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Sabine Kuegler, »Dschungelkind« und zerrissen zwischen zwei Kulturen, kehrt im Laufe ihres Lebens oft nach Papua zurück – dorthin, wo sie aufgewachsen ist. Bei einer dieser Reisen erkrankt sie schwer, gilt als austherapiert und unternimmt einen letzten verzweifelten ttungsversuch: Sie verlässt Deutschland erneut und geht zurück in den Dschungel, um Heilung zu finden. Sie erlebt dort Abenteuer, die für viele Menschen kaum zu glauben sind. Erst nach fünf Jahren kommt sie zurück und erzählt erstmals von ihrer Suche nach Heilung, Glück und ihrem Platz im Leben. Sabine Kuegler, deren weltweiter Bestseller Dschungelkind Millionen Leserinnen und Leser berührt hat, hinterfragte lange Zeit ihre Identität zwischen den Kulturen. Dabei öffnet ihr einzigartiges Leben vielleicht auch die Chance, Mittlerin zwischen den Kulturen zu sein.
"Meine Geschichte begann an dem Tag, an dem mein Vater das Volk der Fayu entdeckte, einen Stamm, der in seiner Entwicklung seit Jahrhunderten stillsteht. Es war auch der Beginn des inneren Zusammenpralls zweier Welten. Denn ich trage in mir die Kultur, die Psychologie, die Mentalität und die Spiritualität von zwei Gesellschaften, die so gegensätzlich und so voneinander verschieden sind, dass sie auf unterschiedlichen Planeten zu Hause sein müssten."
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Seitenzahl: 421
Ebook Edition
Sabine Kuegler
Ich schwimme nicht mehr da,wo die Krokodile sind
Unter Mitarbeit von Katja Suding
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www.westendverlag.de
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ISBN: 978-3-98791-031-9
1. Auflage 2023
© Westend Verlag GmbH, Neu-Isenburg 2023
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Covermotiv: © Philipp von Hessen
Autorinnenfoto: © Monika Albers
Satz und E-Book: Publikations Atelier, Weiterstadt
Allgemeiner Hinweis: Die Namen einiger Personen im Buch wurden geändert.
Für Micky
Titel
Prolog
Ursprung
Kinderjahre in Nepal
Die Fayu
Macht der Vergebung
Wo die Krokodile sind
Der Jagdtrieb
Eine andere Welt
Kulturschock
Der Aufbruch
Meine Suche beginnt
Kannibalismus und andere Missverständnisse
Die Insel der Liebe
Die Kunst der Magie
Rossel-Insel, 2013
Der grüne Stein und der blaue Sturm
Die Frauen ohne Falten
Opfergaben für die Ahnengeister
Buschtoilette und Dorfleben
Der Brautpreis
Die Schatzinsel
Der Faden des Lebens
Flughundjagd
Tod & Trauer
Salomonen, 2015
Fischmädchen
Der Blutbaum
Nomansland
Das Heilmittel
Ein neues Leben
Auf der Jagd
Eskalation
Die Rückkehr
Epilog
Dank
Titel
Inhaltsverzeichnis
Nomansland, Papua-Neuguinea, 2016
Mit einem Ruck fuhr ich hoch. Ich schwitzte stark und mir war schrecklich übel. In meinem Kopf drehte sich alles rasend schnell. Ich kroch an den Rand der Holzplattform, die wie in vielen Gegenden Papua-Neuguineas vor dem Haus stand, und übergab mich. Meine Eingeweide fühlten sich an, als seien sie zu Tausenden engen Knoten gewickelt. Mir war heiß, als stünde ich in Flammen. Ich kroch zurück auf die Matte und legte mich hin. Eine kühle Hand hob meinen Kopf an. Ich fühlte Wasser auf meinen Lippen und hörte eine Stimme, die mir sagte, ich solle trinken. Ich erbrach es sofort. Ich trank wieder, diesmal in kleineren Schlucken. Doch wieder konnte ich nichts bei mir behalten. Ich fiel in einen unruhigen Schlaf und als ich erneut aufwachte, ging es mir noch schlechter.
Die nächsten Tage haben nur Bruchstücke in meinem Gedächtnis hinterlassen. Ich erinnere mich daran, wie ich in die Hütte getragen wurde, an den brennenden Schmerz, der sich in meinem Körper ausbreitete, an die Krämpfe in meinen Muskeln, an die sengende Hitze, die mich schreien ließ. An das Erbrechen von Blut, das meine Decke rot färbte, an die ständigen, stechenden Kopfschmerzen, die so stark waren, dass ich meinen Kopf auf den Boden schlagen wollte, um den Schmerz zu stillen. Ich fühlte mich wie in der Hölle, bettelte, weinte und schrie um Linderung, bis ich in die Dunkelheit zurückfiel, nur um wieder in die Welt der Lebenden zurückzukehren und der ganze Kreislauf aus Schmerzen, Erbrechen und Schreien von Neuem begann.
Es muss der dritte Tag gewesen sein, als ich mich nicht mehr bewegen konnte. Die Schmerzen waren unerträglich, ich hatte die Kontrolle über alle Körperfunktionen verloren. Ich schien nur noch eine leere Hülle aus Fleisch und Knochen zu sein. Meine Kleider waren mit Schweiß, Blut und Körperflüssigkeiten getränkt. Als ich aufblickte, sah ich ein bekanntes Gesicht. Micky weinte und ich wusste, dass etwas schiefgegangen war. Anstatt ein Heilmittel zu finden, tötete es mich. Seine Stimme sagte immer wieder: »Es tut mir leid, es tut mir leid.« Im Hintergrund hörte ich Trauergesänge. Der ganze Stamm hatte sich draußen versammelt, um mir die letzte Ehre zu erweisen und meine Seele ins Jenseits zu schicken.
Ich schloss die Augen, wollte weinen, aber es kamen keine Tränen, mein Körper war völlig dehydriert, trotz des Wassers, das mir in die Kehle gezwungen wurde. »Es ist nicht deine Schuld, Micky«, dachte ich, aber ich war zu schwach, um zu sprechen. »Das muss mein Schicksal sein«, war mein einziger Gedanke. Mickys Stimme klang weit weg, die Trauergesänge verklangen, bis ich sie nicht mehr hören konnte. Als ich so dalag, spürte ich plötzlich, wie eine eigenartige Ruhe über mich kam. Ich streckte die Hand aus und ergriff seine. So würde ich wenigstens nicht allein sterben. Das Letzte, was ich sah, waren die Gesichter meiner Kinder. »Es tut mir so leid«, flüsterte ich. Dann wurde alles schwarz.
Ich lebte einst in einer farbenfrohen und magischen Welt. Es gab kein Gestern oder Morgen, nur eine nie endende Gegenwart. Mein Geist war frei wie die Vögel, die durch den tiefblauen Himmel flogen. Ich kannte keine schlimmen Erinnerungen an die Vergangenheit, keine Gefühle des Versagens oder der Verzweiflung, die mich nachts quälten, keine Zukunftsängste. Vergangenheit und Zukunft existierten für mich nicht. Nur die endlose Gegenwart füllte jeden Augenblick mit der Intensität des Lebens um mich herum. Jeder Atemzug war wie eine sanfte Brise an einem heißen Tag. Alles pulsierte mit Energie, wunderschöne Farbschattierungen ruhten wie der Morgentau auf allem, was in dieser Welt lebte. Die Schönheit der Natur versetzte mich in endloses Staunen, von dem Moment an, wo die Sonne morgens prachtvoll aufging, bis sie abends glühend unterging. Winzige weiße Blumen bedeckten das Unterholz des riesigen Urwalds wie ein weicher weißer Teppich und schufen kleine Oasen des Lichts und der Magie, die mich in ihrer Vollkommenheit faszinierten.
