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Adrian Sebald ist 18 Jahre alt, als sein Vater stirbt. Er gibt sein Studium auf und macht auf Gut Siebenzell eine Ausbildung zum Förster. Als Kind hat er mit Isabella, der Tochter des Besitzers, gespielt. Nun steht er einer jungen, wunderschönen Frau gegenüber, die ihn tief beeindruckt. Dramatische Ereignisse brauen sich zusammen, als Adrians Mutter den Sägewerkbesitzer Antretter heiratet, der ein zwielichtiger Kerl ist.
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LESEPROBE zu
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2020
© 2020 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim
www.rosenheimer.com
oben: Bernd Römmelt, München, unten: Adobe Stock, ginkgofoto
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
eISBN 978-475-55467-4 (epub)
Worum geht es im Buch?
Hans Ernst
Im Herbst verblühen die Rosen
Adrein Sebald ist achtzehn Jahre alt, als sein Vater stirbt. Er gibt sein Studium auf und macht auf Gut Siebenzell eine Ausbildung zum Förster. Als Kind hat er mit Isabella, der Tochter des Besitzers, gespielt. Nun steht er einer jungen, wunderschönen Frau gegenüber, die ihn tief beeindruckt. Dramatische Ereignisse brauen sich zusammen, als Adrians Mutter den Sägewerkbesitzer Antretter heiratet, der ein zwielichtiger Kerl ist. Rolf Castell weiß das bewegende Geschehen dem Hörer mit großem Einfühlungsvermögen nahezubringen.
1
Als der Maler Felix Sebald in einem Alter starb, in dem andere gerade die Mitte ihres Lebens erkennen wollen, hinterließ er seiner Witwe und dem neunzehnjährigen Sohn Adrian eine Sammlung von Bildern, von denen die Hälfte wegen ihrer modernen Ausrichtung auf dem Lande draußen keine Käufer fand. Mehr Glück hatte er mit seinen Porträts gehabt und die feinsinnigen Studien verschiedener Bauernköpfe hatten seinen Namen weit über das Tal hinaus bekannt gemacht.
Im Laufe der Jahre war es ihm gelungen das kleine Häusl außerhalb des Dorfes Erlwies schuldenfrei zu machen. Er hätte auch sonst noch allerlei zuwege gebracht, denn er verfolgte seine Ziele mit hartnäckiger Beharrlichkeit. Der Schuss Leichtsinn in seinem Blut hatte sich schon frühzeitig verflüchtigt, sodass der ganze Mann nur noch durchdrungen war von dem Wunsch nach einem Leben in ruhigen, gesicherten Bahnen. Oh, er steckte noch voller Pläne, der Felix Sebald, als Gottes gebietende Hand aus den Wolken heraus auf ihn zeigte, damit der Tod sich nicht irrte und ihn brüderlich mitgehen hieße.
Seine Frau tat einen Schrei, als dies geschah, mitten an einem hellen Nachmittag im Frühling. Ohne Krankheit, ohne jeden Übergang geschah es. Sie hatten zusammen Kaffee getrunken, dann war er in sein Atelier gegangen, und als sie ihm nach einer Weile nachging, weil er seine Brille vergessen hatte, saß er in dem großen Korbstuhl und schlief. Das glaubte sie wenigstens zunächst, obwohl es für ihn ungewöhnlich war. Erst als sie zart über seine Hand fuhr, erschrak sie und gleich darauf bemerkte sie, dass er nicht mehr atmete.
Ihren Schrei hörte zwar niemand, denn die nächsten Häuser lagen in einiger Entfernung. Der Sohn kam erst in etwa einer Stunde von der Schule in der Kreisstadt zurück. Es war auch mehr ein Schrei des Schreckens als der Trauer, weil Irene zeit ihres Lebens mit Angst an Tod und Sterben gedacht hatte. Die Trauer stellte sich erst später ein, als sie etwas vertrauter geworden war mit dem kalten Tod, als die grausame Tatsache des Alleinseins sie überwältigte.
