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Liebe in Zeiten des Aufruhrs.
Pennsylvania, 1916: Nach einem tragischen Minenunglück nehmen Andrews Verwandte, deutsche Einwanderer, ihn bei sich auf. Er soll bei der Eisenbahn arbeiten, doch ein Unfall verändert plötzlich alles. Die Familie verlässt die Stadt und zieht auf eine alte Farm. Die harte Arbeit auf dem Land verlangt ihm alles ab. Dann lernt er Lily kennen, die Tochter des benachbarten Farmers, und auch sie ist vom Leben gezeichnet ...
Als der Erste Weltkrieg ausbricht, muss Andrew erkennen, dass man seine Wurzeln nie ganz hinter sich lässt und es sich für seine Träume zu kämpfen lohnt.
Ein großes Auswanderer-Epos und eine hochemotionale Liebesgeschichte.
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Seitenzahl: 493
Harmony Verna arbeitet als Journalistin und als Autorin für Radio und Fernsehen. »Das Land der roten Sonne« ist ihr erster Roman und wurde für den James-Jones-Preis nominiert. Verna lebt mit ihrem Ehemann und ihren drei Söhnen in Newtown, Connecticut.
Marie Rahn studierte an der Universität Düsseldorf Literaturübersetzen. Sie übersetzt aus dem Französischen, Italienischen und Englischen, u.a. Lee Child, Aldo Busi, Kristin Hannah, Silvia Day und Sara Gruen.
Liebe in Zeiten des Aufruhrs.
Pennsylvania, 1916: Nach einem tragischen Minenunglück nehmen Andrews Verwandte, deutsche Einwanderer, ihn bei sich auf. Er soll bei der Eisenbahn arbeiten, doch ein Unfall verändert alles. Die Familie verlässt die Stadt und zieht auf eine alte Farm. Die harte Arbeit auf dem Land verlangt ihm alles ab. Dann lernt er Lily kennen, die Tochter des benachbarten Farmers, und auch sie ist vom Leben gezeichnet. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, muss Andrew erkennen, dass man seine Wurzeln nie ganz hinter sich lässt und es sich für seine Träume zu kämpfen lohnt.
Ein großes Auswanderer-Epos und eine hochemotionale Liebesgeschichte.
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Harmony Verna
Im Land der Apfelblüten
Roman
Aus dem Amerikanischen von Marie Rahn
Inhaltsübersicht
Über Harmony Verna
Informationen zum Buch
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Erster Teil
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
Zweiter Teil
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
Dritter Teil
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
Vierter Teil
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
Fünfter Teil
55. Kapitel
56. Kapitel
Dank
Impressum
Für Eleanor,
deren Liebe zum Land
auch mir im Blut liegt.
Jeden Morgen, Herr, wissen wir,
uns erwartet nur eines: die dunkle, höllengleiche Grube, aus der wir unseren Lebensunterhalt zusammenkratzen und
gleichzeitig, Stück für Stück, unsere Seele dabei verlieren.
Die Gesichter schwarz, die Hände voller Schwielen,
graben wir uns durch dunkle Tunnel,
gebückt und gebeugt, und ernten die Kohle.
Und beten dabei: Gott, ernte du unsere Seelen.
(The Coal Miner’s Prayer von W. Calvert)
Still jetzt.« Die Wörter hallten von den Wänden als Echo wider. »Lass nur die Augen zu.«
Andrew gehorchte seinem Vater, klammerte sich an seine Hand und vergrub seine winzigen Finger in der schwieligen Handfläche. Blindlings tappte er abwärts. Um sich herum hörte er das hohle Tropfen von Wasser und spürte die kühle, feuchte Luft auf der Haut, die ihn an den Morgennebel im Tal erinnerte.
Dann blieb sein Vater stehen und entzog ihm die Hand. »Jetzt mach die Augen auf.«
Andrew tat es, konnte jedoch nichts sehen. Wieder und wieder blinzelte er, doch die Dunkelheit war so undurchdringlich und endlos wie in einem Brunnenschacht. Er rieb sich die Augen, doch er konnte seine Hände nicht sehen. Panik stieg in ihm auf, und er schnappte nach Luft. Von allen Seiten schoben sich die Wände auf ihn zu und bedrängten ihn. Die Schwärze drückte schwer auf seine Lungen. Andrew streckte auf der Suche nach seinem Vater die Hände aus, griff aber ins Leere.
»Papa!«
»Ich bin hier, mein Sohn.« Sofort spürte er, wie ihn warme, starke Arme umschlangen. »Ich bin direkt vor dir.«
Andrew klammerte sich an das raue Hemd seines Vaters, vergrub den Kopf an seiner Brust und sog den vertrauten Geruch nach Tabak und frisch gehacktem Holz ein. Er schloss die Augen.
Sein Vater umfasste seine Schultern und beugte sich zu ihm herab. »Ich wollte nur, dass du es siehst.«
»Aber ich sehe gar nichts!«
»Du solltest nur erfahren, wie es hier unten ist.« Andrew hörte, dass sein Vater lächelte. Er vernahm ein Kratzen, ein Zischen, und dann flammte Licht auf. Mit dem Streichholz zündete sein Vater die Kerze auf dem Helm an, und Andrew sah die tropfenförmigen Spuren von Wachs. Der brennende Docht warf einen kleinen gelben Lichthof, so dass er gerade so die Stirn, die Augen und die Nase seines Vaters sehen konnte.
Dann spürte er seinen drängenden Händedruck. »Du sollst wissen, dass dies hier nicht dein Leben wird. Ich lasse nicht zu, dass mein Sohn unter Tage geht. Hörst du, Andrew?« Seine Stimme war leise und flehentlich. »Du wirst hart arbeiten. Fleißig lernen. Wenn du älter bist, wirst du dir ein eigenes Leben aufbauen. Aber nicht hier. Ich lasse nicht zu, dass du nach Kohle schürfst. Verstanden?«
»Ja, Sir.«
»Sorge für deine Familie, Andrew. Immer.« Er schluckte hart. »Aber nicht so.«
»Ja, Sir.«
Die Augen seines Vaters musterten ihn eindringlich. »Du hast etwas Besseres verdient«, sagte sein Vater schließlich. »Lass dir von niemandem etwas anderes einreden.«
Andrew versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er wieder nach Hause, ans Licht wollte. »Ja, Sir.«
Da erhob sich sein Vater. »Du wirst nie wieder hier runtergehen. Versprochen?«
Andrew versprach es.
Uniontown, Pennsylvania – 1916
Andrew Houghton wappnete sich gegen die Kälte, die in der weiten, von Kohlenminen zerklüfteten Landschaft Pennsylvanias den Winter ankündigte, und legte der jungen Frau an seiner Seite einen Arm um die Schultern. »Frierst du auch nicht?«, fragte er.
»Nein.« Sie lächelte gezwungen, klapperte dabei aber mit den Zähnen.
»Doch, dir ist kalt.« Andrew blieb stehen, zog seinen Mantel aus und hüllte sie damit ein. »Besser?«
Sie seufzte leise und nickte. »Aber jetzt wirst du frieren.«
»Ich? Nein! Mir ist warm wie im Sommer«, erwiderte er und legte erschauernd seinen Arm um sie. Sein Ärmel rutschte hoch, und darunter zeichnete sich ein blauer Fleck auf seiner Haut ab.
Sie verzog das Gesicht. »Du siehst viel zu gut aus, um dich bei diesen Kämpfen so zurichten zu lassen.« Sanft berührte sie seine geschwollene Wange, worauf er erstarrte. »Und wie willst du mich mit diesen aufgeplatzten Lippen küssen?«
Andrew lachte gequält auf und ließ sie los. Was hatte er erwartet, wenn er sie in den Arm nahm? Sie blieb ebenfalls stehen, zog den langen Wollmantel enger um sich und sah ihn bittend an. »Wieso hast du mich noch nie geküsst?«, fragte sie ernst.
Die Kälte drang schneidend durch sein dünnes Leinenhemd. »Wenn mich der Polizeichef dabei erwischen würde, wie ich seine Tochter küsse, käme ich nicht nur mit ein paar blauen Flecken davon.«
»Jetzt mach keine Witze«, erwiderte sie. »Du hast vor meinem Vater genauso wenig Angst wie vor deinen Gegnern im Boxring. Was ist also der wahre Grund?«
Andrew atmete geräuschvoll aus und erwiderte den Blick aus ihren sanften, rehbraunen Augen. Er konnte sie küssen und sie in seine Arme schließen. Schließlich waren Vergnügungen im Kohlerevier selten. Aber mehr könnte daraus nicht werden: ein kurzes Vergnügen, eine süße Ablenkung. Er wollte ihr nichts vormachen.
