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Die SAGEN DES KLASSISCHEN ALTERTUMS von Gustav Schwab (1792-1850), deren Bestandteil die Ilias ist, waren über viele Jahrzehnte ein Klassiker. Auch heute noch begegnen uns im Theater und im Opernhaus, in Museen auf antiken Vasen und neuzeitlichen Gemälden, in Comics und im Film immer wieder Figuren und Motive der trojanischen Mythen. Deshalb lohnt es sich nach wie vor, den wichtigsten und wirkungsreichsten Sagenkreis der Antike, die Geschichten von und um Troja und ihre Helden, zu kennen. Diese Ausgabe ist im engen Anschluss an die Schwab'sche Vorlage entstanden, aber durch behutsame sprachliche Anpassungen von Dorothea von der Höh modernisiert und durch gelegentliche Erläuterungen bereichert worden.
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Seitenzahl: 507
GUSTAV SCHWAB
Aus den „Sagen des klassischen Altertums“
Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Hartwin Brandt
Bearbeitet von Dorothea von der Höh
Die „Sagen des klassischen Altertums“ von Gustav Schwab (1792 – 1850) waren über viele Jahrzehnte ein Klassiker, heute würde man sagen: ein Bestseller, ähnlich wie Grimms Märchen. Schwab, der als Pfarrer und Lehrer wirkte, wollte aber nicht in erster Linie Geld verdienen, sondern er wollte, wie er in seinen Vorbemerkungen zu den zwischen 1834 – 1840 erschienenen Bänden schreibt, die „innere Kraft der lebendigen Bilder“ der antiken „Natur- und Geisterwelt“ einem jugendlichen und älteren Lesepublikum nahebringen, als „Vorschule für die höhere Bildung“. Derartige didaktische Ziele sind heutzutage, da der gymnasiale Unterricht in den Fächern Latein und Griechisch längst nicht mehr selbstverständlich und für viele auch gar nicht mehr erstrebenswert ist, nicht mehr zeitgemäß – aber dennoch lohnt es sich, den wichtigsten und wirkungsreichsten Sagenkreis der Antike, die in den homerischen Epen „Ilias“ und „Odyssee“ dichterisch gestalteten Geschichten von und um Troja und ihre Helden, zu kennen. Denn im Theater und im Opernhaus, in Museen auf antiken Vasen und neuzeitlichen Gemälden, in Comics und im Film begegnen uns auch heute immer wieder Figuren und Motive der trojanischen Mythen, und ohne Kenntnis der von den antiken Dichtungen hergeleiteten Begebenheiten, Konflikte sowie Kriegs- und Liebesgeschichten lassen sich diese Produkte der künstlerischen Rezeption gar nicht recht verstehen. Doch der Zugang zu dieser fernen (Gedanken-)Welt ist schwierig, und daher bietet es sich auch heute noch an, auf die trojanischen Sagen von Schwab zurückzugreifen, der sich um Vollständigkeit seiner Nacherzählungen der Dichtungen Homers und Vergils sowie um leichte Verständlichkeit bemüht hat. Und zugleich soll die Lektüre Freude bereiten, die spannenden Geschichten sollen unterhalten und zum Weiterlesen anregen. Daher ist der vorliegende Text im engen Anschluss an die Schwab’sche Vorlage entstanden, aber durch behutsame sprachliche Anpassungen modernisiert und durch gelegentliche Erläuterungen (in eckigen Klammern) bereichert worden. Schwab wünschte sich, wie er im Vorwort schrieb, dem Altertum durch seine Nacherzählungen „zahlreiche Freunde bei den Jungen und manche auch bei den Alten [zu] erwerben“ – diesem Ziel möge auch diese Neuausgabe der von Schwab erstellten „Ilias“ dienen.
Prof. Dr. Hartwin Brandt
DER KRIEG UM TROJA
Wie es zum Krieg kam
Die Entstehung Trojas
Priamos, Hekabe und Paris
Der Raub der Helena
Die Griechen
Die Botschaft der Griechen an Priamos
Agamemnon und Iphigenia
Die Abfahrt der Griechen und die Aussetzung des Philoktetes
Die Griechen in Mysien und ihre Begegnung mit Telephos
Paris ist zurückgekehrt
Die Griechen vor Troja
Die ersten Schlachten
Der Ausbruch des Kampfes, der Tod des Protesilaos und Achilles’ Kampf mit Kyknos
Palamedes und sein Tod
Die Taten des Achilles und Ajax
Polydoros
Chryses, Apollon und der Zorn des Achilles
Die Versuchung des Volkes durch Agamemnon
Paris und Menelaos
Der Höhepunkt des Krieges
Pandaros
Diomedes, der Held der Schlacht
Glaukos und Diomedes
Hektor in Troja
Hektor und Ajax im Zweikampf
Waffenstillstand
Der Sieg der Trojaner
Die Botschaft der Griechen an Achilles
Dolon und Rhesos
Die zweite Niederlage der Griechen
Der Kampf um die Mauer
Der Kampf um die Schiffe
Poseidon stärkt die Griechen
Hektor wird von Apollon gestärkt
Der Tod des Patroklos
Achilles trauert
Achilles greift ein
Achilles wird neu bewaffnet
Achilles und Agamemnon versöhnen sich
Die Schlacht der Götter und Menschen
Achilles’ Kampf mit dem Stromgott Skamander
Die Schlacht der Götter
Achilles und Hektor vor den Toren
Hektors Tod
Patroklos’ Leichenfeier
Priamos bei Achilles
Hektors Leichnam in Troja
Penthesilea
Memnon
Achilles’ Tod
Leichenspiele für Achilles
Der Krieg geht zu Ende
Der Tod des großen Ajax
Machaon und Podaleirios
Neoptolemos
Philoktet auf Lemnos
Der Tod des Paris
Der Sturm auf Troja
Das hölzerne Pferd
Die Zerstörung Trojas
Menelaos und Helena – Polyxena
Die Abfahrt von Troja und Ajax, des Lokrers, Tod
In uralten Zeiten wohnten auf der Insel Samothrake im Ägäischen Meer zwei Brüder, Iasion und Dardanos, die Fürsten des Landes. Sie waren die Söhne des Zeus und einer Nymphe.
Als Göttersohn wagte es Iasion, sich in die Göttin Demeter zu verlieben, und wurde zur Strafe für diese Dreistigkeit von seinem eigenen Vater mit dem Blitz erschlagen.
Dardanos, der andere Sohn, verließ tief betrübt über den Tod seines Bruders sein Reich und seine Heimat und ging hinüber auf das asiatische Festland an die Küste Mysiens, dorthin, wo die Flüsse Simois und Skamander vereinigt in das Meer strömen und das hohe Idagebirge sich Richtung Meer in einer Ebene verliert. Hier herrschte König Teukros, der aus Kreta stammte, und nach ihm hieß auch das Hirtenvolk jener Gegenden Teukrer.
Dardanos wurde von König Teukros gastfreundlich aufgenommen, bekam einen Landstrich zum Eigentum und die Tochter des Königs zur Frau. Er gründete eine Ansiedlung und das Land wurde nach ihm Dardania benannt. Die Teukrer hießen von nun an Dardaner.
Dardanos hatte einen Sohn, Erichthonios. Er wurde der nächste Herrscher. Und auch er hatte wieder einen Sohn mit dem Namen Tros. Nach ihm wurde die Landschaft nun Troas genannt. Der Hauptort des Landes hieß nun Troja und die Teukrer oder Dardaner wurden jetzt auch Trojaner oder Troer genannt.
König Tros’ Nachfolger war sein ältester Sohn Ilos. Als dieser einmal das benachbarte Land der Phryger besuchte, wurde er vom König Phrygiens zu Kampfspielen eingeladen und gewann im Ringkampf. Als Preis erhielt er fünfzig junge Männer und genauso viele junge Frauen. Zusätzlich bekam er eine bunt gefleckte Kuh, die ihm der König mit der Anweisung eines alten Orakelspruchs übergab: Wo die Kuh sich hinlegen würde, da sollte er eine Burg bauen. [Ein Orakel war ein „Götterspruch“, eine Weissagung.] Ilos folgte also der Kuh, und da sie sich bei Troja hinlegte, dem Hauptort des Landes, wo er selbst wohnte, baute er hier auf einem Hügel die feste Burg Ilion oder Ilios, auch Pergamos genannt. Das ganze Gebiet wurde von nun an mal Troja, mal Ilion, mal Pergamos genannt.
Bevor Ilos jedoch die Burg baute, bat er den Göttervater Zeus um ein Zeichen, dass ihm die Gründung der Burg auch gefiel. Am nächsten Tag fand er das vom Himmel gefallene Bild der Göttin Athene, auch Palladion genannt, vor seinem Zelt liegen. Es war drei Ellen hoch [Das sind ungefähr 1,5 Meter.], hatte geschlossene Füße und hielt in der rechten Hand einen erhobenen Speer, in der anderen Hand Rocken und Spindel. [Das sind Teile eines Spinnrads, um damit Wolle zu spinnen.]