Es hatten keine großen Feste mehr stattgefunden in ihrem Zusammenleben. Das erste Glockenläuten war längst ausgeschwungen und das Echo war in den zwanzig Jahren ihrer Ehe nur mehr selten aufgeklungen, obwohl sie einander gut waren und treu. Ja, gut war sie ihm immer gewesen. Geliebt hatte sie den jungen Stürmer und Draufgänger, den Mann aber hatte sie dann geachtet, weil er die leidenschaftlichen Leichtfertigkeiten seiner Jugendjahre aufgegeben hatte und nur mehr durchdrungen war von der Sorge um die Seinen. Dieses Sorgen empfand Irene Sebald als den wahrhaft wirklichen Inbegriff seines Liebens in den letzten Jahren. In der ersten Stunde nach seinem Tod wurde ihr schon unerbittlich klar, dass nun alle Last des Lebens auf ihr liegen würde. Und sie weinte in wirklich ehrlichem Schmerz um den Mann, dem sie neunzehnjährig gegen alle Einwände ihrer Familie gefolgt war. Er hatte nach den Sternen gegriffen und sie hatte ihm dabei geholfen. Sie weinte, dass es den ganzen Körper schüttelte, und suchte bei allem Schmerz auch nach eigener Schuld, weil sie nun glaubte, dass sie ihrem Mann nicht genügend zugetan war. O ja, sie wurde sich schon einiger Einzelheiten bewusst. »Ich bin viel zu wenig gut gewesen zu ihm«, schluchzte sie. Aber das stimmte nicht, denn sie war ihm immer treu gewesen.
Wie seine Bilder sprachen! Der Bergsee dort, jenes Stillleben, der Feldblumenstrauß, die Kühe auf der Weide, der blausilberne Bach, der ein Mühlenrad trieb, und dann auf der Staffelei, die Farbe noch nicht ganz getrocknet, die »Birken im Sturm«.
Dies letzte Gemälde hatte der Sägewerksbesitzer Anton Antretter in Auftrag gegeben. Es sollte eine ganz ordentliche Summe kosten und mit dem Geld sollte allerlei begonnen werden. So hatten es Sebalds geplant, aber mitten durch diese Rechnung zog sich nun der dicke, schwarze Strich, mit dem der Tod seine eigene Rechnung präsentierte.
So weinte Irene auch um der nun undurchführbaren Pläne willen bitterlich und vergaß dabei die Dinge, die nun zunächst zu tun gewesen wären. Es müsste der Arzt verständigt werden, das Glöcklein müsste läuten im Turm der Kirche und der Sarg müsste bestellt werden. Allerlei wäre noch zu tun. Aber Irene war fassungslos und blickte nur einmal auf die Uhr, ob es nicht bald an der Zeit wäre, dass Adrian käme. Nein, sie war zu gar nichts fähig. Ganz still, den Kopf mit dem aschblonden Haar in die Hände gestützt, saß sie da und schaute in das stille Gesicht, in dem der Mund ein klein wenig offen stand, als wäre Felix Sebald erschrocken, als die kalte Hand des Todes ihn berührt hatte.
So fand Adrian sie, als er nach Hause kam. Ihn traf das Unglück noch viel schwerer, denn seiner Natur nach hatte ihn alles zu diesem vorbildlichen Vater hingezogen. Er konnte einfach nicht fassen, dass die freundlichen Augen ihn niemals mehr beim Heimkommen grüßen sollten.
Achtunddreißig Jahre war Irene alt. Sie sagte Adrian beim Heimgehen vom Postamt, wo sie ein Telegramm an den Bruder des Verstorbenen aufgegeben hatten, dass sie nie mehr heiraten werde.
Sie sagte das nicht, weil es ihr etwa heldenhaft erschienen wäre, dem Felix die Treue über das Grab hinaus halten zu wollen, sondern weil sie in der Trauer den Mut fand, ihr Leben von diesem Zeitpunkt an abzuschließen um in einer neuen Ordnung mit dem Sohn weiterzuleben.
Der Sohn war ihr genaues Ebenbild. Er hatte das blonde Haar von ihr, das schmale Gesicht, die samtdunklen Augen mit den schnurgeraden Brauen darüber und den weichen, schwellenden Mund. Man hätte ihn, da er ziemlich groß war, für einen jüngeren Bruder von Irene halten können.
Und es war dann so, dass die beiden Menschen sich von der Stunde der Einkehr des Todes bis zum Tage des Begräbnisses innerlich so nahe kamen wie nie zuvor. Die gemeinsame Trauer trieb sie zusammen und deckte Wesenszüge auf, die vorher nie ganz zusammengefunden hatten, weil die zwiefache Liebe des Vaters immer dazwischengestanden hatte.
Nun war der Tag der Beisetzung gekommen. Der Himmel hing bleiern über dem Land, in der Nacht hatte es geregnet und die Berge waren von Nebeln verhangen. Dumpf und schwer läuteten die Glocken vom Kirchturm zu Erlwies und ein langer Trauerzug folgte dem Sarg das Sträßlein zum Bergfriedhof hinauf. Es zeigte sich, dass Sebald doch sehr beliebt gewesen war, denn aus jedem Haus gab ihm jemand das letzte Geleit.
