Ich leih dir mein Herz - Preisträger*innen Claras Preis 2023 - E-Book

Ich leih dir mein Herz E-Book

Preisträger*innen Claras Preis 2023

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Beschreibung

Einzigartige Kurzgeschichten von jungen Talenten – inspirierend und berührend  Unter der Schirmherrschaft von Cornelia Funke fand 2022 zum ersten Mal der Kurzgeschichtenwettbewerb "Claras Preis" statt. Ein einmaliger Schreibwettbewerb für junge, aufstrebende Schriftsteller*innen im Alter von 13 bis 17 Jahren. Dieses wunderbare Buch versammelt die zwölf Geschichten, die die Herzen der Jury erobert haben. Die preisgekrönten Kurzgeschichten sind von einer beeindruckenden Qualität: Ihre eindrücklichen, berührenden und humorvollen Texte werden literaturinteressierte Leser*innen ab 12 Jahren inspirieren und begeistern!  Ich leih dir mein Herz. 12 unvergessliche Geschichten: Cornelia Funkes Talentschmiede  - Inspirierend: Die 12 besten Kurzgeschichten des Schreibwettbewerbs "Claras Preis" für junge Talente, unter der Schirmherrschaft von Cornelia Funke. - Herausragend: Die prämierten Geschichten überzeugen durch Qualität, Emotionalität und Humor. - Junge Talente: Die Preisträger*innen im Alter von 13 bis 17 Jahren begeistern mit ihren eindrucksvollen Texten.Die international erfolgreichste deutsche Kinder- und Jugendbuchautorin Cornelia Funke hat mit "Claras Preis" eine neue Plattform geschaffen, die junge Schriftsteller*innen ermutigt, ihre Stimme zu finden und zu teilen. Der Erlös des Buches unterstützt einen guten Zweck und kommt der Charité in Berlin zugute.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Über dieses Buch

»Was für ein wunderbarer Chor von jungen und sehr begabten Stimmen! Wir müssen uns um die Zukunft des Geschichtenerzählens in Deutschland keine Sorgen machen.«

Cornelia Funke

 

Zwölf junge Autorinnen und Autoren, die von der Liebe zur Literatur und der Leidenschaft für das Schreiben angetrieben werden, laden uns in dieser Sammlung erstaunlicher Kurzgeschichten dazu ein, die Welt durch ihre Augen zu betrachten. Sie erzählen von Schmerz, Verlust, Mut und Freundschaft. Von den Nachwirkungen des Krieges in der Ukraine über die Herausforderungen der Einsamkeit bis hin zur Magie der ersten Liebe – jede Geschichte spiegelt die Höhen und Tiefen des Lebens wider. Ein Buch voller Hoffnung, Träume und Menschlichkeit.

 

Der Erlös aus den Verkäufen dieses Buches kommt der Kinderkardiologie der Charité zugute.

Cornelia Funke

Vorwort

»Claras Preis« verdankt seinen Namen einem jungen französischen Mädchen, das den Traum hatte, das Schreiben eines Tages zu seinem Beruf zu machen. Es ist ein wunderbarer und wichtiger Traum, denn die Welt braucht Menschen, die Geschichten erzählen. Geschichten darüber, wie zugleich wunderbar und schrecklich das Leben sein kann.

Die Clara, deren Traum nun vielen jungen Schriftstellerinnen und Schriftstellern den Mut macht, von sich und der Welt zu erzählen, starb schon sehr jung an einem Herzfehler. Das hat einige der Geschichten inspiriert, die eingereicht wurden. Was hätte die echte Clara wohl dazu gesagt, dass deutsche Teenager durch sie Mut und Lust zum Schreiben bekommen? Ich bin sicher, es hätte ihr gefallen.