Mit diesem Bild hatte es Folgendes auf sich: Die Göttin Athene wurde nach der Sage von ihrer Geburt an bei einem Triton – einem Meeresgott – erzogen, der eine Tochter namens Pallas hatte. Die beiden Mädchen waren gleich alt und beste Freundinnen. Eines Tages, während ihrer Kampfübungen, traten sie zu einem scherzhaften Wettkampf gegeneinander an. Als dabei Pallas einen Angriff auf ihre Freundin übte, bekam Zeus Angst um seine Tochter Athene und hielt ihr den Schild aus Ziegenfell, die Ägis, vor. [Die Ägis ist ein Schild mit einem goldenen Ziegenfell, das Zeus und Athene und manchmal auch Apollon benutzten. Wenn das Fell geschüttelt wird, versendet es Blitz und Donner.] Dadurch erschreckt, blickte Pallas ängstlich auf und wurde in dem Augenblick von Athene tödlich verwundet. Darauf fiel Athene in tiefe Trauer, und sie ließ zum Andenken ein Bild ihrer Freundin Pallas anfertigen, legte ihm einen Brustpanzer aus dem gleichen Ziegenfell, wie der Schild war, um, der nun auch Ägispanzer oder Ägide hieß, stellte das Bild neben die Bildsäule des Zeus und hielt es hoch in Ehren. Sie selbst aber nannte sich seitdem Pallas Athene.
Dieses Palladion nun warf, mit Einwilligung seiner Tochter, Zeus vom Himmel in die Gegend der Burg Ilios herunter, zum Zeichen, dass Burg und Stadt unter seinem und seiner Tochter Schutz stehen.
*
König Ilos und seine Frau Eurydike hatten einen Sohn, Laomedon. Er war ein eigenmächtiger und gewalttätiger Mann, der Götter und Menschen betrog. Er dachte daran, Troja, das noch nicht befestigt war wie die Burg, mit einer Mauer zu umgeben und so zu einer richtigen Stadt zu machen.
Damals irrten die Götter Apollon und Poseidon, die sich gegen den Göttervater Zeus erhoben hatten und aus dem Himmel gestoßen worden waren, heimatlos auf der Erde umher. Es war nun der Wille des Zeus, dass sie König Laomedon beim Bau der Mauer um Troja helfen sollten, damit seine und Athenes Lieblingsstadt starke Mauern bekäme, die jeder Zerstörung trotzen könnten. So kamen sie denn in die Nähe von Ilios, als eben mit dem Bau der Stadtmauern begonnen wurde. Die Götter boten König Laomedon ihre Hilfe an, und da sie auf der Erde weder untätig herumgehen durften noch Ambrosia erhielten, ohne dafür zu arbeiten, handelten sie einen Lohn aus, der ihnen auch versprochen wurde. [Ambrosia ist in der griechischen Mythologie eine unsterblich machende Götterspeise.] Dann begannen sie mit der Arbeit. Poseidon half unmittelbar beim Bau; unter seiner Leitung stieg die Ringmauer breit und schön in die Höhe, ein undurchdringlicher Schutz für die Stadt. Apollon weidete inzwischen das Vieh des Königs in den gewundenen Schluchten und Tälern des waldreichen Gebirges Ida.
Die Götter hatten versprochen, auf diese Weise dem König ein Jahr lang zu dienen. Als nun diese Frist abgelaufen und die herrliche Stadtmauer fertig war, entzog der betrügerische Laomedon den Göttern gewaltsam ihren gesamten Lohn. Und als sie ihn zur Rede stellten und der beredte Apollon ihm bittere Vorwürfe machte, da jagte er beide fort, mit der Androhung, dem Apollon Hände und Füße fesseln zu lassen, beiden aber die Ohren zu verstümmeln.
Mit großer Verbitterung gingen die Götter davon und wurden Todfeinde des Königs und des Volkes der Trojaner. Auch Athene wandte sich von der Stadt ab, die bisher unter ihrem Schutz gestanden hatte. Mit Einwilligung des Zeus war die eben erst mit stattlichen Mauern versehene Hauptstadt mit ihrem Königsgeschlecht und Volk diesen Göttern, zu denen sich mit glühendem Hass auch die Frau des Zeus, Hera, gesellte, zum Verderben überlassen.
König Laomedon hatte einen Sohn, Priamos, der nach Laomedons Tod regierte. Er heiratete in zweiter Ehe Hekabe, die Tochter des phrygischen Königs Dymas. Ihr erster Sohn war Hektor. Als aber die Geburt ihres zweiten Kindes bevorstand, hatte Hekabe in einer dunklen Nacht einen entsetzlichen Albtraum. Ihr war, als gebäre sie eine Fackel, die die ganze Stadt Troja in Flammen setze und zu Asche verbrenne. Erschrocken erzählte sie ihrem Mann Priamos von diesem Traum, der seinen Sohn aus erster Ehe, Aisakos, kommen ließ. Aisakos war ein Wahrsager. Er hatte von seinem mütterlichen Großvater Merops gelernt, Träume zu deuten. Er erklärte, seine Stiefmutter Hekabe werde einen Sohn zur Welt bringen, der seine Vaterstadt ins Verderben stürzen werde. Er riet deshalb dazu, das Kind, das sie erwartete, auszusetzen.
Tatsächlich bekam die Königin einen Sohn und die Liebe zum Vaterland war bei ihr stärker als das Muttergefühl. Sie erlaubte ihrem Mann Priamos, das neugeborene Kind einem Sklaven zu geben, der es auf den Berg Ida tragen und dort aussetzen sollte.
Der Sklave, der Agelaos hieß, gehorchte, aber eine Bärin kümmerte sich um den Säugling und nach fünf Tagen fand Agelaos das Kind gesund und munter im Wald. Jetzt hob er es auf, nahm es mit sich, erzog es wie sein eigenes Kind und nannte den Jungen Paris.
*
Als der Königssohn unter den Hirten zum jungen Mann herangewachsen war, zeichnete er sich durch Kraft und Schönheit aus und beschützte die Hirten des Berges Ida gegen die Räuber. Daher nannten sie ihn auch nur Alexander, das bedeutet Männerhilfe.
Eines Tages war er fern seiner Herden in einem entlegenen, schattigen Tal unterwegs, das sich einsam durch die Schluchten des Berges Ida hinzog. Er lehnte sich zwischen Tannen und Steineichen mit verschränkten Armen an einen Baum und schaute durch eine Bergspalte hinunter auf die Paläste Trojas und das ferne Meer. Da hörte er auf einmal ein Götterstampfen, dass die Erde um ihn herum bebte. Ehe er wusste, wie ihm geschah, stand – halb von seinen Flügeln, halb von den Füßen getragen – Hermes, der Götterbote, vor ihm mit dem goldenen Heroldsstab in den Händen. [Der Heroldsstab war das Erkennungszeichen der Nachrichtenüberbringer und sollte sie bei schlechten Nachrichten vor dem Zorn des Empfängers schützen. Der wichtigste Träger des Heroldsstabs war Hermes, der Götterbote.] Er kündigte eine weitere Göttererscheinung an, denn drei himmlische Frauen, Göttinnen des Olymp, kamen mit leichten Füßen über das weiche, nie gemähte Gras, sodass den Königssohn ein Schauer überlief und seine Stirnhaare sich aufrichteten.
Doch der geflügelte Götterbote rief ihm entgegen: „Hab keine Angst! Die Göttinnen kommen zu dir als zu ihrem Schiedsrichter: Sie haben dich gewählt zu entscheiden, welche von ihnen dreien die Schönste sei. Zeus befiehlt dir, dieses Richteramt auszuüben. Er wird dir seinen Schutz und Beistand nicht versagen!“ So sprach Hermes; dann schwebte er auf seinen Flügeln vor den Augen des Königssohns davon.
Seine Worte hatten dem Hirten Mut gemacht. Er wagte es, den schüchternen, gesenkten Blick zu erheben und die göttlichen Gestalten, die in überirdischer Größe und Schönheit vor ihm standen und auf sein Urteil warteten, zu mustern. Der erste Anblick schien ihm zu sagen, dass eine wie die andere es wert sei, den Preis der Schönheit davonzutragen; doch gefiel ihm mal die eine Göttin mehr, mal die andere, sobald er länger eine der herrlichen Gestalten betrachtete. Doch allmählich schien ihm eine, die Jüngste und Zarteste, schöner und liebenswürdiger als die anderen, und ihm war, als ob von ihren Augen ausgehend sich ein Netz aus Liebesstrahlen um ihn legte.
Mittlerweile erklärte die stolzeste der drei Frauen, die an Wuchs und Hoheit die beiden anderen überragte, dem Königssohn: „Ich bin Hera, die Schwester und Gemahlin des Zeus. Sieh diesen goldenen Apfel mit der Aufschrift ‚Der Schönsten‘, den Eris, die Göttin der Zwietracht, bei Thetis’ und Peleus’ Hochzeit unter die Gäste warf. Wenn du ihn mir zuerkennst, soll dir die Herrschaft über das schönste Reich der Erde gehören, obwohl du aus dem Königspalast verstoßen und jetzt nur ein Hirte bist.“
„Ich bin Pallas Athene, die Göttin der Weisheit“, sprach die andere mit der reinen, gewölbten Stirn, den tiefblauen Augen und dem jugendlichen Ernst im schönen Gesicht. „Wenn du mir den Sieg zuerkennst, sollst du den höchsten Ruhm der Weisheit und Männertugend unter den Menschen ernten!“
Da schaute die dritte, die bisher immer nur mit den Augen gesprochen hatte, den Hirten mit einem süßen Lächeln noch durchdringender an und sagte: „Paris, du wirst dich doch nicht durch das Versprechen von Geschenken verführen lassen, die beide voll Gefahr und ungewissen Erfolges sind! Ich will dir etwas geben, was du nur zu lieben brauchst, um froh zu werden: Die schönste Frau der Erde will ich dir in die Arme führen! Ich bin Aphrodite, die Göttin der Liebe!“ [In der römischen Mythologie heißt Aphrodite Venus.]