Selbst der Tod machte mich damals nicht traurig. Für mich war klar, nur der physische Körper kehrt in die Erde zurück, während die Seele als endlose Energie des Lichts ihre einzigartige Reise fortsetzt. In warmen Nächten lag ich im Gras und schaute in den sternenübersäten Himmel. Wenn ich lange genug hinschaute und mich auf die winzigen Lichter konzentrierte, streckten sie sich zu mir aus und zogen mich tief in das Universum hinein. Dort hielt ich Ausschau nach den Seelen, die durch den schwarzen Kosmos rasten mit einer Lichtspur im Schlepptau. Ich winkte ihnen zu, wenn sie vorbeiflogen, fragte mich, wohin ihre Reise wohl gehen würde, und wünschte ihnen alles Gute.
Ich konnte mir damals nicht vorstellen, dass sich mein Leben je wirklich ändern würde. Ich war überzeugt, dass es so unbeschwert sein würde wie die weißen Wolken, die an einem sonnigen Tag gemächlich vorbeiziehen. Ich hatte keine Ahnung, was das Leben an unvergleichlichen Erlebnissen für mich bereithalten würde.
Meine Geschichte beginnt an dem Tag, an dem mein Vater das Volk der Fayu entdeckte. Von dem Zeitpunkt an prallten in mir zwei Welten aufeinander. Denn ich trage die Kultur, die Psychologie, die Mentalität und die Spiritualität zweier nicht nur unterschiedlicher, sondern in Teilen auch gegensätzlicher Gesellschaften in mir. Daraus entstand ein innerer Konflikt, der jahrelang in mir tobte. Es fühlte sich an, als würden zwei völlig verschiedene Seiten von mir gegeneinander kämpfen und mich fast zerreißen.
Mein Leben verlief in jeder Hinsicht außergewöhnlich, voll extremer Höhen und Tiefen, gespickt mit unvorstellbaren Abenteuern, abgöttischer Liebe, absoluter Schönheit, schlimmstem Schmerz und erschütternden Tragödien. Die Menschen sind von meiner Vergangenheit fasziniert, doch ich kann ihnen nicht sagen, woher ich komme. Ich bin zwischen zwei Welten gefangen. In einer existiert der Lauf der Zeit nicht, wie wir ihn im Westen kennen, materielle Dinge haben dort keine Bedeutung. In der anderen wird das Leben von der Zeit beherrscht, dort wird jede Sekunde, jede Minute, jede Stunde berechnet und geplant, die materiellen Aspekte des Lebens bestimmen das Schicksal des Menschen.
Trotz meiner Zerrissenheit möchte ich kein anderes Leben führen. Ich hatte eine zauberhafte und wunderschöne Kindheit und Jugend, nie würde ich sie gegen eine westliche Erziehung eintauschen wollen. Es war ein Leben, das perfekt zu mir passte und unendlich schien. Ich habe Dinge gesehen und erlebt, die die allermeisten nur aus Büchern oder Filmen kennen. Doch dieses Leben hat eine Kehrseite, die dunkel und grausam ist.
Geboren wurde ich am 25. Dezember 1972 in Patan, Nepal. Meine Eltern, Doris und Klaus-Peter, arbeiteten dort als Sprachwissenschaftler und Missionare mit einem kleinen Stamm, den Danuwari, die in der Terai-Ebene an der Grenze zu Indien lebten. Meine Eltern stammen ursprünglich aus Deutschland, hatten die Annehmlichkeiten der westlichen Zivilisation aufgegeben und waren schon vor meiner Geburt nach Nepal gezogen. Ich habe eine ältere Schwester namens Judith, mein jüngerer Bruder heißt Christian. Wir lebten in dem kleinen Dorf Hatitunga. Unser Haus war ein einfacher Lehmbau mit einem Strohdach, einem Lehmboden und einer Holztür. Ein Baumstamm mit ein paar Kerben diente als Leiter, über die man ein kleines Schlafzimmer und einen schmalen Balkon erreichen konnte. Wenn die Nächte kalt wurden, schliefen wir zusammengekauert im Schlafzimmer, die heißen Nächten verbrachten wir auf dem Balkon. Gekocht wurde auf einem Kerosinherd, gegessen am Boden auf einer geflochtenen Matte. Fließendes Wasser gab es nicht, wir wuschen uns im nahe gelegenen Fluss. Er diente außerdem zum Waschen der Wäsche, und wir holten das Wasser zum Kochen und Trinken daraus. Die meisten unserer Lebensmittel brachten wir aus der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu mit, manchmal verkauften uns die Danuwari Gemüse, das sie selbst angebaut hatten. Obwohl das tägliche Leben für meine Eltern eine Herausforderung war, war das Dorf für uns Kinder eine wunderbare Umgebung. Die meiste Zeit verbrachte ich draußen, spielte mit den Kindern aus der Umgebung, hütete Ziegen mit den älteren Kindern oder schwamm im Fluss. Darüber hinaus habe ich nur wenige Erinnerungen an mein Leben in Hatitunga.
Kurz vor meinem vierten Geburtstag mussten wir als Ausländer aus politischen Gründen das Land sehr plötzlich verlassen. Für meine Eltern, die geplant hatten, auf unbestimmte Zeit in Nepal zu bleiben, war das ein großer Schock. Wir packten unser Hab und Gut zusammen, verabschiedeten uns von den Danuwari und machten uns auf den Weg nach Deutschland – in ein Land, das ich nicht kannte.
Von Anfang an fühlte ich mich fremd in der ungewohnten neuen Umgebung, die meine Eltern ihr Zuhause nannten. Sie meldeten mich im Kindergarten an, ich erinnere mich noch gut an den ersten Tag, an dem meine Mutter mich in einen Raum voller hellhäutiger Kinder brachte, deren Haare noch weißer waren als ihre Haut. Sie wirkten seltsam und fremd auf mich. Ich war verwirrt, dass weder die Kinder noch die Erzieherinnen Englisch, Nepalesisch oder Danuwari verstanden, geschweige denn sprachen. Auf mich wirkten die Kinder sehr aggressiv, das war am schlimmsten für mich. Ich empfand sie als laut und aufdringlich, sie stritten sich um Spielzeug oder darum, wer während der Märchenstunde neben wem sitzen durfte. Einmal verletzte ein Junge einen anderen im Streit schwer mit einer Schere am Kopf. Ungläubig verfolgte ich die chaotische Szene, die sich vor meinen Augen abspielte. Mich hat der Vorfall nachhaltig beeindruckt, in Nepal hatte ich so etwas noch nicht erlebt.
Die Monate gingen ins Land, ich lebte mich ein wenig ein. Doch eines Morgens war ich verschwunden. Meine Eltern suchten überall nach mir, ohne Erfolg. Schließlich verständigten sie die Polizei. Für meine Eltern begannen qualvolle Stunden. Gegen Mittag ging bei der Polizeistation ein Anruf von einer Autobahntankstelle ein. Mobiltelefone gab es damals noch nicht. Gemeldet wurde ein kleines Kind auf einem roten Dreirad, das auf dem Seitenstreifen fuhr. Voller Entschlossenheit fuhr es geradeaus, guckte weder nach rechts und links oder gar nach hinten. Ein Polizeiwagen kam hinter mir zum Stehen und einer der Beamten fragte mich, wohin ich wolle. Ich erzählte ihnen, dass ich auf der Suche nach meinem Zuhause sei, nach meinen Bergen. Obwohl ich schon fast zwei Jahre in Deutschland war, muss ich immer noch furchtbares Heimweh gehabt haben.
Umso glücklicher war ich, als meine Eltern uns einige Wochen später mitteilten, dass sie eine neue Aufgabe bekommen hatten und wir Deutschland bald verlassen würden. Ich war erst fünf Jahre alt, noch zu klein, um zu begreifen, wohin genau wir gehen würden, aber voller Vorfreude bereitete ich mich auf dieses neue Abenteuer vor. Als wir unsere Sachen packten und uns von Familie und Freunden verabschiedeten, ahnte keiner von uns, welch unglaubliches Abenteuer uns bevorstand. Eine Reise, die für mich auf den höchsten Gipfeln der Welt begonnen hatte und uns in tiefes, sumpfiges Gelände führen würde, auf die indonesische Insel Neuguinea im Südpazifik.