»Ich kann dir nichts bieten«, sagte er schließlich.
Sie reckte ihr Kinn und fragte spöttisch: »Was soll das denn heißen?«
»Hör mal«, setzte er an und suchte nach einer Erklärung. Sie machte es ihm nicht leicht. »Zurzeit bin ich nicht auf der Suche nach einer Freundin«, sagte er so behutsam wie möglich. »Meine Gefühle reichen einfach nicht. Tut mir leid.«
Überrascht öffnete sie den Mund, ihre Lider flatterten. »Weißt du eigentlich, wie viele Männer sich auf die Gelegenheit stürzen würden, mit mir zusammen zu sein?«
»Das glaube ich ja«, versuchte er, sie zu beschwichtigen. »Du bist wunderschön –«
»Hast du eine Ahnung, wie viele Männer mich anflehen, mich küssen zu dürfen?«, schrie sie unvermittelt. »Hast du?«
Seine Glieder waren bereits taub vor Kälte, und er war erschöpft. Die Wunden in seinem Gesicht pochten. Plötzlich verspürte er Erleichterung, dass er sie nie geküsst hatte. »Dann dürftest du ja leicht einen Ersatz für mich finden.«
Sie schnaubte verächtlich, riss sich den Mantel herunter und schleuderte ihn gegen seine Brust. »Ich hätte es besser wissen und mich nicht mit dem Sohn eines Bergmanns herumtreiben sollen.«
»Herumtreiben?«, wiederholte er, amüsiert von ihrem Wutausbruch. »Wir treiben uns herum?«
»Du hältst dich wohl für sehr schlau, wie?« Als sie erneut schnaubte, bildeten sich kleine Atemwölkchen vor ihrer Nase. »Dabei solltest du mir die Füße küssen, weil ich auch nur mit dir rede! Und jetzt hab ich mich sogar von dir nach Hause bringen lassen.«
Andrew schlüpfte in seinen Mantel und genoss die Wärme. Er stellte seine Ohren auf Durchzug und wandte sich zum Gehen.
»Du hättest mich sowieso nie küssen dürfen, Andrew Houghton«, keifte sie. »Ich hätte Stunden gebraucht, mir den Ruß aus dem Mund zu spülen!«
Er grinste nur, machte eine abschätzige Geste und ging einfach weiter. Ihre Worte verhallten in der Nacht. Gerade noch mal davongekommen, dachte er und stieß erleichtert eine weiße Atemwolke aus.
Der Heimweg verlief still. Der Himmel über ihm war pechschwarz. Nur noch aus wenigen Fenstern drang Licht heraus. Ein streunender Hund huschte vorbei und trank aus einer schmutzigen Pfütze. Andrew kniete sich hin. »Komm her, Kleiner«, sagte er und schnalzte mit der Zunge.
Mit gesenktem Kopf und eingekniffenem Schwanz wagte sich der Hund zu ihm, bereit, beim kleinsten Anzeichen von Gefahr die Flucht zu ergreifen. Andrew streckte die Hand aus, worauf der Streuner mit zurückgelegten Ohren seine Finger beschnüffelte. Lächelnd kraulte Andrew ihm den Nacken, worauf der Hund überraschend vorstürzte und ihm ein-, zweimal übers Gesicht leckte. »He, Kleiner!«, wehrte er lachend ab. »Wollen mich denn heute Abend alle küssen?«
Irgendwo kippte krachend ein Mülleimer um. Als eine wilde Katze aufkreischte, schoss der Hund davon und verschwand in der Dunkelheit. Andrew stand auf und wischte sich mit dem Ärmel über die geschwollene Wange. Er bog von der Hauptstraße in den zerfurchten, gewundenen Weg, der zur Bergarbeitersiedlung führte. Eine plötzliche Melancholie erfasste ihn: die Sehnsucht nach einem Leben, das nicht existierte, nach einer Frau, die es nicht gab. Seiner Erfahrung nach gab es nur zwei Typen von Frauen: die verwöhnten Damen aus der Stadt und die erschöpften, gebrochenen Mädchen aus dem Kohlerevier.
Plum, Pennsylvania – 1916
Lily Morton tauchte aus dem Wald auf, das Haar voller Kiefernnadeln. Ein paar zupfte sie eilig heraus, die restlichen ignorierte sie und trottete durch den leichten Schnee heimwärts.
Allerdings nahm sie nicht den kürzeren Weg durchs Tal, sondern stieg das alte Maisfeld hinauf, dessen grüne Stängel längst braun und faserig geworden waren. Das offene Land war geprägt von gleichmäßigen Ackerfurchen, einem Heer aus verwelkten Maishalmen und vertrocknetem Stroh. Mit ihren alten Stiefeln suchte sie sich konzentriert einen Weg zwischen den brüchigen Stängeln, Feldsteinen und dornigen Ranken. Sie stellte sich vor, wie ein Soldat über ein Schlachtfeld zu schreiten und sich ihren Weg durch die feindlichen Linien zu bahnen. Dann lachte sie über dieses kindische Spiel, denn sie war kein Kind mehr. Sie war eine junge Frau, die durch ein welkes Maisfeld stapfte, das für eine Million anderer Felder im ländlichen Pennsylvania stand. Als sie jetzt die Kälte auf ihren Wangen spürte, wandte sie sich eilig Richtung Tal.
Lily war ein Kind dieser Landschaft. Sie veränderte sich mit den Jahreszeiten, spürte den Wechsel der Mondphasen, folgte dem Lauf der Wolken und der Sonne. Sie kannte den Boden, der unter ihren Schritten knirschte und schmatzte, kannte den Himmel, der sich über ihr spannte. Sie kannte den Gesang der Vögel und die Geheimsprachen von Bienen und Grillen. Vom Tal aus erklomm Lily einen weiteren steilen Hügel und schritt weit aus, als sie den Schotterweg erreichte – und von dort aus den Trampelpfad, den sie auswendig kannte und den die Natur zurückerobert hatte.
Sie kam an der Farm der Sullivans vorbei. Das weiße Farmhaus wirkte in der Dämmerung still und verschlafen. Ein dünner, weißer Rauchfaden stieg aus dem Schornstein empor. Ein paar Meilen weiter würde sie an der Farm der Muellers vorbeikommen, und der Gestank ihrer Schweine würde den Geruch von gefrorener Erde und verwehten Holzfeuern überlagern. Und wenn sie immer weiter ginge, würden sich die Bilder solcher Farmen in einem unregelmäßigen Muster wiederholen: weites Land, ein einsames Haus, unsichtbare Bewohner.
Der Wind fuhr scharf durch Lilys fadenscheinige Strickjacke. Sie bedauerte es, keinen Mantel angezogen zu haben, und rannte die letzte Meile nach Hause. Dort zog ihre Schwester Claire sie vor den Kamin, machte ihr einen starken Tee und zupfte ihr die vielen Kiefernnadeln aus den Haaren.
Das Kaminfeuer knackte und sprühte Funken, wenn die Flammen an ein feuchtes Holzscheit leckten. Lily saß im Schneidersitz auf dem Flickenteppich und betrachtete ungerührt die Linien ihrer Handflächen, selbst als ihre Schwester ihre langen zerzausten Haare heftig mit der Bürste traktierte.
»Tut es nicht weh, Lily?«, fragte sie.
»Nein, ich merke es kaum.«
»Wieso hast du überhaupt überall Kiefernnadeln?«
Lily zuckte die Achseln. »Ich bin wieder auf den Baum geklettert, und das Harz ist so klebrig.«
»Na, wenigstens riechst du gut. So frisch wie der Wald.« Leise lachend nahm sich Lilys ältere Schwester ein paar weitere zerzauste Strähnen vor. »Weißt du noch, wie ich dich mit zu den Bäumen nahm, als du noch ganz klein warst? Nur du und ich? Wir saßen dort oft stundenlang und schliefen ein paarmal sogar ein.« Sie verstummte. Immer langsamer bürstete sie Lilys Haar und hörte dann ganz auf.
