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»Ich möchte von diesem traurigen Jahr erzählen, als wäre es die schönste Zeit meines Lebens gewesen.« Nach seinem gefeierten Debüt »Aus dem Dachsbau«, das mit dem Literaturpreis der Landeshauptstadt Wiesbaden ausgezeichnet wurde, erzählt TOCOTRONIC-Sänger Dirk von Lowtzow von einem Jahr des äußeren Stillstands und des inneren Aufruhrs. Musiker*innen treten nicht mehr auf, Alben werden verschoben, Galerien, Kinos und Museen geschlossen, die Menschen sind auf die eigenen vier Wände und sich selbst zurückgeworfen. Dirk von Lowtzow inspiziert die Kunst- und Kulturszene im Stillstand, ein Leben ohne Publikum. Er flüchtet sich aufs Land, streunt über Wiesen, folgt dem Zufall und findet Wahrhaftiges. Er kartiert Wünsche, kämpft gegen Dämonen und sucht Trost in Kunst, Literatur, Filmen. Während die Außenwelt auf wenige Orte reduziert wird, spielen sich zwischen den Fugen und Ritzen der von Lowtzow'schen Wohnung wahre Phantasmagorien ab. Was den Anschein eines Tagebuches hat, verwandelt sich in so heitere wie melancholische, in so präzise wie poetische Literatur. Dirk von Lowtzow nimmt uns mit in eine Welt, die auch die unsrige ist – und doch eine andere.
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Seitenzahl: 175
Dirk von Lowtzow
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Dirk von Lowtzow, geboren 1971 in Offenburg/Baden, gründete 1993 in Hamburg die Rockband Tocotronic gemeinsam mit Arne Zank und Jan Müller. Seit 1995 erschienen 12 Tocotronic-Alben, zuletzt 2018 das autobiografische Konzeptalbum »Die Unendlichkeit«. Von 1999 bis 2014 zudem fünf Alben mit dem experimentellen Duo Phantom Ghost, gemeinsam mit Thies Mynther. Seit 1999 ist Dirk von Lowtzow auch als Kunstkritiker tätig. Zahlreiche Katalogbeiträge und Kritiken, vornehmlich in der Zeitschrift Texte zur Kunst. 2015 brachte er zusammen mit dem Dramatiker und Regisseur René Pollesch die Oper »Von einem der auszog, weil er sich die Miete nicht mehr leisten konnte« an der Berliner Volksbühne heraus. Er komponiert Theater- und Filmmusiken, zuletzt für den international erfolgreichen Film »Styx« von Wolfgang Fischer und wirkt bei Hörspiel- und Hörbuchproduktionen mit (u.a. »Tryptichon« von Christian Kracht).
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»Ich möchte von diesem traurigen Jahr erzählen, als wäre es die schönste Zeit meines Lebens gewesen.«
Nach seinem gefeierten Debüt »Aus dem Dachsbau«, das mit dem Literaturpreis der Landeshauptstadt Wiesbaden ausgezeichnet wurde, erzählt TOCOTRONIC-Sänger Dirk von Lowtzow von einem Jahr des äußeren Stillstands und des inneren Aufruhrs.
Musiker*innen treten nicht mehr auf, Alben werden verschoben, Galerien, Kinos und Museen geschlossen, die Menschen sind auf die eigenen vier Wände und sich selbst zurückgeworfen. Dirk von Lowtzow inspiziert die Kunst- und Kulturszene im Stillstand, ein Leben ohne Publikum. Er flüchtet sich aufs Land, streunt über Wiesen, folgt dem Zufall und findet Wahrhaftiges. Er kartiert Wünsche, kämpft gegen Dämonen und sucht Trost in Kunst, Literatur, Filmen.
Während die Außenwelt auf wenige Orte reduziert wird, spielen sich zwischen den Fugen und Ritzen der von Lowtzow’schen Wohnung wahre Phantasmagorien ab. Was den Anschein eines Tagebuches hat, verwandelt sich in so heitere wie melancholische, in so präzise wie poetische Literatur. Dirk von Lowtzow nimmt uns mit in eine Welt, die auch die unsrige ist – und doch eine andere.
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Deutschland liegt im Koma.
Die Tage sind ruhig und gedämpft und das Leben spielt sich unter einer Glocke ab. Heute ist mein Geburtstag.
Wie ein Kind, das es vor Aufregung im Bett nicht mehr aushalten kann, weil es den Gabentisch schon im Traum vor sich gesehen hat, wache ich um Viertel nach sechs auf.
Vorsichtig schlage ich die Decke zurück, um J. und das Bärchen nicht zu wecken, sorgsam ziehe ich meine Socken an und wanke in den Flur.
