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Es ist Winter in Ascension, einer Kleinstadt in Maine. Die Seen sind zu Eis erstarrt, der makellose Schnee fällt in dicken Flocken vom Himmel. Aber der friedliche Schein trügt - denn in Ascension haben Fehler tödliche Folgen. Drei geheimnisvolle Mädchen sind in die Stadt gekommen, um darüber zu urteilen, wer für seine Taten büßen muss. Und die Wahl ist auf Em und Chase gefallen. Emily ist glücklich. Zach, in den sie seit Monaten verliebt ist, zeigt endlich Zuneigung zu ihr. Doch Em weiß: Wenn sie etwas mit ihm anfängt, gibt es kein Zurück mehr. Denn Zach ist bereits mit Gabby zusammen - Ems bester Freundin.
Chase hat nicht nur Probleme zu Hause, auch seine Freunde lassen ihn links liegen. Aber es ist etwas anderes, was ihm den Schlaf raubt. Chase hat etwas unfassbar Grausames getan. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis es ans Licht kommen wird. "Im Herzen die Rache" ist der erste Band einer Jugendbuchtrilogie der Erfolgsautorin Elisabeth Miles über Rache, Furien und Liebe. Ein spannender Mystery-Thriller, der Mythologie mit Mord verbindet.
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Seitenzahl: 456
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Prolog
Hoch oben über dem Highway griff ein Mädchen nach dem Brückengeländer. Fast wäre sie ausgerutscht, als sie auf den schmalen Sims stieg, und während sie sich festklammerte und versuchte, das Gleichgewicht zu halten, überkam sie einen Moment lang panische Angst.
Es wehte ein starker Wind. Tief unter ihr brauste der Verkehr dahin, ein Strom von Autos und Scheinwerfern. Ihre Hände waren starr vor Kälte, die verkrampften Finger ganz taub. Der goldene Schlangenanhänger, der auf ihrem Schlüsselbein ruhte, glitzerte sogar im Dunkeln.
Alles verschwamm – die Finsternis vor ihren Augen genauso wie die Finsternis ihrer Gedanken. Sie war nur noch einen Atemzug davon entfernt zu springen. Sie spürte, wie die Dunkelheit sie durchdrang.
Und dann sprang sie. Sie flog. Im freien Fall.
Plötzlich begriff sie, dass sie es nicht rückgängig machen konnte.
Ihre Lunge wurde zu einem winzigen Etwas zusammengepresst. Sie konnte nicht mehr atmen. Um sie herum eisiger Wind. Eine schreckliche Angst durchfuhr ihren Körper.
Sie griff ins Nichts. Und schrie.
Erster Akt
Ascensionoder
Kapitel 1
Emily Winters stand vor ihrem Schlafzimmerspiegel, ein flauschiges weißes Handtuch um den Oberkörper geschlungen, und mühte sich damit ab, einen Knoten aus ihrem tropfnassen dunklen Haar zu bekommen.
Im Zimmer war es ganz still, bis auf das typische Ticken des Heizkörpers neben ihrem Schrank, das ihr schon als Kind den Schlaf geraubt hatte. Damals hatte sie sich immer eine alte Hexe vorgestellt, die sich durch die Wand scharren wollte. Doch inzwischen nahm sie das Geräusch kaum noch wahr. Genau wie das winzige Muttermal über ihrer rechten Augenbraue – das hatte sie schon seit ihrer Geburt, aber sie dachte nur dann daran, wenn sie jemand darauf ansprach.
Jemand wie Zach McCord zum Beispiel. Letzte Woche in Erdkunde, der Unterrichtsstunde, in der nie einer aufpasste, hatte er sich zu ihr hinübergebeugt, um auf ihren Test zu linsen. Dann hatte er ihr in die Augen geschaut und sie anschließend an der Braue berührt. »Schönheitsfleck«, hatte er gesagt. Und als er sich wieder umdrehte, durchfuhr sie ein Schaudern, und damit hatte sich’s.
Rums!
Aus dem Augenwinkel sah Em etwas Weißes an ihrem Fenster aufblitzen. Und als sie herumwirbelte, um zu sehen, was es war, folgte ein zweites lautes Rumsen.
Sie wickelte das Handtuch fester um sich, ihr Herz begann zu rasen und ihr schossen sofort die wildesten Fantasien von Einbrechern und Mördern durch den Kopf. Sie wartete einen Moment und lauschte, aber es war nichts mehr zu hören. Ihren Plastikkamm fest umklammert, näherte sie sich dem Fenster und spähte hinaus. Das Verandalicht fiel auf die weiße Schneedecke, die den winterstarren dunklen Vorgarten und die Auffahrt bedeckte, die auf Ems ruhige Straße hinunterführte.