Lily drehte sich um. Ihre Schwester hatte den Kopf gesenkt. Lily nahm ihr die Bürste ab und legte sie zur Seite. Als Kinder hatten sie sich immer wieder in diesen Bäumen versteckt und sich auf der Suche nach Trost und Wärme eng aneinandergeschmiegt. Ganz still waren sie dort oben gewesen und hatten so getan, als wäre es ein Spiel. Doch wenn sie seine Schritte im toten Laub hörten und seine wütende Stimme, die im Tal widerhallte, dann hatten sie sich noch enger aneinandergeklammert und stundenlang gewartet, bis er endlich fort war.
Diese Erinnerungen quälten Claire, sie suchten sie heim wie ein bitterkalter Wind und ließen sie frösteln. Lily umfasste ihre schmalen Schultern. »Das ist schon lange vorbei«, flüsterte sie. Doch Claire konnte die Erinnerung nicht abschütteln, die vertrauten Dämonen hatten sie wieder in ihrer Gewalt.
Lily hob das Kinn ihrer Schwester. »Wir sind in Sicherheit, Claire. Niemand wird uns mehr weh tun. Das verspreche ich.«
Claire blinzelte, neigte den Kopf zur Seite und fragte fast verzweifelt: »Wieso versteckst du dich dann immer noch in den Bäumen?«
Andrew Houghton wachte als Erster auf. Er hörte die leisen Rufe der Eule, die mit ihren Krallen über die Dachziegel kratzte. Vor dem Morgengrauen schwärmten die stillen Raubvögel über den Kohleminen und der Bergarbeitersiedlung aus, denn dort gab es massenhaft Mäuse. Die Nagetiere huschten zwischen den unzähligen alten Schuppen und Abtritten hin und her und stürzten sich in die Bienenstocköfen, in denen sich verbrannte Brotkrumen wie Ameisenhügel auftürmten.
Die Eule rief erneut. Raureif bedeckte die Fenster, und Kälte drang durch das Zeitungspapier, mit dem die Risse und Löcher des baufälligen Holzhauses zugestopft waren.
Seufzend setzte Andrew seine nackten Füße auf den eiskalten Boden. Er fuhr sich mit der Hand durch das dichte dunkle Haar und rieb sich über das Gesicht, um wach zu werden.
In der Küche schaufelte er Kohle in den Ofen, dann setzte er den Wasserkessel auf. Als er sich die Hände über dem Ofen wärmte, konnte er seine Atemwolke sehen.
Frederick und Carolin Houghton schliefen im Nebenraum noch tief und fest unter ihren Wolldecken. Das Schnarchen von Andrews Vater drang durch das enge Haus und hatte etwas Tröstendes. Schon bald würde er unter Tage fahren und dort von morgens bis abends Kohle schürfen.
Als Andrew die Blechbecher auf den Tisch stellte, konnte er in der verbeulten Oberfläche undeutlich sein Spiegelbild sehen. Er hielt einen Becher näher vor sein Gesicht und begutachtete seine geschwollene Lippe, sein blaues Auge und den angeschlagenen Kiefer. Zaghaft lächelte er und versuchte es dann mit einem breiteren Grinsen, um seine Verletzungen zu überspielen. Aber dadurch platzte nur seine Lippe erneut auf.
Er griff in seine Hosentasche, holte das Geld vom Kampf am Vorabend heraus und tastete nach der Blechdose, die er hinter den Töpfen mit Schmalz und Pökelfleisch versteckt hatte. Sie war schwer und voller Münzen. Andrew stopfte die Scheine hinein, drückte den Deckel zu und schob die Dose wieder zurück. Dabei kam ein kleiner Zettel unter einem leeren Zuckerbehälter zum Vorschein. Es war eine Quittung vom Laden der Minengesellschaft: Kaffee, Tee, Lauge, Haferflocken, Rizinusöl, Zucker, Senf, Schweinefleisch, Käse, Bohnen. Die Hälfte der Waren war vom Angestellten des Ladens durchgestrichen worden, weil sie den Kredit der Houghtons überstiegen. Andrew spürte, wie die vertraute Wut in ihm aufstieg. Mit Bedacht faltete er die Quittung über den alten Knicken zusammen und schob sie zurück unter den Zuckerbehälter. Seine Blechdose ragte vorwurfsvoll dahinter hervor.
Im Schlafzimmer waren Schritte zu hören. Rasch stellte Andrew eine schmiedeeiserne Pfanne auf den Herd.
Da legte seine Mutter ihre Hand auf seine. Carolin Houghton war eine schöne Frau mit einem frischen Teint und ebenso blauen Augen wie den seinen, aber ihren Händen sah man die harte Arbeit an. Im Winter litt sie an der Kälte, weil ihre Gelenke sich zu harten, schmerzenden Knoten verdickten.
»Geh wieder ins Bett, Andrew«, flüsterte sie. »Du musst noch nicht aufstehen.«
»Ich konnte nicht schlafen.« Er hielt sein Gesicht von ihr abgewandt. »Ich wollte Wurst braten.«
»Es ist nur noch Panhas da«, erwiderte sie und nahm ihm sanft die Pfanne aus der Hand. Sie rieb sich die steifen Hände über der heißen Herdplatte.
Andrew holte ein paar angeschlagene Teller heraus, während sie das kochende Wasser in die blau getupfte Emaillekanne goss und das schwarze Kaffeemehl durchrührte. Er würde die Morgen stets mit dem Duft vom Kaffee seiner Mutter verbinden.
Er holte ihren Schal und schlang in ihr um die Schultern. Sie gab einen Klacks Schmalz in die Pfanne, die zischend zu rauchen anfing.
Andrew sah zu, wie seine Mutter kochte, mit einer Hand den Schal zusammenhielt und sicheren Abstand vom spritzenden Fett wahrte. Ihr ganzes Leben spielte sich in den vier nackten Wänden dieses Häuschens, im winzigen Hühnerstall und im Gemüsegarten im Hof ab. Sie verließ es nur, um zum Laden oder zum Waschhaus zu gehen. Im Sommer buk sie, kochte ein und machte Konserven; im Winter streckte sie die Mahlzeiten mit Buchweizenpfannkuchen, gebratenen Karotten, Kartoffeln und roter Gemüsesoße. Sie erledigte ihre Pflichten wie alle Hausfrauen und Mütter, mit jener stillen Würde, die ihre müden Knochen und schmerzenden Glieder überspielte.
Aus dem Hühnerstall krähte der Hahn. Die Eule erhob sich in die Lüfte, und ihr Schatten huschte über das Fenster, als sie in den eisigen Wald flog. Carolin schloss die Augen und sprach ihr kurzes Gebet, wie jeden Morgen, bevor ihr Mann unter Tage verschwand. Andrew vergaß für einen Moment seine Verletzungen und reichte seiner Mutter den Korb mit den Eiern.
Als sie in sein Gesicht sah, zuckte sie zusammen. »Was ist denn mit dir passiert?«
»Ach nichts.« Andrew verfluchte sich im Stillen und versuchte, sein geschwollenes Gesicht von ihr abzuwenden, doch sie war schneller und umfasste es sanft.
Sie presste die Lippen zusammen. »Frederick!«
»Nein, weck ihn nicht –«
Doch seine Mutter stürmte in die Schlafkammer zu dem niedrigen Holzbett und rüttelte an dem Deckenhaufen.
»Steh auf!«
Frederick lugte zwischen den Decken hervor und drehte sich murmelnd zur Wand, so dass die dünnen Matratzen aus Jute sich mitrollten. Mit einem Ruck riss sie die Decken herunter und schleuderte sie auf den Boden.
»Ich hab dir tausendmal gesagt, du sollst Andrew nicht bei diesen Kämpfen mitmachen lassen!« Sie wusste über die Boxkämpfe Bescheid, die regelmäßig stattfanden und dem Gewinner Geld, dem Verlierer dagegen nur ein Schinkenomelette einbrachten. Einige der schwächeren Bergarbeiter nahmen nur wegen dieser Mahlzeit an den Kämpfen teil.