Fast alle eingereichten Geschichten kreisten um Themen wie Schmerz, Verlust, Angst und Einsamkeit, aber sie erzählten auch von Freundschaft, Liebe, Mut und dem Wunsch, zu verstehen, wer man ist. Wir vergessen so leicht, wie sehr es uns, wenn wir jung sind, danach verlangt, über all das nachzudenken, zu reden und zu schreiben, was schwer an der Welt ist. Meist spinnen wir uns mit den Jahren in einen schützenden Kokon, der all die unbequemen Themen fernhält, die das Leben uns immer wieder auf den Weg wirft. Wenn wir jung sind, steigen wir nicht einfach über sie weg, sondern sehen und fassen sie an.

Wir alle in der Jury waren zutiefst beeindruckt von den eingereichten Geschichten, von denen der 13–15-jährigen ebenso wie von denen der 15–17-jährigen Teilnehmer. Viele der Einreichungen waren unvergesslich, und oft waren wir ganz sicher, dass die Verfasser mit den Lebenslagen, die sie beschrieben, selbst konfrontiert waren: Krankheit, Tod, Einsamkeit, Gewalt … Was wir lasen, beschrieb all das auf so eindringliche und oft zutiefst persönliche Weise. Aber in den Gesprächen, die ich mit jedem der Gewinnerinnen und Gewinner führte, kam oft heraus, dass die so eindringlich geschilderten Erlebnisse oft nur entfernt vom eigenen Leben inspiriert waren, was das Talent der Schreibenden nur erneut bewies. Einige verarbeiteten eigene Erlebnisse – wie Maria Buchtijarova, die aus der Ukraine stammt –, indem sie sie zur Saat einer ganz eigenen Geschichte machten.

Ich habe inzwischen die Freude gehabt, die Gewinner hier in Italien zu Gast zu haben. Sie alle haben so viel hierhergebracht, dass ich es nicht erwarten kann, mit den Jahren immer mehr junge Erzähler willkommen zu heißen. Und ich bin ganz sicher, dass »Claras Preis« uns weiter unvergessliche Geschichten bescheren wird. Geschichten, die spiegeln, wie schwer es ist, in dieser Welt und Zeit jung zu sein, und dass Liebe, Freundschaft und Fantasie immer die besten Überlebenshilfen sind. Ich freue mich sehr darauf, durch diesen Preis eine Gemeinschaft von jungen Schreibenden wachsen zu sehen, die einander treffen und sich austauschen, ob zu Hause oder hier in Italien.

Sie erzählen Geschichten von heute und für morgen.

Maria Buchtijarova

Frieden durch Krieg

Kein Spielzeug

Sein Name ist Ferkel. Er ist immer bei mir gewesen. Er ist kein Haustier. Kein Spielzeug. Er ist ein Freund. Ich habe ihn bekommen, als ich zwei Jahre alt war. Ich weiß nicht mehr, wann wir uns kennengelernt haben. Meine Eltern sagten mir, ich hatte mir einen Winnie the Pooh gewünscht, wie in dem Disney-Zeichentrickfilm. Als sie einen solchen Bären fanden, kauften sie Ferkel zusätzlich. Sie waren sehr überrascht, als ich ihn als meinen Freund wählte. Ferkel schlief mit mir, aß mit mir, ging mit mir spazieren, schaukelte mit mir, malte mit mir, und ich brachte ihm Gedichte bei. Er ging mit mir in den Kindergarten. Wir sind ans Meer gefahren. Danach hat er sich sehr verändert. Sein rosafarbenes Gesicht wurde grau von Sand, und kein Reinigungsmittel konnte ihm sein früheres Aussehen wiedergeben. Aber ich habe meinen Freund trotzdem sehr geliebt, und er war immer für mich da.

Ich war fünf Jahre alt, als der Krieg begann. Ich erinnere mich nicht mehr an viel, was damals geschah. Ich erinnere mich an die ersten Bombenangriffe, ich erinnere mich daran, wie sich meine Mutter und Ferkel im Keller versteckten, wie die Nachbarskatze uns besuchte, ich erinnere mich daran, wie meine Mutter ihre Sachen packte und mich davon überzeugte, dass wir nicht lange weg sein würden und bald wieder nach Hause zurückkehren würden.