Als Aphrodite dem Hirten Paris dies versprach, stand sie vor ihm, mit ihrem Gürtel geschmückt, der ihr den höchsten Zauber und Anmut verlieh. Da verblasste vor dem Schimmer der Hoffnung und ihrer Schönheit der Reiz der anderen Göttinnen vor seinen Augen, und ganz verliebt erkannte er der Liebesgöttin den goldenen Apfel, den Hera ihm gegeben hatte, zu.
Hera und Pallas Athene wandten sich wütend von ihm ab und schworen, diese Beleidigung ihrer Schönheit an ihm, an seinem Vater Priamos sowie am Volk und Reich der Trojaner zu rächen und alle miteinander zu verderben. Besonders Hera wurde von diesem Augenblick an die unversöhnlichste Feindin der Trojaner.
Aphrodite aber verabschiedete sich von dem strahlenden Hirten mit anmutigem Gruß, nachdem sie ihm ihr Versprechen feierlich und mit dem Göttereid bekräftigt wiederholt hatte.
*
Paris lebte weiter als unerkannter Hirte auf den Höhen des Ida und hoffte auf die Erfüllung seiner Wünsche, die die Göttin in ihm geweckt hatte. Aber da sie ihr Versprechen so lange nicht einlöste, heiratete er eine schöne junge Frau namens Önone, die als Tochter eines Flussgottes und einer Nymphe galt. Mit ihr verlebte er auf dem Berg Ida bei seinen Herden glückliche Tage in der Verborgenheit.
Eines Tages lockten ihn Leichenspiele, die König Priamos für einen verstorbenen Verwandten hielt, zu der Stadt hinab, die er früher nie betreten hatte. [Leichenspiele gehörten zum Bestattungsritual des griechischen Adels. Nach der eigentlichen Beerdigung wurden die Feierlichkeiten im Haus des Verstorbenen fortgesetzt. Dazu gehörten auch athletische und musische Wettbewerbe.] Priamos setzte nämlich bei diesem Fest als Kampfpreis einen Stier aus, den er bei den Hirten des Ida von seinen Herden holen ließ. Nun traf es sich, dass gerade dieser Stier der Lieblingsstier des Paris war, und da er ihn seinem König nicht vorenthalten durfte, so beschloss er, wenigstens den Kampf um den Stier zu versuchen.
Tatsächlich besiegte er in den Kampfspielen alle seine Brüder, selbst Hektor, der der tapferste von ihnen war. Ein anderer mutiger Sohn König Priamos’, Deïphobos, war von Zorn und Scham über seine Niederlage so überwältigt, dass er den Hirten niederstoßen wollte. Aber Paris konnte sich zum Altar des Zeus flüchten. Hier traf er auf die Tochter des Priamos, Kassandra, die mit der Wahrsagergabe von den Göttern beschenkt worden war. Sie erkannte in ihm ihren ausgesetzten Bruder. Nun umarmten ihn die Eltern, vergaßen über der Freude des Wiedersehens die verhängnisvolle Weissagung bei seiner Geburt und nahmen ihn als ihren Sohn auf.
*
Vorerst kehrte nun Paris zu seiner Frau und seinen Herden zurück, indem er auf dem Berg Ida eine stattliche Wohnung als Königssohn erhielt. Bald jedoch fand sich Gelegenheit für ihn zu einem königlichen Geschäft, und nun ging er, ohne es zu wissen, dem Preis entgegen, den ihm seine Freundin, die Göttin Aphrodite, versprochen hatte.
Als König Priamos noch ein Kind war, wurde seine Schwester Hesione von Herakles, der Laomedon getötet und Troja erobert hatte, als Siegesbeute fortgeschleppt und seinem Freund Telamon geschenkt. Obwohl Telamon sie geheiratet und zur Fürstin von Salamis gemacht hatte, hatten doch Priamos und seine Familie diesen Raub nicht verschmerzt.
Als nun am Königshof wieder einmal von dieser Entführung gesprochen wurde und Priamos vor seinen Söhnen seine große Sehnsucht nach der fernen Schwester zu erkennen gab, da stand Paris auf. Er erklärte, wenn man ihn mit einer Flotte nach Griechenland schicken wollte, so werde er mit der Hilfe der Götter Hesione den Feinden mit Gewalt entreißen und mit Sieg und Ruhm gekrönt nach Hause zurückkehren. Seine Hoffnung stützte sich auf die Gunst der Göttin Aphrodite, und er erzählte deswegen dem Vater und den Brüdern, was ihm bei seinen Herden begegnet war. Priamos selbst zweifelte jetzt nicht länger, dass sein Sohn Paris den besonderen Schutz der Himmlischen erhalten werde. Auch Deïphobos war zuversichtlich, dass die Griechen Hesione ausliefern würden, wenn sein Bruder mit einem stattlichen Heer erschien.
Nun aber war unter den vielen Söhnen des Priamos auch ein Seher namens Helenos. Dieser brach plötzlich in weissagende Worte aus und versicherte, wenn sein Bruder Paris eine Frau aus Griechenland mitbringe, so würden die Griechen nach Troja kommen, die Stadt schleifen und König Priamos und alle seine Söhne niedermachen. Diese Worte brachten Zweifel in den Rat. Troilos, der jüngste Sohn des Priamos, ein junger Kerl voller Tatendrang, wollte von den Prophezeiungen seines Bruders nichts hören. Er riet den anderen, sich durch die Drohungen des Troilos nicht vom Krieg abschrecken zu lassen. Andere zeigten sich bedenklicher. Priamos aber hielt zu seinem Sohn Paris, denn er hatte große Sehnsucht nach seiner Schwester.
Zuerst organisierte der König eine Volksversammlung, in der er den Trojanern erzählte, wie er schon früher den klugen Antenor mit einer Gesandtschaft nach Griechenland geschickt hatte. [Antenor war einer der klügsten Männer Trojas.] Er wollte Genugtuung für den Raub seiner Schwester Hesione und sie sollte zurück nach Troja kommen. Damals sei Antenor mit Schmach abgewiesen worden. Wenn es aber dem Volk so gefalle, wolle er, Priamos, jetzt seinen Sohn Paris mit einer ansehnlichen Kriegsmacht aussenden, um das mit Gewalt zu erzwingen, was durch Güte nicht erreicht werden konnte.
Antenor unterstützte diesen Vorschlag. Er schilderte, was er selbst als friedlicher Gesandter Schmähliches in Griechenland erlebt hatte, und beschrieb das Volk der Griechen als trotzig im Frieden und ängstlich im Krieg. Seine Worte feuerten das Volk an, sodass es sich mit lauten Rufen für den Krieg erklärte.
Aber der weise König Priamos wollte die Sache nicht leichtsinnig beschlossen wissen und forderte jeden auf zu sprechen, der ein Bedenken in dieser Angelegenheit auf dem Herzen hätte. Da stand Panthoos, einer der Ältesten Trojas, in der Versammlung auf. Er erzählte, sein Vater Othrys habe ein Orakel der Götter erhalten und danach habe er ihm schon vor vielen Jahren anvertraut: Wenn je ein Königssohn aus Laomedons Familie eine Ehefrau aus Griechenland ins Haus führen würde, so stehe den Trojanern das äußerste Verderben bevor. „Darum, meine Freunde“, schloss er seine Rede, „sollten wir uns nicht von trügerischem Kriegsruhm verführen lassen. Lasst uns das Leben lieber in Frieden und Ruhe verbringen als im Krieg, damit wir nicht am Ende unsere Freiheit oder sogar unser Leben verlieren.“
Aber das Volk murrte über diesen Vorschlag und rief seinem König Priamos zu, doch nicht auf die ängstlichen Worte eines alten Mannes zu hören, sondern zu tun, was er im Herzen doch schon beschlossen hätte.
*
Priamos ließ also Schiffe startklar machen, die auf dem Berg Ida gebaut worden waren, und sandte seinen Sohn Hektor ins Phrygerland, Paris und Deïphobos aber ins benachbarte Päonien, um verbündete Völker zu sammeln. Auch Trojas waffenfähige Männer bereiteten sich auf den Krieg vor und so kam bald ein gewaltiges Heer zusammen. Der König stellte es unter den Befehl seines Sohnes Paris und gab ihm den Bruder Deïphobos, dazu den Sohn des Panthoos mit Namen Polydamas und den Fürsten Äneas an die Seite. So stachen sie in See und steuerten die griechische Insel Kythere an, wo sie zuerst landen wollten.
Unterwegs begegnete die Flotte dem Schiff des griechischen Völkerfürsten und spartanischen Königs Menelaos, der nach Pylos unterwegs war, um den weisen Fürsten Nestor zu besuchen. Er staunte, als er die prächtige Schiffsflotte sah, und auch die Trojaner betrachteten neugierig das schöne griechische Schiff, das festlich geschmückt war und einen der größten Fürsten Griechenlands zu tragen schien. Paris und Menelaos erkannten einander aber nicht. Beide überlegten, wohin wohl der andere fahren möge, und so zogen sie auf den Wellen aneinander vorbei.
Schließlich erreichte die trojanische Flotte die Insel Kythere. Von dort wollte sich Paris nach Sparta aufmachen und mit den Zeussöhnen Kastor und Pollux verhandeln, um seine Tante Hesione in Empfang zu nehmen. Würden die griechischen Helden sie ihm verweigern, so hatte er von seinem Vater den Befehl, mit der Kriegsflotte nach Salamis zu segeln und die Fürstin mit Gewalt zu entführen.