Auch am Grab war zu vernehmen, dass er ein braver, grundgütiger Mensch gewesen war. Das Rührendste aber war ein Kranz aus Latschen und gelben Primeln, den die Burschen des Trachtenvereins von Erlwies auf den kiesigen Hügel legten, weil sie ihren Maler auf diese Weise nochmals grüßen wollten. Er hatte immerhin ein Jahrzehnt unter ihnen gelebt und ihnen immer bereitwillig die Theaterkulissen gemalt. Er hatte sie und sie hatten ihn verstanden und darum bewiesen sie ihm am Grab ihre Verbundenheit.
Hinter Irene und Adrian stand Goliath, der einzige Bruder des Verstorbenen. Er hieß eigentlich Hermann, aber weil er in seinen körperlichen Ausmaßen einem Riesen glich, hatte Felix ihm diesen Spitznamen gegeben. Goliath besaß im Gäuboden einen Hof mit zweihundertfünfzig Tagwerk und war sich seines Reichtums voll bewusst. Das Verhältnis der Brüder war die ganzen Jahre über mehr als locker gewesen. Es bestand zwar keine offene Feindschaft, man schrieb sich zum Jahreswechsel einen nüchternen Glückwunsch und hielt sonst deutlich Abstand voneinander. Wenn er auf die Trauernachricht von Irene hin doch hergekommen war, so hatte er es nicht aus brüderlicher Zuneigung zu dem Verstorbenen getan, auch nicht aus Verehrung für die aschblonde Schwägerin, die er nie anerkannt hatte, sondern weil ja aus dieser Ehe auch ein Sohn da war, über den er vielleicht seine Fittiche ausbreiten müsste, bevor er auch in das abseitige Fahrwasser geriet, in das sein Vater einst gekommen war.
Unbeweglich, wie ein steinernes Denkmal, stand er hinter den beiden Trauernden. Das Kinn quoll lustig über den steifleinenen Kragen, das rote Gesicht zeigte mehr Hochmut als Trauer. Das schüttere Haar hatte er sorgfältig über den breiten Schädel gelegt um die aufkommende Kahlköpfigkeit zu verdecken.
Als alles vorüber war und sie schließlich nur mehr zu dritt vor dem Grab standen, räusperte sich Goliath, trat näher und wendete die Schleife seines Kranzes nach oben, weil der Wind sie umgedreht hatte. Da stand es nun in goldenen Lettern deutlich sichtbar zu lesen: »Letzter Gruß von deinem Bruder«.
Bitte, was wollte man von ihm mehr? Er grüßte seinen Bruder zum letzten Mal, war so weit hergekommen und war bereit zu helfen, wenn es was zu helfen gab. Aber nun hatte er Hunger und meinte darum, dass es an der Zeit sei zu gehen, weil der gute Felix auch mit langem Herumstehen nicht wieder lebendig gemacht werden könnte.
Sie gingen also ins Dorf zurück, wo sie im Schwabenbräu zu Mittag aßen. Goliath ließ es sich nicht nehmen, die Zeche zu begleichen, und rechnte auch das gleich ab, was die vier Feuerwehrleute fürs Tragen zu bekommen hatten. Danach ging er mit hinauf ins Malerhäusl. Er war schließlich Schwager und Onkel und erst nach dem Kaffeetrinken deckte er in schonungsloser Offenheit den eigentlichen Grund seines Kommens auf.
»Also, wie steht es jetzt? Es ist am gescheitesten, denke ich, wir reden gar nicht lange um den heißen Brei herum und packen die Sache gleich von der richtigen Seite an. Am besten wird sein, du verkaufst das Schneckenhäusl hier und ziehst mit dem Buben zu mir ins Rottal.«
Irene erschrak zunächst ein wenig über diesen Plan, der sie unvorbereitet traf. Gleichzeitig wurde sie ganz starr. Wo solcher Stolz und solche Überheblichkeit gezeigt wurden, musste mit Stolz reagiert werden.
