Ikty - Kai Loewenhaupt - E-Book

Ikty E-Book

Kai Loewenhaupt

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Beschreibung

Von allen wird er nur Ikty genannt. Ikty hat es sehr mit seiner Würde, zumindest solange er nicht eine ganze Flasche Apfelkorn im Kopf hat. Er bewirbt sich bei der Firma, für die er in verschiedenen Aushilfspositionen schon seit 15 Jahren arbeitet, wenn auch halbherzig. Will er die Stelle überhaupt? Er hat keinen Bock auf seinen Job, aber sieht gleichzeitig die Festanstellung als seine letzte Chance. Ständig schlägt er sich mit den Widersprüchen des Lebens herum, nicht nur auf seinem beruflichen Weg.

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Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.

Ikty

Eins: Zur Bahn

Zwei: In der Bahn

Drei: Im Aufzug

Vier: Das Gespräch Teil 1

Fünf: Die Toilette

Sechs: Das Gespräch Teil 2

Sieben: Der Gallenstein

Acht: Mittagessen

Neun: Alte Post

Zehn: Heimweg

Elf: Guten Morgen

Zwölf: Damals

Dreizehn: Im Büro

Vierzehn: Hochzeit

Fünfzehn: Abends

Sechzehn: Das Festival

Siebzehn: 30. Geburtstag

Achtzehn: Who wants to work forever

Eins

Zur Bahn

Mit einem gepflegten „Sooo, dann wolln wa ma“, setze ich mir die Flasche Appelkorn an den Hals.

Es ist Dienstag Morgen, kurz nach neun auf dem Parkplatz vom Discounter. Frühstück heute flüssig. So lässt sich der Tag ertragen. Ich habe mir sogar den Sack rasiert. Wie so jemand, der noch Hoffnung hat.

Glatte Eier strahlen Selbstvertrauen aus. Das muss ich heute ausstrahlen.

Ich habe ein Vorstellungsgespräch, glaube zwar nicht, dass es dort zu einer Sackkontrolle kommt, aber auf die Ausstrahlung, auf die kommt es an. Ich habe mich bei dem Unternehmen beworben, für das ich schon 15 Jahre lang arbeite. Auf den Job, den ich schon ein paar Jahre mache, in freier Mitarbeit, mit Aushilfsvertrag, als Schwangerschaftsvertretung, als Krankheitsvertretung oder als Jahresvertrag.

Mittlerweile habe ich mehr Know How bezüglich der Arbeitsabläufe als die meisten Festangestellten der Firma.

Wenn meinen Job jemand anderes machen sollte, müsste ich diese Person erstmal einarbeiten. Niemand anderes in der Firma ist so sehr im Thema drin wie ich.

Im Grunde ist die Firma vollkommen abhängig von mir.

Nur irgendwie sind die Machtverhältnisse in Wahrheit genau anders herum. Ich bin abhängig und ausgeliefert.

Jetzt also Bewerbungsgespräch. Ein Kennenlernen mit den Leuten und Vorgesetzten, die mich seit 15 Jahren kennen. Ich durfte mich auf meinen eigenen Job bewerben. Schlechtere Bezahlung, mehr Stunden, mehr Verantwortung. Aber hey, sie geben mir ne Chance. Sagen sie. Es gibt noch andere Bewerber.

Damit ich mich auch auf keinen Fall zu sicher fühle.

Druck erhöhen und so. Haben sie geschafft. Druck ist hoch, ich bin nervös. Hochunmotiviert zum Beschnuppern mit den Leuten, die ich schon lange nicht mehr riechen kann.

Noch ein Schluck und dann mache ich mich auf den Weg. Flasche wieder zuschrauben. Zurück in den Rucksack. Zu den Salamistangen, dem Mühlenkorn Brot, dem Instant Cappuccino und der Tüte Brezeln.

Wird 'n tolles Mittagessen.

Ich gehe zur Bahn, muss über die Straße, um zum Bahnsteig zu gelangen. Beschrankter Bahnübergang.

Schranke ist unten, die Bahn fährt vorbei, meine Bahn, Schranke geht hoch und alle fangen an zu rennen. Ich renne nicht. Zur Bahn zu rennen, um dann wütend auf die schon geschlossene Tür zu treffen, besser noch: die Tür geht exakt vor der eigenen Nase zu. Nee, nicht mit mir. Anschließend Richtung Fahrer empört winkend wieder Luft bekommen. Nope. Nur hinter einem Bus her rennen ist noch unwürdiger. Soll die Bahn doch fahren. Ich brauche sie nicht. Sie braucht mich doch als Kunden. Pah, ich renne nicht hinterher. Andere schon.

