Im Glanz der Hoffnung - Anja Langrock - E-Book
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Im Glanz der Hoffnung E-Book

Anja Langrock

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Beschreibung

Liebe kennt keine Grenzen, aber manchmal geht sie verzwickte Wege …
Der mitreißende Auftakt einer Familiengeheimnis-Dilogie voller schicksalhafter Begegnungen

Seit Jahren ist das Verhältnis der adeligen Familie Hohenstetten zerrüttet. Sie leben nebeneinander her und jeder hat seine eigene Methode den Alltag zu bewältigen. Als die bekannte Drehbuchautorin Valerie Greifenberg ihre Freundin, die Baronin besucht, ändert sich plötzlich alles. Sie bekommt einen Einblick hinter die Fassade des Hotels, in dem nichts ist, wie es zu sein scheint. Während Valerie beginnt, die familiären Verstrickungen zu entwirren, stößt sie auf ein gut gehütetes Geheimnis ihrer Freundin, das das Leben aller Beteiligten für immer verändern könnte. Und damit nicht genug: Die Baronin hat eine Mission, die das Liebesleben ihrer Tochter gehörig durcheinanderbringen soll. Doch sind das die einzigen Geheimnisse und Intrigen oder verbirgt sich hinter den Mauern des noblen Hotels noch mehr?

 

Erste Leser:innenstimmen
„Fesselnde Geschichte voller Intrigen und Geheimnisse, die Lust auf den zweiten Teil macht!“
„Ein Liebesroman in sehr ansprechendem Hotel-Setting, das nur so zum Abtauchen einlädt.“
„Spannend, romantisch, emotional, packend, abwechslungsreich – und vieles mehr!“
„Für Fans von Familiensagas ein Muss!“
„Von der ersten Seite an wird man in die verzwickten Beziehungen der Familie Hohenstetten hineingezogen. Eine emotionale Achterbahnfahrt, die man nicht verpassen sollte.“

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Seitenzahl: 537

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Über dieses E-Book

Seit Jahren ist das Verhältnis der adeligen Familie Hohenstetten zerrüttet. Sie leben nebeneinander her und jeder hat seine eigene Methode den Alltag zu bewältigen. Als die bekannte Drehbuchautorin Valerie Greifenberg ihre Freundin, die Baronin besucht, ändert sich plötzlich alles. Sie bekommt einen Einblick hinter die Fassade des Hotels, in dem nichts ist, wie es zu sein scheint. Während Valerie beginnt, die familiären Verstrickungen zu entwirren, stößt sie auf ein gut gehütetes Geheimnis ihrer Freundin, das das Leben aller Beteiligten für immer verändern könnte. Und damit nicht genug: Die Baronin hat eine Mission, die das Liebesleben ihrer Tochter gehörig durcheinanderbringen soll. Doch sind das die einzigen Geheimnisse und Intrigen oder verbirgt sich hinter den Mauern des noblen Hotels noch mehr?

Impressum

Überarbeitete Neuausgabe Juli 2024

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98998-016-7 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98998-175-1

Copyright © 2021, Anja Langrock Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2021 bei Anja Langrock erschienenen Titels Hotel Hohenstetten: Als das Schicksal uns begegnete (ISBN: 978-3-75432-375-5).

Covergestaltung: ArtC.ore-Design / Wildly & Slow Photography unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © Lioneska, © Bussakon, © Anastasiia Trembach, © D85studio Shutterstock.com: © Denis Novolodskiy, © Darq Lektorat: Katrin Ulbrich

E-Book-Version 10.07.2024, 12:50:19.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Im Glanz der Hoffnung

1. Kapitel

Ein Fauxpas

Ein grauenhaftes Geräusch durchdrang ihr Bewusstsein. Es dauerte einen Augenblick, bis Emily realisierte, dass es das Schrillen eines Weckers war, was sie derart erschreckt hatte.

Trauer überkam sie, die sie zu überfluten drohte, als sie vollständig wach wurde. Denn das Abstellen des Weckers assoziierte Emily mit dem täglichen Neubeginn ihres unwillkommenen Daseins. Warum musste er sie morgens aus einer Traumwelt reißen, die für gnädige Unterbrechungen ihrer unerbittlichen Realität sorgte? Wenn es ihr doch nur möglich wäre, ihren Gedanken und ihren Erinnerungen genauso leicht Einhalt zu gebieten wie dem Klingeln des Weckers.

„Hört das denn nie auf?“, flüsterte Emily fast tonlos. Sie zog sich die Bettdecke über den Kopf, in der Hoffnung, durch diese Geste den alltäglichen Grausamkeiten zu entgehen, die das Leben bot. Die gewohnte Antriebslosigkeit überfiel sie. Jeden Morgen derselbe zermürbende Kampf! Emily wollte das Bett nicht verlassen. Es war ihr ein schier unlösbares Rätsel, wie sie ihren Körper dazu bewegen sollte aufzustehen.

Ergeben schloss sie die Augen und versuchte ihre Gedanken zu unterdrücken, die sich wild im Kreis drehten. Sie wollte sich nicht immer wieder mit ihren schmerzhaften Erinnerungen auseinandersetzen. Starr lag sie im Bett und versuchte sich zu entspannen.

„Du darfst nicht daran denken. Denk an gar nichts. Mach deine Gedanken frei.“ Immer wieder wiederholte Emily monoton wie in Trance dieselben Sätze …

Plötzlich riss Emily die Augen auf und ihr Herz raste viel zu schnell, scheinbar war sie nochmals kurz eingenickt. Sie warf einen hastigen Blick auf den Wecker und sprang erschrocken aus dem Bett. Das konnte doch nicht wahr sein. Sie, die ständig unter Schlaflosigkeit litt, war tatsächlich noch einmal eingeschlafen. Nun war es kurz nach elf Uhr. Ihr Arbeitsbeginn wäre vor fast zwei Stunden gewesen. Hektisch rannte sie in ihrem Zimmer umher, um die Arbeitskleidung zu suchen. Wo hatte der verdammte Rock sich nur versteckt? Endlich fand sie ihn, laut fluchend, verborgen unter einem Berg Klamotten lag er zerknittert auf einem Stuhl.

„Das hat mir gerade noch gefehlt“, schimpfte Emily vor sich hin. Es half nichts, zum Bügeln hatte sie nun wirklich keine Zeit mehr. Nun musste es eben der getragene Rock tun. Ihr war natürlich vollkommen bewusst, dass sie sich bei ihrer Hausdame mit diesem achtlosen Erscheinungsbild noch unbeliebter machen würde. Frau Lilie war der Inbegriff von Perfektion, Pünktlichkeit und tadellosem Benehmen. Attribute, die auf Emily wahrlich nicht im Entferntesten zutrafen. Ihre braunen langen Haare versuchte sie mit den Fingern ein wenig zu richten und band sie kurzerhand zu einem Pferdeschwanz.

Eilig verließ sie den Angestelltentrakt des Hotels. Noch im Laufen knöpfte sie sich hastig die Bluse zu und betete, dass sie weder einem Gast noch einem Angestellten auf den Hotelfluren begegnen würde.

Emily holte rasch den Wagen mit den Putzutensilien und begab sich direkt in die oberste Etage, wo sie diese Woche für das Reinigen der Suiten eingeteilt war. Fahrig schob sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und ignorierte ihre zittrigen Knie.

Momentan waren nur zwei der geräumigen Zimmer belegt. Baronin von Hohenstetten verfügte allerdings über ein persönliches Zimmermädchen. Blieb noch die Suite von Frau Greifenwald …

Daher war Emily vormittags lediglich für das Wohlbefinden von Frau Greifenwald zuständig. Auf den normalen Etagen ging es deutlich stressiger zu.

Leider war die berühmte Drehbuchautorin für ihre Extravaganzen bekannt und bestand darauf, dass das Zimmer zwischen 9.30 Uhr und 11.30 Uhr gereinigt wurde, während sie frühstückte und einen Spaziergang unternahm. Emily war vorige Woche in den zweifelhaften Genuss ihres Unmuts gekommen, als sie noch das Bad putzte, während Frau Greifenwald von ihrem Ausflug zurückkehrte. Sie hatte Emily deutlich zu verstehen gegeben, dass sie sich ein unsichtbares Zimmermädchen wünschte, damit sie in Ruhe ihrem strikten Tagesablauf nachgehen konnte.

Wie würde sie reagieren, wenn sie realisierte, dass Emily in ihrer Abwesenheit nicht einmal erschienen war? Diese Dreistigkeit lag wahrscheinlich jenseits ihrer Vorstellungskraft.

Hoffentlich hatte sie sich nicht schon bei Frau Lilie beschwert, schoss es Emily durch den Kopf. Sie wusste, irgendwann wäre eine Grenze erreicht. Eine Abmahnung hatte sie schon vor zwei Monaten erhalten, weil sie ein paarmal unpünktlich zum Dienst erschienen war. Sie konnte es sich nicht leisten, ihren Job als Zimmermädchen zu verlieren. Frau Lilie drückte sowieso schon öfters ein Auge zu. Jede andere Hausdame, die für den reibungslosen Ablauf eines Fünfsternehotels verantwortlich wäre, hätte sie schon längst als untragbar eingestuft. Und jetzt vermasselte sie den erneuten Vertrauensbeweis.

Nicht, dass dieser ihr besonders viel Freude bereitete oder sie vor große Herausforderungen stellen würde. Nein, es gab einen zwingenden Grund, warum sie genau diesen Job behalten wollte. Dieser kraftraubende Beruf, in dem sie oftmals sechs Tag die Woche, zehn Stunden am Tag arbeiten musste, hielt sie davon ab, zum Nachdenken zu kommen. Sie wünschte sich einen Zustand des Vergessens. Dabei half ihr dieser Job, bei dem sie abends zumeist vor Müdigkeit wie betäubt ins Bett fiel.

Im Hotel war es ruhig, lediglich einer Kollegin nickte sie im Vorbeigehen zu. Vor der Tür der Baroness Suite warf sie einen ängstlichen Blick auf ihre Uhr. Die Zeiger standen mittlerweile auf nach halb zwölf.