Natürlich kein Einbrecher, beruhigte sie sich und ließ den Kamm mit einem verlegenen Lächeln im Gesicht wieder sinken (und überhaupt, ausgerechnet ein Kamm als Verteidigungsmittel – wie bescheuert war das denn?). Kein Mensch wurde in Ascension ausgeraubt und schon gar nicht in diesem Teil der Stadt. Es war bestimmt bloß ein Schneeklumpen, der von der alten Eiche neben dem Haus gerutscht war.
Kaum hatte ihr Herz aufgehört, wie wild zu pochen, als sie ein wohlvertrautes Pling! hörte.Erst trudelte eine Chat-Nachricht ein, dann folgten noch vier weitere, so schnell hintereinander, dass es sich wie ein Wecker anhörte.
Em seufzte und ging zu ihrem Laptop hinüber, der zwischen einem Haufen Büchern und Zeitungen auf ihrem Bett lag. Sie arbeitete nicht gern an dem Schreibtisch, der sich in einer Ecke des Zimmers befand – den benutzte sie in der Regel bloß als Klamottenablage. Der dazugehörige Stuhl verschwand zurzeit komplett unter einem Haufen von Schals, Kleidern und Vintage-Blazern.
Gabs357: Em? BiDuDa?
Gabs357: Äh, hallo?
Gabs357: Also, mach mich gerade fertig und überlege, ob Haare offen o hochgesteckt?
Gabs357: Emmmmm! Du hast versprochen, mir zu helfen! Bin hin- und hergerissen zw blauem Sweat-Kleid (kurze Ärmel) u neuer Jeans m rosa Rüschentop … was meinst du? Und wo ist meine schwarze Strickjacke – hast du die?
Gabs357: Fährst du mit Chauffeur o sollen wir dich abholen?
Gabs357: Ich glaub, ich nehm das Kleid. WOBIDU? Lebst du überhaupt noch???
»Ich zieh Jeans und ein schwarzes T-Shirt an, falls es dich interessiert, Gabs«, murmelte Em. Dann schob sie ihr Lieblingsstofftier, ein Zebra namens Cordy, zur Seite und warf sich aufs Bett, um eine Antwort zu tippen.
Zach McCord hatte Cordy letzten Sommer für sie gewonnen, als sie mit ihm und ihrer besten Freundin Gabby auf dem Jahrmarkt war. Er war an einem dieser ulkigen Automaten stehen geblieben, bei denen man eine Art riesigen Greifarm betätigen muss, um ein Plüschtier vom Boden eines Glaskastens zu angeln. Zach, der unglaublich talentiert war, wenn es um Technik ging, hatte irgendwie gleich zwei Preise ergattert: einen rosa Bären und das Zebra.
Er hatte es ihr damals lässig zugeworfen. »Es ist süß«, hatte er gesagt. »Außergewöhnlich und süß. So wie du.« Für den Rest des Tages war ihr ganz warm ums Herz gewesen und seitdem schlief Cordy bei ihr im Bett. Manchmal war das ausgestopfte Zebra ein besserer Zuhörer als all die Menschen um sie herum.
Den rosa Bär hatte Zach natürlich Gabby geschenkt, die ihm dafür einen dicken Kuss auf die Wange gedrückt hatte.
Wie sich das gehörte, schließlich war Zach Gabbys Freund.
Sorry, hab gerade geduscht, tippte Em jetzt auf ihrem Laptop. Ja, JD holt mich ab. Die Strickjacke hast du, glaub ich, in deinem Spind in der Mädchenumkleide gelassen, stimmt’s? Jeder wusste, dass Gabby dort »für den Notfall« immer mehrere Ersatz-Outfits aufbewahrte.
Em schüttelte grinsend den Kopf, während sie rasch eine weitere Nachricht abschickte: Das Kleid ist bestimmt eine gute Wahl. Und offene Haare auch. Ist doch schließlich ’ne Party! Als sie sich kurz umdrehte, um sich BH und Slip zu schnappen, hörte sie schon die nächste Salve Plings.
Oh, endlich, hi!!!!! Okay, Haar auf jeden Fall offen. Sieht heute eh ganz gut aus.