Die Sprinter, die eben noch mit mir an der Schranke warteten, erreichen knapp die Bahn. Weil jemand ihnen die Tür aufhält. Bein in die Lichtschranke gestellt.

Die Sprinter schnauben jetzt alle ganz unwürdig in der Bahn, kämpfen mit erhöhtem Herzschlag und beginnen zu schwitzen. Ich nicht. Die Bahn ist zwar für mich weg, meine Würde ist geblieben. Die nächste Bahn kommt bestimmt. Anzeigetafel zeigt ja auch schon den Countdown zur nächsten an. Neun Minuten.

Kopfhörer auf, Musik an, Welt aus.

Die Haltestelle füllt sich wieder mit neuen Menschen.

Bekannte, nicht fröhliche Gesichter, gezeichnet von der Eintönigkeit des Alltags. Ich sehe diese Menschen jeden Tag, ich grüße keinen, niemand grüßt mich.

Frisch geduscht, bei der einen Frau sind meistens die Haare noch nicht trocken. Eine Melange aus den verschiedenen Duschgels und Parfüms wabert über dem kleinen, wartenden Grüppchen.

Ein Kerl, groß, Vollbart, zu cool für diese Welt, zieht an seiner E- Zigarette und nebelt den halben Bahnsteig ein. Süßlicher Apfeltabak. Fehlen nur noch Strobolicht und wummernde Bässe. Eine Warnweste und ein Baustellenhelm. Technoparty könnte beginnen.

Die Anzeigetafel springt um. Bahn fällt leider aus.

Fuck. Einfach so. Ersatzlos gestrichen.

Ein Welle der schlechten Laune überspült die Wartenden. Wir ertragen es. Wie immer. An allen anderen Tagen bin ich Mitglied in der Gruppe der Gleichgültigkeit.

Heute habe ich aber Termindruck. Wäre ich doch eben einfach mal gerannt. Ich Idiot. Scheiß auf die Würde, ich bin auf dem Weg zu einem unwürdigen Betteln um meinen Job, für schlechtere Bezahlung, für mehr Stunden, aber auch für Sicherheit, festes Einkommen.

Adieu Freiheit. Und ich philosophiere über die Unwürdigkeit des U-Bahn-Hinterherlaufens.

Doppelfuck.

Jetzt also nochmal zehn Minuten bis zur nächsten Bahn warten. Wird dann etwas knapp mit der Pünktlichkeit.

Mein ganzer Puffer ist aufgebraucht, noch bevor ich eine Bahn betreten habe. Nicht mehr in Ruhe und überpünktlich zu der Bewerbungsfarce erscheinen.

Der Appelkorn zeigt erste Wirkungen. Ich könnte ja noch ’n Schluck. Ich werde noch ’n Schluck. Rucksack auf, Flasche auf, Schluck, Flasche zu, Rucksack zu. Hat niemand gesehen. Ich Profi, ich. Der Druck wird etwas milder.

Ich muss den Job bekommen. Ich habe doch nichts Anderes. Ich kann doch nichts Anderes. Ich weiß doch sonst nicht wohin. Ich weiß doch sonst nicht, wie es weiter geht. Okay, das wusste ich eigentlich noch nie.

Denn mein Traumjob ist das nicht. Ich bin da in etwas hineingeraten. Wurde am Anfang mit Geld gelockt. Als ich noch keins brauchte. Als ich noch das günstige Studentenleben lebte. Ein bis zwei Tage in der Woche arbeiten. Easy Money. Regelmäßiges Einkommen. Den Rest der Zeit einfach leben und studieren. Irgendwann dann nur noch leben ohne studieren. Ein Traum. Der Traum kippte irgendwann ganz still und heimlich. Ich wurde irgendwann von der Uni exmatrikuliert. Und musste erstmal feststellen, dass die Welt ja gar nicht auf mich gewartet hat. Keine Konfetti Parade mit Düsenjets, die in den Himmel schreiben: Herzlich willkommen in Ihrem Leben. Endlich sind Sie da. Wir haben Sie sehnsüchtigst herbeigewünscht. Wäre ’ne lange Wolke gewesen, zugegeben. Aber ein Spruchband hinter einem Propeller Flugzeug hätte es zur Not auch getan.