*
Bevor Paris sich auf die Reise nach Sparta machte, wollte er in einem Tempel, der Aphrodite und Artemis gemeinsam geweiht war, ein Opfer bringen. [Artemis war die Zwillingsschwester des Apollon und die Göttin der Jagd und der Natur.]
Inzwischen hatten die Bewohner der Insel die Ankunft der prächtigen Flotte nach Sparta gemeldet. Da Menelaos, wie wir wissen, nicht in der Stadt war, regierte seine Frau, die Fürstin Helena, bis zu seiner Rückkehr allein. Helena war eine Tochter des Zeus und der Leda und Kastors und Pollux’ Schwester. Damals war sie die schönste Frau der Welt und als kleines Mädchen schon von Theseus entführt worden. Aber ihre Brüder hatten sie befreit.
Sie wuchs bei ihrem Stiefvater Tyndareos auf, dem König von Sparta. Als sie heranwuchs, zog ihre Schönheit ein ganzes Heer von Verehrern an, und der König fürchtete, wenn er einen von ihnen zum Schwiegersohn wählte, würde er sich alle anderen zu Feinden machen. Da gab ihm Odysseus von Ithaka, der kluge griechische Held, den Rat, alle Verehrer schwören zu lassen, dass sie den ausgesuchten Bräutigam gegen jeden, der den König wegen seiner Wahl bedrohen würde, mit den Waffen in der Hand unterstützen wollten. So machte es Tyndareos und wählte Menelaos, den Argiverfürsten, Sohn des Atreus und Bruder Agamemnons. Er gab ihm seine Tochter zur Frau und überließ ihm sein Königreich Sparta. Helena bekam eine Tochter, Hermione, die noch in der Wiege lag, als Paris nach Griechenland kam.
Als nun die schöne Fürstin Helena, die ohne ihren Mann im Palast freudlose Tage ohne Abwechslung erlebte, von der Ankunft der herrlichen Schiffsflotte eines fremden Königssohns auf der Insel Kythere erfuhr, wurde sie neugierig auf den Fremden und sein kriegerisches Gefolge. Daher veranstaltete auch sie ein feierliches Opfer im Artemistempel auf Kythere. Sie betrat das Heiligtum in dem Augenblick, als Paris sein Opfer vollbracht hatte.
Als Paris die Fürstin sah, sanken ihm die zum Gebet erhobenen Hände und er verlor sich in Staunen. Er meinte nämlich, die Göttin Aphrodite selbst wiederzusehen, so wie sie ihm zu seiner Zeit als Hirte erschienen war. Natürlich hatte auch er längst von ihrer Schönheit gehört, und er konnte es kaum abwarten, ihr in Sparta zu begegnen. Aber er hatte gemeint, die Göttin der Liebe – Aphrodite – habe ihm eine noch viel schönere Frau versprochen. Und er hatte gedacht, bei der Schönen, die ihm versprochen war, handele es sich um eine junge, unverheiratete Frau und nicht um die Ehefrau eines anderen Mannes. Jetzt aber, da die Fürstin von Sparta vor ihm stand und genauso schön war wie die Göttin Aphrodite selbst, wurde ihm plötzlich klar, dass nur diese Frau es sein könne, die ihm Aphrodite als Belohnung für sein Urteil versprochen hatte. Der Auftrag seines Vaters, der ganze Zweck der Kriegsflotte und seiner Reise verschwanden in diesem Augenblick aus seinem Denken. Es schien ihm, als sei er mit seinen Tausenden Bewaffneten nur dazu ausgesandt, um Helena zu erobern.
Während er so in ihre Schönheit versunken dastand, betrachtete auch die Fürstin Helena den schönen asiatischen Königssohn mit den langen Haaren, mit Gold und Purpur in orientalischer Pracht gekleidet. Und sie konnte nicht verbergen, dass er ihr gefiel. Das Bild ihres Mannes verblasste und an seine Stelle trat die reizende Gestalt des jugendlichen Fremden.
*
Nachdem Helena nach Sparta in ihren Königspalast zurückgekehrt war, versuchte sie, das Bild des schönen Paris aus ihrem Herzen zu verdrängen, und sie wünschte sich, dass ihr Mann Menelaos aus Pylos zurückkommen sollte.
Stattdessen aber erschien Paris selbst mit seiner Mannschaft in Sparta, und obwohl König Menelaos nicht zu Hause war, drängte Paris sich mit seiner Botschaft in dessen Palast vor. Helena empfing ihn als Gemahlin des Fürsten mit der Gastfreundschaft, die sie einem Fremden, noch dazu einem Königssohn schuldig war. Und es geschah, dass seine Kunst zu musizieren, sein einschmeichelndes Gespräch und die heftige Glut seiner Liebe das unbewachte Herz der Königin eroberten.
Als Paris ihre Treue wanken sah, vergaß er den Auftrag seines Vaters und Volkes, und nur das trügerische Versprechen der Liebesgöttin stand vor seiner Seele. Er versammelte seine Getreuen, die bewaffnet mit ihm nach Sparta gekommen waren, und verführte sie durch Aussicht auf reiche Beute, dem üblen Plan zuzustimmen, den er mit ihrer Hilfe ausführen wollte. Dann stürmte er den Palast, raubte die Schätze des griechischen Fürsten und entführte die schöne Helena, die sich zwar wehrte, ihm aber doch nicht ganz unfreiwillig auf sein Schiff folgte.
*
Als Paris mit seiner reizenden Beute durch das Ägäische Meer segelte, überfiel die Flotte eine plötzliche Windstille: Vor dem Königsschiff, das den Räuber mit der Fürstin trug, teilten sich die Wellen, und der uralte Meeresgott Nereus reckte seinen Kopf mit dem Schilfkranz aus dem Wasser, mit triefenden Haar- und Bartlocken. Er rief dem Schiff, das wie mit Nägeln ans Wasser geheftet schien, seine fluchende Wahrsagung zu: „Unglücksvögel flattern deiner Fahrt voran, verwünschter Räuber! Die Griechen werden mit ihrer Heeresmacht kommen, um deine Verschwörerbande und das alte Reich des Priamos zu zerreißen! Weh mir, wie viele Pferde, wie viele Männer sehe ich! Wie viele Tote verursachst du dem dardanischen Volk! Schon rüstet Pallas ihren Helm, ihren Schild und ihre Wut! Jahrelang dauert der blutige Kampf und den Untergang deiner Stadt hält nur der Zorn eines Helden auf. Aber wenn die Zahl der Jahre voll ist, wird griechischer Feuerbrand die Häuser Trojas fressen!“
So prophezeite der Alte und tauchte wieder in die Flut. Mit Entsetzen hatte Paris zugehört; als aber der Fahrwind wieder lustig blies, vergaß er im Arm der geraubten Fürstin bald die Weissagung und legte mit seiner ganzen Flotte vor der Insel Kranaë vor Anker, wo die treulose und leichtsinnige Frau des Menelaos ihm jetzt freiwillig ihre Hand reichte und in Liebe bei ihm blieb. Beide vergaßen Heimat und Vaterland und zehrten von den mitgebrachten Schätzen lange Zeit in Herrlichkeit und Freuden. Jahre vergingen, bis sie nach Troja aufbrachen.
Paris hatte als Gesandter zu Sparta gegen Völkerrecht und Gastrecht verstoßen und alles reiche Fürstengeschlecht bei den Griechen empörte sich gegen ihn. Menelaos, König von Sparta, und Agamemnon, sein älterer Bruder, König von Mykene, waren Nachkommen des Tantalos, Enkel des Pelops, Söhne des Atreus, aus einem an edlen wie an üblen Taten reichen Stamm. Diesen beiden mächtigen Brüdern gehorchten außer Argos und Sparta die meisten Staaten des Peloponnes und die Fürsten des übrigen Griechenlands waren mit ihnen verbündet. [Der Peloponnes („Insel des Pelops“) ist eine Halbinsel im Süden Griechenlands.] Als daher die Nachricht vom Raub seiner Frau Helena König Menelaos bei seinem Freund Nestor in Pylos erreichte, eilte der entrüstete Fürst zu seinem Bruder Agamemnon nach Mykene, wo dieser mit seiner Frau Klytämnestra, der Halbschwester Helenas, regierte. Agamemnon teilte den Schmerz und den Unwillen seines Bruders, doch er tröstete ihn und versprach, ihm zu helfen.
So bereisten die Brüder ganz Griechenland und forderten seine Fürsten zur Teilnahme am Krieg gegen die betrügerische Stadt Troja auf. Die ersten, die sich anschlossen, waren Tlepolemos – ein berühmter Fürst aus Rhodos, ein Sohn des Herakles –, der neunzig Schiffe für den Feldzug gegen Troja anbot, und Diomedes, der Sohn des unsterblichen Helden Tydeus, der mit achtzig Schiffen die mutigsten Peloponnesier für den Krieg versprach.