Wir sind nicht zurückgekommen. Wir lebten in Slowjansk, wo ich in die erste Klasse ging. Und sogar in meinem Schulrucksack, in einer speziellen Tasche, hatte ich mein Schweinchen dabei. Nach einer Weile kam mein Vater aus Donezk zu uns. So haben wir gelebt. Mama, Papa, Ferkel und ich. Natürlich hatte ich auch anderes Spielzeug. Aber es waren nur Spielzeuge. Es gab nur einen Freund, Ferkel. Manchmal kamen Oma und Opa uns besuchen, manchmal fuhren wir nach Hause, nach Donezk. Einmal beschlossen wir, am Silvesterabend nach Hause zu fahren. Wir stiegen ins Auto und fuhren los. Ich wickelte meinen Freund in den flauschigen Schal, den mir meine Großmutter geschenkt hatte, umarmte ihn und begann ihm zu erzählen, was ich aus dem Autofenster sehen konnte. Es war schon der erste Januar. Es waren nur wenige Autos und Menschen an den Kontrollpunkten. Wir hatten Probleme mit unseren Dokumenten, und es dauerte lange, bis wir eine Lösung fanden. Schließlich ließen sie uns zum Kontrollpunkt durch und forderten uns auf, aus dem Auto zu steigen. Wir sind ausgestiegen. Meine Eltern waren eine Weile weg, und ich stand immer noch mit Ferkelchen auf dem Arm am Auto. Plötzlich hörte ich, wie ein Soldat einem Mann sagte, dass Spielzeug verboten sei. Der Mann versuchte zu erklären, dass es sich um Geschenke handelte, Geschenke für seine Kinder. Aber der Soldat erlaubte ihm nicht, das Spielzeug mitzunehmen.

Und dann kam ein großer Mann in einer Militäruniform auf mich zu. Ein Riese. Buschige Augenbrauen, kantiges Gesicht, strenger Blick. Mit einer Pistole. Wie ein Karabas Barabas aus dem Märchen mit einer Uniform und ohne Bart. Er starrt mich an und fragt: »Mädchen, was ist in deinem Schal?«

Und ich flüstere schnell: »Es ist kein Spielzeug, es ist kein Spielzeug! Es ist Ferkel! Das ist mein Freund!!!«

Der Soldat sieht mich lange an und sagt: »Halt ihm die Ohren zu, sie sind gefroren.« Er wendet sich schnell ab, und ich sehe, wie ihm Tränen über die Wange laufen.

 

Seitdem ist eine lange Zeit vergangen. Wir sind nie nach Donezk zurückgekehrt. Und ich habe schon lange nicht mehr mit Spielzeug gespielt. Ich gehe zur Schule, lerne Sprachen. Und ich kann mich an fast nichts mehr erinnern, was damals geschah. Aber ich erinnere mich an den großen Soldaten. Ich hoffe, dass sich in seinem Leben alles zum Guten gewendet hat. Und er wieder nach Hause kommen konnte. Ich schreibe diese Geschichte, und Ferkel sitzt neben mir. Und er lächelt. Kein Spielzeug. Kein Haustier. Ein Freund.

Geheimwaffe

Sie nehmen Videos auf. Berührend, lustig, freundlich. Sie kochen Borschtsch auf dem Feuer. Sie tanzen. Sie spielen Gitarre und singen. Diese Clips sind kleine Teile des Lebens. Ein Leben inmitten von zerbrochenem Metall, zerstörtem Land und getöteten Freunden. Das Leben inmitten des Krieges. Kurzgeschichten über Liebe, Hoffnung und Menschlichkeit. Unser Militär. Unsere Helden. So kam es, dass ich ein wenig über sie erzählen kann.