Überlege, ob ich die neue lange Halskette tragen soll, die Mom mir gekauft hat – oder ist das übertrieben?
Ems Lachen klang eher wie ein Stöhnen, als sie tippte: Gabs, ich muss mich jetzt auch mal fertig machen! Halskette hört sich super an. Bis später! Manchmal musste man eben Prioritäten setzen.
Während sie ein langes schwarzes Tanktop aus ihrer Kommode und eine enge Jeans aus dem Schrank holte, blickte sie noch einmal zu ihrem Spiegel hinüber, der von Postkarten, Fotos und Notizzetteln umrahmt war. Auf den meisten Bildern waren Em und Gabby zu sehen.
Gabby war die heimliche Queen der Schule. Klein, aber oho und (dank ihrer obsessiven morgendlichen Beschäftigung mit dem Lockenstab) mit stets perfekt gestylten blonden Locken war sie eindeutig diejenige, die in der Schule den Ton angab. Genau wie ihre Wetterreporter-Mom wirkte sie dabei unheimlich gebildet und makellos und strahlte immer Zuversicht und Optimismus aus. Gabbys Footballstar-Brüder hatten ihr mit ihren ganzen Siegespokalen und Ballkönig-Kronen bereits den Weg an die Spitze der Beliebtheitsskala geebnet – und auch Em profitierte davon. Als sie neu an die Ascension Highschool gekommen waren, wurden sie und Gabby sofort in das soziale Netz der Schule integriert, man lud sie zu Senior-Partys ein und sie durften mit Oberstufenschülern flirten.
Gleich in der neunten Klasse wurde Gabby ins Homecoming-Gremium gewählt, eine Auszeichnung, die zwar offiziell allen Schülern offenstand, inoffiziell aber (bis vor zwei Jahren) den Elft- und Zwölftklässlerinnen vorbehalten gewesen war. Und voriges Jahr hatte Em es geschafft, das Jahrbuch-Komitee endlich wieder auf den richtigen Trichter in Sachen annehmbare AG-Arbeit zu bringen. Sie hatte Notizen, alte Eintrittskarten und Quittungen, Schnappschüsse, Ausschnitte aus Klassenaufsätzen und andere Erinnerungsstücke gesammelt und aus dem Jahrbuch kurzerhand ein Scrapbook gemacht. Gabby war für das Layout zuständig und Em hatte sich die ganzen witzigen Texte ausgedacht und die lustigen Sprüche eingeklebt.
Jetzt ließen sie sich durch das elfte Schuljahr treiben, wie sie es immer geplant hatten: Sie gingen auf Partys, ohne eine persönliche Einladung zu benötigen, lernten für den College-Aufnahmetest, arbeiteten wie die Irren und amüsierten sich wie die Irren (wobei Em Gabby manchmal ans Arbeiten erinnern musste und Gabby Em ans Amüsieren). Sie saßen im angesagteren Teil der Cafeteria und parkten ihre Autos auf dem heiß begehrten Parkplatz vor der Schule.
Dieses Jahr würde man Gabby mit ziemlicher Sicherheit im Jahrbuch zur hübschesten Elftklässlerin küren, während Em als heiße Kandidatin für den Titel »zukünftiger Siegertyp« galt (fragte sich nur, wobei). Es gehörten noch andere Mädchen zu ihrer Clique, Fiona Marcus und Lauren Hobart zum Beispiel, die sie schon ewig kannten, und Jenna Berg, die in der achten Klasse nach Ascension gezogen war und voll auf ihrer Wellenlänge lag. Doch alle wussten, dass die Gab-Em-Connection alles zusammenhielt. Irgendwie glichen die beiden einem Feuerwerk: Sie stiegen gemeinsam in die Höhe, bevor Gabby mit einem lauten Wumm! bunt schillernd explodierte und Em den Himmel als funkelnder Goldregen in ein anderes Licht tauchte.
In letzter Zeit kam sich Em allerdings eher wie eine Handlangerin oder eine persönliche Stilberaterin vor. Denn Gabbys bevorzugte Gesprächsthemen drehten sich in den vergangenen Wochen immer nur um ihre Klamotten, um Zach oder das Frühjahrsfest (das erst in über drei Monaten stattfand!). Erst heute Morgen hatte Gabby Em gebeten, sich doch »bitte mit Zach wegen der Auswahl seiner Weihnachtsgeschenke für mich zu beraten«, und anschließend fünf Vorschläge gemacht, die halbwegs im Rahmen des Realistischen lagen: 1. der edle blaue Schal, den sie auf der Website von Maintenance, ihrem absoluten Lieblingsladen in Boston, entdeckt hatte; 2. ein iPod nano mit Gravur zum Joggen; 3. Eintrittskarten für den Cirque du Soleil im Frühjahr in Portland; 4. ein Hündchen; 5. eine heimliche romantische Übernachtung in der Hütte seines Stiefvaters unten an der Küste.