Frederick rieb sich den Schlaf aus den Augen. Seine Haare standen in alle Richtungen ab. »Ach, komm schon, Carolin, mach nicht so ein Theater …«
»Theater? Sieh dir mal Andrews Gesicht an!«
Andrew trat von hinten an sie heran und ließ seine Hosenträger über die Schultern schnappen. »Es tut überhaupt nicht weh, Ma. Ich schwöre es.«
»Siehst du«, bemerkte Frederick. »Ist gar nicht so schlimm. Außerdem hättest du ihn sehen sollen! Hielt drei Runden ohne den geringsten Kratzer durch, aber dann kam der junge Pole. Wie hieß er noch, Drew? Bobienski? Der hatte Arme wie Stahlkolben.«
Andrew grinste, worauf erneut ein kleiner Blutstropfen auf seiner Unterlippe erschien. »Aber ich habe ihm einen rechten Haken versetzt.«
»Das hast du, mein Sohn.« Sein Vater zwinkerte und ahmte den Haken in Zeitlupe mit seinem muskulösen Arm nach. »Das hast du.«
Carolin schüttelte den Kopf und stapfte in die Küche zurück. Mit strenger Stimme rief sie: »Aber das war das letzte Mal, ja?«
Sie schnitt den Wurstersatz klein und gab alles mit dem Maismehl in die Pfanne. Dann zerschlug sie an deren Rand ein Ei.
»Er ist doch kein Kleinkind mehr, sondern siebzehn!«, rief Frederick aus dem Schlafzimmer. »Außerdem ist er ein guter Kämpfer und kann es problemlos mit den anderen Jungs aufnehmen. Gestern Nacht hat er mehr verdient als ich die ganze Woche.« Sein letzter Satz war etwas undeutlich, da er sich gerade Wasser ins Gesicht spritzte. »Irgendwie kriegen wir den Jungen doch noch auf die Universität.«
Carolin zog die Schultern bis zu den Ohren, als wollte sie diese Worte gar nicht hören. Andrew sagte nichts, weil er an die Quittung denken musste, die er gefunden hatte.
Frederick setzte sich an den Tisch. Sein schwarzer Schnurrbart glänzte noch feucht. Nur am Morgen konnte man seine markanten Gesichtszüge sehen, ohne dass sie von einer Rußschicht überzogen waren; allerdings hatten sich seine Falten nach dem jahrelangen Kohleschürfen dunkel in sein Gesicht gegraben, genauso dunkel wie seine Fingerknöchel und seine Nägel. Beim Frühstück sah Carolin die saubere Version ihres Mannes vor sich und beim Abendessen die rußgeschwärzte.
Jetzt holte sie ein kleines Päckchen hinter dem Ofen hervor und ließ es gleichgültig auf den Tisch fallen. »Das ist mit der Post für dich gekommen.«
Frederick prüfte den Absender und reichte es Andrew. »Ich glaube, das ist das, was du wolltest.«
Andrew legte seine Gabel ab und fing an, es auszupacken. Es enthielt eine zerlesene Ausgabe von A System of Veterinary Medicine, einem Buch über Tiermedizin. Der Einband war halb zerrissen und die Seiten fleckig und wellig. Aber die Schrift konnte man deutlich lesen.
»Wo hast du das denn her?«
»Die Bibliothek in Harrisburg wurde überflutet. Deshalb hab ich’s auch billig gekriegt«, sagte sein Vater.
Carolin faltete ihre Schürze und sah ihren Mann wütend an. »Ich habe nicht mal genug Mehl, um den Monat zu überstehen, und du kaufst Bücher?«
»Sei still jetzt. Sonst schmeckt mir das Essen nicht mehr«, knurrte Frederick. »Außerdem hab ich’s, wie gesagt, ganz billig gekriegt. Hat kaum mehr als das Porto gekostet.«
Carolin ignorierte ihn und griff sich Andrews schmutzige, zerschrammte Stiefel, die er von einem Jungen übernommen hatte, der im Jahr zuvor in der Mine umgekommen war, enthauptet von einem Förderwagen. Sie stellte sie zum Wärmen an den Ofen und schluckte den Kloß hinunter, der ihr im Hals saß. Es brachte Pech, wenn man sich schon vor Sonnenaufgang stritt.
»Tut mir leid«, sagte sie leise und gab erst ihrem Sohn und dann ihrem Mann einen Kuss auf die Wange. »Ihr wisst ja, wie sehr die Kälte meinen Gelenken zusetzt.«
Als die Männer ins Freie traten, war die Sonne gerade erst hinter den Hügeln zu sehen. Andrew warf einen Blick zurück zu dem verwitterten braunen Schindelhäuschen, das sich in nichts von den anderen unterschied, die wie Stufen an den Hügel gebaut waren. Neben der Haustür waren ordentlich drei Kisten übereinandergestapelt. Im Sommer aßen sie abends draußen, saßen dabei auf den Kisten und sahen zu, wie die rosa und orangefarbenen Schlieren des Himmels sich mit der rußig grauen Luft vermischten.
Aus dem perlmuttbleichen Morgennebel tauchte ein Bergarbeiter nach dem nächsten auf. Die Arbeiter aus Osteuropa hatten, unberührt von der Kälte, die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgerollt, während die Engländer, Niederländer, Schotten und Italiener mottenzerfressene Wollpullover trugen, die bis zum Hals zugeknöpft waren. Die Männer sprachen kaum und nickten einander im Vorbeigehen nur zu, während ihre Henkelmänner scheppernd gegen ihre Schenkel schlugen.
»Ich hab gesehen, dass bei dir noch spät Licht brannte«, bemerkte Andrews Vater. »Ich weiß nicht, wie du mit dem blauen Auge lesen kannst.«
»Ich hab doch noch ein gesundes«, erwiderte Andrew beiläufig. Allerdings pochte sein verletztes Auge so stark, als würde ein winziger Hammer ununterbrochen auf den Knochen unter seiner Augenbraue einschlagen.
»Ich dachte, du würdest erst am frühen Morgen nach Hause kommen, vor allem, als ich sah, dass du das hübsche Mädchen bei dir hattest.« Sein Vater stieß ihn mit dem Ellbogen an und zwinkerte ihm verschmitzt zu. »Das ist der Charme der Houghtons, mein Junge. Dem kann keine Frau widerstehen.«
Sie überquerten die Hauptstraße, die an den Seiten tiefe Furchen von Wagenrädern und Unwettern hatte. Dann brach die Reihe der Telegrafenmasten ab. Vor ihnen lag das Loch im Berg wie ein aufgerissenes Maul, dessen Lippen aus den Holzrahmen über dem Schacht bestanden. Vor dem Eingang der Mine wimmelte es von Bergarbeitern, die sich Picke, Schaufel und Laterne schnappten und noch mal tief Luft holten, bevor sie die Esel vor die Karren schnallten und ihnen in die Grube folgten.
Sein Vater hielt inne und bedeutete Andrew, näher zu ihm zu kommen. Sein starkes, markantes Gesicht wirkte fast spitzbübisch, während er in seiner Tasche wühlte. »Eigentlich wollte ich dir das beim Frühstück geben, aber du weißt ja, wie deine Mutter ist. Regt sich bei dem Thema nur auf.« Seine Lippen zuckten amüsiert, und er konnte sich das Grinsen kaum verkneifen, als er Andrew gefaltete Papiere überreichte. »Das ist ein Bewerbungsformular. Für die Universität von Pennsylvania.«
Mit einem Mal war Andrews Kehle wie zugeschnürt. Er starrte auf das Siegel am Briefkopf und spürte erneut die Sehnsucht, dem Kohlerevier zu entkommen.
»Selbst wenn ich es schaffen würde, können wir uns das nicht leisten«, protestierte er leise und spürte wieder die Last seines Lebens. Er wollte seinem Vater die Papiere zurückgeben, aber der wehrte ab.
»Das Geld beschaffen wir schon irgendwie.« Er zeigte seinem Sohn seine rauen, schwieligen Hände. »Solange diese Hände arbeiten können, kriegen wir dich auf die Universität.« Er wischte sich mit dem Handgelenk über die Nase und rollte die Schultern, um seine Rührung zu verbergen. »Füll die Papiere aus und schick sie ab, mein Sohn. Den Rest überlässt du mir.« Er zog Andrew die Kappe ins Gesicht und versetzte ihm einen leichten Schlag auf den Rücken.
Dann sah Andrew zu, wie sein Vater sich mit seinem Helm und der Laterne in die Schlange zum Schacht einreihte. Er schaute noch mal über die Schulter zu seinem Sohn und warf einen Blick zur Sonne, als wollte er jeden einzelnen Strahl in sich aufnehmen, bevor er unter Tage musste. Dann schritt er in die Dunkelheit.