Es geschah im Jahr 2015. Ich war sechs Jahre alt, und ich ging in die erste Klasse. Der Krieg befand sich bereits in seinem zweiten Jahr. Und im zweiten Jahr lebten meine Mutter und ich nicht mehr zu Hause, nicht in Donezk, sondern in Slowjansk. Es war bereits klar, dass ich in dieser fremden Stadt zur Schule gehen würde. Manchmal fuhren wir noch nach Hause, nach Donezk, und trafen uns mit unseren Verwandten, aber das war nicht oft der Fall.

Ich wollte unbedingt zur Schule gehen, zu Hause in Donezk hatte ich viele Schulsachen, die wir vor dem Krieg gekauft hatten. Also beschlossen meine Mutter und ich, die Sachen zu holen.

Der Weg war beschwerlich: Zuerst fuhren wir mit dem Zug, dann überquerten wir zu Fuß die Kontrollpunkte, nahmen den Bus nach Yasynuvata und fuhren von dort aus weiter. Wir blieben nur kurz in Donezk, ein paar Tage, und fuhren dann auf demselben Weg zurück nach Slowjansk.

Der Bahnhof von Yasynuvata war aus irgendeinem Grund menschenleer, und es fuhren keine Busse zum Kontrollpunkt. Mama war verärgert, weil wir keine Zeit mehr hatten, den Zug von Werchnjotorezke nach Slowjansk zu erwischen. Ein Mann bot sich an, uns mit dem Auto mitzunehmen. Er fuhr uns, zeigte uns, wohin wir gehen sollten, und fuhr wieder weg.

Wir erreichten so den Kontrollpunkt und erfuhren, weshalb es keine Busse und Menschen am Bahnhof gegeben hatte: Das Passieren dieses Kontrollpunktes war für Zivilisten erst vor wenigen Tagen verboten worden. Meine Mutter war verwirrt, es war unmöglich, mit mir und unserer schweren Tasche zu Fuß nach Yasynuvata zurückzukehren. Ich weiß noch, wie sie versuchte, es dem Militär zu erklären. Aber niemand wollte ihr zuhören. Ein Soldat schrie und verlangte, dass wir dringend zurückgehen sollten. Und dann begannen sie von Yasynuvatas Seite aus zu schießen. Sehr nah und sehr laut.

Und dann war es wie in einem Film. Ein Auto, in das meine Mutter und ich buchstäblich hineingeworfen wurden. Der Soldat schrie: »Bringt sie weg! Bringt sie schnell weg!« Der Fahrer schaut konzentriert auf die Straße und rast mit irrer Geschwindigkeit. Ich bin verängstigt. Ich kann mich kaum zurückhalten zu weinen. Und plötzlich fragt mich der Fahrer: »Hast du Angst? Das sind unsere. Unsere schießen. Sie sind in der Ausbildung. Es ist nichts Schreckliches dabei. Es ist einfach nur laut. Du gehst auch zur Schule, nicht wahr? Also unsere Soldaten studieren auch.« Und er hat mich einige Male gefragt, ob ich lesen und schreiben kann, welche Gedichte ich kenne, welche Farbe mein Rucksack hat und was ich werden will, wenn ich groß bin.

Der Soldat fuhr uns zum Bahnhof. Als wir ausstiegen, bemerkte ich, dass meine Mutter sehr blass war. Sie fummelte in ihrer Tasche herum und holte aus irgendeinem Grund ihre Geldbörse heraus. Doch der Mann warf ihr einen solchen Blick zu, dass die Geldbörse aus den Händen meiner Mutter zurück in ihre Tasche fiel.

»Warte«, sagte meine Mutter, »ich habe Kuchen. Köstlich, hausgemacht, noch warm.«

»Kuchen ist etwas anderes.« Der Soldat lächelte. »Danke für den Kuchen, wir haben hausgemachtes Essen so vermisst.«

Und dann fiel mir auf, dass das Auto, mit dem wir ankamen, sehr seltsam war. Es war klein, weiß, lustig und komplett beschrieben mit Wünschen und Namen.