Nachdem die beiden Fürsten mit den Atriden zu Sparta Rat gehalten hatten [Zum Geschlecht der Atriden – oder auch Tantaliden – gehören die Nachkommen des Tantalos, also auch Menelaos und Agamemnon sowie ihr Vater Atreus.], erging die Aufforderung auch an die Zeus-Söhne Kastor und Pollux, die Brüder Helenas. Diese aber waren schon auf die erste Nachricht von der Entführung ihrer Schwester dem Räuber nachgesegelt und bis zur Insel Lesbos, ganz nah an die trojanische Küste, gekommen. Dort ergriff ein Sturm ihr Schiff und verschlang es. Kastor und Pollux selbst verschwanden, aber die Sage versicherte, sie seien nicht in den Wellen umgekommen, sondern ihr Vater Zeus habe sie als Sternbilder an den Himmel gesetzt. Dort bleiben sie als Beschirmer der Schifffahrt und Schutzgötter der Seefahrer von Zeitalter zu Zeitalter.
Inzwischen hatte sich ganz Griechenland erhoben und gehorchte der Aufforderung der Atriden. Zuletzt waren nur noch zwei berühmte Fürsten übrig. Der eine war der schlaue Odysseus aus Ithaka, der Ehemann der Penelope. Er wollte seine junge Frau und seinen kleinen Sohn Telemachos der untreuen Frau des Spartanerkönigs zuliebe nicht verlassen. Als daher Palamedes, der Sohn des Fürsten Nauplios aus Euböa und vertrauter Freund des Menelaos, mit dem Sparterfürsten zu ihm kam, spielte er ihnen vor, er sei verrückt. Er spannte zu dem Ochsen einen Esel an den Pflug und pflügte mit dem seltsamen Paar sein Feld. Dabei streute er in die Furchen, die er zog, nicht Saatgut, sondern Salz. Aber der kluge Palamedes durchschaute den schlauen Plan. Er ging heimlich in Odysseus’ Palast, brachte den kleinen Telemachos aus der Wiege herbei und legte ihn in die Furche, über die Odysseus eben pflügen wollte. Da hob der Vater den Pflug sorgfältig über das Kind hinweg und bewies damit, dass er sehr wohl bei klarem Verstand war. Er konnte sich jetzt nicht mehr länger weigern, an dem Feldzug teilzunehmen, und versprach mit bitterer Feindschaft gegen Palamedes in seinem Herzen, zwölf bemannte Schiffe aus Ithaka und den Nachbarinseln dem König Menelaos zur Verfügung zu stellen.
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Der andere Fürst, dessen Zustimmung noch nicht erfolgt war, ja, dessen Aufenthalt man nicht einmal kannte, war Achilles, der junge Sohn des Peleus und der Meeresgöttin Thetis. Als dieser ein neugeborenes Kind war, wollte seine unsterbliche Mutter auch ihn unsterblich machen. Von seinem Vater Peleus unbemerkt, steckte sie ihn nachts in ein himmlisches Feuer und fing so an zu verbrennen, was vom Vater her an ihm sterblich war. Bei Tag aber heilte sie die verbrannten Stellen mit Ambrosia. Dies tat sie von einer Nacht zur anderen.
Einmal aber belauschte sie Peleus und schrie laut auf, als er seinen Sohn im Feuer brennen sah. Diese Störung hinderte Thetis daran, ihr Werk zu vollbringen. Sie ließ ihren Sohn, der auf diese Weise sterblich geblieben war, einfach liegen, entfernte sich und kehrte nicht mehr in den Palast zurück, sondern floh in das feuchte Wellenreich der Nereiden. [Die Nereiden (gesprochen: Ne-re-i-den) sind Meeresnymphen, die 50 Töchter des Meeresgottes Nereus.]
Peleus aber, der glaubte, sein Sohn sei gefährlich verwundet, hob ihn vom Boden auf und brachte ihn zu dem großen Arzt und Erzieher vieler Helden, dem weisen Zentauren Chiron. [Ein Zentaur war ein Mischwesen aus Pferd und Mensch.] Dieser nahm den Kleinen liebevoll auf und gab ihm Bärenmark und die Leber von Löwen und Ebern.
Als Achilles neun Jahre alt war, erklärte der griechische Seher Kalchas, dass der fernen Stadt Troja in Asien der Untergang durch griechische Waffen bevorstehe. Doch ohne Achilles könne die Stadt nicht erobert werden.
Diese Wahrsagung drang auch zu seiner Mutter Thetis hinab in die tiefe See, und weil sie wusste, dass dieser Feldzug ihrem Sohn den Tod bringen würde, stieg sie wieder empor aus dem Meer. Sie schlich sich zu Achilles in den Palast, steckte ihn in Mädchenkleider und brachte ihn so zu König Lykomedes auf der Insel Skyros. Der König ließ Achilles als Mädchen heranwachsen und in Frauenarbeiten unterweisen.
Als Achilles aber erwachsen wurde, gab er sich Deïdameia, der schönen Tochter des Königs, als Mann zu erkennen. Die beiden verliebten sich ineinander. Da aber niemand sein Geheimnis erfahren sollte, haben sie heimlich geheiratet.
Doch jetzt, da der Göttersohn zur Besiegung Trojas unentbehrlich war, verriet der Seher Kalchas, der wusste, wo Achilles zu finden war, dessen Versteck und Geheimnis an die Atriden.
Da schickten die Fürsten den Odysseus und den Diomedes, um Achilles in den Krieg zu holen. Als die beiden Helden auf der Insel Skyros ankamen, wurden sie dem König und den jungen Frauen seiner Familie vorgeführt. Aber das zarte Frauengesicht verbarg den künftigen Helden, und so scharfsichtig der Blick der beiden Griechenfürsten war, so vermochten sie doch nicht, ihn aus der Frauenschar heraus zu erkennen. Da ersann Odysseus eine List. Er ließ wie zufällig in den Frauensaal einen Schild und einen Speer bringen und dann die Kriegstrompete blasen, als ob der Feind heranrückte. Bei diesen Schreckenstönen entflohen alle Frauen aus dem Saal, Achilles aber blieb allein zurück und griff mutig zu Speer und Schild. So enttarnt, bot er an, an der Spitze seiner Myrmidonen oder Thessalier, in Begleitung seines Erziehers Phönix und seines Freundes Patroklos mit fünfzig Schiffen zum griechischen Heer zu stoßen.
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Agamemnon, der sich am eifrigsten für diesen Kriegszug eingesetzt hatte, wurde von den Volkshäuptern zum Oberbefehlshaber ernannt. Zum Versammlungsort aller griechischen Fürsten und ihrer Truppen und Schiffe bestimmte er die Hafenstadt Aulis in Böotien, an der Meerenge von Euböa.
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In jenem Hafen sammelten sich nun außer den genannten Fürsten mit ihren Schiffen noch unzählige andere aus allen Teilen Griechenlands. Jedes Fürstentum, jede Provinz war vertreten. So trafen sich dort neben Odysseus, Achilles und den beiden Atriden auch die anderen Fürsten und Gebieter der Griechen. Sie versammelten sich in Aulis und jeder von ihnen brachte viele Schiffe mit.
Die Griechen selbst hatten damals verschiedene Namen: Sie wurden mal Danaer genannt, von dem alten ägyptischen König Danaos her, der sich zu Argos im Peloponnes niedergelassen hatte. Mal nannte man sie Argiver, von der mächtigsten Landschaft Griechenlands: Argolis oder Argiverland. Dann wieder hießen sie Achajer oder Achiver, von dem alten Namen Griechenlands: Achaja. Später heißen sie Griechen – von Graikos, dem Sohn des Thessalos – und Hellenen – von Hellen, dem Sohn des Deukalion und der Pyrrha.
Während sich das Heer der Griechen vorbereitete, beriet Agamemnon im Rat seiner Vertrauten und der Oberhäupter des Volkes darüber, auch Mittel zur gütlichen Einigung nicht unversucht zu lassen. So wurde beschlossen, eine Gesandtschaft nach Troja zu König Priamos zu schicken, um sich über die Verletzung des Völkerrechts und den Raub der griechischen Fürstin zu beschweren und diese samt ihren Schätzen zurückzufordern. Es wurden hierzu Palamedes, Odysseus und Menelaos ausgewählt. Und obwohl Odysseus im Herzen der Todfeind des Palamedes war, unterwarf er sich doch zum Besten für alle der Klugheit dieses Fürsten, der im griechischen Heer wegen seines Verstandes und seiner Erfahrung hoch angesehen war. So überließ Odysseus ihm die Ehre, am Hof König Priamos’ als Sprecher aufzutreten. Die Trojaner und ihr König waren über die Ankunft einer Gesandtschaft, die mit einer ansehnlichen Schiffsmacht erschien, nicht wenig erstaunt. Sie wussten nicht, was das zu bedeuten hatte, denn Paris war noch immer mit seiner geraubten Frau auf der Insel Kranaë und galt in Troja als verschollen. Priamos und sein Volk glaubten deswegen, der trojanische Kriegszug, der die Gesandtschaft des Paris und die Zurückforderung der Hesione unterstützen sollte, habe Widerstand in Griechenland gefunden. Und jetzt, nach seiner Vernichtung, seien die Griechen übermütig geworden und über die See herbeigekommen, um die Trojaner in ihrem eigenen Land anzugreifen. Die Nachricht, dass sich griechische Gesandte der Stadt näherten, versetzte sie daher in nicht geringe Spannung.