Vergeblich versuchte sie nochmals ihren Rock mit fahrigen Bewegungen glatt zu streichen. Anschließend hob sie zögerlich ihre Hand und klopfte nervös an die Zimmertür. Zunächst hörte sie nichts. War Frau Greifenwald noch nicht von ihrem Spaziergang zurückgekehrt? Oder beschwerte sie sich just in diesem Augenblick bei Frau Lilie oder schlimmer direkt bei der Geschäftsleitung?, durchfuhr Emily ein noch erschreckenderer Gedanke. Mit all ihrem Mut klopfte sie noch einmal, diesmal etwas weniger zaghaft.

„Ja!“, ertönte es. Alleine durch dieses eine Wort wurde der Unwillen des Gastes perfekt zum Ausdruck gebracht.

„Zimmerservice“, meldete Emily sich mit ungewohnt schriller Stimme zu Wort, während sie vorsichtig die Tür öffnete und eintrat. Ihr Herz klopfte so heftig, dass sie Sorge hatte, es könnte heraushüpfen.

Frau Greifenwald saß an ihrem Sekretär und hatte Unmengen von Unterlagen, Blättern und Stiften vor sich liegen. Das Notebook lag ungeöffnet auf dem Boden. Als sie Emily erblickte, zog die Drehbuchautorin ihre Augenbrauen nach oben und betrachtete sie mit strengem Blick über den Brillenrand. Ein Moment peinlichen Schweigens entstand, nachdem Frau Greifenwald sich allem Anschein nach nicht bemüßigt fühlte, das Gespräch zu beginnen.

Emily fühlte, wie Hitze ihren Körper in Beschlag nahm. Den Drang, ihre schweißnassen Hände am Rock abzuwischen, musste sie krampfhaft unterdrücken. Ihr war klar, dass sie den Hotelgast nicht ewig ohne ein Wort der Verteidigung anstarren konnte. Hilflos begann sie ihre Schultern hochzuziehen, als ob sie sich dazwischen verstecken könnte.

„Frau Greifenwald, es tut mir schrecklich leid, dass ich Ihr Zimmer noch nicht gereinigt habe. Mir ist bewusst, dass Sie eine viel beschäftigte Frau sind. Ich weiß, dass es für meinen Fauxpas keine Entschuldigung gibt.“ Emily konnte sich nur unter Zwang dazu überwinden die Drehbuchautorin anzusehen. Sie wollte wenigstens nicht als feige gelten.

„Ich war der Meinung, ich hätte meine Bedürfnisse klar und deutlich zum Ausdruck gebracht“, erwiderte Frau Greifenwald mit strenger Stimme.

„Darüber bin ich mir vollkommen im Klaren, aber ich …“ Emily wusste nicht weiter. Sie konnte schließlich kaum zugeben, dass sie verschlafen hatte.

„Von einem Fünfsternehotel darf ich eigentlich schon einen gewissen Standard und Service erwarten. Es ist doch wirklich nicht zu viel verlangt, innerhalb von zwei Stunden eine Zimmerreinigung durchzuführen.“ Langsam redete sich die temperamentvolle Frau in Rage.

„Ich kann Ihnen nur zustimmen.“ Emily stand mitten im Raum, trat hinter ihrem Putzwagen hervor, als wollte sie damit ihren Mut demonstrieren. „Unser Hotel legt großen Wert auf einen umfangreichen, erstklassigen, individuell auf die Bedürfnisse der Gäste abgestimmten Service. Es tut mir leid, diesem Ansehen mit meiner Unzuverlässigkeit zu schaden“, schloss Emily ihre Erklärung.

Bildete sie sich ein, dass Frau Greifenwald ein Schmunzeln auf den Lippen lag? Das konnte sie sich nun wirklich nicht vorstellen.

„Nun mal langsam mit den jungen Pferden. Ihre kleine Ansprache könnte direkt aus einem meiner Drehbücher stammen. Sehr theatralisch und stilistisch einwandfrei. Gratulation.“

Ungläubig sah Emily sie an. Wollte sie sich nun auch noch auf ihre Kosten lustig machen?

Tatsächlich schmunzelte Frau Greifenwald wahrscheinlich über Emilys dümmlichen Gesichtsausdruck, aufgrund ihrer unerwarteten Reaktion.

„Für ein gewöhnliches Zimmermädchen können Sie sich ziemlich versiert ausdrücken. Erledigen Sie einen Ferienjob hier im Hotel?“, fragte sie scheinbar aufrichtig interessiert.

Emilys kurzzeitige Entspannung verflog schlagartig, als habe sie nur in ihrer Fantasie existiert. Ihr Privatleben ging nun wirklich niemanden etwas an. Anscheinend bemerkte Frau Greifenwald ebenfalls, dass Emily sich von ihr distanzierte, denn ihre gute Laune verflüchtigte sich zusehends und sie bemerkte kurz angebunden: „Ich kann unmöglich arbeiten, während Sie mein Zimmer säubern. Wie soll ich mich so konzentrieren?“

„Es klingt vermutlich anmaßend, aber könnten Sie nicht zwischenzeitlich in der Hotellobby arbeiten?“, versuchte Emily die Stimmung zu retten.

„Man merkt, dass Sie keinerlei Vorstellung von meiner Arbeit haben. Ich benötige Ruhe! Vollkommene Ruhe, um mich auf die Welt der Fantasie und Kreativität einzulassen. Während ich schreibe, lebe ich in meinen Geschichten.“ Sie hob einen Stapel ihres Manuskripts in die Höhe. „Wie in Gottes Namen soll ich das in einer Hotellobby bewerkstelligen, die von Unmengen von Menschen bevölkert wird? Menschen, die mich in meinem Schaffensprozess ständig zu unterbrechen wissen“, entgegnete die Autorin von oben herab.

„Sie können sich doch von den verschiedenen Charakteren und Beobachtungen inspirieren lassen.“ Als sie die umwölkte Stirn ihrer Gesprächspartnerin bemerkte, ergänzte sie schnell: „Oder Sie setzen sich auf Ihre wunderschöne Dachterrasse und genießen die warmen, unglaublich belebenden Sonnenstrahlen und das liebliche Zwitschern der Vögel.“

Als sie den missbilligenden Blick von Frau Greifenwald auffing, hatte sie Bedenken, etwas zu dick aufgetragen zu haben.

„Soll ich mir dort draußen den Tod holen? Nein, ich verzichte dankend!“

Nicht nur sie, sondern auch Frau Greifenwald neigte zu theatralischen Übertreibungen, stellte Emily verwundert fest. Denn obwohl es schon Anfang September war, handelte es sich um einen warmen Herbsttag, dessen tanzende Sonnenstrahlen dazu einluden, Zeit im Freien zu verbringen. Es war ein letzter, sehnsüchtiger Sommergruß, der einen aufforderte, die schönen Erinnerungen an laue Sommerabende nicht zu vergessen.

Emily zuckte zusammen, als ihr bewusst wurde, dass Frau Greifenwald weitersprach und sie überhaupt nicht zugehört hatte. Sie nahm sich zusammen und versuchte ihr gedanklich wieder zu folgen.

„Aber ich muss anerkennen, dass Sie sich wirklich Mühe geben und versuchen kreative Ideen zu entwickeln. Das gefällt mir. Deshalb werde ich Ihnen noch eine Chance geben.“ Die Autorin legte ihre Manuskriptseiten auf dem Sekretär ab und erhob sich. „Sie können das Zimmer reinigen und ich genehmige mir einen weiteren Cappuccino an der Bar. Aber sehen Sie zu, dass Sie mit Ihrer Arbeit fertig sind, wenn ich in einer halben Stunde zurückkehre.“

Mit diesen Worten verließ sie die verdutzte Emily.

Während Emily unter Hochdruck zuerst das Bad und später die Suite saugte und putzte, dachte sie darüber nach, ob Frau Greifenwalds positive Reaktion wohl bedeutete, dass sie sich nicht über sie beschweren würde. Sie konnte die Drehbuchautorin in ihrer Unberechenbarkeit nicht einschätzen. Einmal wirkte sie völlig unnahbar und überheblich, dann wiederum nahm sie menschliche Züge an und wirkte fast freundlich und verständnisvoll.

Emily achtete darauf, trotz des Zeitdruckes ordentlich zu arbeiten. Frau Greifenwald würde ihr keine weiteren Fehler durchgehen lassen.

Sie trat an den Schreibtisch heran und war unschlüssig, ob sie das Durcheinander auf dem Sekretär aufräumen sollte. Spontan entschied sie sich dagegen, da sie das unbestimmte Gefühl in sich trug, dass es Frau Greifenwald nicht gutheißen würde, sollte sie ihre Arbeitsunterlagen durcheinanderbringen.

Emily ließ ihren Blick routiniert durch den großzügigen Raum gleiten. Sie sah die gemütliche Sitzecke mit der exquisiten weißen Ledercouch und den bequemen Sesseln, die zum Wohlfühlen einluden. Die großen Fensterfronten schufen einen hellen, freundlichen Raum mit sensationellem Ausblick auf die Allgäuer Alpen. Außerdem gab es zwei Schreibmöglichkeiten für Frau Greifenwald. Zum einen stand ihr der antike Sekretär zur Verfügung, welcher sich linker Hand der Lounge befand. Ein weiterer Tisch war direkt vor einem der bodentiefen Fenster platziert. Anscheinend fühlte sich die Drehbuchautorin an diesem Platz durch die spektakuläre Bergkulisse abgelenkt, sodass sie ihren Arbeitsplatz am Sekretär bezogen hatte. Das Schlafzimmer befand sich in einem angrenzenden, separaten Raum und war ebenfalls liebevoll mit teuren und sehr stilvollen Möbelstücken eingerichtet.

Kurzzeitig verlor Emily sich in alten Träumen. Träume, die sie schon vor Jahren begraben hatte, von denen sie wusste, dass diese unwiderruflich verloren waren. Wie musste man sich fühlen, wenn man in der glücklichen Lage war, sich solch ein Zimmer über Monate hinweg leisten zu können?