»Andrew!«, brüllte Mr. Kijek vom Stall und winkte ihm hektisch zu. Seine Wangen waren gerötet, und er fasste sich an seine rechte Seite. »Herrgott, steh nicht so blöd rum! Glaubst du vielleicht, ich bezahl dich fürs Sonnenanbeten?«
»Nein, Sir«, antwortete Andrew. Kijek fluchte zwar wie ein Bierkutscher, hatte aber ein gutes Herz. Er war ein Freund seines Vaters und kümmerte sich um die Grubentiere. Er hatte Andrew zum Beschlagen angestellt, obwohl der alte Mann das durchaus noch allein geschafft hätte. Trotz seines rauen Tons im Umgang mit Menschen war er den Tieren gegenüber sanft und traktierte seine Esel weder mit dem Gürtel noch mit der Faust.
Andrew griff nach den Zangen und Feilen, die an der Stallwand hingen, und wies mit dem Ellbogen auf Kijeks Verletzungen. »Warst du gestern Abend auch im Ring?«, erkundigte er sich.
»Hast mich wohl nicht gesehen, was?«, gab Kijek bissig zurück.
Da sein Ton plötzlich ernst war, kam Andrew näher. »Was ist passiert?«
»Geht dich nichts an«, knurrte der Alte. Er humpelte zur Futterecke und stach mit der Heugabel in einen frischen Ballen. »Na los, glaubst du, die Esel füttern sich selbst?«
Selbst für seine Verhältnisse wirkte Kijek aufgebrachter als sonst. Also verhielt Andrew sich ruhig und half ihm beim Füttern. Eine Gruppe junger Bergarbeiter kam auf dem Weg zum klaffenden Grubenmaul am Stall vorbei.
»Drew, spielst du heute Abend mit?«, rief James McGregor, einer der rothaarigen Schotten.
»Ne«, meldete sich sein Bruder Donald und schwang die Picke, »der will sich doch nicht sein Hemd dreckig machen! Wegen der Damen!«
»Sehr lustig.« Andrew nahm etwas Eselsdung mit der Schaufel auf und warf sie in Richtung seines Freundes. »Wir sehen uns auf dem Platz.«
Donald wich dem Geschoss mühelos aus. »Deine Wurftechnik ist lausig, Houghton. Die stinkt zum Himmel!« Er nickte ihm herausfordernd zu und pfiff dann Kijek zu, der sich gerade neben einem Esel bückte. »Schöner Arsch, Kijek!«
Kijek wandte sich zu Andrew und schnaubte. »Das sagt der Junge jeden gottverdammten Tag.«
Andrew ging zur ersten Box im Stall und rieb den Kopf eines der Esel, dessen ursprüngliche Farbe nicht mehr zu erkennen war, da er vom Maul bis zum Schwanz mit Ruß bedeckt war. Das Tier erstarrte bei seiner Berührung und fing dann an zu zittern. Ein Strahl Urin spritzte neben Andrews Stiefeln auf den Boden. Als er das Tier prüfend ansah, bemerkte er die wunden Stellen am Rücken und am Hinterteil. Ihm sank das Herz.
Er ging zu Kijek, der sich über eine Kiste mit rostigem Werkzeug bückte. »Wer hat ihr das angetan?«
Kijek drehte sich bei der Frage nicht um, er zuckte nicht mal zusammen, sondern hielt ihm weiterhin den Rücken zugewandt. »Ist doch egal, Andrew«, sagt er mit warnender Stimme und so leise, dass er kaum zu hören war.
Andrew fasste den Alten am Hemd. »Wer war das, Kijek?«
Da wandte er ihm langsam den Kopf zu. Seine Augen waren trüb, blutunterlaufen und voller Schmerz. »Ich sagte, das ist egal.«
Andrew ließ den Flanellärmel los, weil er die Blutergüsse und Schrammen des Alten plötzlich in neuem Licht sah. »Du hast versucht, sie aufzuhalten?«
Die Lippen des Alten begannen zu zittern. »Die verdammten Scheißkerle«, zischte er. »Kamen stockbesoffen hier an, wild entschlossen, auf alles loszugehen, was sich rührt. Aber ich hab einen von ihnen erwischt, mit dem Stock da drüben eins übergezogen.« Kurz blitzte ein Funkeln in seinen Augen auf, bevor ihm eine einzelne Träne über die Wange lief. »Aber dann ist der andere auf mich losgegangen.«
Andrew starrte auf den gebrechlichen Alten, der so angeschlagen war, dass es ihm in der Seele weh tat. »Wer war das?«, fragte er noch einmal.
»Bitte, mein Sohn«, setzte Kijek flehentlich an, verstummte aber.
Kijek konnte wie jeder andere Mann hier einiges einstecken, hatte aber noch nie jemanden geschützt, der einem seiner Tiere weh tat. Mit einem Mal wusste Andrew Bescheid.
»Es waren die Higgins-Jungs.«
»Lass sie in Ruhe, Drew.« Der alte Mann packte ihn am Arm. »Hörst du?«
Andrew ballte die Faust und versuchte, Kijek abzuschütteln, doch der packte ihn nur noch fester. »Ich weiß, du bist stocksauer, aber gegen die kannst du nichts machen. Das weißt du genau.«
»Nein.« Andrew riss sich von dem Alten los. »Jetzt sind sie zu weit gegangen.«
»Jetzt hör mir mal zu, du selbstsüchtiger Dreckskerl!«, brüllte Kijek aufbrausend und wedelte mit dem Finger vor Andrews Nase herum. »Wenn du auf die Jungs losgehst, was meinst du, wer den Ärger abkriegt? He? Dein Pa und kein anderer. Mr. Higgins schickt ihn in den engsten Schacht, bis er nur noch auf dem Bauch die Kohle schürfen kann. Und deine liebe Ma wird es auch zu spüren kriegen. Glaubst du vielleicht, sie hat jetzt schon zu wenig Kredit? Wenn du dich mit den Higgins-Jungs anlegst, kann sie von Glück sagen, wenn sie das Schweinefett vom Boden abkratzen darf!«
Andrew starrte ihn an und blickte dann zu den Boxen. »Seit wann bist du so weich geworden, Kijek?«, fragte er eisig.
»Bin ich nicht, mein Sohn.« Er tätschelte ihm die Schulter. »Aber man beißt nicht die Hand, die einen füttert.« Er wandte sich wieder zur Werkzeugkiste. »Und jetzt hau ab. Geh zur Schule und beruhige dich. Wenn du wiederkommst, kannst du die Hufe feilen.«
In der Schule fiel es Andrew schwer, sich zu beruhigen und nicht mehr an die Vorkommnisse des Morgens zu denken. Er war der einzige Sohn eines Bergarbeiters, der in seinem Alter noch zur Schule ging, und würde als Erster im Frühjahr seinen Abschluss machen. Die meisten Jungen folgten mit vierzehn ihren Vätern unter Tage.
Er saß in der hintersten Bank und achtete nicht auf den Unterricht, sondern füllte die Bewerbung aus. Dabei versuchte er, jeden Gedanken an den misshandelten Esel und den alten Mann zu verdrängen. Stattdessen konzentrierte er sich auf das, was er werden wollte. Er würde keine Kohle schürfen. Er würde nicht für ein Unternehmen arbeiten, das einen Mann für sein Werkzeug bezahlen ließ – für ein Unternehmen, dem schwarzer Stein mehr wert war als das Leben von Menschen und Tieren. Er würde ehrgeizig lernen und studieren und dann auf dem Land ein Haus für seine Eltern bauen: ein Haus, wo die Blumen seiner Mutter nicht wegen der schlechten Luft verwelkten und wo sein Vater in der Sonne sitzen konnte, bis seine Haut braun wurde.
Er drückte den Stift stärker aufs Papier. Das Bergbauunternehmen kontrollierte alles und jeden. Ihm gehörten die Häuser, das Holz im Wald, die Kohle unter Tage; ihm gehörten die Bank, die Schule und die Post. Ihm gehörten die Minenarbeiter und ihr Essen. Aber Andrew würde ihm nicht gehören.
Als ihm jemand auf die Schulter tippte, schrak er auf. Das Klassenzimmer war leer bis auf Miss Kenyon, die an seinem Schreibtisch stand. Er hatte nicht mal gehört, wie die anderen Schüler gingen. »Willst du mir erzählen, woran du den halben Tag gearbeitet hast?«, erkundigte sie sich.