In West-Papua erwartete mich eine völlig neue, aufregende Welt. Wir wohnten zunächst in einem kleinen Gästehaus in Abepura, einer Stadt etwa dreißig Autominuten von der Provinzhauptstadt Jayapura entfernt. Ich nahm alles mit großer Begeisterung auf: die neuen Geräusche, Gerüche, die Vegetation und die Menschen. Es dauerte nur ein paar Wochen, bis wir anfingen, uns mit den Kindern in unserer Nachbarschaft anzufreunden und ihre Sprache zu sprechen. In dieser Zeit lernte ich auch eine meiner ersten indonesischen Freundinnen kennen, sie hieß Mari. Ihre Familie wohnte ein paar Straßen weiter, und sie kam fast jeden Tag, um mit mir zu spielen. Durch sie und ihre Familie konnte ich die indonesische Kultur kennenlernen, für mich war sie voller neuer Erfahrungen. Ich war fasziniert von der Art und Weise, wie die Menschen ihren Alltag lebten, wie sie mit Armut, Krankheit und Familienproblemen umgingen, wie sie lachten, liebten oder wie sie trauerten.
Kurz nach unserer Ankunft in Indonesien wurde mein Vater von einer weltweit tätigen Sprachforscher-Organisation gebeten, mit einem damals gerade neu entdeckten Stamm, den Fayu, Kontakt aufzunehmen. Seine Aufgabe sollte darin bestehen, mehr über den unbekannten Stamm herauszufinden, auch und vor allem, welche Sprache sie sprachen. Über sie war fast nichts bekannt, nicht einmal, wo genau sie zu Hause waren und wie viele sie waren. Nachdem er mit meiner Mutter darüber gesprochen hatte und ihr Einverständnis erhalten hatte, nahm mein Vater den Auftrag an. Das größte Abenteuer unseres Lebens begann.
Es war einmal ein großer und blühender Stamm. Sein Gebiet liegt am Ende eines Tals, das manchmal als das »Verlorene Tal« bezeichnet wird. Das Tal ist mehrere Hundert Kilometer lang und von hohen Bergen umgeben, was den Zugang erschwert. Das Gebiet, in dem der Stamm der Fayu lebt, ist von Sümpfen und dichtem Dschungel bedeckt. Tiefe Flüsse durchziehen die Landschaft in diesem isolierten Teil der Insel Neuguinea. Doch wenn eine Gesellschaft völlig isoliert ist, kann sie von innen her zu verfaulen beginnen, wie Wasser in einem Becken, in dem nichts mehr fließt. Ohne Input von außen oder Austausch mit anderen Gesellschaften und Stämmen begannen sie, sich gegeneinander zu wenden. Vielleicht begann es mit einem Streit, vielleicht einem Missverständnis. Als mein Vater 1978 auf die Fayu stieß, befanden sie sich in einem schrecklichen Krieg. Die einst starke Stammesgesellschaft traf mittlerweile nur noch aufeinander, um sich gegenseitig zu töten. Jegliche Form von Entwicklung war zum Stillstand gekommen, Traditionen, Bildung und medizinisches Wissen gerieten in Vergessenheit. Das Leben drehte sich nur noch um Rache und Krieg.
Was die Sache noch schwieriger machte, war die Tatsache, dass die Fayu nicht an einen natürlichen Tod des Menschen glaubten. Für sie gab es nur zwei Todesursachen – den Pfeil oder einen Fluch. Wenn jemand krank wurde oder von einer Schlange gebissen wurde, so schoben sie das auf einen Fluch, der von einem verfeindeten Stamm ausgesprochen wurde. In ihrer Denkweise musste dieser Tod gerächt werden. Was wiederum Rache auf der anderen Seite hervorrief. So wurden mit der Zeit alle Stammesangehörigen in diesen blutigen Krieg verwickelt, sogar Kinder. Rache und Tod waren zum beherrschenden Lebensinhalt geworden. Der Hass hatte überhandgenommen und begann, den Stamm von innen heraus zu zerstören.
Der Fayu-Stamm bestand aus vier Clans, die damals aus jeweils etwa hundert Personen bestanden: den Tigre, den Iyarike, den Tearu und den etwas weiter von den anderen entfernt lebenden Sefoidi. Sie befanden sich in einem fortwährenden Kriegszyklus, der ihre Kultur und Traditionen langsam zerstörte und ihre Zahl schrumpfen ließ, bis sie kurz vor dem Aussterben standen. Die im Westen verbreitete romantische Vorstellung von einem Stamm, der abgeschieden von der Zivilisation glücklich im Dschungel lebt, traf auf die Fayu definitiv nicht zu. Genauso wenig wie auf viele andere Stämme, wie ich im Laufe der Jahre erfahren musste.
Die erste Expedition meines Vaters zu den Fayu war von vielen Zufällen und Unsicherheiten geprägt. Wer in Deutschland in den Alpen wandern geht, der hat eine Karte, wahrscheinlich sogar ein GPS-Gerät, und kann sehr genau Standorte bestimmen, auch wenn sie abgelegen sind. Der erste Anhaltspunkt meines Vaters, der ihm helfen sollte, die Fayu zu finden, war ein Stück Papier, auf dem stand: »Zwei bis drei Tagesreisen westlich vom Stamm der Dou« sowie ein paar Fayu-Worte in Lautschrift. Dass es diese Informationen überhaupt gab, verdanken wir einer glücklichen Fügung. Einem Vorfall, der sich im April 1978 ausgerechnet an dem Tag ereignete, als wir Deutschland in Richtung Indonesien verlassen hatten. Auf dem Gebiet des Dou-Stammes war das Dorf Kordesi als Standort für eine kleine Landebahn ausgewählt worden, die tatsächlich kaum mehr als ein länglicher Streifen Gras war. Während der Arbeiten an dieser Landebahn erschien eine Gruppe von Fayu-Kriegern auf der Bildfläche. Die Dou-Bewohner erschraken und erklärten dem verantwortlichen Konstrukteur, einem Amerikaner namens John, dass es sich um Angehörige eines Stammes handelte, mit dem sie seit langer Zeit Krieg führten. Bei dieser Begegnung war John in der Lage, ein paar der Worte, die die Krieger sprachen, in Lautschrift aufzuschreiben. Ein Sprachwissenschaftler in Jayapura fand später anhand von Vergleichen mit den bisher dokumentierten Inselsprachen heraus, dass es sich um eine vollkommen neue Sprache und damit einen bisher unbekannten Stamm handelte, heute bekannt als die Fayu.
Mein Vater stellte sich ein Team zusammen. Bei seiner Expedition wurde er von einem Amerikaner begleitet, der Indonesisch sprach, und von einem Einheimischen aus dem Stamm der Dani, der neben der Dou-Sprache auch Indonesisch beherrschte. Auf der Suche nach den Fayu folgten sie den Anweisungen der Notiz und durchquerten dabei das Gebiet des Kirikiri-Stammes, bis sie deren Grenze passierten und unbekanntes Terrain betraten. Tagelang fuhren sie in einem großen Kanu mit Außenbordmotor den Fluss hinunter, hatten aber keinen Erfolg. Weder die Kirikiri noch die Dou konnten ihnen helfen.
Denn niemand von ihnen wagte sich in das Fayu-Gebiet vor, und diejenigen, die es doch taten, kehrten nicht zurück. Schließlich gingen sie in das Dou Gebiet zurück, da ihnen Lebensmittel und Treibstoff fast ausgegangen waren. An diesem Abend kam meinem Vater im Gespräch mit den Dou eine interessante Geschichte zu Ohren. Sie erzählten von einem Kirikiri-Mann, der sich in eine Fayu-Frau verliebt hatte. Sie lebten an der Grenze des Kirikiri-Gebiets.