»Und was ist mit deinem Auto?«, fragte ich den Soldaten. »Wer hat das draufgeschrieben?«

»Wer? Alle, die an den Übungen teilgenommen haben. Du hast auch teilgenommen, nicht wahr? Schreib auch deinen Namen da drauf.« Er reichte mir einen Filzstift, und ich schrieb stolz »Mascha« in Druckbuchstaben und malte ein Herz.

»Weißt du«, sagte mir der Soldat, »das ist kein gewöhnliches Auto, das ist ein Geheimauto. Dies ist das einzige Auto der Welt, das mit Dosenmilch fährt. Du glaubst mir nicht? Schau mal!«

Er öffnete die Motorhaube des Wagens, und unter der Haube befand sich praktisch nichts als ein Kasten Kondensmilch.

»Jetzt weißt du von einem militärischen Geheimnis und darfst es niemandem erzählen. Dies ist das geheimste Geheimnis der Welt.«

Ich war einfach verrückt vor Stolz. Ich nahm an militärischen Übungen teil, sah geheime Waffen und wurde mit militärischen Geheimnissen betraut. Wir verabschiedeten uns herzlich von den Militärs und liefen zum Zug.

Ein paar Jahre später erinnerte ich mich an diese Geschichte. In Charkiw, im Frühjahr 2022, im Keller sitzend und unter ständigem Beschuss, fragte ich meine Mutter:

»Erinnerst du dich noch an die Zeit, als wir zu Militärübungen gingen und du den Soldaten mit Kuchen bewirtet hast?«

»Bei den Übungen?« Meine Mutter war überrascht. »Schatz, wir standen damals unter heftigem Beschuss, und wenn dieser Soldat nicht gewesen wäre, wüsste ich nicht, wie es ausgegangen wäre. Er hat dir bewusst von der Übung erzählt, du warst noch ein Kind, er wollte dir nicht noch mehr Angst machen.«

»Und das Auto? Die Geheimwaffe mit Kondensmilch? Ich habe mir das doch nicht ausgedacht, oder? Ich habe doch gesehen, dass das Auto keinen Motor hatte, sondern nur Kondensmilch!«

»Aber es hatte alles! Es hatte einen Motor und alles andere auch. Das Auto war ein alter Zaporozhets. Ich habe keine Ahnung, woher das Militär es hatte. Diese Autos haben den Motor hinten drin, die Nachbarin meiner Großmutter hatte einen, das weiß ich.«

Ich lächelte unwillkürlich, erinnerte mich daran, wie ich dieses Geheimnis bewahrt hatte, wie ich mich mit letzter Kraft gewehrt hatte, vor den Jungs in der Klasse damit zu prahlen. Ich erinnerte mich an diesen Soldaten. Ich habe ihm noch einmal in Gedanken gedankt. Ich war ein wenig traurig. Ich bin nicht mehr sechs, und dies ist nicht mein erster Krieg, und ich kann mich nicht mehr mit einem kleinen Märchen, einer kleinen Täuschung davor verstecken.

Ich mag kein Pathos. Im Krieg geht es um Schmerz. Es geht um Angst und Tod. Ja, um Mut und Heldentum. Aber Heldentum ist keine Selbstverständlichkeit. Das ist der letzte Strohhalm, eine Grenze. Heldentum beginnt dort, wo die Geduld endet. Wenn die Einsicht entsteht, dass es keine anderen Möglichkeiten mehr gibt und nur noch Handeln die einzig mögliche ist.

Die Soldaten nehmen Videos auf. Mit Kätzchen und Vögeln. Sie teilen Momente der Stille, des Friedens und der Wärme und lassen Schmerz, Angst und Hass hinter sich. Sie treiben den Krieg in sich selbst hinein und verbergen seine Schrecken in ihren Herzen. Ich wünsche ihnen nur eines: dass sie zurückkehren. Dass sie zurückkehren nach Hause, zu ihren Lieben zurück, zurück zu sich selbst. Rückkehr aus dem Krieg.