Als er ihr die Bewerbung reichte, lächelte sie. »Gut.« Sie las seine Einträge durch und faltete ordentlich die Papiere. »Du hast etwas Besseres verdient, Andrew. Du bist etwas Besonderes.« Als sie das sagte, errötete sie. Miss Kenyon war nur wenige Jahre älter als er. »Wenn ich darf, würde ich dir gern eine persönliche Empfehlung schreiben.«
»Das wäre großartig. Vielen Dank.«
»Ich erledige das noch heute und gebe es zur Post.« Sie griff hastig nach einem Taschentuch und nieste. »Die erste Erkältung des Jahres.« Der Kohleofen in der Ecke war abgekühlt. Sie erschauerte. »Würdest du wohl Kohle nachlegen, bevor du gehst?«
Als er das erledigt hatte, brachte Andrew die Schaufel zum Schuppen zurück. Da sah er hinter einer mickrigen Eiche zwei winzige Schuhe hervorlugen. Er wischte sich die schmutzigen Hände an der Hose ab und näherte sich ganz langsam dem Baum. »Denisa, was machst du denn hier?«
Das kleine Mädchen zuckte mit den Schultern, blickte aber nicht auf. Andrew kniete sich vor sie ins kalte Gras, um ihr direkt in die Augen schauen zu können, und wartete darauf, dass sie etwas sagte. Sie zuckte noch mal mit den Schultern und hob schließlich den Kopf. »Ich bin bloß müde.«
Andrew musterte das dünne Kleidchen und die Schrammen und Flecken an den nackten Beinen. »Hast du schon zu Abend gegessen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Gefrühstückt?«
Wieder zuckte sie die mageren Schultern. Andrew kratzte sich am Kopf. Denisa war das jüngste von zehn Kindern, und ihre verwitwete Mutter arbeitete täglich zehn Stunden in der Wäscherei der Männerunterkunft. Andrew öffnete seine Brotdose und holte die Krusten heraus, die er für die Hunde aufgespart hatte. »Es ist nicht viel, aber …«
Denisa schnappte sich das Brot, stopfte es sich in den Mund und kaute wild, damit ihr kein Krümel entwischte. Dann schluckte sie mit schamesrotem Gesicht und leckte sich die Krumen von den Lippen.
Er tippte ihr gegen das Knie. »Von nun an kommst du zu uns, wenn du Hunger hast. Komm einfach vorbei, ja?« Das Mädchen nickte und suchte mit der Zungenspitze in den Mundwinkeln nach einem letzten Krümel.
Andrew drehte sich um und bot ihr seinen Rücken. »So, jetzt rauf mit dir, Kleine.« Als sie sich nicht rührte, schlug er sich auf die Schultern. »Los!«
Die Kleine umklammerte mit ihren winzigen Händen seine Schultern und kletterte auf seinen starken Rücken. Breit grinsend warf er einen Blick zurück, als sie ihre Ärmchen um seinen Hals schlang, richtete sich auf und stützte ihre Beine mit seinen Ellbeugen, während er schwungvoll lostrabte.
Knirschend bewegten sich seine alten Stiefel über den Schotter der Straße, die zu den Häusern führte. Keuchend atmete er die stählerne Luft ein und aus und hoffte nur, dem Kind wäre es warm genug. Es lag der Geruch von Schnee in der Luft, und als er einen Blick zum grauen Himmel warf, rechnete er schon damit, erste Flocken zu sehen.
Da ertönte ein schriller Pfiff.
Ein Geräusch, das in seinen Ohren schmerzte. Er spürte, wie Denisa ihre Fingernägel in seine Schultern grub. Mit einem Mal stand die Welt still, so als würden alle den Atem anhalten und den Blick zur fernen Öffnung der Mine wenden.
Wieder ertönte der schrille Pfiff.
Denisa fing an zu weinen; vier ihrer Brüder waren da unten. Mit hämmerndem Herzen setzte Andrew sie ab und umklammerte ihre Schultern. »Geh nach Hause, Denisa. Hörst du?« Sie nickte steif, mit zitterndem Kinn. »Geh direkt nach Hause.«
Er ließ sie los und setzte sich in Bewegung. Rannte los und fühlte sich, als würde das Donnern seiner Stiefel ihn jagen und in seinem Kopf widerhallen. Da waren keine Gedanken, nur das Hämmern und Vorwärtsstürzen. Das Stampfen seiner Füße, alles um ihn herum verschwommen.
Andrew rannte nicht nach Hause. Das hatte keinen Zweck, denn alle würden an der Mine sein. Als erneut der Pfiff ertönte, breitete sich ein schrecklich hohles Gefühl in ihm aus. Grauer Rauch wallte in den Himmel hinauf. Andrew bog um eine Ecke, wo die nächste Häuserreihe so tief im Tal stand, dass die Häuser wirkten wie hölzerne Dominosteine. Menschen strömten herbei – Mütter, Kinder, Männer. Die Minenaufseher, die »gelbe Hunde« genannt wurden, schrien und brüllten und schoben die Menschen beiseite, um Platz für die Rettungswagen zu machen.
Andrew drängte sich durch die Menge und hielt Ausschau nach seiner Mutter, als die ersten Minenarbeiter aus dem schwarzen Loch krochen. Rauch drang wirbelnd heraus und erfüllte die Luft mit beißendem Dunst, der in den Augen brannte. Eine Frau kreischte. Heulen durchdrang die grauen Rauchwolken, stieg in die Luft und ließ die Erde beben. Andrew schob und zwängte sich durch die immer dichter zusammenströmenden Menschen und hielt auf den Mineneingang zu. Ein Aufseher packte ihn am Arm. »Da kannst du nicht rein!«
»Mein Vater ist da unten!« Er wollte sich aus dem festen Griff losreißen. Kijek fiel ihm ein; auch er war mit den Eseln dort unten. »Ich arbeite hier!«, schrie er.
Da, eine Explosion! Der Boden erzitterte unter ihren Füßen. Der Aufseher ließ ihn los, blies hektisch in seine Pfeife und scheuchte weitere Aufseher vorwärts.
»Andrew!« Carolin Houghton tauchte taumelnd aus der Menge auf, packte ihn zitternd am Hemd und zog ihn zu sich. »Er ist noch nicht rausgekommen.« Sie verstummte. »Es ist alles gut, er kommt gleich. Ich weiß es.«
Immer mehr schwarze Gestalten stolperten hustend, keuchend und nach Luft ringend aus der Grube. Die Menge löste sich langsam auf. Die Rettungswagen standen still, die Pferde warteten reglos auf ihr Signal. Irgendwann kamen nur noch vereinzelte Grubenarbeiter heraus.
Und dann keiner mehr.
Carolin Houghton ließ die Hände von den Schultern ihres Sohnes gleiten. Den Blick hatte sie fest auf den Eingang der Mine gerichtet, aus der nur noch Rauch herauskam. Sonst nichts. Niemand.
Da sank Carolin Houghton auf die Knie.
Lily Morton brachte das Feuerholz ins Haus und spürte, wie sich Splitter in die Haut ihrer Unterarme bohrten. Sie legte ein paar Scheite in das bereits lodernde Kaminfeuer. Als die Flammen den Rauchfang hinaufschossen, erreichte die Hitze auch ihr Gesicht. Claire und ihr Mann Frank waren in der Stadt, und Lily hatte nicht viel Zeit.
Die staubigen, an den Ecken zusammengeklebten Kisten lösten sich bereits auf. Zuerst nahm sie die alten Fotos, warf sie ins Feuer und sah zu, wie die sepiafarbenen Ecken braun wurden und sich zusammenrollten. Die Gesichter zerschmolzen. Ein Schluchzen entfuhr ihr, und ihre Hände zitterten. Verschwindet!
Sie hob einen Karton auf und schüttete den ganzen Inhalt in die Flammen: Briefe, alte Schuldscheine und Wechsel und vollgekritzelte Zettel. Verschwindet! Mit vor Tränen zugeschnürter Kehle vertrieb sie die Geister, die sie heimsuchten, die das alte Haus besetzten und ihr im Schlaf erschienen. Am liebsten hätte sie auch ihr Kleid ins Feuer geworfen und wäre nackt in den Wald gerannt, um vor all ihren Erinnerungen zu flüchten.
Die Papiere – die kurze, hässliche Geschichte ihrer Familie – verwandelten sich in Asche und beschmutzten den Teppich. Lily war eine geborene Hanson, die mit der Heirat ihrer Schwestern eine Morton geworden war. Beide Namen waren wie Brandzeichen, die sich in ihre Haut fraßen und Narben hinterließen. Verschwindet! Hanson. Morton. Die furchtbaren Männer und ihre Lügen schmolzen nun im Feuer.
Lily nahm den Schürhaken, stocherte in den Flammen und schob die Aschereste unter die brennenden Holzscheite. Jetzt waren ihre Tränen versiegt. Rauch drang ihr in die Nase und schmeckte wie verbrannte Zeder.