Mein Vater schöpfte neue Hoffnung. Vielleicht konnten die beiden ihm sagen, wo die Fayu zu finden waren. Sie machten sich auf die Suche nach dem jungen Paar und brauchten nicht lange, um sie zu finden. Als die junge Fayu-Frau die Karte inspizierte, die mein Vater von der Stelle gezeichnet hatte, an der sie zuvor gesucht hatten, wies sie ihn darauf hin, dass sie den falschen Fluss hinuntergefahren waren, und erklärte, dass sie erst dem Rouffaer-Fluss folgen sollten, um dann auf den Klihi-Fluss abzubiegen, der sie direkt zu den Fayu bringen würde. Das Team aber kehrte zunächst in die Hauptstadt Jayapura zurück, um sich mit neuen Vorräten auszustatten und die Suche fortzusetzen. Bestens ausgerüstet starteten sie einige Monate später ihre zweite Expedition.
Eine Herausforderung jedoch blieb für meinen Vater, und das war die Sprachbarriere. Selbst wenn es ihm gelänge, die Fayu zu finden, wie würde er sich mit ihnen verständigen können? Und wieder kam ihm der »Buschfunk« zu Hilfe, denn bei den Dou-Männern hörte mein Vater von einem jungen Mann namens Nakire, der als kleines Kind zusammen mit seiner Mutter während eines Kriegszuges der Dou aus dem Stamm der Fayu entführt worden war. Nakire lebte zwar nicht mehr bei den Dou und erinnerte sich auch nicht mehr an die Fayu, dennoch sprach er deren Sprache noch. So spürte das Expeditionsteam ihn auf und er willigte ein, sich ihnen anzuschließen.
Das Team war nun komplett, sie überquerten die Grenze und machten sich auf den Weg ins Fayu-Gebiet. Stundenlang fuhren sie den Fluss hinunter, aber mein Vater und sein Team trafen auf keine Menschenseele, es gab keinen Hinweis auf Dörfer, nur den unendlichen Dschungel, der den Fluss an beiden Seiten säumte. Schließlich stießen sie auf ein paar Kanus, die am Flussufer festgemacht waren.
»Wo Kanus sind, müssen auch Menschen sein«, dachte mein Vater und beschloss, haltzumachen, um der Sache nachzugehen. »Steig du als Erster aus, du sprichst ihre Sprache«, bat mein Vater Nakire, doch der weigerte sich. »Ich bleibe hier, ich habe Angst«, antwortete er. Was mein Vater damals nicht wusste, war, dass sie im Gebiet einer der vier Clans waren, der Nakire ursprünglich nicht angehörte.
Als mein Vater ausstieg, trat plötzlich ein Mann aus dem Dschungel. Er war die wildeste Erscheinung, die mein Vater je gesehen hatte. Seine Nase war von langen Knochen durchbohrt, sein Kopf mit Federn geschmückt und sein Körper mit einer Substanz eingerieben, die schrecklich roch. In seinen Händen hielt er Pfeil und Bogen, sein Gesicht zeigte Wut. Er war komplett nackt, trug nur ein aus Baumrinde geflochtenes Band um seine Taille. Direkt hinter ihm erschien ein weiterer Mann, der ebenfalls einen Bogen hielt und einen Pfeil direkt auf Nakire gerichtete hatte. Nakire sprang auf, bewaffnete sich ebenfalls und plötzlich standen sich die beiden Männer schussbereit gegenüber. Die Spannung in der Luft war riesig und mein Vater handelte schnell und intuitiv. Er sprang zwischen die beiden Männer, streckte die Arme aus und schrie: »Halt, nicht schießen, wir kommen in Frieden. Legt die Waffen nieder.«
Nach ein paar sehr angespannten Minuten sagte Nakire etwas in der Fayu-Sprache und beide Männer senkten ihre Waffen nieder. Der erste Mann war Ziau, einer der Männer, die im Jahr zuvor in Kordesi erschienen waren. Er war schon einmal auf einen weißen Mann getroffen und daher nicht allzu schockiert, meinen Vater zu sehen. Mein Vater erklärte Ziau, dass sie gekommen waren, weil er die Fayu treffen wollte. Ziau forderte sie auf, ihm zu folgen. Die kleine Gruppe ging in den Dschungel hinein und folgte einem schmalen Pfad, bis sie eine kleine Lichtung erreichte. Auf der Lichtung stand eine Hütte. Der schreckliche Geruch, der auch von Ziau ausging, wurde immer schlimmer, bis mein Vater das Gefühl hatte, sich übergeben zu müssen. Schockiert sah er in der Hütte einen verwesenden menschlichen Körper liegen. Tausende Insekten und Fliegen bedeckten die Leiche. Ziau erklärte, dass dieser Mann von jemandem aus Nakires Clan getötet worden sei und sie auf Rache aus seien. Aber er versprach, solange Nakire bei meinem Vater und seinem Team wäre, würde ihm nichts passieren.
Da es bereits dunkel wurde, bot Ziau ihnen an, über Nacht zu bleiben. Wegen des entsetzlichen Gestanks lehnte mein Vater höflich ab. Sie kehrten in ihrem Kanu auf dem Weg zurück, den sie gekommen waren, bis sie eine verlassene Hütte erreichten, in der sie die Nacht verbrachten.
Am Feuer fragte mein Vater Nakire nach der verwesenden Leiche. Nakire erklärte ihm eine der vielen einzigartigen Eigenschaften seines Stammes: »Die Fayu begraben ihre Toten nicht. Sie leben mit dem verstorbenen Körper, essen und schlafen mit der Leiche in derselben Hütte, bis der Körper vollständig verwest ist. Als Zeichen der Trauer reiben sie sich mit den Flüssigkeiten ein, die aus dem Leichnam treten. Später hängen sie die Knochen in ihren Hütten auf, um sie für immer in Erinnerung zu behalten.«
Am nächsten Morgen fuhren sie weiter und kamen in das Gebiet der Iyarike, dem Clan von Nakires Mutter. Trotz langer Suche trafen sie keine Menschenseele. Sie kehrten am späten Nachmittag zu einer größeren Lichtung zurück, auf der sie zuvor auf eine verlassene Hütte gestoßen waren. Dort beschlossen sie zu bleiben, denn mein Vater dachte sich, wenn ich sie nicht finden kann, dann warte ich, bis sie uns finden. Somit begann das Warten. Drei Tage vergingen, ohne dass irgendetwas passierte.
Am vierten Tag, sie hatten gerade gefrühstückt, trat eine Gruppe von Kriegern des Iyarike-Clans aus dem Dschungel. Sie waren schwer bewaffnet, und auch sie hatten Knochen durch die Nasen gebohrt und trugen Federn auf den Köpfen, ihre Körper waren mit trockenem Schlamm beschmiert. Sofort umzingelten die Krieger ihr Lager, während der Anführer, ein Mann namens Teau, zu ihnen trat. Er grüßte sie nicht, sagte auch sonst kein Wort, Haltung und Mimik zeugten von Feindseligkeit. Er rief ein paar seiner Männer zu sich, sie begannen, ihr Gepäck zu durchwühlen. Sie durchsuchten jede Tasche und jede Kiste, kippten den Inhalt auf dem Dschungelboden aus und ließen ihn dort achtlos liegen. Sie schauten sogar unter die Moskitonetze und Schlafmatten.
Während dieser Zeit sprach keiner der Krieger auch nur ein einziges Wort, sie würdigten meinen Vater und sein Team keines Blickes. Mein Vater spürte instinktiv, dass es richtig war, die Krieger suchen zu lassen, was sie finden wollten. Er wies das Team an, sich ruhig zu verhalten. Die Atmosphäre war angespannt, vor allem bei Nakire lagen die Nerven blank, denn er hatte den Kontakt zu seinem Volk vor Jahren verloren. Für sie war er ein Außenseiter geworden, dem man nicht trauen konnte.