Stattdessen arbeitete ich erstmal in meinen Studentenjob weiter. War mir sicher, war mir bekannt, war bequem. Unbemerkt haben sich die Arbeitstage erhöht, ich habe andere Arbeiten erledigt, wurde in der Firma rumgereicht, habe mich bewährt, wurde auf Honorarbasis bezahlt und konnte mich aus dem Studentenstatus lösen. Aber ich wurde abhängig. Ein abhängig Beschäftigter freier Mitarbeiter.

Bahn kommt. Ich steige ein. Jetzt bitte nicht noch auf der Strecke Verzögerungen. Noch kann ich es schaffen pünktlich zu sein. Wird aber knapp.

Zwei

In der Bahn

Es ist warm heute. Sehr warm. Es soll einer der heißesten Tage des Jahres werden, des Jahrzehnts, des Jahrhunderts. Diese Superlative gibt es in letzter Zeit regelmäßig. Man sollte vielleicht immer hinzufügen: bis heute.

Wenn eine Bahn ausfällt, ist die nächste immer überfüllt. Sitzplätze alle weg. Ich stehe, versuche die Balance zu halten, ohne mich an einer dieser Schlaufen festhalten zu müssen. Ich stelle meine Füße in T-Form auf. Also im 90 Grad Winkel, so dass ich in jede Richtung einen sicheren Stand habe und ein Fallen verhindern kann. Ein bisschen so wie ein Surfer auf dem Surfbrett. Nur meine Welle ist die Bahn. Mit meinem patentierten Bahnsurfstand kann ich mich in jede Richtung abfangen. Surfen in der U-Bahn.

Hauptsache nichts anfassen. Eine Doku über Viren und Bakterien in öffentlichen Verkehrsmitteln hat es mir verdorben. Ich will nichts mehr anfassen. Mit jeder Station wird es voller. Überall steigt die doppelte Menge dazu wegen des Ausfalls der vorherigen Bahn.

Menschen rücken nicht durch, weil sie Angst haben in dieser Bahn bis zur Endhaltestelle gefangen zu sein.

Weil sie Angst haben, nie mehr die Ausgangstür erreichen zu können.

Männer, die ihre Arme an warmen Tagen nicht heben sollten, klammern sich mit beiden Armen in den Halteschlaufen fest und schwingen leicht hin und her.

Es wird kritisch. Ein Ruck und ich lande in der Achselhöhle meines Stehnachbarn. Da hilft auch kein noch so fester T-Form-Stand.

Ich muss mich festhalten. Wegen der Würde und so.

Wie oft will ich sie heute noch für eine andere Demütigung verschonen? Festhalten, an der Stange, da wo alle angrapschen. Ist aber besser als mit dem Gesicht in einer Achselhöhle zu landen. An einem warmen Tag. An DEM warmen Tag. Sagt zumindest die Pushmeldung, die ich jetzt auch bekommen habe.

+++Eil+++Rekordwerte erwartet+++ Je wärmer es ist, umso unwürdiger kleiden sich die meisten. Hmm, heute bin ich mit einem besonderen Würde Fetisch ausgestattet. Kein Wunder. Ich bin ja auf dem Weg meine Würde für ein paar Euro bis zum Renteneintritt zu verkaufen. Vielleicht ist mein Brägen deswegen heute so mit Würde-Gedanken getränkt.

Noch fünf Stationen. Ich werde überleben. Denke ich.

Hoffe ich, bin mir aber nicht hundert Prozent sicher.

Dann steigt ein Mann ein. Weiße, lange Hose, weißer Longsleeve, Sonnenbrille, schwarzer Ledermantel, weiße Handschuhe, schwarze Mütze. Zu seinen Füßen eine Sporttasche. Er hat wohl die letzten Tage keine Wettervorhersage mitbekommen. 40 Grad sollen es heute werden. Niemand auf der Welt kleidet sich so bei solchen Temperaturen.

Es gibt nur eine logische Erklärung und mir ist sofort klar: so fängt jedes Massaker an. Es ist zu Ende. Das war’s. Ich habe es sofort erkannt. Wenn die Türen zu gehen sind wir alle tot. Das Gemetzel geht bald los.