Hallo, Marichka!

Hallo, Marichka. Hallo. Du bist fünf Jahre alt. Du bist ein fröhliches Mädchen und der Liebling der ganzen Familie. Du hast eine große Familie: Mama, Papa, Schwester, Oma, Opa, Katze und Hund. Ihr wohnt an einem schönen Ort, ruhig und gemütlich. Donezk ist ganz in der Nähe, und jeden Sonntag geht man in den Zirkus oder ins Theater oder vergnügt sich einfach im Scherbakov-Park.

Das neue Jahr steht vor der Tür. 2014. Wünsch dir was, Marichka. Schreibe einen Brief an den Weihnachtsmann und lege ihn in den Gefrierschrank. Wünsch dir etwas sehr, sehr Kindliches. Ein großes Spielzeug. Ein Puppenhaus. Oder ein Tablet. In all den folgenden Jahren wirst du das Ende des Krieges herbeisehnen. Und jedes Jahr wirst du einen Brief an den Weihnachtsmann schreiben. Und immer wieder wirst du betteln: »Kein Spielzeug, keine Süßigkeiten! Kein neues Handy! Lasst den Krieg zu Ende gehen, damit wir wieder nach Hause können.«

Später wirst du deine Briefe finden. Jeden einzelnen. Wenn du dreizehn Jahre alt bist. Deine Mutter wird sie sorgfältig in einem Fotoalbum verstecken. Du wirst traurig lächeln: »Ich möchte diese Briefe an den Zauberer schicken, aber wo finde ich seine Adresse?«

Sing, Marichka, sing oft. Dein Vater wird deine Lieder auf Video aufnehmen und sie sich ansehen. Er wird sie endlos anschauen. Während des Beschusses, wenn du und deine Mutter weggehen und er allein bleibt. Und, du weißt schon, besuche deine Schwester und deine Großeltern öfter, male ihnen Bilder, lies ihnen Gedichte vor und singe. Es wird die Zeit kommen, in der alle Kontrollpunkte geschlossen werden und ihr euch jahrelang nicht mehr sehen werdet. Und jedes Mal, wenn du ihre Nummern wählst, atmest du tief durch und sagst mit künstlich fröhlicher Stimme: »Hallo, mir geht es gut.« Du wirst ihnen lustige Geschichten und Neuigkeiten erzählen. Und dann legst du den Hörer auf und weinst leise. Viel Spaß, Marichka! Zeichne auf dem großen Papier, das dein Vater an die Wand deines Zimmers geheftet hat, spiele mit deiner Schwester, spiele mit deinen Spielsachen, spiele mit der Katze, schaukle auf der Schaukel. Wenn du gehst, wirst du dich oft an diese Zeit als die glücklichste erinnern.

Frohes neues Jahr, Marichka! Das Jahr 2014 steht vor der Tür, und du hast noch sechs Monate Kindheit vor dir.

Hallo, Marichka, hallo! Du bist dreizehn. Dies ist das dritte Neujahrsfest, das du in Charkiw feiern wirst. Am Anfang war es schwer. Sehr schwer. Neues Haus, neue Schule, neue, ungewohnte Stadt. Alles schien völlig fremd zu sein. Und dann erschien eine Katze. Eine graue Straßenkatze. Und du hast dein eigenes Zimmer in dem neuen Haus. Und du bist durch halb Charkiw gefahren und gelaufen. Und du hast dich in Charkiw verliebt. Du hast angefangen, Gedichte zu schreiben. Die ersten davon betrafen Donezk und Charkiw. Du hast angefangen, an Wettbewerben teilzunehmen. Und unerwartet hast du gewonnen. Du hast echte Freunde gefunden. Und echte Leser. Du bist an der Schule interessiert. Und du hast eine wunderbare Schule. Silvester steht vor der Tür. 2022. Du hast fast zwei Monate voller Glück vor dir …

Vechta

Guten Morgen, Vechta! Guten Morgen! Wir kennen uns schon seit fast einem Jahr. Fast ein Jahr lang hast du mich unterstützt und beschützt, du hast dich um mich gekümmert und meinen Schmerz geheilt.