Als die Fayu-Krieger ihre Suche erfolglos beendet hatten, lud mein Vater Teau ein, sich zu setzen und mit ihnen zu sprechen. Mein Vater fragte ihn, wonach sie gesucht hatten. Teau erklärte meinem Vater, warum man sie so feindselig behandelte und warum sich ihnen in den letzten Tagen niemand gezeigt hatte. Einige Wochen vor der Ankunft meines Vaters war eine Gruppe indonesischer Krokodiljäger in der Gegend gewesen. Sie hatten auf zwei von Teaus Männern geschossen und sie getötet, und nun waren die Iyarike auf Rache aus. Als mein Vater und sein Team ihr Gebiet betraten, genau wie die Krokodiljäger mit einem Außenbordmotor am Kanu, gingen die Iyarike davon aus, dass auch diese neuen Eindringlinge zum Team der Krokodiljäger gehörten, und sannen auf Rache.
Was die Iyarike davon abhielt, meinen Vater und sein Team zu töten, war allein die Tatsache, dass sie noch nie zuvor einen Mann mit einer anderen Hautfarbe gesehen hatten. Sie waren sich nicht einmal bewusst, dass es eine Welt außerhalb ihrer eigenen gab.
»Farblos« war das Wort, dass sie für meinen Vater und später auch uns benutzten. Im Dschungel waren wir bald als »farblose Familie« bekannt. Denn für die Stammesvölker sind wir keine weißen Menschen, für sie sind wir farblos. Als Kind habe ich mit den Fayu oft gelacht, wenn sie uns sagten, dass wir wie Leichen aussähen, die zu lange im Fluss gelegen haben. In ihren Augen sind wir keine schönen Menschen, sondern sehen seltsam und hässlich aus. Sie können uns auch nur schwer voneinander unterscheiden.
Jahre später sagte Teau meinem Vater, wenn sie Waffen oder Krokodilhäute gefunden hätten, wären sie alle getötet worden. Doch da das nicht der Fall gewesen war, war Teau damals neugierig geworden und hatte meinen Vater gefragt: »Farbloser Mann, was machst du hier und warum bist du gekommen?« »Ich möchte gerne mit meiner Familie bei euch leben. Ich möchte eure Sprache lernen und eure Kultur verstehen.« Als Teau dies gehört hatte, wurde er für einige Minuten still und schien in Gedanken versunken zu sein. Die Spannung wuchs mit jeder Minute, die verging. Schließlich sah Teau meinen Vater direkt in den Augen, was er sagte, überraschte ihn. »Bitte komm zurück«, sagte Teau. »Wann soll ich zurückkommen?«, fragte mein Vater. »In drei Monaten«, antwortete Teau, »das wird mir genug Zeit geben, meinem Volk zu sagen, dass ihr in Frieden kommt und dass euch niemand etwas antun soll.«
Der Moment der Rückkehr meines Vaters drei Monate später war für die Fayu als ganzer Stamm von großer Bedeutung. Es war das erste Mal seit Generationen, dass sich drei Fayu-Clans aus einem anderen Grund trafen, als sich gegenseitig zu töten. Die Neugier auf den Neuankömmling mit der seltsamen Hautfarbe hielt sie davon ab. Schließlich war es Baou, der Häuptling der Tigre, der meinem Vater die Erlaubnis erteilte, bei den Fayu zu bleiben, und der das Gebiet zuwies, wo wir als Familie leben würden. Und dieses Gebiet war klug gewählt: Denn die Stelle war neutraler Boden an der Grenze zwischen den Gebieten zweier Clans. Häuptling Baou stellte damit sicher, dass keiner der Clans uns für sich beanspruchen konnte und damit einen neuen Konflikt auslösen würde, nicht einmal sein eigener. Damit behielten wir einen neutralen Status. Diese neutrale Zone sollte später eine große Rolle auf dem langen Weg zum Frieden spielen.
Ich war gerade sieben Jahre alt geworden, als mein neues Leben im Dorf Foida begann – ein aufregendes Leben. Jeden Tag erlebte ich neue Abenteuer, lernte Überlebenstechniken kennen und verwandelte mich im Laufe der Jahre von einem farblosen Kind aus einer deutschen Familie in ein farbloses Mitglied des Fayu-Stammes. Ich übernahm ihre Kultur, ihre Lebensweise, lernte, wie man in dieser rauen Umgebung überlebt. Auch für mich gab es bald keine Außenwelt mehr, keine andere Kultur als die, in der ich lebte. Ich war glücklich und blühte auf in dieser Welt voller Stammesgeister, Naturgesetze und magischer Schönheit. Die Zeit, so wie wir sie im Westen wahrnehmen, war stehen geblieben. Der Ablauf des Tages wurde nicht von der Uhr, sondern von der Natur selbst diktiert. Wir standen auf, wenn die Sonne morgens aufging, und gingen ins Bett, wenn sie abends unterging. Wenn die Sonne schien, spielten wir draußen auf dem unendlichen Spielplatz, den die Natur uns bot, wenn es regnete, saßen wir in unserem einfach gebauten Holzhaus und warteten darauf, dass der Regen aufhörte.
Und doch war das Leben im Stamm oft hart, nicht nur körperlich, sondern im Fall der Fayu auch einfach brutal. Kinder wurden vor den Augen ihrer Eltern abgeschlachtet, Eltern vor ihren Kindern, Hass und Angst beherrschten jeden ihrer wachen Momente. Sie wussten nie, wann ein Pfeil aus dem Unterholz heranfliegen und sie töten würde. Deshalb spielten die einheimischen Kinder nicht, sondern saßen entweder nahe bei ihren Eltern oder mit dem Rücken an einen Baum gelehnt.
Weil ständig gekämpft wurde, blieb nicht viel Zeit zum Sammeln von Nahrungsmitteln. Sie hatten auch keine wirkliche Vorstellung vom Gemüseanbau im Garten, und so waren die meisten unterernährt und viele starben an leicht vermeidbaren Krankheiten. Infektionen wurden nicht behandelt, Kranke dem Sterben überlassen – denn wer kann schon einem Fluch widerstehen? Die durchschnittliche Lebenserwartung lag bei rund vierzig Jahren. Frauen brachten durchschnittlich sechs Kinder zur Welt und wenn sie Glück hatten, schafften es zwei von ihnen bis ins Erwachsenenalter. Meist brachten die Frauen ihre Kinder allein zur Welt, ohne dass ihnen jemand half oder sich um sie kümmerte. Viele Neugeborene starben bereits in den ersten Tagen nach der Geburt, weil die Nabelschnur mit einem Stück Bambus durchtrennt wurde und es dadurch zu Infektionen kam.
Die Fayu wuschen sich nicht, hatten keinen Sinn für Hygiene und jegliches medizinische Wissen ihrer Vorfahren verloren. Auch wenn jemand mit einem Pfeil angeschossen oder einer Steinaxt verletzt wurde, kam der Tod nicht sofort, da die meisten daran starben, dass sich die Wunde infizierte. Ihre Körper waren in Folge der Unterernährung nicht mehr in der Lage, Infektionen abzuwehren. Tagelang litten sie, lagen in ihren Hütten und warteten auf einen qualvollen Tod.
Oft erzählten uns die Fayu davon, dass sie im Laufe der Jahre jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft verloren hatten. Sie waren sich der Welt außerhalb ihrer Grenzen nicht bewusst, sie wussten nicht, dass sie in einem Land namens Papua lebten oder dass irgendwo andere Länder und Kulturen existierten. Sie fühlten sich in einer Falle, aus der es keinen Ausweg gab.
Wir hatten ein Handelssystem mit den Fayu begonnen. Sie brachten uns Fleisch, Lebensmittel oder andere Dinge, und wir tauschten sie gegen Messer, Streichhölzer, Angelhaken und sonstige nützliche Gegenstände. Das bedeutete jedoch, dass sich verschiedene Clans häufig begegneten, oft brachen Streitigkeiten aus. Manchmal eskalierten diese Auseinandersetzungen und es kam zu einem ausgewachsenen Krieg.