Mittlerweile waren ihnen die Tore willig geöffnet worden, und die drei griechischen Fürsten wurden sofort in den Palast des Priamos und vor den König selbst geführt, der seine zahlreichen Söhne und die Häupter der Stadt zu einem Rat zusammengerufen hatte. Palamedes ergriff vor dem König das Wort und beklagte sich bitter im Namen aller Griechen über die schändliche Verletzung des Gastrechts, die sich sein Sohn Paris durch den Raub der Königin Helena zuschulden hatte kommen lassen. Dann entwickelte er die Gefahren eines Krieges, die dem Reich des Priamos aus dieser Untat erwüchsen, zählte die Namen der mächtigsten Fürsten Griechenlands auf, die mit allen ihren Völkern auf mehr als tausend Schiffen vor Troja erscheinen würden, und verlangte die gütliche Auslieferung der geraubten Fürstin.
„Du weißt nicht, oh König“, so schloss er seine Rede, „welche Sterblichen durch deinen Sohn beschimpft worden sind: Es sind die Griechen, die alle lieber sterben, als dass einem einzigen von ihnen durch einen Fremden ungerechte Kränkung widerfährt. Sie hoffen aber, indem sie dieses Unrecht rächen, nicht zu sterben, sondern zu siegen, denn ihre Zahl ist wie der Sand am Meer, und alle sind von Heldenmut erfüllt. Und alle brennen darauf, die Schmach, die ihrem Volk widerfahren ist, mit dem Verursacher auszulöschen. Das verkündigt euch unser oberster Feldherr, Agamemnon, König der mächtigen Landschaft Argos und der erste Fürst Griechenlands. Und mit ihm lassen euch alle anderen Fürsten der Danaer sagen: Gebt die Griechin, die ihr uns gestohlen habt, heraus, oder seid alle dem Untergang geweiht!“
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Bei diesen trotzigen Worten wurden die Söhne des Königs und Trojas Älteste wütend, zogen ihre Schwerter und schlugen streitlustig an ihre Schilde. Aber König Priamos gebot ihnen Ruhe, erhob sich von seinem Königssitz und sprach: „Ihr Fremden, die ihr im Namen eures Volkes so strafende Worte an uns richtet, gönnt mir erst, dass ich mich von meinem Staunen erhole. Denn wessen ihr mich beschuldigt, davon ist uns allen nichts bewusst. Vielmehr sind wir es, die wir uns bei euch über das Unrecht zu beklagen haben, das ihr uns andichtet. Euer Landsmann Herakles hat unsere Stadt mitten im Frieden angefallen, meine unschuldige Schwester Hesione als Gefangene mitgenommen und sie seinem Freund, dem Fürsten Telamon auf Salamis, als Sklavin geschenkt. Und es ist nur dem guten Willen dieses Mannes zu verdanken, dass er sie zu seiner Ehefrau gemacht hat und sie ihm nicht als Magd oder Sklavin dienen muss. Doch kann dies den Raub nicht wiedergutmachen. Und es ist schon die zweite Gesandtschaft, die diesmal unter meinem Sohn Paris in euer Land geschickt wurde, um meine geraubte Schwester zurückzuverlangen, damit ich mich wenigstens noch im Alter an ihrer Gegenwart erfreuen kann. Wie mein Sohn Paris diesen meinen königlichen Auftrag ausgeführt hat, was er getan hat und wo er jetzt ist, weiß ich nicht. In meinem Palast und in unserer Stadt befindet sich keine griechische Frau, das weiß ich genau. Ich kann euch also nicht geben, was ihr verlangt, auch wenn ich es wollte. Kommt mein Sohn Paris, wie ich mir wünsche, glücklich nach Troja zurück und bringt er eine entführte Griechin mit, so soll euch diese ausgeliefert werden, sofern sie nicht als Flüchtling unseren Schutz erfleht. Aber auch dann werdet ihr sie unter keiner anderen Bedingung und nicht eher zurückerhalten, als bis ihr meine Schwester Hesione aus Salamis wieder in meine Arme zurückgeführt habt!“
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Der Rat der Trojaner stimmte diesen Worten des Königs zu, aber Palamedes sprach trotzig: „Die Erfüllung unserer Forderung, oh König, lässt sich von keiner Bedingung abhängig machen. Wir glauben deinem ehrlichen Blick und deinen Worten, die uns versichern, dass die Frau des Menelaos noch nicht in deinen Mauern angekommen ist. Sie wird aber kommen, daran zweifle lieber nicht. Ihre Entführung durch deinen unwürdigen Sohn ist nur allzu sicher. Was zu unserer Väter Zeiten von Herakles geschehen ist, dafür sind wir nicht mehr verantwortlich. Aber was einer deiner Söhne uns jetzt eben an empörender Kränkung zugefügt hat, dafür verlangen wir Rechenschaft von dir. Hesione ist freiwillig mit Telamon davongezogen, und sie selbst sendet einen Sohn in diesen Krieg, der euch bevorsteht, wenn ihr uns nicht Genugtuung gebt: den gewaltigen Fürsten Ajax. Helena aber ist gegen ihren Willen geraubt worden. Dankt dem Himmel, der euch durch die Abwesenheit des Räubers Bedenkzeit gegeben hat, und fasst einen Beschluss, der das Verderben von euch abwendet.“
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Priamos und den Trojanern missfiel die übermütige Rede des Gesandten Palamedes, doch sie ehrten an den Fremden das Recht der Gesandtschaft. Die Versammlung wurde aufgehoben, und ein Ältester Trojas, der kluge Antenor, schirmte die fremden Fürsten vor allen Beschimpfungen des Pöbels ab, führte sie in sein Haus und beherbergte sie dort gastfreundlich bis zum nächsten Morgen. Dann begleitete er sie an den Strand, wo sie die glänzenden Schiffe wieder bestiegen, die sie hergebracht hatten.
Während nun die Flotte sich vor Aulis versammelte, vertrieb Agamemnon sich die Zeit bei der Jagd. Da kam ihm eines Tages eine herrliche Hirschkuh in den Schuss, die der Göttin Artemis geheiligt war. Die Jagdlust verführte den Fürsten: Er schoss nach dem heiligen Wild, erlegte es und prahlte mit den Worten, Artemis selbst, die Göttin der Jagd, könne nicht besser treffen. Wütend darüber, schickte die Göttin, als in der Bucht von Aulis alle Griechen gerüstet mit Schiffen, Pferden und Wagen zusammen waren und in See stechen wollten, dem versammelten Heer eine Windstille zu, sodass man ohne Ziel und Fahrt untätig in Aulis sitzen musste. Die ratlosen Griechen wandten sich an ihren Seher Kalchas, der dem Volk schon früher wichtige Dienste geleistet hatte und jetzt dabei war, um als Priester und Wahrsager den Feldzug mitzumachen. Er sagte: „Wenn Agamemnon, der oberste Fürst und Heerführer der Griechen, sein geliebtes Kind Iphigenia der Artemis opfert, so wird die Göttin versöhnt sein, Fahrtwind wird kommen und der Zerstörung Trojas wird kein übernatürliches Hindernis mehr im Weg stehen.“
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Diese Worte des Sehers raubten Agamemnon allen Mut. Sofort rief er den Boten der versammelten Griechen, Talthybios aus Sparta, zu sich und ließ ihn mit hellem Ruf vor allen Völkern verkündigen, dass Agamemnon den Oberbefehl über das griechische Heer niedergelegt habe, weil er keinen Kindesmord auf sein Gewissen laden wolle.
Aber unter den versammelten Griechen brach daraufhin wilde Empörung aus. Menelaos begab sich sofort zu seinem Bruder ins Feldherrnzelt und stellte ihm die Folgen seines Entschlusses vor Augen. Er machte ihm die Schande deutlich, die ihn, Menelaos, treffen würde, wenn seine geraubte Frau Helena in den Händen des Feindes bliebe. Er zählte so redegewandt alle Gründe auf, dass sich Agamemnon endlich entschloss, das Opfer seines Kindes geschehen zu lassen.
Er schickte einen Brief an seine Frau Klytämnestra nach Mykene, in dem er ihr befahl, die Tochter Iphigenia zum Heer nach Aulis zu schicken. In seiner Not erdachte er den Vorwand, die Tochter solle mit Achilles, dem jungen Sohn des Peleus, verheiratet werden, noch bevor das Heer zur trojanischen Küste aufbrach. Von Achilles’ heimlicher Hochzeit mit Deïdameia wusste ja niemand.
Kaum aber war der Bote fort, gewann in Agamemnons Herzen das Vatergefühl wieder die Oberhand. Von Sorgen gequält und voll Reue über den unüberlegten Entschluss, rief er noch in der Nacht einen alten vertrauten Diener und übergab ihm einen weiteren Brief an seine Frau Klytämnestra. In diesem stand geschrieben, sie solle die Tochter nicht nach Aulis schicken. Er, der Vater, habe es sich anders überlegt; die Hochzeit müsse bis zum nächsten Frühjahr verschoben werden.
Der treue Diener eilte mit dem Brief davon, aber er erreichte sein Ziel nicht. Noch ehe er vor der Morgendämmerung das Lager verließ, wurde er von Menelaos, dem die Unschlüssigkeit des Bruders nicht entgangen war und der ihn deshalb überwacht hatte, ergriffen. Der Brief wurde ihm mit Gewalt entrissen.