Emily wachte aus ihrer Versunkenheit auf und wandte den träumerischen Blick von der Bergkulisse ab. Energisch versuchte sie ihre Gedanken abzuschütteln. Schließlich wusste sie am allerbesten, dass Geld und Reichtum ihr niemals das verlorene Glück zurückgeben konnten. Rasch versteckte sie ihre Gefühle wieder hinter einer Maske der Gleichgültigkeit, um den Schmerz, der sie unvermittelt überfiel, zu vertuschen.

Just in dem Augenblick, als sie abschließend die Minibar auffüllte, betrat Frau Greifenwald, pünktlich auf die Minute, die Suite.

„Sie sind ja immer noch hier!“

„Ich bin soeben fertig geworden.“ Emily stellte die letzte leere Flasche auf ihren Wagen. „Hoffentlich ist alles zu Ihrer Zufriedenheit. Nun werde ich Ihre wertvolle Zeit nicht über Gebühr beanspruchen und Sie endlich arbeiten lassen.“ Emily wollte den Wagen aus dem Zimmer schieben, aber Frau Greifenwald hielt sie nochmals zurück. „Sie wollten mir anscheinend vorhin meine Frage nicht beantworten. Aber ich glaube die Antwort zu kennen. Sie arbeiten fest angestellt als Zimmermädchen, oder?“ Frau Greifenwald ließ die Frage einen Moment in der Luft hängen. Als Emily wegsah, fuhr sie fort: „Das ist mir unbegreiflich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Anforderungen dieses Berufes Sie ausfüllen. Da Sie augenscheinlich weder ungebildet noch dumm sind, verstehe ich nicht, warum Sie nicht mehr aus Ihrem Leben machen.“

Emily schoss die Röte ins Gesicht, als sie diese unverblümten Worte hörte. Sie empfand sie als anmaßend und dreist. Was war schlimm daran, einen Beruf auszuüben, für den man keine besonderen Qualifikationen vorweisen musste?

„Ich glaube nicht, dass es zu meinen Aufgaben gehört, Ihnen über die Beweggründe meiner Berufswahl Auskunft zu erteilen.“

Frau Greifenwald schien ihre Reaktion nicht persönlich zu nehmen und erwiderte trocken: „Genau das meinte ich. Sie sind um keine treffende Antwort verlegen. Sie können sich ausdrücken, rechtfertigen und argumentieren. Ich kann nicht verstehen, dass jemand, in dem offensichtlich Potenzial steckt, dieses nicht ausschöpft.“

„Vielleicht fällt nicht jedem Menschen alles in den Schoß und ein anderer Weg scheint zu umständlich und aufwendig.“ Emily wusste nicht, warum sie sich auf diese Diskussion überhaupt einließ.

Frau Greifenwalds Gesichtsausdruck spiegelte Enttäuschung und scheinbar sogar Verachtung wieder.

„Ich hätte Sie aufgrund unseres Gespräches nicht für eine Person gehalten, die bei kleinsten Problemen aufgibt und immer den einfachsten Weg wählt, weil es ihr zu unbequem ist, etwas für ihre Karriere zu tun. Ich habe noch nie verstanden, warum Menschen meinen, für ihren eigenen Erfolg und ihr eigenes Glück nichts tun zu müssen. Nur durch harte Arbeit bringt man es im Leben zu etwas.“ Frau Greifenwald musterte Emily. „Sie sind eine junge Frau, Anfang zwanzig, ohne bedeutende Zukunftsperspektive, ohne Aufstiegschancen. Wollen Sie wirklich bis an Ihr Lebensende als einfaches Zimmermädchen arbeiten? Die ganze Welt steht Ihnen noch offen. Warum bemühen Sie sich nicht wenigstens darum, einen Ausbildungsberuf zu erlernen?“

Emily rang um Fassung, als sie diese harschen Worte vernahm. Sie bekam keine Luft mehr und hatte Angst zu hyperventilieren. Für einige Sekunden, die ihr unendlich lang vorkamen, drehte das Zimmer sich um sie und Emily schaffte es nicht mehr, sich auf ihre Gesprächspartnerin zu konzentrieren. Sie bemühte sich um eine ruhige, konstante Atmung, genauso wie sie es gelernt hatte. Langsam ging es ihr wieder etwas besser und ihr Puls schien sich ebenfalls zu normalisieren.

Sie sah Frau Greifenwald geradewegs in die Augen, blinzelte nicht einmal und erwiderte gequält: „Sie wollen wissen, warum ich mich nicht bemühe, mich weiterzubilden?“ Emily wartete keine Antwort ab. „Die enttäuschende Antwort lautet: Ich verspüre keine Motivation, in mir ist nur Leere. Ich bin froh, wenn ich es morgens schaffe, mein Bett zu verlassen, um überhaupt einer Tätigkeit nachgehen zu können. Egal welcher! Ich habe nicht die Kraft, mich einer Ausbildung oder einem Studium zu widmen. Und vor allem steht die große Frage im Raum, für was ich diesen Aufwand überhaupt betreiben soll. Ich sehe für mich weder eine Zukunft noch Freude und erst recht keine Lebensqualität.“

Die Worte brachen wie ein Orkan aus ihr heraus, als ob sie diesem belastenden Druck, unter dem sie permanent stand, endlich einmal ein wenig Ventil zur Entfaltung geben wollte. Unvermittelt schossen ihr die Tränen in die Augen, als ihr die Tragweite ihres Vorgehens bewusst wurde, und sie hastete ohne ein weiteres Wort aus dem Raum.

***

Frau Greifenwald wollte sie zurückhalten, aber plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie noch nicht einmal den Namen der Person kannte, die täglich für ihr Wohlbefinden sorgte. So rauschte die Hotelangestellte von dannen und sie konnte ihr nur hilflos hinterhersehen. Unbewusst fuhr sie sich durch die kurzen roten Haare. Es war ihr ein wenig unangenehm, offensichtlich für den emotionalen Ausbruch des Zimmermädchens verantwortlich zu sein. Diese undurchsichtige, vielschichtige Persönlichkeit interessierte sie, seit sie sie das erste Mal in ihrer Suite angetroffen hatte. Die junge Frau musste schon einiges erlebt haben, um so müde und des Lebens überdrüssig zu sein. Während sie sich einen zweiten Cappuccino an der Hotelbar gegönnt hatte, glaubte sie, Emilys Beweggründe seien einfach zu durchschauen. Sie hatte ihr heimlich unterstellt, auf diesem Weg einen reichen Mann finden zu wollen. Abwegig war dieser Vorwurf nicht. Im Hotel Hohenstetten stiegen viele wohlhabende Geschäftsleute ab. Viele Firmen aus der Region hielten hier Konferenzen ab.

Hübsch genug war sie mit ihrem Modelaussehen. Nur ihre traurigen, ausgebrannten Augen passten nicht in das perfekte Gesamtbild.

Doch nach diesem Auftritt glaubte Frau Greifenwald nicht mehr an ihre ursprüngliche Theorie. Diese Unterstellung war zu profan und erklärte nicht den emotionalen Ausbruch.

Sie ließ sich am Schreibtisch nieder, erwischte sich dabei, nachdenklich aus dem Fenster zu sehen.

Eine halbe Stunde später musste sie sich eingestehen, dass sie sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren konnte. Seufzend stand sie auf, nahm den Telefonhörer in die Hand und ließ sich mit der Hausdame verbinden. Nachdem sie Frau Lilie am Apparat hatte, bat sie sie um einen umgehenden Besuch in ihrer Suite.

Die vorbildlichen Manieren der Hausdame verhinderten wohl, dass sie ihr Befremden über diesen ungewöhnlichen Wunsch zum Ausdruck brachte.

„Frau Lilie, ich bedanke mich, dass Sie meinem Wunsch unverzüglich nachgekommen sind.“ Frau Lilie nickte ihr zu, gab aber weiterhin keine Gefühlsregung preis. „Es mag Ihnen ungewöhnlich vorkommen, aber mich beschäftigen einige Fragen. Wie heißt eigentlich das Zimmermädchen, das momentan für meinen Service zuständig ist?“

Frau Lilie antwortete pikiert: „Hat Frau Schwarz nicht zu Ihrer Zufriedenheit gearbeitet? Ich kann umgehend für Ersatz sorgen, wenn sie Ihren Ansprüchen nicht genügt.“

„Sie haben mich falsch verstanden“, beschwichtigte Frau Greifenwald. „Mir fiel lediglich nach einem Gespräch mit ihr auf, dass ich nicht einmal weiß, wie sie heißt. Ich habe keinen Grund zur Beanstandung.“

Der skeptische Blick der Hausdame ließ Spekulationen freien Lauf, anscheinend war Frau Schwarz schon des Öfteren negativ aufgefallen. Etwas, das ihre Neugier noch entfachte.

„Können Sie mir Auskunft über die Vorgeschichte von Frau Schwarz geben?“

Es war ihr egal, was Frau Lilie für Gedanken über ihre Beweggründe durch den Kopf schwirrten.

Wieder ließ sich die Hausdame ihr Befremden nicht anmerken. „Frau Schwarz arbeitet seit über einem Jahr in unserem Betrieb. Da sie ihre Ausbildung zur Hotelfachfrau nicht abgeschlossen hat, konnten wir sie nur als ungelerntes Zimmermädchen anstellen.“

Das waren interessante Neuigkeiten. Anscheinend gab es einmal bessere Zeiten im Leben der jungen Frau, in denen sie eine Ausbildung absolvierte.

„Wissen Sie, warum Frau Schwarz ihre Ausbildung abgebrochen hat?“

„Es tut mir leid, darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben. Frau Schwarz ist sehr verschlossen, was ihre Vergangenheit betrifft.“

„Vielen Dank für Ihre Bemühungen.“ Mit dieser Aussage entließ Frau Greifenwald die verdutzte Hausdame. Sie sah sich nicht genötigt, sie über ihr Interesse aufzuklären. Aber ihre Neugierde, Näheres über Frau Schwarz’ dunkles Geheimnis herauszufinden, war geweckt.