Später sagten die Fayu meinem Vater oft, sie wünschten, er wäre früher gekommen, da ihr Bruder, ihre Mutter, ihr Vater oder ihre Kinder dann vielleicht noch am Leben wären. Meine Eltern hatten schon früh beschlossen, sich nicht in die Kriege der Fayu einzumischen, sie waren der Auffassung, dass nur sie selbst in der Lage wären, Frieden zu schließen. Was sie ihnen bieten konnten, wäre eine Plattform, auf der sie wieder kommunizieren konnten, die Anlass bot für ein Aufeindertreffen, das nichts mit Töten und Krieg zu tun hatte.
Also gingen wir ins Haus, wenn es wieder mit dem Kämpfen losging, und warteten, bis es zu Ende war. Dann gingen wir hinaus und kümmerten uns um die Verwundeten, wenn es welche gab. Jedes Leben, das wir durch die Behandlung von Wunden und Infektionen retten konnten, war für uns ein kleiner Sieg gegen den Hass. Und wir konnten mit der Zeit der Vorstellung der Fayu entgegenwirken, dass Flüche für die Todesfälle verantwortlich seien. Die Fayu beobachteten, wie meine Mutter als Krankenschwester sich um die Kranken kümmerte, die meist wieder gesund wurden. Sie sahen, wie sie die Frauen während der Geburt begleitete und ihnen Handtücher und Decken gab, um sich und das neugeborene Kind zu schützen. Und Nahrung, um wieder zu Kräften zu gelangen. Sie gingen mit uns im Fluss baden und begannen, uns darin nachzuahmen, wie wir unsere Gemüsegärten anlegten. Über die Jahre sank die Sterblichkeit merklich. Und mit jedem Fayu, der nicht starb, gab es ein Grund weniger, Rache zu nehmen, der Todeszyklus begann langsam zu brechen. Doch das alles brauchte Zeit und der Anfang war von Strapazen und Rückschlägen geprägt. Die Jahre vergingen, und obwohl das Leben meist friedlich war, gingen die Stammeskriege weiter.
Eines Tages geschah etwas, das alles veränderte. Es begann, wie es immer begann. Ein Streit war zwischen zwei Clans ausgebrochen, diesmal zwischen den Tigre und den Iyarike. Das Gebrüll begann, dann das Geschrei. Bald schon weinten die Kinder und rannten zu ihren Müttern, um sich in Sicherheit zu bringen. Die Gesichter der Frauen verzerrten sich vor Angst und sie flüchteten in den Dschungel. Dann waren nur noch die Männer übrig. Das war für mich immer das Signal, ebenfalls Zuflucht zu suchen. Mein Bruder folgte mir ins Haus, mein Vater schloss die Tür. Ich kletterte auf unsere Holzbank und beobachtete das Geschehen vom Fenster aus. Die Situation eskalierte an diesem Tag schneller als sonst, als stünde eine Explosion bevor. Ich spürte, wie sich die Atmosphäre zu verändern begann. Aggressivität und Feindseligkeit erfüllten die Luft und sorgten für maximale Anspannung. Vögel und Insekten waren verstummt, und obwohl die Sonne noch vom Himmel schien, wurde die Welt um mich herum plötzlich unheimlich dunkel. Was eben noch hell und bunt war, erschien jetzt düster und bedrohlich.
Die Fayu hatten eine sehr besondere Art, Krieg zu führen. Sie standen sich gegenüber und führten einen Kriegstanz auf, wobei sie in einer Hand den Bogen und in der anderen einen speziell für den Angriff auf Menschen entwickelten Pfeil mit einer tödlichen Spitze aus Knochen hielten. Einer der Krieger begann. Er stampfte mit den Füßen auf den Boden, ein Fuß nach dem anderen, immer hin und her. Bald schlossen sich die anderen an, auch sie stampften mit den Füßen, bis sie perfekt synchron waren. Ich konnte die Vibrationen unter mir spüren. Dann rannten sie in entgegengesetzte Richtungen auseinander, schließlich wieder aufeinander zu. Dabei stießen sie einen rhythmischen Kriegslaut aus, immer wieder, stundenlang. Irgendwann begannen sich ihre Bewegungen zu verändern, sie wurden fließender. Ihre Gesichter verloren jede Form von Ausdruck, dann verfielen sie in einen tranceähnlichen Zustand. Mir blieb es ein Rätsel, wie ein Mensch das über viele Stunden tun konnte, in der sengenden Hitze, ohne Pause, ohne Wasser.
In den Gesichtern der Krieger sah ich Wut und Hass. Dann kam der Moment, in dem sie jede Vernunft, Menschlichkeit und Empathie verließ. Ich sah es in ihren Augen, sie waren weit aufgerissen, dahinter eine totale Leere. Es hatte begonnen. Oft endete es, ohne dass ein Pfeil flog. Die Fayu brachen unter der Anstrengung zusammen. Oder die Sonne ging unter, niemand konnte mehr etwas sehen und die Menge löste sich auf. In anderen Fällen dauerte die Schießerei nur ein paar Minuten, bis eine der Gruppen floh.
Wir lebten bereits seit mehreren Jahren unter den Fayu und waren an diese Szenen gewöhnt. Doch dann kam dieser Tag, den ich nie vergessen werde. Wieder einmal dauerte der lautstarke Kriegstanz der Tigre und Iyarike schon mehrere Stunden. Doch dieses Mal passierte etwas Neues: Meine Schwester Judith hielt die Spannung nicht mehr aus, begann zu weinen und hörte nicht mehr auf. Ihr war der stundenlange Lärm zu viel geworden. Meine Mutter saß bei ihr und versuchte, sie zu trösten und abzulenken, aber nichts half. Obwohl wir uns jahrelang aus den Kriegen der Fayu herausgehalten hatten, war das meinem Vater dieses Mal nicht möglich: Plötzlich sprang er auf. Er rannte hinaus und direkt zwischen die Krieger, schnappte sich ihre Pfeile und zerbrach sie. Dabei brüllte er die Krieger an, sie sollten aufhören. Die Fayu waren schockiert, sie hörten auf zu tanzen, senkten ihre Waffen und starrten ihn an. Mein Vater griff sich die beiden Häuptlinge und zeigte auf unser Haus. »Ich kann das meiner Familie nicht mehr antun«, wandte er sich eindringlich an die beiden Häuptlinge. »Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder hört ihr mit euren Kämpfen vor unserem Haus auf und bringt euch woanders gegenseitig um. Oder ich nehme meine Familie und wir verlassen euch. Es ist eure Entscheidung.«
Dann drehte er sich um, stürmte zurück ins Haus und schlug die Tür zu. Ich beobachtete ihn mit großen Augen, konnte nicht glauben, was ich gerade gesehen hatten, dass mein Vater derart die Fassung verlor. Ich sah zu, wie er sich hinsetzte, er zitterte am ganzen Körper. Draußen sah ich die Krieger, wie sie sich versammelt hatten und untereinander diskutierten. Nach einiger Zeit kam Häuptling Baou und bat meinen Vater, herauszukommen.
»Ich habe die Befugnis erhalten, im Namen beider Clans zu sprechen«, sagte Häuptling Baou. »Wir wollen nicht, dass ihr geht, du und deine Familie.« Er versprach, dass sie uns künftig verschonen wollten und es keine Kriege mehr vor unserem Haus oder in der Nähe geben würde. Dann zeigte er auf einen Steinhaufen, den sie aufgetürmt hatten. »Wir werden mit diesen Steinen einen großen Kreis rund um euer Haus legen. Innerhalb des Kreises darf ab heute niemand mehr eine Waffe tragen.« Mein Vater willigte ein.
Die neue Regelung galt auch für die beiden anderen Fayu-Clans, die Sefoidi und die Tearu. Auch sie erklärten sich damit einverstanden. Von diesem Tag an haben wir in unserer Gegend keinen Krieg mehr erlebt.