Sie setzte sich vor den Kamin, ohne zu blinzeln, bis ihre Augen trocken waren. Sie hatte die Tränen satt. Menschen trauerten um Verwandte, um ihre Liebsten. Bei Lily jedoch war es anders. Sie trauerte nicht um das, was ihr genommen, sondern um das, was ihr nie gegeben worden war.
Der alte Ford bog in die Einfahrt, der in die Jahre gekommene Motor brummte und schnaufte. Lily strich sich eine lose Strähne hinters Ohr, legte noch ein Holzscheit ins Feuer und ging in die Küche, um Abendessen zu machen.
Achtundneunzig Bergarbeiter kamen an diesem Tag ums Leben. Brandursache waren die Kerosinfackeln, die an den Felswänden der Minen befestigt waren. Kijek hatte Heuballen in den Schacht geworfen, um die Tiere unter Tage zu füttern, wie er es jeden Tag machte. Nur hatte sich dieses Mal eine Fackel aus ihrer Halterung gelöst, und das Heu hatte Feuer gefangen. Der Fluchtweg der Minenarbeiter wurde dadurch versperrt, das Dynamit explodierte. Die Bergleute erstickten entweder oder wurden in tausend Stücke gerissen. Kijek starb bei dem Versuch, seine Maultiere zu retten. James und Donald McGregor und einige andere junge Männer kamen ums Leben. Und Frederick Houghtons sterbliche Überreste konnten nur noch mithilfe seiner Erkennungsmarke identifiziert werden.
Noch am Tag des Grubenunglücks wurden im ganzen Land neue Minenarbeiter angeworben. Die Witwen und Mütter der Verstorbenen hatten dreißig Tage Zeit, ihre Häuser zu räumen, es sei denn, ein anderes männliches Familienmitglied war alt genug, um den freien Platz unter Tage einzunehmen. Und so hängte sich Andrew Houghton eine Woche nach der Beerdigung seines Vaters seine neue Erkennungsmarke um den Hals, über die verbogene seines Vaters, und trat in Frederick Houghtons Fußstapfen.
»Ich lasse nicht zu, dass du nach Kohle schürfst. Verstanden?«
»Ja, Sir.«
»Du wirst nie wieder hier runtergehen. Versprochen?«
»Ja, Sir.«
Die Worte seines Vaters hallten in Andrews Kopf nach, als er den Schwur brach, den er seinem Vater vor so langer Zeit gegeben hatte. Und er wusste bei jedem Schritt, den er tiefer in die Grube setzte, dass Frederick Houghton dieses Leben nie für seinen Sohn gewollt hätte.
Wochen und Monate vergingen in der undurchdringlichen Dunkelheit. Da unten fiel das Atmen schwer, und Andrews Lungen gierten nach frischer Luft. Das Gewicht der Erde über ihnen machte ihm Platzangst und trieb ihn fast in den Wahnsinn. Er arbeitete neben den neuen Grubenarbeitern, wortkargen Männern, die unter sich blieben, und schürfte an den endlosen schwarzen Wänden, die im Licht der Laterne glänzten wie Öl. Andrew schaufelte die schimmernden schwarzen Steine in die Loren. Sie rochen giftig und zerbröselten zu einem feinen Staub, der sich in der Kehle festsetzte. Aber am schlimmsten setzte ihm der Mangel an Luft zu. Wenn er den Mund aufriss, um mehr zu bekommen, schnürte ihm der Kohlestaub die Kehle zu, und wenn er den Mund geschlossen hielt, hatte er das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. Also zog er sich sein Hemd vor den Mund und konzentrierte sich auf jeden Atemzug, einen nach dem anderen, bis seine Zehnstundenschicht beendet war.
Er würde dem Bergbauunternehmen nicht gehören – das hatte er sich seit seiner Kindheit immer wieder versprochen. Und doch war er nun hier, unter Tage. Aber er würde nicht in dieser Grube bleiben. Er schaufelte schneller und kämpfte trotzig gegen den Kohlestaub. Er hatte etwas Besseres verdient. Mit einer derartig eintönigen und düsteren Zukunft würde er sich nicht zufriedengeben; eine Zukunft, die fast nur aus schwarzem Stein, auf Schürfen und Schaufeln, aus Bücken und Beugen bestand, aus viel zu wenig kostbarem Sonnenlicht in einer Welt der Dunkelheit. Nur mit dieser Gewissheit hielt er durch, wenn er immer tiefer in die Grube hinabgeriet.
Über der Erde erreichte der Winter das Fayette County, als hätte die allumfassende Trauer nach dem Grubenunglück ihn angelockt. Die Luft war kalt, doch fiel kein Schnee. Stattdessen blies ein eisiger Wind über einen schotterfarbenen Himmel. Wenn Andrew seine Schicht beendete und heimkam, ließ er Mantel und Stiefel auf der schmalen Veranda stehen, bevor er das Haus betrat. Seine Mutter sprach kaum noch, höchstens über Belanglosigkeiten wie Essen oder Rechnungen.
In der Küche wartete die Zinkwanne, aus der Dampf aufstieg. Andrew zog sich das Hemd aus und kniete sich hin. Seine Mutter beugte sich über seinen Rücken und schrubbte ihm sanft mit der Bürste und Seife Schultern und Nacken ab. Seit Andrew sich erinnern konnte, hatte sie das schon für seinen Vater getan.
Innerlich krümmte er sich, wusste er doch, dass ihr Rücken vom heftigen Schrubben schmerzte und ihre Hände von der Seife brannten. Er wandte den Kopf zu ihr und versuchte es noch einmal: »Das musst du nicht …«, aber sie legte ihm sanft die Hand auf den Kopf und machte weiter. Dann stand sie auf, gab ihm die Seife und spannte das Laken vor ihm, das ihm ein wenig Intimsphäre gewährte.
Andrew zog seine restlichen Kleider aus, stieg nackt in die Wanne und machte sich so klein wie möglich, um mit seinen einen Meter achtzig hineinzupassen. Sofort färbte sich das durchsichtige Wasser schwarz und betonte die Blässe seiner Haut unter dem Ruß.
Im heißen Wasser entspannten sich seine Muskeln, und der Schmerz ließ nach, der sich vom ständigen Bücken in den engen Tunneln zwischen Schulterblättern und Lendenwirbeln eingenistet hatte. Er fuhr mit den mittlerweile schwieligen Händen über die sich kräuselnde Wasseroberfläche. Seine Finger waren immer noch schmal – sein Vater hatte behauptet, es wären die Finger eines Chirurgen. Doch jetzt waren seine Nägel gesplittert und die Nagelhäute schwarz.
Er rieb sich mit der Seife Hals und Gesicht ein, tauchte mit dem Gesicht in das dunkle Wasser und wusch sich die Haare. Obwohl seine Arm- und Bauchmuskeln stark waren, fühlte er sich schwach. Es waren die verhärteten Muskeln von elender Plackerei, die den Körper schädigten, statt ihn zu stärken. Er rieb sich über die Arme; fuhr sich mit der Hand durch die dunklen Haare. Betrachtete sich in der spiegelnden Wasseroberfläche. Von dem Geruch des Essens, das seine Mutter zubereitete, knurrte ihm der Magen. Aber der Drang zu schlafen war stärker.
Er stieg aus der Wanne und trocknete sich ab. Seine Haut spannte von der scharfen Seife. Er zog sich frische Kleider an, entfernte das Laken und leerte das schwarze Badewasser Eimer für Eimer vor dem Haus aus.
Am Küchentisch warteten gebratenes Kaninchen und glasierte Karotten auf ihn. Als er, überrascht über dieses Festessen, zu seiner Mutter blickte, sah er, dass sie geweint hatte. Zwar befand sie sich seit dem Unglück in einem Zustand dumpfer Trauer, doch sah er sie nun zum ersten Mal weinen. Kopfschüttelnd zog sie die Nase hoch und starrte auf das gebratene Kaninchen, dessen Fleisch appetitlich glänzte. Zwischen ihnen breitete sich die Dunkelheit der Nacht aus, und die kalte Winterluft drang durch die von Termiten durchlöcherten Wände.
Carolin hob den Kopf und sah ihn bedeutsam an. »Ich habe Vorkehrungen für uns getroffen, Andrew.«
Er wartete ruhig, umklammerte aber unter dem Tisch angespannt sein Knie.