2. Kapitel

Neugierde oder Mitgefühl?

Wutentbrannt stürmte Emily über den Gang. Den Putzwagen hatte sie aufgeräumt, nun benötigte sie dringend frische Luft. Was für eine bodenlose Unverfrorenheit. Warum hielten sich diese reichen überheblichen Hotelgäste eigentlich immer für etwas Besseres und meinten, sie könnten nach Belieben mit dem Personal umspringen? Was gingen Frau Greifenwald ihre Beweggründe an? Warum interessierte sie sich überhaupt für ihr Leben? Da war es ihr allemal lieber, von den Hotelgästen wie Luft behandelt zu werden. Damit kam sie gut zurecht. Sie richtete den Blick eilig zu Boden, als zwei Kollegen ihr entgegenkamen, damit sie bloß nicht auf die Idee kämen, sie anzuquatschen.

Geschafft! Jetzt musste sie nur noch unbemerkt den Angestelltenausgang erreichen, dann wäre sie gerettet.

„Emily, ist alles in Ordnung mit dir? Kann ich dir helfen?“

Mist! Ausgerechnet Helena musste ihr über den Weg laufen. Die ließ sich nicht so leicht abschütteln. Langsam drehte sie sich um und bemühte sich um ein halbwegs freundliches Gesicht.

„Hey, ich habe dich gar nicht gesehen. Alles okay.“

Helena war seit einigen Monaten für die Kinderbetreuung der kleinen Hotelgäste zuständig und die Einzige, die es noch nicht aufgegeben hatte, Emily aus der Reserve zu locken. Und sie sah viel zu besorgt aus, als dass sie sie mit der lapidaren Aussage abspeisen konnte.

Emily pflegte keine Beziehungen zu anderen Mitarbeitern. Die meisten kannte sie nur flüchtig, denn sie hatte kein Bedürfnis nach Nähe. Ihre Kolleginnen tuschelten oftmals hinter ihrem Rücken über sie, dessen war sich Emily bewusst. Wahrscheinlich hielten sie Emily für arrogant und dachten, es wäre unter ihrer Würde, sich mit ihnen abzugeben. Dass es sich genau andersherum verhielt, konnten sie sich wahrscheinlich beim besten Willen nicht vorstellen. Emily hatte es nicht verdient, dass Menschen sich mit ihr beschäftigten oder sie gar mochten. Sie bestrafte sich bewusst selbst mit ihrem Verhalten. Aber dadurch fühlte sie sich ein klein wenig besser.

Helena hingegen war immer freundlich und beliebt bei sämtlichen Kollegen. Daher traten bei Emily in ihrer Gesellschaft regelmäßig gemischte Gefühle auf. Einerseits konnte sie sich Helenas positiver Ausstrahlung und Herzlichkeit nicht entziehen. Auch wenn sie es nicht zeigen konnte, da sie ihre wahren Emotionen schon zu lange versteckte. Anderseits nahm sie Helena ihre Leichtfertigkeit und Lebensfreude insgeheim übel und das tat ihr leid. Es fiel ihr allerdings schwer, ihre Anwesenheit zu ertragen, da sie ihr ständig vor Augen führte, was sie selbst verloren hatte. Emily würde niemals mehr in der Lage sein, dieselbe Lebensfreude und unglaubliche Vitalität, die Helena ausstrahlte, zu verspüren.

Helena riss Emily unversehens erneut aus den Gedanken, als diese sie am Arm berührte.

„Emily? Du siehst nicht aus, als wäre alles okay.“

Emily zuckte zusammen und zog hastig ihren Arm zurück. Sie konnte es nicht leiden, wenn andere Menschen sie anfassten. Sie wollte keinen Körperkontakt – zu niemandem. Das würde bedeuten, ihr käme jemand zu nahe. Ein Umstand, den sie unbedingt verhindern wollte.

Helena bemerkte anscheinend ihren Unwillen und unterließ weitere vertrauliche Berührungen. Ihr besorgter Blick blieb jedoch bestehen.

„Mir geht es gut“, erwiderte Emily spröde.

„Du siehst aus, als wäre dir eine Laus über die Leber gelaufen.“ Helena ließ sich nicht von Emilys abweisender Reaktion aus dem Konzept bringen.

Gott, was ging Helena ihr mit ihrer Vorliebe für Sprichwörter auf die Nerven. Sie verdrehte die Augen und sagte unwirsch: „Um deine unersättliche Neugierde zu befriedigen, ich hatte Probleme mit einem Hotelgast. Aber nun ist alles geklärt und du kannst dein Gutmenschen-Syndrom wieder ad acta legen.“

Helena musterte sie weiterhin beunruhigt. Emilys Unverschämtheiten schienen einfach wie Regentropfen an ihr abzuperlen. In einer schwachen Stunde hatte ihr Emily von der erhaltenen Abmahnung erzählt, deshalb waren Helenas Sorgen durchaus gerechtfertigt.

„Hat Frau Lilie etwas von deinen Schwierigkeiten mitbekommen?“

Emily wartete ab, bis zwei lachende Kollegen vorbeiliefen, die gerade das Hotel betraten. Stumm beobachtete sie Helena, die sie freudig mit Namen begrüßte, während sie selbst von den Neuankömmlingen unbeachtet blieb.

Sie sollte sich ein wenig mehr Mühe geben. Immerhin war Helena die einzige Person, die aufrichtiges Interesse an ihr zeigte.

„Ich glaube nicht, dass Frau Greifenwald sich über mich beschwert hat. Ich habe verschlafen, deshalb war ihre Suite noch ungereinigt, als sie von ihrem Spaziergang zurückkam. Wie du dir denken kannst, war sie alles andere als amused.“ Sie rollte kurz mit den Augen. „Aber ich habe das Gefühl, dass wir das einvernehmlich geklärt haben“, schloss sie ihre Erklärung ein klein wenig erleichtert.

„Frau Greifenwald!“, erwiderte Helena fast ehrfürchtig. „Du bist für die Suite von Frau Greifenwald zuständig.“ Jetzt sprühte Helena vor Leben und packte Emily aufgeregt am Arm. Emily schüttelte erneut ihre Hand ab, doch Helena schien es nicht zu bemerken. „Warum sagst du das nicht gleich? Erzähl, wie ist sie so? Ich liebe ihre Filme. Hast du mit ihr über ihre Arbeit sprechen können? Weißt du, an welchem neuen Projekt sie arbeitet? Hast du „Gefühlsverwirrungen“ gesehen? Ein wunderschöner, aber gleichzeitig auch trauriger Film.“

Emily fühlte sich von Helenas Redeschwall vollkommen überrannt und spürte die gewohnte, altbekannte Gereiztheit in sich aufsteigen.

„Natürlich, Helena!“ Sie hob ironisch die Arme gen Himmel. „Frau Greifenwald lädt mich jeden Morgen nach getaner Arbeit zum gemütlichen Kaffeekränzchen ein und fragt mich bei schwierigen Szenen um Rat. Meine Meinung hat einen äußerst hohen Stellenwert für sie.“

Helena blickte sie verblüfft an und es dauerte einen Augenblick, ehe sie Emilys verächtliche Miene zu realisieren schien. Sie wurde ein wenig rot. Anstatt beleidigt zu sein, lächelte sie. Eine weitere positive Eigenschaft, die sie auszeichnete, musste Emily sich einmal mehr unwillig eingestehen.

„Entschuldige bitte, Emily. Ich wollte dich nicht ausfragen. Aber ich hoffe wirklich, dass Frau Greifenwald über deinen Fehler hinwegsieht. Es würde mir nämlich wirklich leidtun, wenn du deinen Job verlierst. Ich würde dich vermissen, auch wenn du mir das nicht glaubst.“

Mit dieser offenherzigen Aussage ließ Helena sie stehen, und sie starrte ihr verdattert hinterher.

3. Kapitel

Der Zusammenstoß

Helena hatte beschlossen, das Ganze mit Humor zu nehmen. Ein untrügliches Gefühl sagte ihr, dass sie sich von Emilys unverschämtem Auftreten nicht abschrecken lassen durfte. Irgendwann würde sie zu ihr durchdringen, daran glaubte sie fest. Helena schmunzelte, als sie sich Emilys perplexen Gesichtsausdruck vor Augen führte. Ihre Fröhlichkeit verschwand allerdings schneller, als ihr lieb war. Sie straffte die Schultern bei der Erinnerung daran, welch unliebsame Anweisung sie nun auszuführen hatte. Eigentlich bereitete ihr die Arbeit im Hotel viel Freude. Sie war als Erzieherin für die Kinderbetreuung zuständig und gestaltete eigenverantwortlich ihren persönlichen Aufgabenbereich. Zudem war es eine Erleichterung, nicht mehr dem permanenten Druck und den hohen Anforderungen von Eltern ausgesetzt zu sein, wie es in ihrer ehemaligen Arbeitsstätte, einem Münchener Kindergarten, der Fall gewesen war. Dort hätten die Eltern am liebsten schon mit Eintritt ihres Sprösslings eine zuverlässige Prognose über ein erfolgreich abgeschlossenes Studium ihres Kindes erhalten. Hier im Hotel Hohenstetten sah es anders aus. Die Hotelgäste waren erfreut und erleichtert, dass sie ihren Nachwuchs auch im Urlaub gut umsorgt wussten, und zeigten sich äußerst dankbar für die liebevolle Betreuung ihrer Kinder.

Heute jedoch war Helena nicht auf dem Weg in das geräumige Spielzimmer des Hotels, sondern machte sich Richtung Restaurant auf. Im Servicebereich waren einige Mitarbeiter krankheitsbedingt ausgefallen und Helena war kurzfristig als Ersatz abgestellt worden. Ausgerechnet sie, die ständig etwas fallen ließ oder über ihre Füße stolperte.