Doch es geschah etwas noch viel Erstaunlicheres. Etwas, das so mächtig wurde, dass es eine riesige Welle verursachte, die sich durch das gesamte vergessene Tal ausbreitete. Denn die Fayu-Krieger hatten sich bisher nie ohne ihre Waffen bewegt. Sogar wenn sie sich zum Essen setzten oder während sie schliefen, ließen sie ihre Waffen niemals los. Jetzt mussten sie es lernen. Wenn sie uns in der ersten Zeit besuchten, blieben sie zunächst direkt an der Steingrenze sitzen, innerhalb der waffenfreien Zone. Ihre Waffen legten sie außerhalb ab, aber immer noch in Reichweite. Mit der Zeit gewöhnten sie sich daran und ihr Selbstvertrauen wuchs, sie entfernten sich immer weiter von ihren Waffen.
Monatelang saßen die vier Clans getrennt voneinander im Steinkreis und warfen sich gegenseitig wütende Blicke zu. Doch das Leben im Dschungel kann sehr langweilig werden. Bald rückten sie näher zusammen, dann begannen sie, ihr Essen miteinander zu teilen und fanden schließlich andere Gesprächsthemen als die Frage, wer wen getötet hatte oder wer dem anderen was angetan hatte. Sie begannen, über das zu sprechen, was sie am Tage gesehen oder erlebt hatten. Sie sprachen über die Jagd. Erzählten sich, was in ihren Familien vor sich ging. Wer geheiratet hatte oder ein Kind bekommen hatte.
Einige Familien bauten sogar ihre Hütten innerhalb dieser neutralen Zone auf. Das bot einen großen Vorteil für sie. Sie konnten endlich nachts schlafen, ohne Angst haben zu müssen, angegriffen zu werden. Sie konnten entspannt im Freien zusammensitzen und essen. Die Kinder spielten erstmals frei und ungezwungen mit uns.
Mit der Zeit fiel mir auf, dass sich der Steinrand auf wundersame Weise immer weiter ausdehnte. Eines Tages fand ich heraus, wieso. Ich ging zwischen den Hütten umher und sah einen jungen Mann, der sich eine Hütte bauen wollte, aber innerhalb der Grenze keinen Platz mehr fand. Er sah sich um, um zu prüfen, ob ihn jemand beobachtete. Er bemerkte nicht, dass ich hinter einer der Hütten in der Nähe hervorspähte. Er ging schnell zur Steingrenze und bewegte die Steine gerade so weit weg, dass genug Platz für eine kleine Hütte geschaffen war, die er sich mit einem Strahlen im Gesicht baute. Für mich war es eine große Freude, das zu sehen, und ich lief ich den Rest des Tages mit einem wunderschönen Glücksgefühl herum.
Dann kam der unglaubliche Tag, an dem die vier Clans mit einer traditionellen Zeremonie und einer großen Feier offiziell Frieden schlossen. Zuerst die Tigre und Iyarike, dann schlossen sich die Tearu an und zuletzt die Sefoidi. Das Leben begann, sich für uns alle massiv zu verändern. Jetzt, da es keinen Krieg mehr gab, hatten alle mehr Zeit zum geselligen Beisammensein. Mehr Zeit für die Nahrungssuche – sammeln, angeln und jagen. Ihr alltägliches Leben verbesserte sich, weil die Fayu begannen, bessere Hütten, Kanus und Werkzeuge zu bauen. Am abendlichen Lagerfeuer saßen sie nun zusammen und erzählten ihre Geschichten, die sie durch den Krieg verloren hatten, und die sie jetzt wieder an die nächsten Generationen weitergaben. Wie sie ein Wildschwein gejagt hatten, das so groß war wie ein Haus, oder einen Kasuar, der größer war als zwei Männer, die übereinanderstanden. Sie bekamen das Leben zurück, das ihnen Hass und Krieg vor langer Zeit genommen hatte. Ihr Gesundheitszustand verbesserte sich, die Lebenserwartung nahm zu. Um den neu gewonnenen Frieden zu sichern, heirateten sie in die Clans der anderen ein.
Sie begannen, neue Wege zu finden, um Konflikte zu lösen, und erließen neue Gesetze. Bislang gab es nur eine einzige Form der Strafe, die Todesstrafe. Jeder, der die Regeln brach, wurde mit dem Tod bestraft. Nun führten sie das System der Entschädigung ein. Höhe und Art der Entschädigung richteten sich nach der Schwere des Regelbruchs. Entschädigt wurde etwa in Form eines Wildschweins, eines Kanus, einer Steinaxt, durch Lebensmittel oder andere Dinge von Wert.
Aber es geschah noch etwas anderes, was uns staunen ließ. Als die Fayu ihre Waffen niederlegten, sagten die Kirikiri: »Wenn die Fayu ihre Waffen niederlegen, was nützt es uns dann, unsere Waffen hochzuhalten?« Und sie legten ihre Waffen nieder. Als die Dou sahen, was die Fayu und Kirikiri taten, sagten sie: »Wenn die Fayu und Kirikiri aufhören zu kämpfen, warum sollen wir dann weitermachen.« Und auch sie legten ihre Waffen beiseite.
Im Laufe der Jahre breitete sich dieser Frieden von einem Stamm zum nächsten im verlorenen Tal aus. Auch solche Stämme, die gar keine Berührung mit den Fayu hatten und nichts über sie oder die Kirikiri wussten, wurden davon erfasst. Sie legten ihre Waffen nieder und eine Zeit des Friedens begann. Es waren nicht der »weiße Mann von außen«, nicht Militär, Gesetze oder gar Bildung, sondern die unbändige Kraft der Vergebung, die diesem isolierten Teil der Welt den Frieden brachte. Sie wuchs in einem kleinen Stamm, deren Mitglieder über kein Bildungssystem verfügten und bei unserer Ankunft als Jäger und Sammler lebten. Doch in ihren Herzen fanden die Menschen die unglaubliche Kraft, einander zu vergeben.
Für mich gehört es zu den großartigsten Dingen meines Lebens, Zeuge des Wiederaufbaus einer Kultur und eines Stammes gewesen zu sein, der kurz vor dem Aussterben war. Die erstaunlichen Auswirkungen auf eine Gesellschaft zu sehen, die nicht mehr in ständiger Angst, mit Hass und im Krieg lebt. Obwohl ich das alles als Heranwachsende beobachtet habe, wurde mir erst viel später klar, was für eine unglaubliche Leistung die Fayu tatsächlich vollbracht haben. Ich stelle mir vor, wie es ist, jemandem gegenüberzusitzen, der vor meinen Augen mein Kind zerstückelt, meinen Mann getötet, meine schwangere Schwester, meinen Bruder, Vater, Mutter oder Freund abgeschlachtet hat. So viele waren zu Tätern und gleichzeitig zu Opfern geworden. Hass hatte ihre Herzen erfüllt und niemanden verschont.
Was für eine enorme Kraft brachten die Fayu auf, als sie einander vergaben und ihre Söhne und Töchter in Familien einheirateten, die noch kurz zuvor die schlimmsten Feinde gewesen waren. Der Weg dahin war weit für die Fayu. Denn sie waren im Vergleich zu den umliegenden Stämmen ein kleiner Stamm, galten aber als der brutalste unter ihnen und waren am meisten gefürchtet. So sehr, dass die Stämme der Dou und der Kirikiri, obwohl sie mit der Außenwelt in Kontakt standen, nie über die Existenz der Fayu sprachen. Sie glaubten, dass ihre bloße Erwähnung Zerstörung und Angst über sie selbst bringen würde.