Das Blatt in der Hand, trat Menelaos wieder in das Feldherrnzelt des Bruders. „Es gibt doch“, rief er ihm unwillig entgegen, „nichts Ungerechteres als die Untreue! Erinnerst du dich denn gar nicht mehr, Bruder, wie gierig du nach dieser Feldherrnwürde warst, wie du vor Lust branntest, das Heer vor Troja zu führen? Wie demütig du dich da gegen alle griechischen Fürsten zeigtest? Wie gnädig du jedem Danaer die Hand schütteltest? Deine Tür war stets offen. Jedem, auch dem Geringsten des Volkes, schenktest du Zutritt, und all dies bezweckte nichts anderes, als dir die Feldherrnwürde zu verschaffen. Aber als du dein Ziel erreicht hattest, da war bald alles anders. Da warst du nicht mehr der Freund deiner alten Freunde wie vorher. Zu Hause warst du schwer anzutreffen und draußen beim Heer hast du dich nur selten gezeigt. So sollte es ein Ehrenmann nicht machen. Er sollte sich am meisten dann unverändert gegen seine Freunde zeigen, wenn er ihnen am meisten nützen kann! Du dagegen, wie hast du dich benommen? Als du mit dem Heer nach Aulis gekommen warst und, vom göttlichen Schicksal getroffen, vergebens auf Fahrwind gehofft hast und nun im Heer der Ruf sich hören ließ: ‚Lasst uns davonsegeln und uns nicht vergebens in Aulis abmühen!‘, wie trostlos hast du dreingeschaut; wie wusstest du mitsamt deinen Schiffen keinen Rat! Damals hast du mich gerufen und nach einem Ausweg verlangt, um deine schöne Feldherrnwürde nicht zu verlieren.
Und als hierauf der Seher Kalchas befahl, der Göttin Artemis deine Tochter zu opfern, da hast du nach kurzem Zuspruch freiwillig der Opferung deines Kindes zugestimmt. Du hast eine Botschaft an deine Frau Klytämnestra geschickt, damit sie deine Tochter als Braut des Achilles herschicken sollte. Und jetzt, oh Schande, fällst du doch wieder um und verfasst eine neue Schrift, in der du erklärst, nicht der Mörder des Kindes werden zu können?
Aber freilich, tausend anderen ist es schon so gegangen wie dir. Rastlos, bis sie ans Ruder gelangt sind, treten sie später beschämend zurück, wenn es gilt, das Ruder mit Aufopferung zu lenken! Und doch taugt keiner zum Heeresfürsten und Staatenlenker, der nicht Klugheit und Verstand hat und sie auch in den schwierigsten Lebenslagen nicht verliert!“
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Solche Vorwürfe aus dem Mund des Bruders waren nicht dazu geeignet, das Herz Agamemnons zu beruhigen. „Was schnaubst du so schrecklich“, entgegnete er ihm, „was ist dein Auge so blutunterlaufen? Wer beleidigt dich denn? Was vermisst du denn? Deine liebenswürdige Frau Helena? Ich kann sie dir nicht wiederbringen! Warum hast du nicht besser auf sie aufgepasst? Bin ich denn unklug, wenn ich eine falsche Entscheidung durch Besinnung wiedergutgemacht habe? Viel eher handelst du unvernünftig, der du aufs Neue nach der Hand einer betrügerischen Frau verlangst, anstatt froh zu sein, dass du sie losgeworden bist. Nein, nie wieder entschließe ich mich, gegen mein eigenes Blut zu wüten. Weit besser stände dir selbst die gerechte Bestrafung deiner untreuen Frau an.“
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So stritten die Brüder miteinander, als ein Bote vor ihnen erschien und dem Fürsten Agamemnon die Ankunft seiner Tochter Iphigenia meldete, begleitet durch die Mutter und seinen kleinen Sohn Orestes.
Kaum hatte der Bote sich wieder entfernt, überkam Agamemnon eine so trostlose und herzzerreißende Verzweiflung, dass Menelaos, der bei der Ankunft der Botschaft zur Seite getreten war, sich jetzt dem Bruder wieder näherte und nach seiner rechten Hand griff. Agamemnon reichte sie ihm wehmütig und sprach unter heißen Tränen: „Da hast du sie, Bruder; der Sieg ist dein! Ich bin vernichtet!“
Menelaos dagegen schwor ihm, von der alten Forderung abkehren zu wollen. Ja, er ermahnte ihn jetzt selbst, sein Kind nicht zu töten, und erklärte, einen guten Bruder um Helenas willen nicht verderben und nicht verlieren zu wollen. „Hör doch auf zu weinen“, rief er. „Gibt der Götterspruch mir Anteil an deiner Tochter, so kannst du dich darauf verlassen, dass ich ihn ausschlage und dir meinen Teil abtrete! Wundere dich nicht über meinen Sinneswandel hin zur Bruderliebe, denn es ist die Art eines ehrenhaften Mannes, der besseren Überzeugung zu folgen, sobald sie im Herzen die Oberhand gewinnt!“
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Agamemnon warf sich dem Bruder in die Arme, jedoch ohne über das Schicksal seiner Tochter beruhigt zu sein. „Ich danke dir“, sprach er, „lieber Bruder, dass uns gegen meine Hoffnung dein edler Sinn wieder zusammengeführt hat. Über mich aber hat das Schicksal entschieden. Der blutige Tod der Tochter muss vollzogen sein: Ganz Griechenland verlangt ihn, Kalchas und der schlaue Odysseus sind einverstanden. Sie werden das Volk auf ihrer Seite haben, dich und mich ermorden und meine Tochter töten lassen. Und gelänge es uns, nach Argos zu fliehen, glaube mir, sie kämen und rissen uns aus den Mauern hervor und schleiften die Stadt! Deswegen beschränke dich darauf, Bruder, wenn du ins Lager zurückgehst, darüber zu wachen, dass meine Frau Klytämnestra nichts erfährt, bis unser Kind dem Orakelspruch erlegen ist!“
Die herannahenden Frauen unterbrachen das Gespräch der Brüder und Menelaos entfernte sich in trüben Gedanken.
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Die Begrüßung der Eheleute war kurz und von Agamemnons Seite frostig und verlegen.
Die Tochter aber umschlang den Vater mit kindlicher Zuversicht und rief: „Oh Vater, wie freue ich mich, dich zu sehen!“ Als sie ihm hierauf näher in seine sorgenvollen Augen sah, fragte sie zutraulich: „Warum ist dein Blick so unruhig, Vater, wenn du mich doch gerne siehst?“
„Lass das, Töchterchen“, erwiderte der Fürst mit beklommenem Herzen, „den König und den Fürsten kümmert gar vielerlei!“
„So verbanne doch die Furchen um deine Augen“, sprach Iphigenia, „und schau deine Tochter so liebevoll an wie sonst! Warum hast du denn Tränen in den Augen?“
„Weil uns eine lange Trennung bevorsteht“, erwiderte der Vater.
„Oh wie glücklich wäre ich“, rief das Mädchen, „wenn ich deine Schiffsgefährtin sein dürfte!“
„Nun, auch du wirst eine Fahrt anzutreten haben“, sagte Agamemnon ernst, „zuvor aber halten wir noch ein Opfer, bei dem du nicht fehlen wirst, liebe Tochter!“ Die letzten Worte erstickten unter Tränen, und er schickte das ahnungslose Kind in das für sie bereitgehaltene Zelt zu den jungen Frauen, die mit ihnen gekommen waren.
Mit der Mutter musste der Atride seine Unwahrheit fortsetzen und die fragende, neugierige Fürstin über Familie und Lebensverhältnisse des angeblichen Bräutigams unterhalten.
Nachdem sich Agamemnon von seiner Frau losmachen konnte, begab er sich zu dem Seher Kalchas, um mit ihm das Nähere wegen des unvermeidlichen Opfers zu besprechen.
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In der Zwischenzeit geschah es, dass Klytämnestra in Agamemnons Zelt mit dem jungen Fürsten Achilles zusammentraf, als er Agamemnon sprechen wollte, weil seine Myrmidonen nicht länger warten und in See stechen wollten. [Die Myrmidonen waren eine kleine Truppe aus dem Norden Griechenlands, die unter Achilles in die Schlacht um Troja zogen.] Und sie dachte sich nichts dabei, ihn freundlich als ihren zukünftigen Schwiegersohn zu begrüßen.
Aber Achilles wich verwundert zurück. „Von welcher Hochzeit redest du, Fürstin?“, fragte er. „Ich hatte nie die Absicht, dein Kind zu heiraten, und dein Mann Agamemnon hat nie mit mir über eine Hochzeit gesprochen!“
So begann Klytämnestra, den Betrug zu durchschauen, und sie stand unentschlossen und beschämt vor Achilles. Dieser aber sagte mit jugendlicher Gutmütigkeit: „Lass dich nicht betrüben, Königin. Wenn auch jemand seinen Scherz mit dir getrieben hat, nimm’s leicht, und verzeih mir, wenn mein Erstaunen dir wehgetan hat.“
Und so wollte er mit respektvollem Gruß davoneilen, um den Feldherrn aufzusuchen. Doch da öffnete ein Diener das Zelt und rief mit verstörter Miene den beiden entgegen. Es war der vertraute Sklave Agamemnons und Klytämnestras, den Menelaos mit dem Brief gefasst hatte.
„Höre“, sprach er atemlos zu Klytämnestra, „was ich, dein treuer Diener, dir anvertraue: Deine Tochter will der Vater eigenhändig töten!“ Und nun erfuhr die zitternde Mutter das ganze Geheimnis aus dem Mund des treuen Sklaven.