Außerdem war sie ungehalten darüber, wie geringschätzig die Hotelleitung mit ihr umsprang. Eigentlich hatte sie für heute eine Wanderung mit den älteren Kindern geplant. Für die Schatzsuche hatte sie während ihrer Freizeit einiges an Vorbereitung investiert. Ihren Einwand hatte Frau von Hohenstetten lediglich mit einer unwirschen Handbewegung weggefegt und ihr im herrischen Ton befohlen, sich umgehend im Servicebereich zu melden. Dass sich die Kleinen schon auf den Ausflug gefreut hatten, war ihr natürlich vollkommen egal.

Alleine die alberne Arbeitskleidung war ein Ärgernis. Die steife Bluse begann sie schon jetzt zu kratzen und der enge schwarze Rock zeichnete sich nicht gerade dadurch aus, besonders bequem zu sein. Aber der optische Eindruck war natürlich wichtiger, dachte Helena verächtlich und zupfte an ihrem Rock herum. Dieses figurbetonte Outfit trug nicht dazu bei, ihre Selbstsicherheit zu erhöhen. Trotzdem bemühte sie sich, ihre Stimmung zu retten. Sie würde ein paar Stunden bedienen schon unbeschadet hinter sich bringen.

Die Frage war nur, ob die Hotelgäste das genauso sahen, dachte Helena grinsend, als sie die betriebsame Küche betrat.

„Du scheinst dich zu freuen, mich zu sehen, gib’s zu“, rief Yannick, der Küchenchef, ihr fröhlich zu, während er mit mehreren Pfannen hantierte.

„Bilde dir bloß nichts drauf ein“, erwiderte Helena gutmütig.

Sie mochte Yannick, einen humorvollen Mann Mitte dreißig, der gerne mit ihr flirtete. Er war zwar nicht klassisch gut aussehend, aber er zeichnete sich durch Charakter, Charme und Ausstrahlung aus. Sie war schon häufiger abends mit ihm ausgegangen und hatte sich das eine oder andere Glas Wein spendieren lassen, aber mehr als Freundschaft empfand sie nicht für ihn. Eine feste Beziehung war im Moment das Letzte, was sie sich vorstellen könnte. Nein, sie genoss ihr Singleleben in vollen Zügen. Yannick war eher der Typ für einen One-Night-Stand, was für Helena nicht infrage kam.

„Wenn du deine Träumereien beendet hast, könntest du die beiden Teller zu Tisch zwölf bringen“, weckte ausgerechnet er sie aus ihren Gedanken. „Ich kann mir schon denken, an wen du gerade gedacht hast“, neckte Yannick sie weiter.

Helena wurde wie so oft rot. Sie konnte Yannicks Unterstellung noch nicht einmal entkräften, da sie tatsächlich an ihn gedacht hatte, und sie war schon immer eine schlechte Lügnerin gewesen. Deshalb setzte sie eine unbeteiligte Miene auf und stolzierte mit den Tellern von dannen, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.

Was folgte, waren zwei hektische Stunden mit Bestellungen aufnehmen, Tische abräumen sowie Essen und Getränke servieren. Helena warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr und stellte erleichtert fest, dass sie es beinahe geschafft hatte. Die Hauptzeit des Mittagessens war gleich vorüber.

Abkassieren musste sie zu ihrer Beruhigung nur in wenigen Einzelfällen, da fast alle der Speisenden Hotelgäste waren.

Um Viertel nach zwei sah sie zu ihrem Leidwesen einen weiteren Gast das Restaurant betreten. Ihre gute Laune sank schlagartig wieder. Ihre Mittagspause, die schon in greifbarer Nähe gelegen hatte, entschwand plötzlich wieder. Missmutig machte sie sich mit der Speisekarte auf den Weg zu ihrer ungebetenen Kundschaft.

„Grüß Gott. Wissen Sie schon, was Sie zum Trinken bestellen möchten? Benötigen Sie auch noch die Speisekarte?“

Helena merkte selbst, dass sie nicht gerade die Herzlichkeit in Person war. Nun war es eben nicht zu ändern, dass ihr Tonfall alles andere als freundlich und zuvorkommend klang.

„Danke der Nachfrage. Ich würde gern etwas essen, wenn es Ihnen keine allzu großen Umstände bereitet“, entgegnete der Mann und sah sie herausfordernd an.

„Sehr gern“, antwortete Helena, doch es klang wie: „Du kannst mich mal.“ Als ob ihr eine Wahl blieb.

Er musterte sie mit zusammengekniffenen Augen und verzog verächtlich den Mund. Wahrscheinlich war er so ein reicher Schnösel, der die Ansicht vertrat, das Servicepersonal sei unter seinem Niveau. Zumindest entsprach er ihrem Klischee des erfolgreichen Geschäftsmannes. Helena versuchte ihren aufsteigenden Ärger runterzuschlucken und wippte mit dem Fuß, während er sein Getränk auswählte.

Er trug einen maßgeschneiderten, teuer aussehenden Anzug mit farblich stimmiger Krawatte und dazu die perfekt geschnittene Frisur, bei der keine Gefahr bestand, dass ein unerwarteter Windstoß sie ins Ungleichgewicht brachte. Er sah gut aus, daran bestand kein Zweifel. Zudem war er großgewachsen, sicherlich um die eins fünfundachtzig. Mit seinen dunkelbraunen Haaren, der gebräunten Haut und den markanten Gesichtszügen war er sogar unverschämt hübsch anzusehen, musste Helena unwillig zugeben. Aber das machte ihn keineswegs attraktiv, denn seine blasierte Art, mit der er sie behandelte, gefiel ihr überhaupt nicht.

„Richten Sie dem Küchenchef aus, ich habe es eilig. Mein nächster Geschäftstermin ist in einer halben Stunde“, rief er ihr hinterher, als er seine Bestellung aufgegeben hatte und sie auf dem Weg in die Küche war.

Sie verdrehte genervt die Augen, wandte sich ihm betont langsam zu und trat erneut an seinen Tisch heran.

„Ich glaube kaum, dass es möglich ist, in diesem knapp bemessenen Zeitraum sowohl die Vorspeise als auch das Hauptgericht zuzubereiten, geschweige denn auch noch zu essen“, entgegnete Helena schnippisch.

„Und ich war der Meinung, dass die Angestellten dieses Hotels es überhaupt nicht in Erwägung ziehen, einen Kundenwunsch infrage zu stellen. Normalerweise ist der Kunde König, oder irre ich mich?“

„Wenn Sie mich noch länger aufhalten, wird Ihr Essen erst übermorgen fertig sein“, erwiderte Helena schlagfertig, ohne auf seine Äußerung einzugehen.

„Na dann, husch, husch, schnell zurück in die Küche.“

Sie würde sich von diesem unverschämten Gast bestimmt nicht einschüchtern lassen. Im Gegensatz zum restlichen Servicepersonal befand sich Helena in einer deutlich besseren Position. Immerhin half sie nur vorübergehend aus und ihr konnten Fehler kaum zum Vorwurf gemacht werden. Dennoch fiel es ihr unglaublich schwer, ihren angestauten Ärger über diesen eingebildeten Macho ohne Widerrede runterzuschlucken.

Unwillig brachte sie kurz darauf eine Flasche San Pellegrino und das dazugehörige Glas an seinen Tisch. Kurz bevor sie ihn erreichte, geriet Helena auf den ungewohnt hohen Pumps ins Stolpern. Die schon geöffnete Flasche samt Glas landete auf dem Tisch des Mannes und das Wasser lief ihm auf den Schoß. Er sprang auf und fuhr sie an: „Können Sie nicht aufpassen, Sie Trampel?“

Helena wäre am liebsten im Erdboden versunken und ihr Gesicht wurde heiß vor Scham, vor allem aber vor Zorn.

„Es tut mir wirklich schrecklich leid. Auch wenn Sie es mir vielleicht gerne unterstellen würden, aber ich habe es nicht mit Absicht gemacht“, entschuldigte sie sich zähneknirschend.

Während sie den Tisch säuberte, konnte sie sich einen bissigen Kommentar nicht verkneifen: „Außerdem war es schließlich nur Wasser.“

Der aufgebrachte Gesichtsausdruck des Gastes hatte sich während ihrer Entschuldigung etwas entspannt. Als er den respektlosen Zusatz hörte, schien er jedoch wieder die Contenance zu verlieren. Helena ließ ihm keine Möglichkeit zu einer weiteren Äußerung und entfernte sich mit den Worten, dass sie eine neue Flasche Wasser besorgen würde.

Als sie in der Küche ankam, rief sie entnervt aus: „Was für ein schrecklicher Tag. Womit habe ich diesen schrecklichen Gast nur verdient?“

Yannick sah sie lächelnd an. „Was ist denn passiert?“

Kurz sah sie sich um, aber die beiden Küchenhilfen waren gerade mit Abspülen beschäftigt und der Rest hatte schon Mittagspause.

Nachdem Helena ihm mit leuchtend roten Wangen ihr Missgeschick gebeichtet hatte, begann er schallend zu lachen. Zuerst boxte Helena ihrem Freund wütend in die Seite, schließlich ließ sie sich von seinem Gelächter anstecken. Danach griff sie seufzend zu einer weiteren Flasche und ging zurück zu ihrem unmöglichen Kunden.

„Soll ich vorsorglich in Deckung gehen? Meine Hose beginnt gerade zu trocknen.“ Säuerlich musterte er sie.

„Nein, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Ich werde mir diesmal besonders viel Mühe geben“, sagte sie zuckersüß mit falschem Lächeln.

Nachdem sie schweigend das Glas eingeschenkt hatte, ergriff der Mann das Wort: „Wo bleibt eigentlich mein Essen? Haben Sie dem Chef meine Vorgaben ausgerichtet?“

„Nein, habe ich nicht“, gab Helena zu, „denn Herr Belfort arbeitet so schnell er kann. Vielleicht möchten Sie ihm persönlich Ihren Wunsch ausrichten?“ Sollte Yannick sich doch mit diesem ungehobelten Typen herumschlagen.