Vechta, ich bin vor dem Krieg zu dir geflohen. Zwischen dir und meiner Heimatstadt liegen zweitausend Kilometer. Und zwei völlig unterschiedliche Leben. Dort, in der Ukraine, besuchte ich ein deutsches Gymnasium und träumte davon, eines Tages nach Deutschland zu kommen. Ich wollte so gerne dieses Land sehen und seinen Charakter spüren. Ich träumte davon, mich in einer deutschen Stadt niederzulassen, ihre Bewohner kennenzulernen, ich wollte meine Ausbildung hier, in Deutschland, fortsetzen. Wer hätte gedacht, dass mein Traum auf diese Weise wahr werden würde? Und ich komme nicht als Touristin oder Studentin. Ich bin als Flüchtling gekommen. Und Deutschland hat sein Herz für mich geöffnet. Alle helfen mir: Lehrer: innen, Mitschüler:innen, Nachbarn, Fremde. Und es stellt sich heraus, dass der deutsche, nordische Charakter ein freundliches, warmes Herz verbirgt.

Vechta, du bist nicht wie meine Stadt. Mein Charkiw ist ein stattlicher Riese, stolz, jung und frech. Vor dem Krieg war Charkiw ein Zentrum von Wissenschaft, Bildung und Kultur. Mit einem verrückten Rhythmus und endloser Bewegung. Eine Stadt, die niemals schläft, auch nicht nachts. Eine Stadt der Millionen von Lichtern. Eine Stadt der Helden. Schwer verwundet, aber nicht besiegt. Unzerstörbar. Charkiw ist unser Stolz. Und unser Schmerz.

Vechta, du bist anders. Du bist eine schöne alte Dame. Klug und freundlich, manchmal auch ein wenig traurig. Du hast es nicht eilig und hast keine Eitelkeit. Du triffst keine voreiligen Entscheidungen und ziehst keine voreiligen Schlüsse. Du hast in deinem Leben schon viel gesehen: Kriege und Brände, Krankheit und Tod, Zerstörung und Verwüstung. Dein Stoppelmarkt ist weit über Deutschland hinaus bekannt. Du weißt, wie man liebt, Vechta. Wenn deine Basketballmannschaft gewinnt, freust du dich und feierst von ganzem Herzen. Du weißt, wie man dankbar sein kann. Du erinnerst dich an alle ihre Helden. An dir ist nichts Künstliches. Deine nördliche Schönheit ist so ruhig, so natürlich. Du bist zu jeder Jahreszeit und zu jeder Tageszeit schön. Aber am besten gefällst du mir am Frühlingsmorgen, wenn du vom Tau gewaschen aufwachst. Wenn ein Nebelschleier über dem Wasser schwebt. Und der Gesang der Vögel die Glocken übertönt. Wenn sich der Duft von frisch gebackenem Gebäck mit dem Aroma von Kaffee vermischt und die Straßen mit Wärme und Behaglichkeit erfüllt. Wenn du dein grünes Blumenkostüm anziehst und dich in ein Märchen verwandelst.

Du bist ein Ort der Macht, Vechta. Ich kam zu dir, verwüstet und vom Krieg gezeichnet. Du hast mir geholfen, Vechta. Du hast mich ins Leben zurückgeholt. Ich kann wieder Farben sehen, ich genieße den Sonnenschein, ich genieße das Vogelgezwitscher und die warme Brise. Vechta, du bist ein einzigartiges, magisches Juwel in einer wunderschönen Kette namens Deutschland.

Ich komme aus dem Haus und sage: »Guten Morgen, Vechta! Möge jeder Morgen gut für dich sein!«

Clara Christ

Echt