in Wallung. Der entspannt sich hier schön mit einem Bierchen, während ich gefesselt und blind dasitzen muss?
Wieder knurrte mein Magen, diesmal noch lauter.
»Sicher, dass du nichts essen willst?«
Ich drehte mich in die Richtung, aus der seine Stimme gekommen war. Bemüht, die Beklommenheit zu unterdrücken, die meinen ganzen Körper durchströmte, fauchte ich: »Kann dir doch wohl egal sein, oder?«
Er stieß resigniert den Atem aus. »Ich habe dich gern, Abriana – ich liebe dich. Ich will nicht, dass du aus reiner Sturheit hungern musst.«
»Tja, wenn du mich nicht so dringend hättest entführen müssen, säßen wir jetzt in einem gemütlichen Restaurant«, wütete ich. »Schon vergessen? Unser erstes Date – essen gehen und danach ins Kino.«
Das Sofapolster senkte sich, als er neben mir Platz nahm. »Manchmal müssen Pläne geändert werden«, sagte er. »Jetzt sind wir hier. Unser Date holen wir nach.«
Ich wandte mich von Easton ab und meine Gedanken wanderten zurück zu den Momenten, kurz bevor ich das Haus verlassen hatte.
»Ich fass es einfach nicht, dass du dich tatsächlich mit einem Typen triffst, den du nur aus dem Internet kennst!«, hatte meine Mitbewohnerin Addison geschnaubt.
»Aber immerhin schon seit drei Monaten«, konterte ich. »Das heißt drei Monate länger, als du den Typen kanntest, den du gestern abgeschleppt hast!«
Sie lief rot an. »Trotzdem, was machst du, wenn das irgend so ein Durchgeknallter ist? So was kennt man doch aus dem Fernsehen!«
»Keine Sorge, Addison, er ist wirklich absolut okay. Und außerdem wollen wir nur was essen und ins Kino. Ich bin ja nirgends allein mit ihm. Mir passiert schon nichts, keine Sorge.«
Addison zog die Nase kraus. »Ich bestehe auf regelmäßige Updates während eures Treffens.«
»Okay, okay!«
Ich war einverstanden gewesen. Kopfschüttelnd dachte ich nun an Addisons Warnung und mein gebrochenes Versprechen. Warum habe ich nicht auf sie gehört?
»Echt schade, dass wir es nicht ins Graze geschafft haben«, sagte er mit dem Mund voller Suppe. »Ich habe gehört, die machen da ein super Bibimbap.«
Ich versuchte, so weit wie möglich von ihm abzurücken, während er geräuschvoll einen Schluck Bier nahm.
»Abriana«, sagte er – und ich zuckte zusammen, als er mir die Hand aufs Knie legte. »Wir werden in nächster Zeit sehr viel zusammen sein. Ich hoffe, du schaffst es, den heutigen Abend zu vergessen.«
Das ist doch wohl nicht sein Ernst! Ich stand auf und machte blind einen Schritt nach vorn. »Vergessen, was heute Abend passiert ist?«, wiederholte ich mit zitternder Stimme. »Du hast mich gekidnappt! Wie sollte ich das vergessen!«
Eine Sekunde darauf landete seine Bierflasche auf dem Boden und rollte eine Weile hin und her. Ich duckte mich, wartete darauf, dass er mir wieder an die Kehle ging wie zuvor.
»Ich habe dir gesagt, du sollst dich zusammenreißen«, grollte er und packte mir im nächsten Moment ins Haar, das ich mir vor dem Date aufwendig zu einem Fischgrätenzopf geflochten hatte. Er riss meinen Kopf abrupt nach hinten. Glühende Angst durchzuckte mich.
»Mir reicht’s allmählich mit deinen Widerworten«, brüllte er, schlang die Arme um meine Hüfte und hob mich hoch.
Nachdem er mich ein paar Meter getragen hatte, öffnete er eine knarzende Tür, ging noch ein paar Schritte und warf mich schließlich auf ein Bett. »Schlaf jetzt.«
Ich wollte mich aufsetzen, aber er drückte mich grob wieder runter. »Schlaf oder ich sorge dafür.«
Also hörte ich auf, mich zu wehren, und unterdrückte ein Schluchzen.
»Brav«, sagte er und strich mir mit dem Finger über die Wange.
Mit einem Ruck wandte ich den Kopf ab und flüsterte: »Mit den Händen hinter dem Rücken kann ich aber nicht schlafen.«
»Keine Sorge, darum kümmere ich mich«, antwortete er.