Gabby begriff manchmal einfach nicht, dass nicht jeder so ein perfektes Leben hatte wie sie.
Natürlich hatte sie auch ganz wunderbare Seiten. Sie war der einzige Mensch, den Em in ihrer Nähe ertrug, wenn sie schlecht drauf war. Sie war für jeden Blödsinn zu haben und der beste Kumpel, den man sich vorstellen konnte, wenn es darum ging, auf Partys abzufeiern oder auf eine nächtliche Abenteuertour zu gehen. Und sie war eine tolle Freundin. So wie damals in der sechsten Klasse, als Em Adam Dunn auf dem Schulhof gestanden hatte, dass sie ihn mochte, und er geantwortet hatte, sie solle sich verpissen. Da hatte Gabby Brownies mit Zuckerglasur gebacken, auf denen mit bunten Smarties D-DAY geschrieben stand. Sie hatten gelacht, das ganze Blech Brownies gegessen und damit den Dunn-Day in einen richtigen Feiertag verwandelt. Das war typisch Gabby. Sie war wie ein Sonnentag, Erdbeerkuchen und eine Schneeballschlacht in einem.
Manchmal konnte sie aber auch ziemlich anstrengend sein.
Em blickte auf ihre Knubbelknie und ihr langes fast schwarzes Haar und fühlte sich eher wie Morticia aus der Addams Family und nicht wie America’s Next Top Model. Es gab Tage, an denen sie ihren schmalen Körper zu schätzen wusste, doch an diesem Abend wünschte sie, sie besäße einen gepolsterten BH.
Pling! … Pling! … Pling! Was denn nun schon wieder?
Emmmm! Ich hab was für dich – schick es dir gleich rüber.
Em beobachtete den blauen Balken auf dem Bildschirm, während die Datei hochgeladen wurde. Dann erschien ein Em-macht-sich-fertig-Musik-Pop-up in ihrem Media Player.
Ich hab ein paar Songs für dich rausgesucht, falls du noch ein bisschen Motivation brauchst, schrieb Gabby. Aber versprich mir, dass du dich sofort auf den Weg machst, wenn die Playlist zu Ende ist.
Em überflog die Songtitel. Perfekt. Einige ältere Sachen von Britney und Beyoncé plus ein paar punkige Coverversionen von Musicalmelodien, von denen Gabby wusste, dass Em sie mochte.
Als sie ihre Jeans zuknöpfte und ihre Schuhauswahl begutachtete und dabei leise Cabaret vor sich hin sang, drangen die Stimmen ihrer Eltern nach oben. Das war eine weitere Macke der alten Heizkörper, irgendwie schienen sie Stimmen besser durchs Haus zu leiten als Wärme. Em konnte nicht alles verstehen, sie schnappte bloß einzelne Wörter auf.
Ihre Eltern waren schon mit sechzehn ein Paar gewesen – bei dem Gedanken wurde Em ganz anders. Denn sie war jetzt genauso alt wie die beiden, als sie sich kennenlernten. Em konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, zwanzig Jahre lang mit derselben Person zusammen zu sein, doch ihre Mom und ihr Dad schienen einander nicht überdrüssig zu werden. Sie hatten sich auf einer Skifreizeit für Klassen aus verschiedenen Schulbezirken kennengelernt. An dem betreffenden Tag hatte Ems Mom eine violette Strickmütze mit zwei blauen Bommeln getragen. (Em machte sich immer über den grottenschlechten Modegeschmack lustig, den ihre Mutter als Teenager hatte.) Im Laufe des Nachmittags war eine der beiden Bommeln irgendwie verloren gegangen. Und obwohl fast die gesamte Mannschaft die Piste nach dem wuscheligen Teil absuchte, wurde nur einer der Jungs fündig – es steckte in seiner Kapuze. Ems Dad hatte in der Skihütte die Jacke ausgezogen und dabei hatte ihre Mom die blaue Bommel entdeckt.
Es hat sofort zwischen uns gefunkt, erzählten ihre Eltern immer mit einem Augenzwinkern. Du weißt schon, was wir meinen.