»Verkaufen?«, fragte sie. »Ich wüsste gar nicht, wie ich dazu käme.«
»Jetzt weißt du es noch nicht. Aber in einem halben Jahr wirst du anders denken. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass der Felix mit seiner Malerei Reichtümer hinterlassen hat.«
»Reichtum in dem Sinne, wie du ihn gewohnt bist, freilich nicht«, entgegnete Irene heftig. »Aber für uns zwei reicht es.«
»Soll das vielleicht ein Vorwurf sein? Gegen meinen Reichtum, meine ich.«
»Nein, ich weiß, dass dir, als dem Älteren, der Hof zustand.«
»Das mein ich auch. Und dass der Felix sein ganzes Erbteil verstudiert hat, ohne dass er was Richtiges geworden ist, dafür kann ich ja nichts.«
»Er ist das geworden, wozu ihn seine Begabung und seine Berufung getrieben haben.«
Eine abwehrende Geste mit der fleischigen Hand. »Wenn ich schon das Wort Berufung höre. Die Mutter, Gott hab sie selig, hat haben wollen, dass er einmal Pfarrer wird. Und als er das schon nicht auf sich nehmen wollte, hätte er sein Studium wenigstens auf etwas verlegen können, das später seinen Mann ernährt hätte. Er könnte heute Landrat sein oder so was. Aber …«
»Wir haben deswegen auch nicht gehungert«, unterbrach Irene ihn gereizt.
»Ausreden lassen, ausreden lassen, Schwägerin. Aber stattdessen hat der gute Felix sich weiterhin von der Mutter das Geld schicken lassen fürs angebliche Studium. Dabei hat er die verflixte Farbkleckserei angefangen.«
Da stand Adrian auf. »Ich finde es geschmacklos, Onkel, gerade heute am Begräbnistag, so von meinem Vater zu sprechen.«
»Was denn, was denn?«, wunderte sich der Riese. »Man wird doch noch seine Meinung sagen dürfen.«
»Wie sollst aber du auch in deinem Gäuboden erfahren können, was Rücksichtnahme ist«, sagte der Adrian und leichter Spott klang in seiner Stimme.
Goliath riss die schweren Augendeckel auf und schnaubte gewaltig.
»Sag du bloß nichts über das fruchtbare Fleckchen Gäuboden.«
»Sei ruhig jetzt, Adrian«, beschwichtigte Irene und knüpfte wieder an das vorherige Thema an. »Du hast ja von Farbkleckserei gesprochen vorhin, mein lieber Schwager. Ich nehme dir nicht übel, dass du nichts von der Kunst verstehst. Aber du bringst es gerade so heraus, als ob Felix das Geld nutzlos verschwendet hätte. Es hat ihn doch auch die Akademie Geld gekostet. Aber ich weiß, dafür habt ihr ja nie Verständnis gehabt.«
»Verständnis? Hätte mir das vielleicht imponieren sollen, wenn er, anstatt etwas Richtiges zu erlernen, Frauenzimmer malt? Und ausgestellt hat er die Bilder auch noch! Das hat der Mutter den Rest gegeben. Ja, wenn die Frauen wenigstens was angehabt hätten! Erst daraufhin hat die Mutter ihn fallen lassen.«
Irene konnte sich nun nicht mehr enthalten auch ihrerseits offen zu sein. »Dir kam das aber nicht ganz ungelegen, soviel ich mich noch erinnern kann.«
»Was heißt ungelegen? Fehlt nur noch, dass du sagst, ich sei ein Erbschleicher.«
»Soviel ich weiß, hat Felix dich nie für etwas anderes gehalten.«
»Das weiß ich. Und trotzdem habe ich ihm nie etwas nachgetragen. Im Gegenteil, ich bin heute hergekommen um euch zu helfen. Und wenn du für dich schon die Hilfe ausschlägst, so solltest du wenigstens an deinen Buben denken. Es käme mir nicht darauf an, den Adrian auf meine Kosten studieren zu lassen, allerdings unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?«
»Dass er das wird, was sein Vater versäumt hat zu werden.«
»Darauf, Schwager, muss ich dir sagen, dass eine weitere Unterredung keinen Zweck hat. Worauf das Ganze hinaus soll, weiß ich längst. Es geht dir darum, mir meinen Buben abspenstig zu machen. Aber gib dir weiter keine Mühe. Ich müsste sonst annehmen, dass dich wirklich ein schlechtes Gewissen zum Wohltäter am Sohn deines Bruders werden lassen möchte.«
Die dicken Brauenbüschel zogen sich nervös zusammen. Die Unterlippe des Großbauern aus dem Rottal zuckte ein wenig; vor Spott oder vor Zorn, das war nicht recht auszumachen.
»Woher hast du denn diesen Stolz?«, fragte er. »Du hast wohl vergessen, dass du auch bloß einmal ein Modell gewesen bist und …«
»Nun ist es aber genug!«, schrie Adrian. »Du beleidigst nicht nur meine Mutter, sondern auch den Toten in seinem Grab.« Er stand auf, riss die Tür weit auf und deutete mit ausgestreckter Hand auf den Fußweg, der durch den Wald führte. »Wenn du der blauen Markierung nachgehst, ist das der kürzeste Weg zum Bahnhof. Es reicht gerade noch für den Zug in einer halben Stunde.«
Hatte der Mann tatsächlich kein Feingefühl oder prallte der ihm so offen gezeigte Zorn an seiner Stiernackigkeit einfach ab? Jedenfalls war er nicht im Mindesten beleidigt und ging ganz langsam hinaus. Im Garten blieb er nochmals stehen und ließ Adrian wissen, dass es gescheiter wäre, statt der vielen Blumen mehr Gemüse zu pflanzen.