Aus der Sporttasche holt der gleich seine Halbautomatik und ballert rum. Für das Attentat hat er extra seine weißen langen Klamotten angezogen, damit das Blut der Opfer später besser zur Geltung kommt.

Ich überlege noch, ob ich mich in die erste Reihe zu ihm vordrängen soll, damit es möglichst schnell mit mir vorbei ist oder ob ich mich taktisch hinter irgendeinem dicken Menschen positionieren soll. Mir fällt nicht ansatzweise ein anderer Grund ein, warum dieser Typ an so einem warmen Tag so angezogen mit einer prall gefüllten Sporttasche in eine Bahn einsteigen sollte.

Soll ich mein Handy einschalten? Soll ich das Massaker filmen? Augenzeugenbericht im Netz und Klick-Milliardär werden? Posthum berühmt werden?

Vielleicht sogar inklusive Blair-Witch-Style in die Kamera meine letzten Worte weinen. Ein Abschied auf der ganz großen Bühne. Wann geht es denn endlich los? Worauf wartet der Typ? Mehr Leute passen eh nicht hier rein. Das ist schon die maximal mögliche Ausbeute an Opfern in einer Bahn.

Es passiert: Nichts. Gar nichts. Der Typ kaut Kaugummi und schaut in der Gegend rum. Ich dachte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen. Aber der weiße Longsleeve-Ninja ist gar kein Attentäter, sondern nur ein ganz normaler Maximal-Bekloppter aus der Großstadt.

Ich steige aus, schaue noch der abfahrenden Bahn hinterher, bin froh, mit dem Leben davon gekommen zu sein und trauere schon ein bisschen um die Mitpendler, die jetzt bei dem anstehenden Terrorakt zu Opfern werden.

In garantiert stattfindenden Sondersendungen im TV bin ich auf jeden Fall bereit auszupacken. Eine Stimme des Volkes, Augenzeuge, hautnah dabei und so. Direkt nach dem Beileidsbekundungsbericht des Bundeskanzlers. Heute sind wir im Herzen alle Bahnpendler.

„Ich hab dem Typ schon beim Einsteigen angesehen, dass mit dem was nicht stimmt. Ich hatte da nen ganz mieses Gefühl. Einsperren sollte man die, alle einsperren. Und gegrüßt hat er auch nicht!“

Ich formuliere mir schon mal meinen Text. Ich überlege, das Ganze mit einem Akzent zu üben, einem lokalen plattdeutschen Akzent, um ein bisschen bürgerlicher und geerdeter rüberzukommen. Diesen Gedanken verwerfe ich aber erstmal. Bin froh, dass ich noch lebe.

Ob überhaupt jemand anderes bemerkt hat, in welch großer Gefahr wir alle waren? Wahrscheinlich nicht. In den folgenden Tagen werde ich besser noch nach Nachrichten Ausschau halten, die von einem Irren in weißen Klamotten mit Handschuh, Mütze und Ledermantel berichten. Ich stünde – wie gesagt – dann als Zeuge parat.

Fuck, ich muss mich beeilen. Keine Zeit meinen Beinah-Massaker-Tod zu betrauern. Ich muss jetzt einen Job erobern. Einen Job, den ich schon habe und den ich weiter haben möchte. Aber aus rein wirtschaftlichen Gründen. Der Druck steigt. Zum Glück habe ich ja noch die Flasche in meinem Rucksack.

Drei

Im Aufzug

Ich krame meinen Betriebsausweis aus meinem Portmonee. Auf dem Foto sehe ich aus wie ein Zombie. Gibt es Menschen, die auf ihrem Betriebsausweis gut aussehen? Wahrscheinlich nicht. Schlecht ausgeleuchtet, scheiß Frisur, gar keine Frisur, debiles Grinsen, Augen halb auf, halb zu, oder direkt mit totem Blick fotografiert. So ein kalter Blick wie Vladimir Putin auf seinem KGB Ausweis hat.

Betriebsausweis eben.