Doch natürlich wusste Em das nicht. Sie hatte noch nie feurige Leidenschaft empfunden oder so etwas wie eine Fügung des Schicksals erlebt. Alles, was sie kannte, war das unbeholfene Geknutsche mit Jungs, die nicht wussten, wohin mit ihren Händen. Sie hatte jedenfalls noch nie einem Jungen in die Augen geschaut und »es einfach gewusst«.
Zumindest keinem, der wirklich zu haben war. Daher auch der Titel für das Gedicht, mit dem sie den regionalen Blue Pen Award gewonnen hatte: Unerreichbar.
Peng! Ems Herzschlag setzte einen Augenblick aus, bis ihr klar wurde, dass das Geräusch von einem Schneeball stammte, der an ihr Schlafzimmerfenster geflogen war. Ein weiterer Schneeball knallte dagegen und versetzte sie wieder in den Party-Vorbereitungs-Modus. Es war ihre Mitfahrgelegenheit – die Sache mit den Schneebällen war neuerdings seine etwas uncharmante Art, ihr mitzuteilen, dass er draußen wartete.
Sie klappte ihren Laptop zu, schlüpfte rasch in ein T-Shirt und hastete wieder zum Fenster, während sie gleichzeitig versuchte, den rechten Fuß in einen ihrer hohen Schnürstiefel zu stecken.
»Noch fünf Minuten«, bedeutete sie ihm und hielt dabei fünf Finger hoch. Im Garten stand albern grinsend JD Fount und schob sich gerade einen Zweig aus dem Gesicht. JD war schon immer supergroß gewesen, so groß, dass MrsMilliken ihn in der vierten Klasse mal richtig fest in den Rücken geboxt und »Achtung, Haltung annehmen!« gerufen hatte, weil er ganz krumm dasaß, damit sich die anderen Kinder nicht so klein vorkamen.
Inzwischen maß er ganze 1,90Meter und scherte sich nicht die Bohne darum, was die anderen dachten.
Wie zum Beweis knöpfte er jetzt seinen Mantel auf und präsentierte sein Outfit für diesen Abend: Hose, Weste und darunter ein lila Hemd. Em schüttelte den Kopf und musste unwillkürlich lächeln. Sie staunte immer wieder über JDs gewagte Klamottenwahl, die wie ein Zwischending aus Bildersturm und Kunst aussah. Er war berüchtigt für seine Volksreden über die Ungerechtigkeit, dass Mädchen modemäßig richtig Spaß haben durften, während die Jungs bloß auf Jeans und T-Shirts sitzen blieben. Im letzten Jahr hatten Gabby und sie sich angewöhnt, ihn ihren »Chauffeur« zu nennen – hinter seinem Rücken, natürlich. Auf die meisten Partys wurde er zwar nicht eingeladen, doch er war immer bereit, Em hinzufahren. Sie wusste, dass er insgeheim über jeden Vorwand froh war, am Wochenende ausgehen zu können, und obwohl er ein ziemlicher Trottel war, den sie schon aus Sandkastenzeiten kannte, musste sie zugeben, dass sie sich ganz gern die Zeit mit ihm vertrieb.
Als er Ems Handzeichen sah, winkte er ihr zu und streckte die Daumen in die Höhe. Er war es gewohnt zu warten. Die Founts wohnten schon seit ewigen Zeiten nebenan und es war ein Running Gag, dass sie vermutlich noch bei ihrer eigenen Beerdigung auf die Winters warten müssten. Bevor Em einen Führerschein besaß, hatte JD sie immer mit zur Schule genommen. Doch als sie vier Mal hintereinander die erste Stunde verpasst hatten, hatte er ihr angedroht, sie zu Fuß gehen zu lassen.
Jetzt tänzelte er zurück zu seinem verbeulten Volvo – er wusste, dass Em ihn beobachtete – und stieg ein. Em blieb am Fenster stehen, fasziniert von den Schneeflocken, die mittlerweile vom Himmel fielen. Obwohl sie schon immer in Maine gelebt hatte, konnte sie nie genug vom Winter bekommen. Sie mochte es, wie ihr Wohnviertel nach einem Schneesturm aussah, wenn alle Häuser mit einer dicken weißen Schicht bedeckt waren wie mit Baiserhauben verzierte Torten. Sie sah noch einen Moment zu, wie die Schneeflocken ineinander übergingen, bis das entfernte Geräusch einer Sirene sie abrupt in die Realität zurückholte.