Dann ging er hin, der Goliath, trug den schweren Mantel über dem Arm und wandte sich nicht einmal um. Irene wusste zwar nicht recht, ob das offene Feindschaft war, jedenfalls würde sie ihm von sich aus nun auch nicht mehr zum Jahreswechsel schreiben, weil der Schwager mit seinem kurzen Besuch nichts als Lieblosigkeit und Kälte verbreitet hatte.
»Komm her, Adrian, ich muss mit dir reden«, sagte die Mutter.
Die Heftigkeit des Gesprächs zitterte noch in ihr nach. Es war die verletzende Art Goliaths, die ihren Gemütszustand auf jenen Grad völliger Erschöpfung herabgedrückt hatte, dass sie vorerst die Worte nicht so zu setzen vermochte, wie sie es gewünscht hätte um dem Sohn auf leichte Art begreiflich zu machen, dass das Ansinnen des Onkels nichts anderes war als ein Glied in der Reihe jener Demütigungen, die seit Jahren von ihm ausgegangen waren. Darum schwieg sie eine Weile, hielt nur seine schmalen Hände in den ihren und fühlte sich getröstet dadurch, dass dieser Sohn nun fortan die Leere in ihrem Leben ausfüllen solle.
Dann sprach sie, ließ Adrian Dinge wissen, die bisher nie vor ihm zur Sprache gekommen waren, und endete da, wo Onkel Goliath den Versuch gemacht hatte den Jungen zu sich hinüberzuziehen.
Bei diesem Gespräch wurde ihr plötzlich klar, dass Adrian kein Kind mehr war. In eindeutiger Weise nahm er Stellung zu den Ansichten des Onkels und deutete auch beiläufig an, dass sich das Leben von nun an wohl etwas ändern würde.«
»Was denkst du, was ich werden soll, Mutter?«
»Bis jetzt waren Vater und ich immer der Meinung, du solltest die Beamtenlaufbahn einschlagen.«
»Das ist ein weiter Begriff, Mutter. Und es wird ja auch von jetzt an davon abhängen, wovon wir leben, bis ich selber etwas verdiene.«
»Wir werden schon durchkommen, Adrian. Wir wollen uns heute nicht das Herz damit beschweren.«
»Wenn alle Stricke reißen, zu einem Bauernknecht reicht es immer noch.«
Das war leichthin, wie im Spaß gesagt, Adrian spann den Gedanken weiter und er dachte, dass diese Arbeit noch lange nicht die schlechteste sei.
Ganz still saßen sie auf der kleinen Terrasse. Der Abend schien tausendfach nachholen zu wollen, was der Tag versäumt hatte. Die Sonne war über die höchsten Gipfel schon hinuntergesunken, nun lachte sie zwischen einem Bergspalt hervor und gab dem ganzen Tal ein glühendes Gepräge. Alles leuchtete noch mal auf. Über dem Park von Siebenzell zitterten rote Schleier. Aus den Fenstern des Schlosses strömte es wie Feuer heraus und gab dem Laub des alten Ulmenparkes schillernden Glanz. Es war schön und tröstlich zugleich, diese Stunde noch zu genießen, bevor aller Glanz erlosch und die Nacht ihren Mantel über das Dorf breitete. Da und dort wurde ein Licht in den Stuben entzündet, Sterne glühten auf, flimmerten ein wenig und brannten dann ruhig als verklärtes Licht.
Irene hatte schweigend dem Übergang von der Dämmerung zur Nacht zugeschaut.
»Wollen wir schlafen gehen, Adrian?«
Sie standen auf. Das Licht im Haus erlosch. Es wurde still, nur das Rauschen der Bäume wurde lauter. Später kam dann wie jeden Abend die Mutter noch an Adrians Bett. Aber heute war etwas anders. Die Verlassenheit gab ihrem Gutenachtkuss eine tiefere Zärtlichkeit. Über dieses Gutenachtsagen blieb ihr Gesicht noch eine Weile neben dem seinen in den Kissen ruhen. Dann ging sie wieder hinaus und griff an den Lichtschalter.