Ein Hubschrauber fliegt über das Haus hinweg. Das Geräusch der Rotorblätter klingt in der Stille nach. Alles ist zuletzt ein bisschen unheimlich geworden. Es wundert mich, wie hell es um diese Jahreszeit bereits ist.
Der Baum vor dem Fenster ist nicht mehr da. Gestern kamen zwei Männer vom Grünflächenamt. In der Parklücke, die durch das temporäre Halteverbot vor dem Haus entstanden war, packten sie ihre Motorsägen aus und schnitten dann beidseitig in den dunklen Stamm hinein. Nach und nach sank der Baum einfach in sich zusammen. J. war untröstlich. Sie hatte den Baum vom Schreibtisch aus jeden Tag im Blick gehabt.
Im Park versuche ich, entgegenkommenden Spaziergängern weiträumig auszuweichen, und komme mir dabei vor wie eine Figur in einem Videospiel.
Vor zwei Tagen hatte ich noch überlegt, mir eine Konsole zuzulegen, die Idee aber wieder verworfen, weil ich mich daran erinnerte, dass ich vor zwanzig Jahren bereits einen Nintendo 64 besaß und mich meine Misserfolge im Spielverlauf regelmäßig um den Verstand brachten.
Ich habe mich immer für einen friedfertigen Menschen gehalten, doch offensichtlich habe ich ein großes Aggressionspotenzial in mir, das ich im Alltag weitgehend unterdrücke.
Die cholerischen Anfälle waren es auch, die mich schließlich dazu zwangen, den Nintendo 64 in die Abstellkammer zu verbannen, denn wenn mich ein Dämon bei einer Partie Doom zerfetzt hatte, war ich durchaus imstande, das blöde Ding aus dem Fenster zu werfen, wie ein Rockstar den Fernseher aus dem Hotelzimmer.
Ich erinnere mich, dass wir mit Tocotronic einmal in einem Künstlerhotel in Düsseldorf übernachteten und dort auf die Idee kamen, eine derartige Szene nachzuspielen. Aus Rücksicht auf die schlafenden Gäste schmissen wir jedoch nicht den Fernsehapparat, sondern Sofakissen aus dem ersten Stock in den Hof. Die zwei Wochen später eintreffende Reinigungsrechnung zahlte ich widerspruchslos.
Der Himmel ist strahlend blau. In den letzten Jahren habe ich schleichend, aber merklich eine kleine Sommerdepression entwickelt. Ich reagiere zunehmend gereizt auf den endlosen Sonnenschein und die ungnädigen Konturen, die er hervorbringt.
Auch die Hitze macht mir zu schaffen, besonders in den letzten Tagen des August, den Tagen des Sirius, des Hundsterns, über den W.G. Sebald zu Beginn der Ringe des Saturn schreibt. In Anbetracht der in dieser Jahreszeit häufig auftretenden Traurigkeit scheint es dem Schriftsteller, »als ob der alte Aberglaube, daß sich bestimmte Krankheiten des Gemüts und des Körpers unter dem Zeichen des Hundssterns in uns festsetzen, möglicherweise seine Berechtigung hat«. Im August des Jahres 2019 komponierte ich im Schatten eines Baumes an einem Brandenburger See, dessen Liegewiese von mit Runen tätowierten Badegästen in Beschlag genommen war, in Gedanken das Lied Sirius.
SIRIUS
Die letzten Tage
Im August
Steh ich unter dem
Sirius
Lebe wieder
Unterm Hundsstern
Und habe nichts
Dazugelernt
Lebe weiter
Ein Beschluss
Unter deinem
Einfluss
Schreibe weiter
Eine Flucht?
Gewohnheit oder
Geltungssucht?
Ich weiß, du bist
SIRIUS
Du vergisst mich nicht
SIRIUS
Im August
SIRIUS
Meine Finger
Sind schon blau
Auf dem Papier
Mehltau
Ich verlier
Den Überblick
Vielleicht werde
Ich verrückt
Ich weiß, du bist
SIRIUS
Du vergisst mich nicht
SIRIUS
Im August
SIRIUS
Auf halber Strecke
Kehr ich um
Mutlos und im
Delirium
Ein Zustand, den man
Sich nicht verzeiht
In der schönsten
Jahreszeit
Ich weiß, du bist
SIRIUS
Du vergisst mich nicht
SIRIUS
Im August
SIRIUS
In der Zeitung hat ein italienischer Philosoph einen Aufsatz über den »Ausnahmezustand« publiziert. Eine Meditation über die Begriffe des NS-Juristen Carl Schmitt, dem er, wie andere vermeintlich linke Denker und Denkerinnen, in Faszination verfallen ist. Derartig steile Theorien sind mir in letzter Zeit zunehmend fremd geworden und meine frühere Begeisterung für philosophische Provokationen ist fast in Abscheu umgeschlagen. In dem Zustand, in dem ich mich augenblicklich befinde, kann ich allerdings nicht mit Gewissheit sagen, ob es die Welt ist, die sich verändert hat, oder ob ich es bin, der einer Wandlung unterworfen ist. In der plötzlichen Ablehnung geliebter Lektüren oder Musikstücke steckt immer auch ein befremdlicher Hass auf die Person, die man selbst noch vor ein paar Jahren war. Als ob man einem Spiegelbild mit Fratze gegenüberstünde, das völlig unverfroren Stuss zum Besten gibt. Oder sind im Zuge der Pandemie auch die Theorien schriller und unbarmherziger geworden?