Es ist ein völlig unterschätztes Genre der zeitgenössisches Fotokunstszene. Das Betriebsausweisfoto. Auf zwei mal zwei Meter großgezogen, große alte Fabrikhalle als Ausstellungsraum. Die Eröffnungsrede, sorry, Vernissageansprache natürlich, wird von einer viereckigen Hornbrillen gehalten, männlich, weiblich oder divers, völlig egal, die Schuhe sind auch viereckig und klumpig. Es gibt Bier in Flaschen von der lokalen Underground Brauerei mit dem fancy Flaschendesign. Die ganze Halle ist sehr sauber, aber in einem künstlichen Schäbey-Schick gehalten, also ich meine natürlich shabby chic, aber man muss es affektiert aussprechen, sonst ist es nicht authentisch. Es soll ja möglichst authentisch sein. Das einzige authentische bei diesen Veranstaltungen sind aber doch eigentlich nur die Klos. Echter Dreck und authentischer Ekel. Nach fünf Special Edition Brew und einer gewissen Überhopfung ist das dann aber auch egal.

Ich nehme also meine elektronische Firmenkarte aus meiner Tasche. Im Gebäude gibt es keine Pförtner mehr, wegrationalisiert. Man muss sich jetzt selbst ins Haus reinbuzzern.

Schleuse eins, Ausweis an die Kontaktfläche halten, elektronisches ähhhht ertönt, Türe auf und rein in die erste Schleuse. Warten bis die Tür ins Schloss fällt, dann erst kann ich die zweite Tür freischalten.

Gleiche Prozedur nochmal. Ähhhht.

Hochsicherheitsgefängnis. Ach nee, nur meine Arbeitsstelle. Irgendwie fallen mir die Parallelen erst jetzt auf.

Ich freue mich über mein Selbstmitleid, über den gelungenen Vergleich, der mich erheitert, weil ich ihn ja so treffend finde und schaffe es dann nicht mehr weiter zu prokrastinieren.

Ich muss jetzt wohl zu diesem Gespräch. Drücke auf den Aufzugknopf und warte. Der Aufzug kommt, Türen gehen auf. Niemand drin. Perfekt. Türen gehen zu, ich drücke den 7. Stock, Chefetage. Schneller als die Reflexe eines Jediritters habe ich den Rucksackreißverschluss geöffnet. Deckel abgeschraubt, großer Schluck, ach komm, direkt noch einer, muss aufpassen, dass mir nichts aus der Nase rausläuft, Schluck ist drin, Speiseröhre runter, Schluckreflex hat gearbeitet, Ankunft Magen, ich spüre es. Flasche absetzen, Deckel drauf, zudrehen, Flasche gleitet zurück in den Rucksack. Vollprofi.

Jetzt noch schnell ne Salamistange durchbrechen und in beide Backentaschen stecken. Geruchsbekämpfung.

Salami-Atem schlägt Alkoholfahne. Aufstoßen immer mit einatmen kombinieren. Grundsätzlich mehr durch die Nase atmen, nicht in die Richtung des Gegenübers atmen. Eventuell teilweise ganz auf’s Atmen verzichten.

So einfach ist das.

Ich bin sehr schlau. Ich habe das voll unter Kontrolle.

Niemand bemerkt etwas. Sonst hätte doch schon längst jemand was gesagt. Ganz sicher.

Ein Dur Dreiklang im kratzigen 8-Bit Elektro-Sound kündigt mir an, dass ich in der 7. Etage angekommen bin. E-Moll einer verzerrten E-Gitarre wäre passender für dieses Trauerspiel. Ich steige aus, schaue vorsichtig links und rechts, gehe zum Sekretariat vom Chef. Dort stehen sie schon, meine Peiniger des Bewerbungsgesprächs. Manuela, Thomas und Andy.

Versammelt um den Kaffeevollidiotautomaten.

„Ich bin jetzt da“, spreche ich das Offensichtliche aus, denn ich stehe ja vor ihnen.

„Okay, wir kommen gleich, geh doch schon mal in den Besprechungsraum, wir sind auch gleich da. Willst du ’n Kaffee oder was anderes zu trinken?“

Wow. Wie lange bin ich hier schon im Laden? Mir hat noch nie einer einen Kaffee angeboten. Jetzt will ich auch nicht. Wegen Würde und so. Bilde ich mir ein.

Vielleicht möchte ich aber auch unterbewußt dem Gladiatorenkampf Kaffee vs. Appelkorn in meinem Magen während des Gesprächs aus dem Weg gehen.

Und die Salamistange residiert ja noch als Duftbaum in meinen Backentaschen. Die kann ich jetzt schlecht mit Kaffee umspülen.