Nun kroch die Nacht über den Jungen und legte sich schwer auf seine Seele. Aus der Dunkelheit heraus sah er den Vater auf sich zukommen, er hörte seine Stimme und wollte, wie so oft, eingehüllt sein von der Geborgenheit des Vaters. Doch nichts mehr geschah. Weder der schwere Schritt auf der Stiege noch das leise Niederdrücken der Türklinke. Es gab keinen Weg zurück aus dem Abgrund der Ewigkeit.
2
Der erste Schmerz war überwunden. Es ist merkwürdig, wie schon wenige Wochen alles lindern können. Irene hatte am Anfang die schwarze Kleidung aus wirklicher Trauer getragen und nun findet sie, dass sie zu ihrem aschblonden Haar gut passt. Das Gesicht des Mannes, das zwanzig Jahre um sie gewesen ist, verblasst ein wenig. Natürlich wusste sie, wie Felix ausgesehen hatte. Aber sein Gesicht und seine Statur hätten auch anders sein können. Schlanker vielleicht und kraftvoller. So wie der Sägewerksbesitzer Anton Antretter, der vor kurzem seine Frau verloren hatten, die jahrelang krank gewesen war.
Auch etwas umsichtiger hätte der gute Felix sein dürfen, nicht so künstlerhaft leichtfertig, dass Irene trotz allen eifrigen Suchens nichts unter den vielen Papieren finden konnte, das der Police einer Lebensversicherung gleichgesehen hätte, die ihr nun eine beträchtliche Geldsumme ausbezahlen müsste.
Nein, es war nicht schön von ihm gewesen, denn Felix hätte ja bedenken müssen, dass nach ihm das Leben für die Seinen weitergeht. Warum hatte der Mann nicht vorgesorgt? Gewiss, er hatte immer so viel verdient, als man brauchte, aber nun war er nicht mehr da und brachte nichts mehr her.
Wenn wenigstens der Sägemüller sein Bild bezahlen würde! Aber gerade vor zwei Tagen hatte er sagen lassen, dass er bereit wäre für das Gemälde Brennholz zu liefern. Und weil Irene aus einer falschen Scham heraus nicht den Mut fand zu sagen, dass ihr damit jetzt nicht gedient sei, sondern dass sie Geld brauche, weil ja die Beerdingung doch allerhand gekostet habe, darum hatte der Sägemüller gestern drei Klafter Scheitholz anfahren lassen.
Drei Tage später kam er selber vorbei und fragte, ob sie mit dem Gelieferten zufrieden sei.
»Ja, sehr«, antwortete Irene. »Und es ist ganz gut, dass Sie da sind, dann können wir das gleich in Ordnung bringen. Das Bild nehmen Sie doch noch?«
»Ja, natürlich. Das Brennholz ist ja weiter nichts als eine kleine Abschlagszahlung.« Das Bild sei ihm immer noch etwas wert. Nein, nein, nur keine falsche Bescheidenheit. Ob sie denn glaube, dass er etwa nichts von Kunst verstünde? Das Bild, er habe schon darüber nachgedacht, sei sicher mehr wert, als der Sebald ihm dafür hatte berechnen wollen.
Das tat gut. Es war ein tröstlicher Nachgesang auf die Kunst des Verstorbenen und es gab durchaus keinen Grund zu zweifeln, dass der Sägemüller über sie etwas anders dachte als der Goliath. Wie er schon dastand, groß und schlank, kein grauer Faden in seinem dunklen Haar, das Gesicht rot und gesund. Er trug statt der üblichen kurzen Lederhose eine lange aus Hirschleder, unter den Knien zusammengebunden, dazu graue Wadenstrümpfe und Schuhe mit Silberschnallen.
Jawohl, Silberschnallen am hellen Werktag! Sonnenumflossen stand er am Gartenzaun, Daumen und Zeigefinger zwischen die oberen Knöpfe seiner Weste geschoben. Am dritten Finger trug er einen schweren Siegelring, auf dessen breiter Platte der heilige Christophorus, mit dem Jesuskind auf der Schulter, eingestanzt war. Freundlichkeit und Entgegenkommen der ganze Mann, von den Silberschnallen der Schuhe bis hinauf zu dem grünen Plüschhut mit der kurzen Spielhahnfeder. Es ließ sich nicht gut umgehen, dass Irene ihn zu einer Tasse Kaffee einlud.
Anton Antretter sah auf seine Uhr, als müsse er nachsehen, ob er dafür Zeit habe. Unnachahmlich seine Gebärde, wie er den goldenen Deckel aufspringen ließ und dann die Uhr wieder einsteckte!