Klytämnestra warf sich daraufhin Achilles, dem jungen Sohn des Peleus, zu Füßen, umfasste flehend seine Knie und rief: „Ich schäme mich nicht, so vor dir im Staub zu liegen, ich, die Sterbliche, vor dir, dem Göttersohn. Größer als mein Stolz ist meine Mutterpflicht! Du aber, oh Sohn der Göttin, rette mich und mein Kind aus der Verzweiflung! Als deine Braut habe ich sie hierhergeführt! Bei allem, was dir wertvoll ist, bei deiner göttlichen Mutter beschwöre ich dich, hilf mir, sie jetzt zu retten. Sieh, ich habe keinen anderen Altar, zu dem ich flüchten könnte, als deine Knie! Du hast Agamemnons grausamen Plan gehört; du siehst, wie ich, eine wehrlose Frau, in die Mitte eines gewalttätigen Heeres eingetreten bin! Breite über uns deinen Arm aus, so ist uns geholfen!“
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Voller Respekt hob Achilles die vor ihm liegende Königin vom Boden auf und sprach: „Sei unbesorgt, Fürstin! Ich bin im Haus eines frommen, hilfsbereiten Mannes aufgezogen worden und habe dort anständiges Verhalten gelernt. Ich gehorche den Söhnen des Atreus gern, wenn sie mich zum Ruhm führen; aber einem gemeinen Befehl gehorche ich nicht. Darum will ich dich schützen, soweit es den Armen eines jungen Mannes möglich ist. Und niemals soll deine Tochter, die einmal meine Braut genannt wurde, von ihrem Vater getötet werden. Ich würde mich selbst schuldig fühlen, wenn die erlogene Verlobung mit mir für dieses Kind das Verderben wäre. Ich käme mir wie der feigste Wicht im Heer und wie der Sohn eines Übeltäters vor, wenn mein Name deinem Mann zum Vorwand eines Kindesmordes dienen könnte.“
„Ist das wirklich dein Wille, edler, mitleidiger Fürst“, rief Klytämnestra außer sich vor Freude, „Oder soll auch meine Tochter deine Knie flehend umschlingen?“
„Nein“, entgegnete Achilles, „führe dein Mädchen nicht zu mir, damit wir nicht in Verdacht geraten und es üble Nachrede gibt, denn ein so großes, untätiges Heer liebt Geschwätz; aber vertraue mir, ich habe nie gelogen. Möge ich selbst sterben, wenn ich dein Kind nicht rette.“
Mit dieser Versicherung verließ der Sohn des Peleus Iphigenias Mutter, die jetzt mit unverhohlenem Abscheu vor ihren Mann Agamemnon trat. Da er nicht wusste, dass seiner Frau sein Geheimnis verraten worden war, rief er ihr die zweideutigen Worte entgegen: „Hole jetzt dein Kind aus dem Zelt, und übergib es mir, seinem Vater, denn Mehl und Wasser und das Opfer, das es vor dem Hochzeitsfest geben soll, alles ist schon bereit.“
„Vortrefflich“, rief Klytämnestra, und ihr Auge funkelte, „tritt selbst aus unserem Zelt hervor, oh Tochter, du kennst ja gründlich deines Vaters Willen, bring auch deinen kleinen Bruder Orestes mit heraus!“
Und als die Tochter erschienen war, fuhr sie fort: „Siehe, Vater, hier steht sie dir zu Gehorsam da. Lass auch mich zuvor ein Wort an dich richten. Sage mir offen und ehrlich: Willst du meine und deine Tochter umbringen?“
Lange stand der Feldherr schweigend da, bis er endlich in Verzweiflung ausrief: „Oh mein Schicksal, mein böser Geist! Aufgedeckt ist mein Geheimnis, alles ist verloren!“
„So hör mir zu“, sprach Klytämnestra weiter, „ich will mein ganzes Herz vor dir ausschütten. Mit einem Verbrechen hat unsere Ehe begonnen. Du hast mich gewaltsam entführt, hast meinen früheren Mann erschlagen, mein Kind mir weggenommen und getötet. Schon zogen meine Brüder Kastor und Pollux auf ihren Pferden mit Heeresmacht gegen dich heran. Mein alter Vater Tyndareos war es, der dich rettete, und so wurdest du mein Mann. Du wirst selbst zugeben, dass ich mich tadellos benommen habe in dieser Ehe. Ich war dein Glück im Haus und dein Stolz draußen. Drei Mädchen und diesen Sohn habe ich dir geboren und nun willst du mir das älteste Kind rauben. Und fragt man dich, warum, so antwortest du: damit Menelaos seine Ehebrecherin zurückbekommt! Oh zwinge mich nicht, bei den Göttern, schlecht gegen dich zu werden, und sei nicht schlecht gegen mich! Du willst deine Tochter opfern? Welches Gebet willst du dabei sprechen, was willst du dir beim Tochtermord erflehen? Eine unglückselige Rückkehr, so wie du jetzt schmählich von zu Hause wegziehst? Oder soll ich etwa Segen für dich erbitten? Müsste ich doch die Götter selbst zu Mördern machen, wenn ich es täte! Warum soll es denn dein eigenes Kind sein, das als Opfer fällt? Warum sprichst du nicht zu den Griechen: ‚Wenn ihr vor Troja segeln wollt, so werft das Los darüber, wessen Tochter sterben soll.‘ Nun soll ich, deine treue Frau, mein Kind verlieren, während er, Menelaos, dessen Sache ausgefochten wird, sich über seine Tochter Hermione ohne Sorgen freuen darf, und während seine treulose Frau dieses Kind sicher in Sparta weiß! Antworte, ob ich ein einziges unwahres Wort gesagt habe. Habe ich aber die Wahrheit gesprochen, so töte doch deine und meine Tochter nicht; tu es nicht, besinne dich!“
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Jetzt warf sich auch Iphigenia ihrem Vater zu Füßen und sprach mit erstickter Stimme: „Besäße ich den Zaubermund des Orpheus, oh Vater, dass ich Felsen lenken könnte, so wollte ich mich redegewandt an dein Mitleid wenden. Jetzt aber sind alle meine Künste nur Tränen, und anstatt des Ölzweigs umflechte ich dein Knie mit meinen Armen. Stürze mich nicht so früh ins Verderben, Vater. So lieblich anzuschauen ist das Licht; zwing mich nicht, das zu sehen, was die Nacht verbirgt! Erinnere dich daran, wie du mich als Kind auf deinem Vaterschoß gewiegt hast! Ich weiß noch alle deine Worte: wie du hofftest, mich an einen edlen Mann zu verheiraten, mich in Wohlergehen und Blüte zu sehen, wenn du heimgekehrt wärst. Du aber hast das alles vergessen; du willst mich töten! Oh tu es nicht, bei dieser Mutter beschwöre ich dich, die mich mit Schmerzen geboren hat und jetzt noch größeren Schmerz um mich empfindet! Was gehen mich Helena und Paris an? Warum muss ich sterben, weil er nach Griechenland gekommen ist? Oh sieh mich an. Schenke mir deinen Blick, deinen Kuss, damit ich doch sterbend noch ein Andenken von dir empfange, wenn dich meine Worte nicht mehr rühren können! Sieh deinen Sohn an, meinen Bruder, Vater; schweigend fleht er für mich. Er ist noch so klein; ich aber bin herangereift! So lass dich doch erweichen und erbarme dich meiner. Das Licht anzusehen, ist für Sterbliche doch das Wunderbarste! Elend leben ist besser als der allerschönste Tod.“
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Aber Agamemnons Entschluss war gefasst, er stand unerbittlich wie ein Fels und sprach: „Wo ich Mitleid fühlen darf, da fühle ich Mitleid; denn ich liebe meine Kinder, ich wäre ja sonst ein Rasender. Mit schwerem Herzen, oh meine Frau, führe ich das Schreckliche aus, aber ich muss. Ihr seht ja, welch ein Schiffsheer mich umringt, wie viele Fürsten im Kriegspanzer mich umstehen. Für sie alle findet die Fahrt nach Troja nicht statt, Troja wird nicht erobert, wenn ich dich nicht opfere, Kind, nach dem Ausspruch des Sehers. Alle diese Helden wollen den Entführungen der Griechenfrauen ein Ende setzen. Sie sind fest entschlossen. Und bekämpfte ich nun diesen Götterspruch, so mordeten sie euch und mich. Hier hat meine Macht eine Grenze; nicht meinem Bruder Menelaos, sondern ganz Griechenland weiche ich.“
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Ohne weitere Bitten abzuwarten, entfernte sich der König und ließ die jammernden Frauen allein in seinem Zelt. Da hallte von draußen plötzlich Waffenlärm herein.
„Es ist Achilles“, rief Klytämnestra freudig. Vergebens versuchte Iphigenia, tief beschämt, sich vor dem falschen Bräutigam zu verbergen.
Von einigen Bewaffneten begleitet, trat der Sohn des Peleus hastig in das Zelt: „Klytämnestra, unglückliche Tochter der Leda“, rief er, „das ganze Lager ist in Aufruhr und verlangt den Tod deiner Tochter. Ich selbst wäre fast gesteinigt worden, als ich mich dem Geschrei widersetzte.“
„Und deine Myrmidonen?“, fragte Klytämnestra mit stockendem Atem.
„Die empörten sich zuerst“, fuhr Achilles fort, „und schimpften mich einen liebeskranken Schwätzer. Mit diesem treuen Häuflein hier komme ich, euch gegen den anrückenden Odysseus zu verteidigen. Tochter, klammere dich an deine Mutter; mein Körper soll euch decken. Ich will sehen, ob sie es wagen, den Sohn der Göttin anzugreifen, von dessen Leben das Schicksal Trojas abhängt.“ Diese letzten Worte, die einen Schimmer von Hoffnung enthielten, gaben der Mutter den Atem wieder.
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