Alles richtig gemacht, Junge, bestätige ich mir selber.

Ich gehe in den Besprechungsraum und setze mich an den großen Tisch. Prüfungssituation. Schul-Alpträume kommen mir in den Sinn. Ich habe da ein ganz mieses Gefühl, würde Obi-Wan jetzt sagen. Selbst nach der viertel Flasche Appelkorn will er mir nicht als Macht-Geist erscheinen, um mir mit einem geilen Kalenderspruch Mut zuzusprechen. Da muss ich wohl alleine durch.

Warum hat der Attentäter eben nicht zugeschlagen?

Ich könnte jetzt Interviews für Sondersendungen geben. Aber nein, ich muss ja hier ’ne bürgerliche Karriere hinlegen. Alter, was ist passiert?

Zeit die Salami zu zerkauen. Lasst die Bewerbungsgesprächspiele beginnen. Ich bin bereit.

Vier

Das Gespräch Teil 1

„Hallo, ich bin der Thomas, das ist die Manuela und das ist der Andreas, also Andy, wie wir ihn hier alle nennen.“

Wollt ihr mich verarschen? Was ist das denn für eine Einleitung? Wir kennen uns doch schon seit fucking 15 Jahren. Ich habe in den letzten Jahren mindestens einmal an jedem existierenden Feiertag gearbeitet, ihr habt mich drauf disponiert und ich habe immer Ja gesagt. Zu jeder existierenden Tageszeit war ich mal im Einsatz, ich habe für diesen Laden sogar an fucking Heilig Abend gearbeitet. Und ihr stellt euch jetzt erstmal mit Namen vor? Geiler Film.

„Ja, hallo, aber ich kenne euch doch“, sage ich mit einem köstlichen touch-of-Salami Aroma Atem.

"Jaja, ist schon richtig, aber das ist hier heute ein offizielles Bewerbungsgespräch. Wir müssen hier streng nach Protokoll vorgehen. Wir haben einen von der Firmenleitung ausgearbeiteten Fragenkatalog. Den gehen wir jetzt zusammen durch. Wir stellen die Fragen abwechselnd, so ganz zufällig.

Und wir alle schreiben deine Antworten mit und fassen das am Ende für die Personalabteilung alles als Protokoll zusammen.“

„Human Resources heißt es doch jetzt, oder?“, klugscheiße ich direkt zu Anfang des Gesprächs.

Verwaltung des Menschenmaterials könnte es auch heißen. Direkt mal klarmachen, wer hier den Laden besser kennt.

„Ja, prima, ich dachte wir machen ein freies Gespräch, aber Fragenkatalog ist gut. Die paar Fragen können wir schnell durch gehen.“

Damit habe ich nicht gerechnet. Unfassbar wie naiv ich doch bin. Auf meiner Stirn zeichnen sich die Worte ‚Fragenkatalog my ass‘ ab. Ich hoffe meine Gegenüber können das nicht lesen.

„Es wird ungefähr 90 Minuten dauern.“

Ich mache ein Gesicht wie das Erstaunt-Emoji. Große Augen, Backen rot, Mund zu einem O geformt. 90 Minuten? Hat er gerade 90 Minuten gesagt? Ich hab mich mental auf 20-30 Minuten maximal eingestellt. 90 Minuten, fuck, das ist schon direkt der erste Wirkungstreffer.

90 Minuten, das sind 180 Mark, etwa 3 Fußballfelder oder ein halbes Saarland. Ich muss aufs Klo. Der Appelkorn hat meine Blase erreicht und beginnt dort alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Die Salami Duft Erfindung wurde noch nicht über einen längeren Zeitraum als 30 Minuten getestet. Alle Vorbereitungen, die ich getroffen habe, um mich durch dieses Gespräch zu mogeln, werden bereits in der Aufwärmphase torpediert.

Ich begebe mich in unbekannte Gewässer. Ahhh, Wasser, ich muss noch mehr aufs Klo. Ich kann an nichts anderes mehr denken. Das Gespräch hat noch gar nicht angefangen. Wir klären hier immer noch die Formalien.

„Ja, klar 90 Minuten, geht denn überhaupt weniger?