»Gern, ich habe noch etwas Zeit.« Langsam stieg er die Stufen durch den Blumengarten hinauf, blieb dann noch mal stehen und sagte: »Sie müssten eigentlich hier noch ein paar Zimmer anbauen. Das Bauholz könnte ich Ihnen billig liefern und das andere spielt bei Ihnen sowieso keine Rolle.«
»Wie bitte?«
»Ich meine, das geht in einem hin. Wollten Sie nicht auch einen Wintergarten anbauen? Ich glaube, Ihr Mann hat einmal davon gesprochen. Warum auch nicht? Mit schönen Steinfliesen, das macht sich gut. Wenn schon, denn schon.«
Irene plapperte es mit einem leichten Unterton von Spott nach: »Ja, wenn schon, denn schon.«
Eigentlich war es ja schön, mit einem Ruck auf die Stufe hinaufgehoben zu werden, von der aus man die Nichtigkeit des Lebens ein wenig anders ansah. Es war aber ihre unbedingte Ehrlichkeit, die sie sagen ließ: »So reich sind wir ja nun auch wieder nicht, wie Sie denken.«
»Aber immerhin reich genug um so eine Kleinigkeit wie einen Wintergarten anzubauen. Er wird Ihnen danach unentbehrlich sein. Ihr Mann hat ja mit seinen Bildern, wie man so hört, Heidengelder verdient.«
»Hört man das?«
»Allgemein. Na ja, er konnte ja malen, darüber lässt sich nicht streiten.«
»Es ist nicht immer alles wahr, was die Leute reden.«
Da dreht er das Gesicht zu ihr um und sieht sie an. »Warum denn so bescheiden, Irene?«
Wie kam der Mann dazu, ihren Vornamen zu gebrauchen? Sie trat einen Schritt zur Seite und griff nach der Tür.
»Bitte, nehmen Sie Platz. Ich werde das Kaffeewasser aufstellen.«
Der Sägemüller legte seinen Hut auf das breite Fenstersims und sah sich dann im Atelier um. Er sah die »Birken im Sturm« und verschwendete für den Anblick des Bildes nicht mehr Zeit als bei der Betrachtung des eingelegten Mahagonitischleins in der Ecke. Er wusste, dass es sein Bild war, aber er wusste nicht, ob es gut oder schlecht war. Er hatte es bestellt, weil er glaubte, dass es zum guten Ton gehöre, ein Bild zu kaufen, so wie er sich auch etliche Dutzend Bücher gekauft hatte ohne jemals eines davon gelesen zu haben. Aber es gefiel ihm und es schmeichelte seiner Eitelkeit, wenn jemand in seine gute Stube kam und die Bücher betrachtete.
»Oh, den ganzen Goethe haben Sie gleich hier«, hatte kürzlich ein Holzgroßhändler aus der Stadt gesagt, der geschäftlich bei ihm war. Und der Sägemüller hatte darauf kühn geantwortet: »Ja, wie könnte man ohne Goethe überhaupt leben.«
Ja, er ist nicht ganz so bieder und ehrlich, wie er sich gibt, der Sägemüller. Jetzt, da er so allein saß, war sein Gesicht nicht so sorglos und hell wie vorhin. Er hat die Brauen scharf zusammengezogen, das Kinn ist wie im Krampf vorgestreckt und um seinen Mund liegt ein verbissener Zug. Aber da hörte er Schritte vor der Tür und riss sich zusammen.
Irene brachte den Kaffee und rückte dann seinen Stuhl so, dass er in die Sonne sehen musste. Das gab ihr ein wenig Sicherheit ihm gegenüber.
»Darf ich Ihnen Zucker geben?«
»Ja, zwei Stück, bitt schön.«
Nachdenklich rührte er in seiner Tasse. Wenn er den Kopf so gesenkt hielt, glitten die Sonnenbänder über sein dunkles Haar. Nach einer Weile hob er den Kopf.
»Wollen wir das wegen des Bildes heute ausmachen?«
»Wenn Sie meinen? Sie haben mir bereits Holz geliefert.«
»Drei Klafter, ja. Ich berechne sie mit hundert Mark.«
Überrascht sah Irene auf.
»Soviel ich weiß, kostet ein Klafter schon sechzig.«
Er sah sie an und lächelte.
»Donnerwetter, Sie wissen genau Bescheid und wollen sich von mir nichts schenken lassen. Also gut dann. Zwölfhundert Mark noch für das Bild. Ist es recht so?«
Irene sah nervös zum Schrank hinüber, denn sie konnte Antretters Blick nicht länger standhalten. In seinen Augen spiegelte sich die Sonne. Sie hatte nicht gewusst, dass das Sonnenlicht einen Blick so warm und leuchtend machen konnte.