„Genau das werde ich machen.“ Zu Helenas Entsetzen erhob er sich tatsächlich. „Hervorragende Idee, Frau Kellnerin.“ Schmunzelnd sah er sie an und mit einem Mal überkam Helena das vage Gefühl, von ihm auf den Arm genommen zu werden. Also marschierte sie Richtung Küche, den gut aussehenden Schnösel im Schlepptau.

In der Tür blieb sie stehen, und gerade als sie Yannick auf ihre unliebsame Begleitung hinweisen wollte, nahm der Fremde ihr die Arbeit ab und rief gut gelaunt: „Hey Kumpel, wo bleibt denn mein Essen? Du warst auch schon mal schneller. Anscheinend macht sich langsam dein Alter bemerkbar. Ich bin am Verhungern.“

Yannick drehte sich blitzschnell vom Herd um, lachte und kam mit ausgebreiteten Armen auf den fremden Mann zu.

„Simon, wie schön dich zu sehen. Seit wann bist du wieder zu Hause? Erzähl, wie war es in München? Ich hoffe, du warst fleißig am Feiern.“ Die beiden Männer umarmten sich herzlich.

„Natürlich Yannick, was sollte ich denn sonst dort machen?“, erwiderte Simon schmunzelnd, als sie sich voneinander gelöst hatten und sich gegenüberstanden. Plötzlich war von seiner missmutigen Miene nichts mehr zu sehen. Gutgelaunt und entspannt stand er Yannick gegenüber. Helena starrte die beiden einfach nur an, während sie wie festgewurzelt neben den Männern stand. Warum war Yannick ausgerechnet mit diesem unsympathischen Kerl befreundet?

„Ich bin schon seit zwei Wochen wieder zurück, aber ich hatte keine Zeit, mich früher bei dir zu melden. Du kannst dir wahrscheinlich vorstellen warum“, erklärte er mit einem demonstrativen Seitenblick auf Helena.

Helena schnaubte laut und entrüstet auf. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, womit er seine wertvolle Zeit verbracht hatte. Wahrscheinlich hatte er jeden Wochentag für eine andere Frau reserviert. Sie sah ihn abfällig an.

Ihre Reaktion zog die Aufmerksamkeit der beiden auf sie. Yannick wies auf Helena und warf ein: „Simon, darf ich dir Helena vorstellen? Sie arbeitet seit vier Monaten bei uns und ist mir eine gute Freundin geworden.“ Er lächelte und deutete dann auf Simon. „Helena, das ist Simon, wir sind seit der Schulzeit miteinander befreundet.“

„Was in Gottes Namen haben Sie in den vier Monaten gelernt, nachdem Sie nicht einmal fähig sind, ein Getränk sicher an den Tisch zu bringen?“, entfuhr es Simon.

Helena sah ihn ungläubig an. Yannick öffnete den Mund, doch Helena kam ihm zuvor und meinte kalt: „Ich möchte euer freundschaftliches Geplänkel nicht länger stören. Ihr könnt es bestimmt kaum erwarten, euch über die amourösen Abenteuer deines Freundes auszutauschen.“ Sie wandte sich ab, um zurück in den Gastraum zu gehen. „Dein Kumpel kann sicherlich bei dir in der Küche essen. Ich habe jetzt Mittagspause.“ Mit aufrechtem Gang und stolzer Miene verließ sie die Küche. Ihr souveräner Abgang wurde leicht getrübt, als sie erneut auf ihren Absätzen umknickte und einen blamablen Sturz gerade noch verhindern konnte. Helena richtete sich mit gespielter Gleichgültigkeit auf, zog kurzerhand ihre Schuhe aus und verließ hoch erhobenen Hauptes endgültig Yannicks Reich.

***

„Da hat sich aber einer unbeliebt gemacht“, rief Yannick verblüfft aus, als Helena verschwunden war. „So habe ich Helena überhaupt noch nicht erlebt. Sie ist normalerweise einer der umgänglichsten Menschen, die ich kenne. Du musst sie ziemlich aus der Fassung gebracht haben.“

Simon sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an und erwiderte: „Anscheinend konnte sie mit meinem Humor nicht umgehen.“ Er zuckte lässig mit den Achseln. „Okay, ich gebe zu, dass ich äußerst schlecht gelaunt war, als ich endlich meinen Geschäftstermin beendet hatte. Du kannst dir nicht vorstellen, wie anstrengend manche Kunden sind. Ich weiß, ich verdiene ziemlich gut damit, Luxusanwesen für meine reiche Kundschaft zu entwerfen. Aber diese ständigen Meinungsänderungen und Extrawünsche rufen ärgerliche Verzögerungen hervor und handeln mir etliche graue Haare ein.“

Yannick stellte sich auf Zehenspitzen, um Simons Haar zu betrachten.

„Blödmann“, erwiderte Simon und boxte ihm gegen die Schulter, bevor er weitersprach. „Jedenfalls dauert es ewig, bis man endlich einen gemeinsamen Nenner gefunden hat.“

„Du Armer, ich habe wirklich Mitleid mit dir.“ Yannick trat zurück an den Herd, um Simons Essen vor dem Verbrennen zu bewahren. „Was glaubst du, was meine Mitarbeiter und ich uns ständig von unseren Gästen anhören müssen? Heutzutage kann man es kaum mehr jemandem recht machen. Ich habe das Gefühl, es gehört schon zum guten Ton, sich zu beschweren, egal ob es einen Grund gibt oder nicht. Oder wie siehst du das aus Sicht des Kunden?“, warf er ein wenig spitz ein.

„Yannick, das ist nun wirklich ungerecht. So unmöglich habe ich mich auch wieder nicht benommen. Aber ich war halb am Verhungern und habe gespürt, dass deine Freundin sich aufregte, weil ich es wagte, um diese Zeit auch noch etwas zu Essen zu bestellen. Da habe ich wohl ein wenig überreagiert. Wahrscheinlich hielt sie mich für ziemlich unverschämt, als ich ihr gesagt habe, sie soll dem Koch ein wenig Dampf machen. Sie konnte schließlich nicht ahnen, dass wir schon seit Kindheitstagen befreundet sind. Es hat mir tatsächlich ein wenig Spaß bereitet, sie zu ärgern.“ Er fuhr sich durch die Haare. „Das nächste Mal, wenn ich sie sehe, werde ich mich entschuldigen, versprochen“, besänftigte Simon seinen Freund. Yannick schmunzelte, wahrscheinlich konnte sein Kumpel ihm sein schlechtes Gewissen ansehen. Vielleicht stand er ja auf diese Helena. Trotzdem ärgerte er sich immer noch über ihr unverschämtes Verhalten.

„Yannick, kann ich jetzt bitte mein Essen bekommen? Ich muss in wenigen Minuten tatsächlich zum nächsten Kunden.“

Simon setzte sich an einen der Beistelltische, an denen das Küchenpersonal im Anschluss oftmals zusammen aß.

Als Yannick seinem Wunsch nachkam und den Teller vor ihm abstellte, saßen sie einige Minuten in freundschaftlichem Schweigen beisammen. Yannick sah sich um, als würde er prüfen, dass ihnen niemand zuhörte. Die Küchenhilfen klapperten am anderen Ende der Küche mit dem Geschirr und waren in ein Gespräch vertieft.

„Wie geht es dir?“, fragte Yannick schließlich und Simon verkrampfte sich ein wenig. Aß aber weiter. „Ich kann mir vorstellen, dass das Wiedersehen mit Juliane vor Gericht nicht gerade angenehm war. Habt ihr euch einigen können?“

Simon seufzte, ließ die Gabel auf den Teller sinken und schob diesen ein Stück weit von sich, weil es ihm den Appetit verschlagen hatte.

„Ich kann mir Schöneres vorstellen. Andererseits bin ich erleichtert, die Scheidung endlich hinter mich gebracht zu haben. Tatsächlich sind es mittlerweile fast vier Jahre, die wir getrennt leben.“ Er starrte einen Augenblick vor sich hin, bevor er leise fortfuhr: „Juliane konnte nicht ewig die Augen vor der Realität verschließen. Es war schwer genug, überhaupt mit ihr in Kontakt zu treten, um einen Scheidungstermin zu vereinbaren. Mich hätte es nicht gewundert, wenn sie sich durch ihren Anwalt hätte vertreten lassen. Leider hat sich ihre Sichtweise keinen Deut geändert. Sie hat sich zwar bei mir entschuldigt, weil sie keinerlei Verantwortung übernimmt, aber sie meinte, sie könne nicht anders. Unsere gemeinsame Geschichte würde sie emotional immer noch zu sehr belasten. Was soll ich dazu sagen? Ich habe mich damit abgefunden und kann mich mittlerweile ganz gut mit der Situation arrangieren.“

Je länger er sprach, desto besser fühlte er sich. Es tat gut mit Yannick zu sprechen, der ihn so gut kannte und einfach zuhörte. „Weißt du …“ Ein zufälliger Blick auf seine Uhr machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Hastig sprang er auf. „Verdammt. „Es tut mir leid, ich muss los. Aber lass uns doch bald mal abends auf ein Bier treffen. Timurcin habe ich auch noch nicht gesehen. Vielleicht hat er ebenfalls Zeit. Du kannst mir Bescheid sagen, wenn du weißt, an welchem Tag du abends frei hast.“ Er winkte und verließ die Küche.

„Gute Idee, ich ruf dich an“, hörte er Yannick ihm hinterherrufen.

Erleichterung überfiel ihn, als er durch das Foyer eilte.

Yannick zeigte erneut Verständnis und er hoffte, dass Timurcin es ebenfalls tat. Als Künstler wusste Timurcin zwar, wie unstet das Leben sein konnte, dennoch stellte er die Geduld seiner Freunde mit seiner Unzuverlässigkeit manches Mal auf eine harte Probe.

Simon verdankte die Freundschaft zu Timurcin seiner Liebe zur Kunst. Den damals aufstrebenden jungen Künstler Timurcin Damitto hatte er auf einer Vernissage kennengelernt, und dieser Abend hatte nicht nur mit dem Kauf eines Gemäldes, sondern auch mit dem Beginn einer langjährigen Freundschaft geendet, die bis heute hielt. Egal, wo auf der Welt die Freunde sich befanden.