Ich habe doch so viel zu sagen.“

Ich versuche zu witzeln. Mann, ey, kann ich nicht einfach lieber meine verdammte Fresse halten? Was sollte das denn jetzt? Ich habe überhaupt nichts zu sagen, außer dass ich ihr scheiß Unternehmen hasse und nur hier bin, weil ich wegen der Kohle gezwungen werde.

Kohle und Mutlosigkeit. Und Bequemlichkeit. Und Angst vor Neuem. Und weil ich gut darin bin, was ich mache. Und weil viele Kollegen und Kolleginnen auf mich zählen. Und weil ich, naja, was soll ich denn sonst machen. Ihr habt gewonnen.

Aber Material für 90 Minuten habe ich nicht. Zwei Antworten, alle Sprüche aufgebraucht. Und der zweite war schon improvisiert. Und er hat mir nicht gefallen.

„Wollen wir anfangen?“

„Ja, gerne.“

Ich will nach Hause. Ich will im Lotto gewinnen. Scheint mir ein solider Plan zu sein.

"Erste Frage: Warum haben Sie sich bei uns im Unternehmen beworben?“

Echt jetzt? Ernstgemeinte Frage? Mit ‚Sie‘ gestellt?

Nicht mal auf du umformuliert, im Kopf, mir zuliebe wenigstens.

Ich schmunzle souverän und sage: „Ha, lustig, Sie, hihi.“

Ja, Smalltalk kann ich. Meine Antwort wäre hier: Weil ich Kohle zum Leben brauche, weil Essen kostet Geld, Trinken kostet Geld, Wohnen kostet Geld, ja sogar Kacken kostet Geld (Klopapier, Klospülung, Handyabnutzung).

Ich will diesen Job nicht, ich brauche aber Kohle. Ich bin ein Geldjunkie. Am Anfang reichte mir wenig von dem Stoff. Aber jetzt bin ich voll drauf. Ich bin abhängig. Ich bin im Spinnennetz gefangen und jetzt komme ich hier nicht mehr weg. Wieso sitze ich hier eigentlich? Ich muss doch aufs Klo.

„Ich habe hier meinen Traumberuf gefunden, nette Kollegen und Kolleginnen, eine abwechslungsreiche Tätigkeit. Ich möchte meine Karriere mit einer Festanstellung hier weiter führen, möchte mich weiter im Unternehmen einbringen. Ich bin ja in die Firma reingewachsen. Sie ist einer der attraktivsten Arbeitgeber im ganzen Bundesland. Natürlich möchte ich gerne ein Teil dieser Familie sein.“ Familie. Das ist doch keine Familie hier. Das ist Geld-scheffeln-Incorporated und Co KG.

Boah, alles um mich herum versinkt im Schleim. Hab ich das gerade gesagt? Kam das aus meinem Mund oder habe ich eine Hinrichtungsszene aus Pulp Fiction zitiert und mein Gehirn denkt, ich habe diesen Schmalz erzählt. Ich werde es wohl nie erfahren. In den Gesichtern gegenüber lese ich, dass es wohl nicht Pulp Fiction war. Alle drei schreiben fleißig meine heuchlerischen Einlassungen auf. Glauben die mir etwa? Glauben die, dass ich das wirklich so meine?

„Vielen Dank für deine Antwort, magst du das noch etwas ausführen? Wie bist du auf das Unternehmen aufmerksam geworden, was hat dich zur Bewerbung bewogen?“

„Oh ha, jetzt sind wir also schon beim ‚Du‘ angekommen“, sage ich, setze mein breitestes Grinsen auf und zwinkere in die Runde. Alle lachen. Ich habe gerade Eis gebrochen, Packeis, einen ganzen Eisberg zum schmelzen gebracht. Andy stellt sein Lachen wieder aus und wendet sich an mich.

„Ja, das wird bestimmt noch öfter passieren, sieh es uns nach, für uns ist das auch verwirrend. Also zurück zur Frage. Magst du deine Beweggründe noch ein bisschen weiter ausführen?“

Nein, ich will hier gar nichts ausführen. Ich will mal meinen Jürgen würgen, aber ausführen möchte ich das nicht. Und überhaupt. Der größte Arbeitgeber der Stadt, im Land. Wie soll ich auf das Unternehmen aufmerksam geworden sein? Ich habe bei Wikipedia unter Arschloch nachgeschaut und dort habe ich euch gefunden. Was für eine dämliche Frage.

Die Sekunden ticken heute besonders langsam.