Einen Augenblick später ergriff er meinen rechten Fußknöchel und ich spürte, wie er etwas drumwickelte.
Mir blieb fast das Herz stehen. Was macht er jetzt?
Er lachte leise vor sich hin. »Du sollst mir schließlich nicht wegrennen, darum binde ich dich lieber schön fest.«
Ein flaues Gefühl machte sich in meinem Magen breit. Ich wollte mich gegen ihn auflehnen, doch die Erinnerung an seine Finger, wie sie sich um meine Kehle schlossen, sandte einen eiskalten Schauder durch meinen Körper. Alles, wenn mir nur das erspart bleibt … Resigniert gestattete ich ihm, auch um meinen linken Knöchel ein Seil zu schlingen und das linke Bein ebenfalls am Fußteil des Bettes zu befestigen.
»Versprichst du mir, dass du auch artig bist?«, fragte er. »Wenn nicht, lasse ich deine Hände so.«
»Versprochen«, antwortete ich mutlos. Wie soll ich diesem Monster bloß entkommen?
Er half mir beim Aufsetzen und löste die Fesseln an meinem Handgelenk. Als meine Hände endlich frei waren, bewegte ich vorsichtig erst die eine, dann die andere. Ich spürte an beiden Handgelenken Abdrücke und raue, teils offene Stellen. Ich tastete nach der Wunde an meinem Kopf. Der erhabene Rand fühlte sich unangenehm nachgiebig an.
»Leg dich hin«, sagte er.
Meine Gedanken rasten. Was hat er mit mir vor, wenn er mich fertig gefesselt hat?
»Ich hab gesagt, du sollst dich hinlegen«, kommandierte er. »Muss ich nachhelfen?«
Bitte, er soll mir nicht wehtun, flehte ich innerlich, während ich gehorchte und mich wieder zurücklehnte. Mir gefror das Blut in den Adern, als er mit seinen schwieligen Fingerspitzen über meine Handrücken strich.
Nachdem er meine Hände am Kopfteil des Betts festgebunden hatte, beugte er sich über mich und streifte mein Ohr mit seinen Lippen. »Bis morgen früh, mein Schatz.«
Irgendwo klingelte ein Wecker und riss mich zurück ins Bewusstsein.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte ich, meine Arme und Beine zu bewegen, aber mir gelangen kaum ein paar Millimeter. Hartnäckig bemühte ich mich weiter, während meine Gedanken sich überschlugen. Ob Addison die Polizei ruft? Und meinen Eltern würde sie auch Bescheid sagen müssen. Mamá und Papá … Ich stellte mir ihre entsetzten Mienen vor, wenn sie erfuhren, dass ich gekidnappt worden war. Und, schlimmer noch, die meiner kleinen Schwester. Na ja, eigentlich war sie nur anderthalb Jahre jünger als ich. Alexa hatte langes dunkles Haar und schokobraune Augen, die ein kleines bisschen weiter auseinanderstanden als meine, aber abgesehen davon sahen wir uns so ähnlich, dass die Leute uns oft für Zwillinge hielten. Sie würde sicher weinen, wenn die Polizei sie informierte. Unsere Mutter würde ihr den Arm um die zitternden Schultern legen. Stopp! Ich musste das Bild ihres tränenüberströmten Gesichts aus meinen Gedanken verbannen.
Die Bodendielen im Flur knarzten vernehmlich und unwillkürlich versteifte sich mein Körper, während ich darauf wartete, dass die Tür sich öffnete.
»Zeit zum Aufstehen.«
Ich antwortete nicht, wich nur vor ihm zurück, so weit es ging.
»Schon gut. Du musst nicht mit mir reden. Bist wohl ein kleiner Morgenmuffel, was?«
Morgenmuffel, dachte ich zornig. Du Schwein hast mich entführt!
»Musst du mal ins Badezimmer?«
Ich nickte.
Seine Schritte näherten sich und ich spürte, wie er sich über mich beugte. Ich hielt den Atem an, als er die Seile an meinen Armen und Beinen lockerte.
»Ich verlasse mich darauf, dass du dich an die Regeln hältst«, sagte er. »Du darfst ohne Fesseln ins Bad, solange du keinen Blödsinn machst. Ich gebe dir zwanzig Minuten. Danach komme ich rein, ob du fertig bist oder nicht. Verstanden?«
Ich nickte.