Jahrelang habe ich mir kommende, möglicherweise existenzbedrohende Ereignisse lebhaft ausgemalt. Seitdem der Ernstfall eingetreten ist, bin ich jedoch überraschend gelassen. Wie schnell sich der Selbstoptimierungswahn unserer Zeit während der Coronakrise mit modischen Erzählungen über Achtsamkeit, Empathie und Entschleunigung verbunden hat, ist mir unheimlich, aber die Selbstbeschau macht offensichtlich auch vor mir nicht halt. Empathie ist ein scheinheiliger Begriff. Diese Gesellschaft ist genauso gnadenlos, ungerecht und kriegerisch – wenn nicht gnadenloser, ungerechter und kriegerischer – wie alle anderen vor ihr. Achtsamkeit zielt nur auf sich; eine pervertierte Form der Solidarität. Und wenn man in Entschleunigung verharrte, bis man bedrohten Menschen endlich Hilfe leisten würde, wäre es vermutlich längst zu spät.
Für die Geflüchteten in Moria aber drängt die Zeit. Maximale Beschleunigung in der Rettung wäre das Gebot der Stunde.
Trotz Virus macht – frei nach Rolf Dieter Brinkmann – alles weiter:
Der Krieg macht weiter
Die Flucht macht weiter
Die Hölle macht weiter
Europa macht weiter – dicht
Ich wache um 6:05 Uhr auf – man kann das nur als senile Bettflucht bezeichnen. Seit dem Lockdown bin ich aktiver denn je, nutze jede Gelegenheit, außer Haus zu gehen, und mache diszipliniert schon morgens meine Rückenübungen. Dann kaufe ich ein, putze die Wohnung und koche.
Manchmal kommen mir dabei die Dämonen in die Quere, lassen Gegenstände fallen und schlüpfen aus den Vorratsschränken. Vorboten dunkler Zeiten? Oder nur ein letztes Aufbäumen der Mächte, die uns beständig das Leben versauen, aber eigentlich im Verschwinden begriffen sind? Oft rauche ich dann zwei Zigaretten hintereinander und werde davon so müde, dass ich mich entschließe, wieder ins Bett zu gehen, nur um gleich wieder aufzustehen und alle Gegenstände in der Wohnung erneut von A nach B zu räumen.
Ein zweites Mal an diesem Tag spaziere ich im Park umher. Auf dem Rückweg kaufe ich Lebensmittel ein, die ich am Morgen vergessen habe. Bald wird es Zeit für das Abendessen. Eigentlich sind meine Tagebucheinträge, die ich morgens halb benommen tippe, die einzigen ruhigen Stunden des Tages.
Ich habe neun Stunden geschlafen und fühle mich völlig versteift. Ich lege mich noch vor dem ersten Kaffee auf meine Physio-Rolle, dabei höre ich Musik. Eine Klarinette und eine Posaune liefern sich ein Wettrennen. Das Stück klingt, als hätte man ein Mikrophon am Nürburgring aufgestellt. Ich schließe die Augen, rutsche auf dem Hartschaum hin und her und stelle mir vor, wie ich auf dieser Rolle aus dem Fenster fliege und auf den Berliner Ring zusteuere, der wie in Jean-Luc Godards Film Weekend mit Familienkutschen verstopft ist.
Entlang der Straße türmen sich schon Autowracks und Leichen, wie ich von meinem Platz in den Wolken mit Erschrecken feststelle, obwohl doch zunächst alles so klamaukig wirkte. Ein Hupkonzert beendet meinen Tagtraum.
Später fahre ich mit dem Fahrrad ins Studio nach Kreuzberg. In den Baumwipfeln über dem verlassenen Spielplatz an der Palisadenstraße singen Vögel. Rentner mit Mundschutz kommen mit schweren Einkaufstüten aus dem Edeka. Ich biege links in Richtung Berghain ab. Eine verwaiste Festung, die in der Mittagssonne glänzt. Vereinzelt sitzen Punker auf den Bänken und im Gestrüpp am S-Bahndamm, sonnen sich und trinken Bier. Verirrte Gestalten in langen Ledermänteln trotten mit hängenden Schultern, wie geschlagene Landsknechte auf dem Rückzug nach dem Dreißigjährigen Krieg, in Richtung der neu errichteten East Side Mall.