Simon wusste manches Mal nicht, wie er ohne die Unterstützung seiner Freunde zurechtkommen sollte. Sowohl Timurcin als auch Yannick hatten ihm schon des Öfteren aus einem tiefen Loch herausgeholfen.

4. Kapitel

Ehefreuden

Erleichtert ließ Timurcin die Tür zu seiner Wohnung hinter sich ins Schloss fallen.

„Was für ein beschissener Tag!“, murmelte er.

Sein Gang führte ihn geradewegs in die weiße Luxus-Hochglanzküche. Dort öffnete er die Tür des Designerkühlschranks und holte sich – welch ein Wunder – eine völlig normale Dose Bier heraus. Erstaunlich, dass seine Frau noch nicht dafür gesorgt hatte, wenigstens die profane Dose zu vergolden, nachdem sie nicht hatte durchsetzen können, sie komplett aus dem Kühlschrank zu verbannen.

Anschließend ließ er sich mit einem wohligen Seufzen auf die Couch sinken. Natürlich durfte nicht unerwähnt bleiben, dass es sich hierbei um ein antikes, sorgsam ausgewähltes Stück mit dem exquisiten Namen Churchill des Luxe handelte, natürlich aus echtem Anilinleder. Nicht, dass Timurcin hätte erklären können, was daran so besonders sei, aber er war überzeugt, dass seine Frau zu diesem Thema wortgewandt Rede und Antwort stehen konnte.

Ihm wäre es etwas weniger pompös lieber gewesen, aber Justine hatte seine Argumente natürlich, wie schon immer in ihrer Beziehung, weder beachtet noch für diskutierwürdig befunden.

Er massierte seine Schläfen, da ihn den gesamten Tag schon Kopfschmerzen quälten, die auch kein Schmerzmittel lindern konnte. Wie sollte er unter diesen Umständen auch einer sinnvollen Aufgabe nachgehen, versuchte Timurcin sich seinen zweistündigen Barbesuch in den Spätnachmittagsstunden schönzureden. Er nahm einen weiteren großzügigen Schluck und stellte seufzend die leere Dose zur Seite.

Eigentlich hatte er für heute schon genug Alkohol getrunken, aber er beschloss, seine üble Laune ein wenig zu heben. Aus dem exquisiten Barschrank holte er eine Flasche Scotch und genehmigte sich einen letzten Drink. Kaum hatte er das Glas in einem Zug ausgetrunken, verflüchtigte sich die positive Wirkung des Hochprozentigen und Timurcin überfiel das wohlbekannte schlechte Gewissen. Wie so oft hatte er für seinen schwachen Charakter und seine Disziplinlosigkeit nur noch Verachtung übrig. Er schloss die Augen und sank ins bequeme Kissen zurück.

Wenn er ehrlich war, hatte er sein Leben vollkommen vergeudet. Nun war er fast vierzig Jahre alt und was konnte er vorweisen? Was hatte er an Leistungen vollbracht, was konnten andere Leute bewundernd über ihn berichten? Für wen war er ein Vorbild? Die ernüchternde Wahrheit lautete, er war ein Niemand, über den es nichts zu erzählen gab, außer der Tatsache, dass er der Ehemann von Justine Baroness von Hohenstetten war. Er ließ sich seit Jahren von seiner Frau aushalten und fühlte sich nicht einmal im Familienunternehmen seiner Frau zu etwas nütze.

Timurcin musste sich eingestehen, dass er sich niemals um einen verantwortungsvollen Posten im Hotelwesen bemüht hatte, da es nicht seiner Wunschvorstellung entsprach.

Nachdem er vor einigen Jahren seine Passion als Künstler aufgegeben hatte, kam er eigentlich überhaupt keiner Tätigkeit mehr nach. Ab und zu repräsentierte er an der Seite seiner Frau. Oder besser gesagt, einen Schritt hinter der Baroness, um vor wohlhabende Gäste, Freunde, Geschäftspartner oder die Presse zu treten. Kein Wunder, dass er dazu neigte, zu viel zu trinken. Wie sollte er sonst seinen öden Alltag überstehen? Eine Stunde glich in ihrer Eintönigkeit der Nächsten und der Zeiger kroch förmlich vor sich hin. Timurcin schloss müde die Augen und döste vor sich hin.

Die einzige positive Aussicht des Tages war die abendliche Verabredung mit seiner Schwiegermutter, der alten Baronin von Hohenstetten. Zu Beginn hätte er niemals geglaubt, dass die alte Dame ihn in ihr Herz schließen würde. Mittlerweile verband sie seit Jahren eine aufrichtige und freundschaftliche Beziehung.

Henriette nahm kein Blatt vor den Mund, wenn es um ihre einzige Tochter ging. Sie standen sich nicht besonders nahe und Timurcin spürte oftmals, dass sie ihm deutlich mehr Zuneigung und Wärme entgegenbrachte als ihrem eigenen Kind.

Zu Beginn hatte ihn das schlechte Verhältnis zwischen Mutter und Tochter schockiert und die offenkundige Ablehnung, die seine Schwiegermutter für Justine übrig hatte, belastete ihn. Heute, nach jahrelangen Machtkämpfen und Intrigen in seiner Ehe, wusste er es besser und er konnte über seine damalige naive Haltung nur noch müde lächeln. Er verbrachte deutlich mehr Zeit mit Henriette als mit seiner Frau und war dankbar für jede Gelegenheit, Justine aus dem Weg gehen zu können.

Ein unangenehmes Gefühl nahm seinen Körper in Beschlag und er spannte sich an. Als er die Augen öffnete, fuhr er erschrocken auf. Hastig bemühte er sich um eine aufrechte Sitzposition, um seinen mittlerweile doch beträchtlichen Bauchumfang zu kaschieren.

Vor ihm stand seine Frau, die ihn mit verkniffenem Gesichtsausdruck betrachtete. Sie kam anscheinend gerade aus dem Bad und trug einen schwarzen Satinbademantel, der einen großzügigen Blick auf ihr Dekolleté zuließ. Ihr platinblondes, noch feuchtes Haar fiel ihr ungewohnt locker ins Gesicht und er merkte, dass ungeachtet seines schlechten Verhältnisses zu Justine unversehens Verlangen in ihm aufstieg. Justine war zweifellos eine attraktive Frau, die sehr viel Wert auf ihr Äußeres legte. Sie trainierte täglich zwei Stunden mit ihrem Personal Trainer und führte seit Jahren eine strenge, rigorose Diät. Sie unterstrich ihre schlanke Figur, indem sie vorwiegend eng anliegende und konservativ geschnittene Kostüme trug.

Als sie Timurcins Gesichtsausdruck bemerkte, schien sie richtig zu deuten, was in ihm vorging, denn sie begann höhnisch zu lächeln.

„Timurcin, du bist wirklich erbärmlich.“ Ihr Blick blieb an seiner Körpermitte hängen. „Schau dich doch an. Du bist ein Versager, der nichts in seinem Leben erreicht hat. Das Einzige, was du auf die Reihe bekommst, ist dich zu betrinken und selbst zu bemitleiden. Glaubst du ernsthaft, ich würde dich noch in mein Bett lassen? Träum schön, aber das kannst du vergessen. Eher würde ich zu einem Callboy gehen, als mich von dir anfassen zu lassen.“

Hass und Abscheu, seine treuen Begleiter, überkamen ihn und er fragte sich einmal mehr, wie er es geschafft hatte, seiner Fantasievorstellung, sie umzubringen, noch nicht nachgekommen zu sein. Er betrachtete Justine eine Weile wortlos, von seiner Erregung war nichts mehr übriggeblieben. Er konnte sich fast einreden, sich nur eingebildet zu haben, dass seine Frau immer noch eine körperliche Anziehungskraft auf ihn ausübte.

„Wo ist nur die Frau geblieben, in die ich mich vor fünfzehn Jahren verliebt habe? Das aufgeweckte, ehrliche Mädchen, das mich vom ersten Augenblick in ihren Bann gezogen hat?“, fragte er scheinbar ratlos. In Wirklichkeit war seine Frage rhetorisch gemeint. Es gab keine zufriedenstellende Antwort darauf.

Justine sah ihn wutentbrannt an und zischte zurück: „Und wo ist der attraktive, aufstrebende Künstler geblieben? Der eine aussichtsreiche Karriere vor sich hatte?“ Justine zog ihren Bademantel enger zusammen und er befürchtete, dass ihr gleich die Luft wegbleiben würde. „Nun sehe ich nur noch diesen unglaublich bemitleidenswerten Versager, der seine Berufung einfach aufgab, um als Niemand in der Masse der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, was für eine riesengroße Enttäuschung du für mich bist.“

Timurcin erhob sich, um sich ein weiteres Glas einzuschenken. Anders war seine Frau nicht zu ertragen und tiefer konnte er in Justines Ansehen sowieso nicht sinken.

„Danke, dieses Kompliment kann ich postwendend an dich zurückgeben. Glaubst du allen Ernstes, ich hätte dich geheiratet, wenn ich gewusst hätte, was für ein intrigantes, machtbesessenes Miststück sich hinter deiner liebreizenden Fassade verbirgt?“, schlug Timurcin in dieselbe hässliche Kerbe und trank einen Schluck.

Seine Frau schaffte es immer wieder, ihn in Rage zu versetzen. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, sich nicht mehr in hässliche Schlammschlachten verwickeln zu lassen. Aber Justine wusste nach dreizehn Ehejahren genau, auf welches Knöpfchen sie drücken musste, um Timurcin explodieren zu lassen. Er hatte das Gefühl, sie liebte diese unschönen Auseinandersetzungen. Im Gegensatz zu ihm, der sich nach jedem weiteren Streit noch minderwertiger vorkam. Sein Selbstvertrauen wurde in seiner gesamten Ehe zunehmend untergraben, bis fast nichts mehr davon übrig war.