Als sie ihre Stiefel geschnürt hatte, tupfte sie sich ein wenig Gloss auf die Lippen, klemmte sich die Haare hinter die Ohren (sie machte selten mehr damit, als sie an der Luft trocknen zu lassen) und schnappte sich ihre Tasche. Sie warf noch einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, in dem vollen Bewusstsein, dass sie sich nur für eine einzige Person aufgestylt hatte, und verließ das Zimmer.
Auf dem Weg nach unten wurden die Stimmen ihrer Eltern deutlicher. Sie diskutierten wieder mal über die Arbeit: ob Koffein einen Herzinfarkt begünstigt oder nicht. Für zwei Menschen, die nicht mal merkten, wenn ihre eigene Tochter ein gebrochenes Herz hatte, machten sie sich ziemlich viele Gedanken über die Herzen anderer Leute.
»Ich geh auf ’ne Party«, sagte Em und steckte den Kopf durch die Küchentür. Ihre Eltern hielten ein Glas Rotwein in der Hand und waren über eine Käseplatte auf der marmornen Kücheninsel gebeugt. Sie standen so nah beieinander, dass sich ihre Hüften berührten. Als sie kurz aufblickten, wirkten sie leicht überrascht, sie zu sehen. »Bei Ian Minster. JD fährt«, ergänzte Em.
»Okay, Schatz«, antwortete ihre Mom.
»Pass auf dich auf, Liebling«, sagte ihr Dad.
»Und dann darf man gespannt sein, was die ganzen Rotweinstudien noch bringen …«, sagte Ems Mom plötzlich. Und schon waren sie wieder mitten in ihrem Gespräch.
Em verdrehte die Augen, zog sich ihren Wintermantel über und stiefelte hinaus zu JDs Volvo. Sie fragte sich, ob ihre Eltern eigentlich mitbekommen hatten, was sie gesagt hatte. Sie fragte sich, ob überhaupt jemand sie mal wirklich anschauen und wahrnehmen würde.
Kapitel 2
Fahre in 15Min los. Treff dich dort.
Chase Singer schickte noch schnell eine SMS an Zach, bevor er sein neues Nokia Handy, ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk seiner Mom (eines, das sie sich nicht wirklich leisten konnten), sorgsam wieder in die Tasche seiner Jeans gleiten ließ.
Jedes Jahr kurz vor den Weihnachtsferien nahm es einer der Seniors der Ascension High in die Hand, die ultimative Party zu organisieren. Halb Weihnachtsfeier, halb Bergfest, um den Abschluss der ersten Schuljahreshälfte zu zelebrieren, war die Party immer von der Sorte, aus der Legenden gemacht sind – Legenden, die sechs Monate weiterlebten, bis wieder Gras darüber gewachsen war. Ian Minsters Eltern, die sich gerade in ihren zweiten Flitterwochen befanden, hatten sie es zu verdanken, dass dieses Jahr das Minster’sche Anwesen den Hotspot abgab, wo man seinem Ruf alle Ehre machen beziehungsweise diesen komplett ruinieren konnte, je nachdem.
Chases Handy vibrierte und er angelte es aus seiner Hosentasche. Neue Mitteilung von Lindsay Peters: Kann ich heute Abend mit zur Ascension-Party kommen? Chase antwortete ihr nicht. Er hatte seit ein paar Wochen was mit Lindsay, einer Unterstufenschülerin aus der nahe gelegenen Trinity High, laufen. Sie waren sich auf einer Footballfeier begegnet und anfangs hatte er sie cool gefunden. Es machte ihr nichts aus zu fahren, um ihn zu sehen, und sie war nicht allzu anspruchsvoll. Doch inzwischen langweilte sie ihn. Sie hatte eine ganz hübsche Figur – allerdings nur, solange sie ihren Push-up-BH anbehielt–, eine sanfte Stimme und ein strahlendes Lächeln. Aber sie trug ein wenig zu viel Make-up und lachte immer zu laut, auch wenn seine Witze gar nicht so lustig waren. Und selbst dann, wenn er noch nicht einmal versuchte, witzig zu sein. Vor ein paar Wochen hatte er angefangen, ihr von dieser tollen Doku über Insekten zu erzählen, die er kürzlich gesehen hatte, doch sie glaubte, er rede über die Handlung eines Science-Fiction-Films. Außerdem kaute sie immer mit offenem Mund. Nein, er wollte definitiv , dass sie heute Abend mitkam.
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