»Ach ja, und da drin gibt es keine Fenster, Bodenluken oder sonstigen Fluchtwege. Also verschwende nicht deine Zeit.«
Ich schluckte und zwang mich, erneut zu nicken.
Seine kräftigen Finger schlossen sich um meinen Arm und zogen mich auf die Füße. Taumelnd ließ ich mich in den Flur führen.
»Eins noch«, fügte er hinzu. »Du nimmst die Augenbinde erst ab, wenn du im Bad bist.«
»Okay«, antwortete ich.
»Na so was, es kann reden«, bemerkte er sarkastisch.
Er verstärkte seinen Griff um meinen Oberarm. »Aber ganz im Ernst: Falls du dich nicht daran hältst, klebe ich dir die Augen mit Panzerband zu.«
Ich nickte und biss mir auf die Unterlippe, damit sie nicht so zitterte.
»Wenn du fertig bist, bindest du dir das Tuch sofort wieder um. Kapiert?«
»Ja.«
Ich hörte, wie sich die Tür öffnete, dann schob er mich nach vorn. Reglos blieb ich auf den kalten Fliesen stehen, bis ich das Schloss abermals hinter mir klicken hörte.
Zögernd tastete ich nach meiner Augenbinde. Als kein Protest kam, zog ich an dem Knoten, bis sie von meinem Gesicht glitt. Grelles Licht von großen, runden Wandleuchten, vermutlich aus den Achtzigerjahren, blendete mich. Als ich endlich die Augen richtig aufbekam, suchte ich blinzelnd die Wand nach einem Spiegel ab. Das kann doch nicht wahr sein! In welchem Badezimmer gibt es denn keinen Spiegel?
Seufzend setzte ich mich auf die Toilette. Danach zog ich mich aus und drehte den Hahn in der kleinen, petrolblau gekachelten Dusche auf. Drinnen roch es nach Schimmel. Igitt. Als die Temperatur stimmte, stieg ich hinein und ließ das Wasser über meinen Körper strömen.
Ich grübelte über die Drohung mit der Augenbinde nach. Ich weiß doch sowieso, wie du aussiehst, Easton. Oder zumindest dachte ich das … Meine Gedanken irrten zurück zum Vorabend. Ich stand in einem grünen Sommerkleid vor dem Graze. Dazu flache goldene Sandalen und meine Lieblingsclutch unter dem Arm. Dann vibrierte mein Handy zweimal. Easton, oder wer immer er in Wirklichkeit sein mochte, schrieb mir, er wüsste den Weg zum Restaurant nicht. Er erklärte, auf welchem Parkplatz er stand, und ich bot an, ihn zu Fuß abzuholen.
Wie naiv kann man eigentlich sein?
Dann hatte ich mir den Zeh an der Bordsteinkante gestoßen. Missmutig stützte ich mich an der Backsteinmauer des Gebäudes hinter mir ab, um meinen Nagellack zu inspizieren, zog mein Handy hervor und überlegte, ob ich Easton vielleicht doch lieber eine Wegbeschreibung schicken sollte, anstatt ihm entgegenzukommen. Doch bevor ich die Nachricht abschicken konnte, leuchtete das Display auf.
»Easton?«
»Ja, ich weiß jetzt, wo ich bin.«
»Oh, gut«, antwortete ich und runzelte die Stirn, als ich eine abgeplatzte Stelle im rosa Lack entdeckte.
»Ich komme hintenrum durch die Seitengasse. Bis gleich, ja?«
»Okay, ich stehe am Ende dieser Gasse.«
Mein Herz machte einen Hüpfer, als ich ihn durch den schmalen Durchgang auf mich zukommen sah. Sein Gesicht konnte ich noch nicht erkennen, aber er war groß, muskulös und blond. Den Blick hielt er gesenkt. Dann fasste er sich mit einem Mal an die Brust und fiel zu Boden.
»Oh Gott, Easton!«, rief ich und rannte auf ihn zu.
Als ich mich neben ihn kniete und hektisch nach Lebenszeichen suchte, regte er sich nicht. »Easton? Easton! Hörst du mich?« Doch bevor ich seinen Puls fand, hatte er mich plötzlich beim Hals gepackt, drückte in der nächsten Sekunde mein Gesicht aufs Pflaster und warf sich auf mich.
Helle Panik durchflutete meinen Körper und Blut triefte mir von der Stirn in die Augen.
»Mach jetzt ja keinen Fehler«, knurrte mein Angreifer.
»Lass mich los!«, flehte ich.
Er stieß ein unheilvolles Lachen aus. »Vergiss es.«