»Es ist mir recht so«, antwortete sie nach einer Weile, die viel zu lang war um dem Mann nicht aufzufallen.
Er zog eine Brieftasche und zählte zwölf neue Hundertmarkscheine auf den Tisch. Sie blieben zunächst liegen, weil Irene keine Anstalten machte, sie wegzunehmen. Erst nach einer langen Weile fragte sie:
»Wollen Sie eine Quittung?«
»Nein, ich habe bezahlt, und dass Sie es nicht zweimal verlangen, das weiß ich.« Er griff plötzlich über den Tisch hinüber nach ihrer Hand. »Ein Handschlag von Ihnen genügt mir vollkommen.«
In diesem Händedruck aber, den der Mann über das übliche Maß ausgedehnt hatte, erkannte Irene, dass es vielleicht doch verkehrt war, ihn zum Kaffee eingeladen zu haben.
Er hob die Hand und fuhr mit dem Zeigefinger in seinen Hemdkragen, als wäre ihm plötzlich zu heiß geworden. Dabei fiel das Licht auf seinen Siegelring und warf gleißende Reflexe zurück. Dann sah er sie wieder an und in seinen Augen war etwas wie Schwermut.
»Ich kann Ihnen nachfühlen«, fuhr er dann fort, »wie schwer es für Sie gewesen sein mag, einem gesunden Mann ins Grab nachsehen zu müssen. Ich aber habe jahrelang im Schatten einer Frau gelebt, die nicht leben und nicht sterben konnte.«
»Das tut mir wirklich Leid.«
»Wenn ich bedenke, da hat Ihr Leben doch einen anderen Sinn gehabt. Sie haben wenigstens einen Sohn. Und was habe ich? Ach – sprechen wir nicht mehr davon. Haben Sie Dank für den Kaffee, es war eine schöne halbe Stunde.«
Die Hand gab er ihr nicht mehr. Er griff nach seinem Hut, nickte ihr zu und wollte gehen. Da fragte sie noch:
»Lassen Sie das Bild abholen?«
»Ja, gelegentlich. Und – wenn ich wieder einmal vorbeischauen darf?«
»Ja, gerne«, antwortete Irene schnell und wusste sogleich, dass sie es anders hätte ausdrücken sollen.
Von der Schwelle des Hauses aus sah sie ihm nach, wie er mit raschen, federnden Schritten dahinging. Felix war schwerfälliger gegangen und hatte die Schultern immer ein wenig eingezogen. Felix war ja auch älter. Er war bei seinem Tod fünfundfünfzig.
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Die Posthalter-Christl
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Christl, Tochter des Posthalters von Erlbach, lernt auf der Alm den Medizinstudenten Thomas von Lafret, einen Sohn des gefürchteten »Bauerngrafen«, kennen und entdeckt das Glück der ersten Liebe. Doch alles kommt anders als gedacht. Thomas beugt sich dem Druck seines Vaters und wird sich mit der Fabrikantentochter Anita verloben. Christls Vater verunglückt plötzlich, sodass sie nun allein die verwaiste Bauernwirtschaft führen muss. Mit starker Hand und neuen Ideen trotzt sie dem Bauerngrafen beherzt. Doch auch Thomas verwirklicht schließlich seinen Traum einer eigenen Arztpraxis.
Die Hand am Pflug
eISBN 978-3-475-54385-2 (epub)
Hans Ernst ist einer der bekanntesten Volksschriftsteller. Seine Heimatromane werden zu Recht geliebt, denn Handlung und Charaktere profitieren von Erfahrungen, die der Autor Im Laufe seines Lebens selbst machte, von seinen eigenen Erlebnissen und Begegnungen. Davon erzählt er in diesem autobiografischen Werk: In seiner Zeit als Bauernknecht ist seine Liebe zur bäuerlichen Welt entstanden, seine künstlerischen Fähigkeiten konnte er beim Theater entdecken. Endlich verband sich beides glücklich in der Schriftstellerei. So manchem Hans Ernst-Freund gilt dieses Buch als sein bestes.
Wo die Alpenrosen blühn
eISBN 978-3-475-54553-5 (epub)
Klaus Bruckner, der Erbe des Erlenhofes, denkt immer noch gerne an seine Kindheitsfreundin zurück, Prinzessin Waltraud von Rankenstein. Ungeachtet aller Standesunterschiede durfte er seinerzeit auf dem Schloss das Geigenspiel erlernen, und sie auf dem Klavier begleiten. Nach zwei Jahren Trennung trifft er endlich wieder auf seine einstige Spielkameradin.
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