„Du kannst es doch nur nicht ertragen, dass ich es in meinem Leben zu etwas gebracht habe. Ich bin eine erfolgreiche Geschäftsfrau, die ihren Mann seit Jahren aushalten muss. Es geht dir doch überhaupt nicht um meine Charakterzüge, hättest du ebenfalls Karriere gemacht, würdest du ganz anders über mich denken. Ich finde es sehr ungerecht und selbstgefällig von dir, mir dein Scheitern anzulasten. Dafür musst du alleine einstehen. Schieb die Schuld nicht immer auf andere.“ Justine funkelte ihn überheblich an und stemmte die Hände in die Hüften. „Ich habe es immer nur gut mit dir gemeint. Wer hat dir eine eigene Galerie finanziert? Wer hat dir bedeutsame Kontakte verschafft? Wer wollte dir einen verantwortungsvollen Posten im Hotel übertragen? Das war doch wohl ich, deine besorgte Ehefrau. Nun wirf mir noch einmal vor, ich hätte in unserer Ehe nicht alles für eine zufriedenstellende, erfüllte Beziehung gegeben.“

Timurcin machte sich nicht einmal mehr die Mühe, sich zu rechtfertigen, sondern trank sein Glas aus. Er fühlte sich müde und ausgelaugt, wie jedes Mal nach einem Streit mit Justine. Dieses Thema hatten sie schon zigmal diskutiert, ohne jemals einen gemeinsamen Nenner gefunden zu haben.

Justine schnaubte und verließ das Wohnzimmer. Timurcin goss sich einen weiteren Scotch ein und schwenkte den Inhalt gedankenverloren.

Wie leicht es seiner Frau fiel, bestehende Tatsachen zu verdrehen, um glaubhaft zu machen, sie wäre der reinste Engel auf Erden. Für wen hatte sie das alles getan? Doch nicht zum Wohle ihres Ehemannes. Nein, ihre einzige Sorge bestand darin, dass sein berufliches Scheitern einen negativen Schatten auf sie werfen könnte. Es war ihr peinlich, ihren Freunden und Geschäftspartnern zu gestehen, dass ihr Mann seine Karriere aufgegeben hatte. Sie konnte schließlich kaum zugeben, dass er unter einer Blockade litt, die es ihm unmöglich machte, weiterhin künstlerisch tätig zu sein. Vielleicht war es ungerecht von ihm, Justine für sein Scheitern verantwortlich zu machen, aber je mehr Druck sie auf ihn ausgeübt hatte, desto weniger konnte er malen. Irgendwann war es so weit gekommen, dass er in Schweiß ausbrach und ihn heftiges Zittern überfiel, sobald er nur in die Nähe des Ateliers kam. Einen Pinsel konnte er zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr in die Hand nehmen und der Geruch von Farbe, den er einst so geliebt hatte, bereitete ihm Übelkeit. Nachdem er sich jahrelang gequält hatte, ging es ihm gesundheitlich so schlecht, dass er endlich die Notbremse zog und sein geliebtes Atelier aufgab. Mittlerweile war das sieben Jahre her. Heute war er sich seines damaligen Irrtums nur zu bewusst. Die einzig richtige Entscheidung wäre gewesen, Justine zu verlassen, nicht seine Leidenschaft aufzugeben und somit seine eigentliche Berufung zu verleugnen. Damals hätte er vielleicht noch die Kraft besessen, seine Ehe zu beenden. Jetzt war er ein gebrochener Mann, dem es aussichtslos erschien. Was sollte er ohne Justine, ohne Henriette und ohne das Hotel mit sich anfangen? Er hatte niemals eine klassische Ausbildung absolviert und er wusste, im Falle einer Scheidung würde seine Frau ihn fertigmachen. Am Ende würde er wie das letzte Ungeheuer dastehen, das Justine während ihrer gesamten Ehe die Hölle auf Erden bereitet hatte. Er kannte sie und ihre Skrupellosigkeit einfach zu gut. Außerdem hatte er einen Ehevertrag unterschrieben. Justine hatte vor ihrer Hochzeit vorsorglich Maßnahmen ergriffen, falls ihre Beziehung scheitern sollte. Zu diesem Zeitpunkt erschien ihm diese Vorstellung vollkommen abwegig. Damals, es kam ihm wie in einem anderen Leben vor, hatte er Justine jeden Wunsch von den Lippen abgelesen. Sie hatte von Anfang an ihren Willen bekommen. Aufgrund des Ehevertrages konnte er damit rechnen, nicht nur gesellschaftlich, sondern auch finanziell ruiniert aus der Scheidung hervorzugehen. Schließlich gehörte ihm rein faktisch überhaupt nichts von ihrem Vermögen. Die alte Baronin wäre bestimmt bereit, ihm finanziell unter die Arme zu greifen, aber das kam für ihn nicht infrage.

Der Gedanke an Henriette erinnerte ihn an seine Verabredung mit ihr. Ohne den Scotch angerührt zu haben, stellte er ihn auf die Bar, wohlwissend, wie Justine das vergessene Glas nerven würde, und folgte seiner Frau ins Bad. Sie stand vor dem Spiegel und bürstete ihr Haar.

Ihre Blicke trafen sich und kühl meinte er: „Ich hoffe, du wirst morgen wieder geschäftlich unterwegs sein. Ich genieße die Ruhe und Stille, wenn du nicht da bist.“

„Den Gefallen kann ich dir leider nicht tun.“ Sie legte die Bürste beiseite und griff nach dem Föhn. „Ich werde die nächsten Wochen in meinem Zuhause verbringen. Ich bin momentan unabkömmlich, denn sobald ich bedeutende Aufgaben delegiere, kann ich mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass sie wieder einmal nicht zu meiner Zufriedenheit umgesetzt werden. Sollte dir die Vorstellung nicht zusagen, kannst du ja in eines der einfachen Hotelzimmer ziehen. Oder noch besser, du könntest in den Angestelltentrakt umsiedeln, das käme mich noch günstiger.“

Timurcin lachte verächtlich auf. „Das würdest du nicht zulassen. Überleg doch nur, was das Personal zu tratschen hätte, sollte ich ausziehen. Dir war es doch schon immer unglaublich wichtig, meine offenkundige Abhängigkeit von dir aller Welt transparent zu machen.“

Damit brachte es Timurcin genau auf den Punkt. Justine hatte zu viel zu verlieren, sollte ihr Mann aus ihrer gemeinsamen Wohnung, die in den Hotelkomplex integriert war, ausziehen. Irgendwie schien es, als seien beide aufeinander angewiesen. Wahrscheinlich war das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis der Auslöser für den tiefgehenden Hass, der in beiden schwelte.

„Ich werde nun mit Freuden die angenehme Gesellschaft deiner Mutter der deinen vorziehen“, ergänzte Timurcin schadenfroh.

„Gleich und gleich gesellt sich eben gerne. Ich hoffe, die alte Schnapsdrossel hat sich ihren geringen Restverstand noch nicht vollständig weggesoffen.“ Justine hielt in der Bewegung inne und fixierte ihn über den Spiegel. „Wobei, eigentlich wäre das gar nicht so schlecht, dann wäre ich endlich ihr Vormund und sie könnte sich nicht mehr erdreisten, mir geschäftliche Ratschläge zu geben.“

Dann schaltete sie den Föhn ein und brachte Timurcin um eine Antwort.

Eigentlich war Timurcin im Umgang mit seiner Frau abgehärtet, dennoch schaffte sie es immer wieder, ihn zu schockieren. Aus ihrer Stimme war nur Hass und Verachtung für ihre Mutter herauszuhören. Das Schlimme war, Justine meinte es genau so, wie sie es sagte. Aus ihr sprachen nicht verletzte Gefühle oder versteckte Sehnsucht nach der unerfüllten Liebe ihrer Mutter. Nein, Justine sähe es am liebsten, ihre Mutter wäre tot oder würde zumindest in eines der anderen Hotels umsiedeln und auf Nimmerwiedersehen aus ihrem Leben verschwinden. Es war Justine ein großer Dorn im Auge, dass ihre Mutter immer noch die letzte endgültige Entscheidungsgewalt fest in den Händen hielt. Ihrer Meinung nach war sie entweder zu senil oder zu besoffen, um sich noch in bedeutende Geschäftsbelange einzumischen. Außerdem machte es sie unfassbar wütend, dass ihre Mutter ständig versuchte, ihre Autorität und Integrität infrage zu stellen.

Timurcin konnte ihre unversöhnliche Art Henriette gegenüber nicht nachvollziehen. Bevor sie sich zu weiteren Gemeinheiten über ihre Mutter hinreißen ließ, entzog er sich der unerfreulichen Situation.

5. Kapitel

Eine aristokratische alte Dame spricht Klartext

Timurcin atmete langsam ein und aus und hoffte, er würde somit seine Wut eindämmen, während er sich auf dem Weg in die Suite seiner Schwiegermutter befand. Sie würde sofort durchschauen, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung war, und er wollte Henriette nicht andauernd mit dem Wissen um seine ständigen Auseinandersetzungen mit Justine belasten. Immerhin stand es um ihre Gesundheit nicht zum Besten, und trotz ihres immer noch makellosen Erscheinungsbildes, durfte er nicht vergessen, dass sie mittlerweile achtundsiebzig Jahre alt war. Er versuchte sich zu sammeln und klopfte dann an.

Nachdem sie ihn hereingebeten hatte, betrat er die großzügige Suite und begrüßte Henriette mit einem Wangenkuss. Diesmal hatte er keinen Blick für den hellen, geschmackvoll eingerichteten Raum.

„Mein Lieber, schön, dass du es einrichten konntest, einer alten Frau ihren sehnlichsten Wunsch nicht abzuschlagen.“

„Machst du Scherze? Du weißt genau, wie sehr ich unsere Zusammenkünfte genieße. Ehrlich gesagt bestand mein Tag heute nur aus Langeweile und Faulenzen. Ich bin froh, nun geistig ein wenig gefordert zu werden. Sei es, indem wir miteinander diskutieren oder eine Partie Schach spielen.“