Von den Fayu habe ich gelernt, dass echter und dauerhafter Frieden nicht erzwungen werden kann, sondern dass er durch Vergebung und den Willen zur Veränderung erreicht werden muss. Denn so sehr Hass ihr Leben, ihre Kultur und ihre Sprache verzehrte und beinahe zerstörte, so mächtig war die Vergebung, die nicht nur die Menschen um sie herum beeinflussen konnte, sondern auch eine Welle auslöste, die wuchs und Veränderungen für kommende Generationen mit sich gebracht hat. Die Fayu hatten sich nach Frieden gesehnt, er brauchte nur eine Chance, und als sie sie bekamen, ergriffen sie diese. Ihr Wunsch nach Versöhnung war stärker als ihr Verlangen nach Rache. Auch wenn der Weg zum Frieden nicht einfach war und sie oft vor Herausforderungen standen, gaben sie nie auf.
Es gibt Menschen, die meinen Eltern vorwerfen, in das Leben dieses unbekannten Stammes eingedrungen zu sein und ihn von außen beeinflusst zu haben. Ich denke dann daran, dass die Fayu uns immer wieder gesagt haben, dass sie nicht mehr existieren würden, wenn wir damals nicht gerade noch rechtzeitig zu ihnen gekommen wären. Meine Eltern liebten die Fayu wirklich und allein ihre Anwesenheit gab ihnen die Chance, sich grundlegend zu ändern. Die Fayu hatten uns akzeptiert, diese seltsame, farblose Familie aus einer unbekannten Welt. Sie beschützten uns, teilten ihre Nahrung mit uns und ließen uns an ihrer Welt und Kultur teilhaben.
Heute sind die Fayu ein blühender Stamm, und ihre Zahl steigt stetig an. An ihrer Spitze steht nun eine neue Fayu-Generation und die Geschichte, wie sie als Stamm zum Frieden fanden, ist Teil ihrer neuen Geschichte geworden. Sie wird von den Eltern an ihre Kinder weitergegeben, die in eine Welt hineingeboren werden, in der unzählige Möglichkeiten auf sie warten. Wie sie diese Chancen nutzen, bleibt ihnen überlassen. Aber ich hoffe, dass sie das, wofür ihre Eltern und Großeltern so hart gekämpft haben, weiterführen werden. Die ältere Generation hat diese Welt verlassen, aber sie hat das schönste und mächtigste Geschenk hinterlassen, das sie ihren Kindern und Enkelkindern machen konnte: Frieden und Vergebung.
Ich erinnere mich an viele Begebenheiten, die einerseits zeigen, wie unwissend meine Familie anfangs in der Welt der Fayu war, aber andererseits auch, wie unterschiedlich unsere Kulturen funktionieren und welche Missverständnisse das auslöst. Ein Beispiel dafür ist ein Ausflug, den wir damals unternommen hatten. Es war früh am Nachmittag. Die Sonnenstrahlen schienen unbarmherzig auf mich herab, während ich auf einem kleinen Brett saß, das als Sitz in unserem langen Holzkanu diente. An diesem Tag war es besonders heiß, die Fahrt entsprechend beschwerlich. Die Luft war schwer und klebrig. Die Hitze umhüllte mich wie ein Kokon, jede Bewegung kostete Kraft. Selbst der leichte Fahrtwind brachte keine Erleichterung.
Meine Kleidung war nassgeschwitzt und das Geräusch des Außenbordmotors machte mich schläfrig. Ich beobachtete den dichten, unberührten Dschungel, der an mir vorbeizog, während wir den Klihi-Fluss hinunterfuhren. Wir lebten nun schon seit einiger Zeit beim Stamm der Fayu, ich war ungefähr neun Jahre alt. Wie immer am Sonntag machten wir einen Ausflug, um andere Fayu-Clans zu besuchen. Wir, das waren mein Vater, meine Mutter, mein Bruder, meine Schwester und ich. Begleitet wurden wir von mehreren Fayu-Männern. An diesem Sonntag hatten wir beschlossen, die Sefoidi zu besuchen, einen der vier Fayu-Clans, der mehrere Stunden flussaufwärts lebte. Ich liebte diese Ausflüge, denn sie bedeuteten, unbekannte Gebiete in diesem riesigen Tal voller dunkler Sümpfe, grüner Dschungel und blauer, sich verschlingender Flüsse erkunden zu dürfen.
Wir waren schon auf dem Rückweg. Ich streckte meine Hand hinunter und bespritzte Gesicht und Nacken mit Wasser, um mich ein wenig abzukühlen. Plötzlich lenkte mein Vater das Kanu in eine andere Richtung. Er hatte einen kleinen Fluss entdeckt, der in den dichten Dschungel abzweigte, und steuerte das Kanu in diesen geheimnisvollen Fluss hinein. Er war uns zuvor nie aufgefallen, da der Eingang kaum sichtbar war. Er war nicht breit, die Äste der Bäume hingen weit über die Ufer und schlossen den Fluss noch mehr ein. Uns begrüßte eine wunderschöne Landschaft, als wir uns behutsam den bezaubernden Wasserweg hinaufbewegten. Vögel gab es hier in Hülle und Fülle, sie flogen in den Ästen, rote Orchideen schmückten die grünen Bäume und Lianen hingen tief ins Wasser, das im Vergleich zum Klihi-Fluss viel langsamer floss. Als der Fluss noch schmaler wurde, sah ich die umgefallenen Baumstämme, die im Wasser stecken geblieben waren und verwobene Flöße bildeten.
Meine Aufregung wuchs, denn ich wusste, dass wir jetzt bald die lang ersehnte Erleichterung von der Hitze bekommen würden. Mein Vater hielt auf dem Rückweg von unseren Ausflügen stets eine Zeitlang an, damit wir schwimmen gehen konnten. Ich hatte also schon sehr viele solcher Orte gesehen, aber keiner der Flüsse war so schön wie der, in dem wir uns gerade befanden. Die Luft hier war angenehm, und das Wasser lud dazu ein, mich an seiner Kühle teilhaben zu lassen, die von der Quelle irgendwo in den fernen Bergen ausging. Bald war der Fluss so schmal und die Flöße so groß, dass wir mit dem Kanu nicht weiterfahren konnten.
Was für eine große Freude, als ich ins Wasser sprang. Ich spürte die lindernde Frische, als ich mich tief ins Wasser sinken ließ, sie beruhigte meine brennende Haut. Wie sehr ich es liebte zu schwimmen, in die sanfte Strömung einzutauchen und zu spüren, wie die Energie in meinen Körper zurückkehrte. Bald war auch der Rest meiner Familie ins Wasser gesprungen und genoss die reizvolle Szenerie, die uns umgab. Ich hörte die Vögel und Insekten, roch den exotischen Duft des Dschungels und wandte mein Gesicht, um in den klaren blauen Himmel zu schauen. Wie anders er von hier schien. Eben noch strahlte er wie ein heißer, glühender Ofen, jetzt lag er kühl und sanft da oben. Wir waren schon eine Weile im Wasser, als uns auffiel, dass die Fayu allesamt noch immer im Boot saßen und uns mit großen Augen beobachteten.
Ich wunderte mich, denn normalerweise waren sie die Ersten, die ins Wasser sprangen. Mein Vater schwamm zum Boot und fragte Nakire, »Nakire, was macht ihr da? Warum seid ihr noch im Kanu? Kommt ins Wasser, es ist so schön kalt!« Aber sie schüttelten den Kopf, als Nakire mit einem ernsten Gesichtsausdruck antwortete: »Klausu, wir schwimmen nicht in diesem Fluss.« Mein Vater fragte mit einem besorgten Gesichtsausdruck: »Warum nicht? Ist das ein heiliger Fluss für die Fayu?« »Nein«, antwortete Nakire mit ruhiger Stimme, »das ist der Fluss, in dem wir die Krokodile jagen, die wir euch bringen.«
In Nullkommanichts haben wir uns aus dem Wasser gerettet. Wir saßen schockiert da, als mein Vater sich an die Fayu wandte und fassungslos fragte: »Warum habt ihr uns nicht gesagt, dass dies der Krokodilfluss ist?« »Aber Klausu«, antwortete Nakire ganz sachlich, »jeder weiß, dass dies der Krokodilfluss ist.«