J. und ich machen eine Expedition ins Marschland. Wir parken neben einem kleinen Imbiss, wie immer, wenn wir diese seltsame Landschaft aufsuchen, die dort beginnt, wo Berlin aufhört. Jenseits der elektrischen Zäune steht eine Gruppe von Eseln. Die Tiere blicken verschämt zu uns herüber, als hätten sie vor Kurzem etwas ausgefressen. Die Sonne steht tief und schimmert auf dem Wasser des schmutzigen Bächleins, das zwischen Rosenbüschen und abgestorbenen Bäumen versickert. Schilf, Gras, Weidenbäume. An den Rändern der großen Reinigungsbecken der ehemaligen Rieselfelder sammeln sich Enten im sumpfigen Grund. In der Ferne sehen wir einen Regionalzug vorbeihuschen. Der Tag liegt noch immer unter einem seltsamen Dämmer verborgen, als J. und ich uns an den Händen halten und zurück zum Auto laufen. Wir haben eine verbotene Zone aufgesucht, in deren Zentrum wir alles über unser Schicksal erfahren konnten. In der Zukunft werden die Menschen sich Märchen über dieses geheimnisvolle Gelände erzählen.
Gedicht für die Beschleunigung
Wann wird das zu Ende gehen?
Könnt man die Zeit doch schneller drehen
Walk in the Park – am Vormittag
Höllenfahrt am Nachmittag
Mach es wie die Sonnenuhr
Zähl die dunklen Stunden nur
Tankstelle, Zeitung (F.A.Zett)
Und ins Bett
Auf der Höhe des Krankenhauses Friedrichshain kommt mir ein junger Mann mit Kinderwagen in Begleitung einer älteren Frau entgegen und ruft mehrmals laut und eindringlich: »Dörk! Dörk! Dörk!«
Offenbar hat er mich, trotz Mütze und Halstuch, erkannt. Er kommt auf mich zugestürmt und streckt mir seine Hand zum Gruß hin. Ich weiche instinktiv zurück. Die Frau schreit verzweifelt:
»Nein! Nicht die Hand geben!«
Ich winke verlegen, senke den Kopf und laufe hastig weiter, während mir der Mann noch »Alles Gute!« hinterherruft. Das klingt unheilvoll.
M. kommt vorbei, exakt eine Stunde zu früh. Er hat wohl die Zeitumstellung verpasst. Wir gehen gemeinsam spazieren. Wie immer wirkt er niedergeschlagen, aber die Unterhaltung mit ihm ist anregend. Seine schönen dunklen Augen lugen unter der Mütze hervor, die er tief in die Stirn gezogen hat. Er hat neuerdings einen leicht hinkenden Gang angenommen. Einerseits vermisse er seine monatlichen Reisen nach England, andererseits sei er, ohnehin kontemplativ veranlagt, die Stubenhockerei gewohnt, sie mache ihm nichts aus, erzählt er mit sanfter Stimme.
Die Osterglocken blühen auf einer abschüssigen, dem Platz der Vereinten Nationen zugewandten Grünfläche, die von einem Sonnenfleck erhellt wird. Unsere Bewegungen passen sich unseren Gedanken an. Im Gleichschritt erreichen wir die breiten Stufen des Denkmals für die polnischen Soldaten und deutschen Antifaschisten. Ein einsamer Skaterboy dreht seine Pirouetten und rattert auf den Betonplatten an uns vorbei. Linker Hand, als Relief an einem Mauerstück, ein massiver Schriftzug:
Für eure und unsere Freiheit
Schon morgens um acht Uhr beginnen die durch die Halteverbotsschilder angekündigten Baumarbeiten in der Straße. Ich stehe mit meinem Kaffee am Fenster und sehe einer Mannschaft von »Treeworkern« zu, wie auf ihren Arbeitswesten zu lesen ist. Sie wuchten Kettensägen, Handsägen und Zangen aus dem Fahrzeug. Wenige Minuten später setzen nervenzerfetzende Geräusche ein; die Arbeiter beschneiden die graubraunen Äste, Ruten und Zweige, an denen zuletzt der Frühling sichtbar wurde. Lieder von besseren Zeiten klingen meistens schön in unseren Ohren. Der Rest ist Krach.
Punkt sechs Uhr fahre ich schweißnass aus dem Schlaf hoch. Ich habe geträumt, ich wäre ein Schriftsteller und hätte mir unter der Dusche im Badezimmer meines Elternhauses ein mehrbändiges verrätseltes Romanwerk ausgedacht und mir dieses auch gleich selbst erzählt. Nebenan am Waschbecken stand meine Mutter, lackierte sich die Nägel und kommentierte objektiv und sachkundig, aber durchaus kritisch.