»Ich habe meiner Schwester Eveline in Pittsburgh geschrieben.« Erneut blickte sie auf, als wäre damit klar, worauf sie hinauswollte. Mit ihren blauen, verweinten Augen überflog sie den Raum, als würde sie ihn zum letzten Mal sehen. »Wir können hier nicht bleiben.« Ihre Stimme erstarb. »Ich kann so nicht weiterleben.«
Der Wind pfiff durch die Ritzen. Der Geruch des Essens verflüchtigte sich. Seine Mutter faltete die Hände auf dem Tisch. »Evelines Mann, Wilhelm Kiser, hat eine gute Stellung bei der Eisenbahn. Er ist bereit, dich als Lehrling aufzunehmen.«
Das Zimmer drehte sich, während gleichzeitig die ganze Welt um ihn herum stillstand. »Aber die Universität …«, brach es aus ihm hervor. »Ich – ich habe mich beworben.«
Sie verzog das Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse. »Universität?« Ungläubig lachte sie auf. »Bist du verrückt, Andrew? Du wirst niemals auf die Universität gehen können.« Er erkannte ihre Stimme nicht wieder, sie klang fremd und schroff. »Das war doch immer nur ein Hirngespinst deines Vaters.«
»Aber wir haben doch gespart«, sagte Andrew mit brennenden Ohren. »Wir haben …«
»Gar nichts haben wir!«, schrie sie und griff nach der Blechdose, in der Andrew sein Geld gesammelt hatte, drehte sie um und schüttelte sie heftig. »Du hattest nie die Möglichkeit zu studieren, Andrew! Es war grausam von deinem Vater, dir solche Flausen in den Kopf zu setzen.«
Seine Mutter verschränkte ihre Finger. Mit ihren müden Augen wirkte sie plötzlich alt. »Entweder schürfst du den Rest deines Lebens unter Tage nach Kohle, oder du machst eine Lehre bei der Eisenbahn. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.«
Vor seinem inneren Auge verschwammen die Studienbewerbung und die zerlesenen Tiermedizinbücher neben seinem Bett plötzlich und lösten sich in Luft auf.
»Aber ich weiß nichts über die Eisenbahn.« Mehr fiel ihm nicht ein. Seine Stimme klang tonlos.
»Das ist egal. Du bist klug und wirst alles lernen. Eine Stelle bei der Eisenbahn bringt gutes Geld.« Ihr Blick huschte über den leeren Stuhl am Tisch. »Sie ist sicher.« Seine Mutter reckte den Hals, als wollte sie etwas schlucken, das ihr in der Kehle feststeckte. »Meine Schwester und ich stehen uns nicht besonders nahe, Andrew. Wir haben seit über zehn Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Aber sie ist ein guter Mensch und hat versprochen, sich während meiner Abwesenheit um dich zu kümmern.«
»Deiner Abwesenheit?«
Da fiel sie in sich zusammen und fing an zu schluchzen, legte den Kopf in die Hände und schlug sich mit den Händen gegen die Stirn, um sich zu beruhigen. Mühsam versuchte sie zu sprechen. »Ich kann … kann nicht hierbleiben.« Mit dem Handballen rieb sie sich über die geröteten Augen. »Ich kehre zurück nach Holland. Dein Vater hat genug gespart, um eine Schiffspassage zu kaufen.«
Wieder stieg Hitze in Andrew auf. »Das hat er für meine Ausbildung gespart!«
»Genug jetzt!«, rief seine Mutter und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Davon will ich nichts mehr hören, Andrew.« Sie betrachtete die winzige Küche. »Ohne deinen Vater kann ich hier nicht mehr leben. Ich halte es nicht mal mehr in diesem Land aus. Ich will nur noch nach Hause. Es tut so weh.« Ihre Miene wurde flehentlich. »Ich muss nach Hause.«
Ihr Weinen verebbte, und nun, da der Entschluss gefasst und verkündet war, wurde sie sachlich.
Energisch schnitt sie den Hasenbraten an. »Meine Schwester hat dir das Geld für die Zugfahrkarte geschickt. Sobald ich genug gespart habe, kannst du nachkommen.« Als sie ihm das blasse Fleisch auf den Teller legte, zitterte das Messer in ihrer Hand. »Es dauert doch nur ein paar Jahre.«
Andrew schnürte sich die Kehle zu. Sein Vater hatte ihm vom Kriegsausbruch in Europa erzählt, von den erbitterten Schlachten und dem vielen Blutvergießen.
»Aber dort herrscht doch Krieg«, sagte er leise und fragte sich, ob seine Mutter das vor lauter Trauer vergessen hatte. »Das ist viel zu gefährlich.«
»Die Niederlande sind neutral geblieben. Also ist es dort sicher.«
»Belgien war auch neutral«, wandte er ein. »Bis Deutschland eine Invasion gestartet hat. Jetzt strömen unzählige Flüchtlinge von Belgien nach Holland. Es ist zu gefährlich«, wiederholte er. Er wollte stark und entschieden klingen, doch seine Stimme brach.
»Ich muss einfach nach Hause, Andrew. Dort finde ich Arbeit. Die Niederländer versorgen Belgien und sogar England mit Nahrungsmitteln. Deshalb suchen sie noch mehr Arbeiter.«
»Dann lass mich mit dir fahren«, bat er. »Nimm das Geld von deiner Schwester, und ich komme mit. Zu zweit können wir doppelt so viel arbeiten.«
Langsam schüttelte sie den Kopf. »Dann wirst du einberufen.«
»Aber die Niederlande sind neutral, das sagtest du doch eben!«
»Verdammt noch mal, Andrew!« Wieder schlug sie mit der Faust auf den Tisch. »Sie haben die stärksten Jungen genommen und an den Grenzen aufgestellt. Wenn die Deutschen einfallen, sterben sie als Erste.«
Andrew schob seinen Teller fort. Das Fleisch erschien ihm jetzt nur noch wie ein verwesender Kadaver. Er spürte die Erkennungsmarke seines Vaters schwer auf seiner Brust. Sein Vater war tot. Seine Mutter verließ ihn. Er würde nach Pittsburgh ziehen, um bei der Eisenbahn zu arbeiten. Er würde niemals zur Universität gehen. Sein Leben – seine Zukunft – löste sich vor seinen Augen auf, und er konnte nicht das Geringste dagegen tun.
Lily Morton hielt mit dem Einspänner am Rand des Ahornwäldchens, das von der Kirche aus nicht zu sehen war. Dann presste sie ihre Fäuste gegen ihren Bauch, um das Rumoren darin zu unterbinden. Das dünne gelbe Kleid gehörte einer von Mrs. Sullivans Töchtern und war für die Mode viel zu lang. Der Absatz von einem ihrer schwarzen Schuhe war abgebrochen und nur notdürftig mit Teer wieder angeklebt. Lily überlegte, ob sie wieder nach Hause fahren sollte. Sie wusste ja nicht mal genau, was sie hier wollte. Sie wusste nur, dass Claire wieder ein Baby verloren hatte. Es war noch früh in der Schwangerschaft gewesen, doch sein Verlust erfüllte das ganze Haus, und nicht einmal im Wald fand Lily diesmal Trost.
Sie erwartete nicht, in der Kirche Frieden zu finden oder von der Trauer erlöst zu werden. Eher hatte sie die Hoffnung, abgelenkt zu werden. Daher ging sie auf ihren kippelnden Absätzen unsicher auf die kleine weiße Kapelle zu und raffte dabei das zu lange Kleid.
Da die Eichentür gnadenlos quietschte, wandten sich ihr alle Köpfe zu. Der Priester gab ihr mit einem kurzen Nicken von der Kanzel seine Missbilligung zu verstehen. Zwar drehten sich die Köpfe wieder nach vorn, doch alle Augen folgten ihr, als sie nach einem freien Platz suchte. Der kleine Thomas, der Jüngste vom Forrester-Clan, rutschte ein Stück zur Seite und klopfte auf den Platz neben sich. Seine Mutter reckte in stillem Tadel das Kinn vor, wandte sich aber ab, als Lily sich hinsetzte und dem Jungen, dessen Hals vom gestärkten weißen Kragen gerötet war, ein dankbares Lächeln zuwarf.
Lily betrachtete die Gemeinde: die Katholiken, die sie aus der Stadt kannte, und die Farmer vom höher gelegenen Umland. Mr. Campbell, der Besitzer des Kolonialwarenladens, saß ganz vorn, und seine gelangweilte Haltung und sein kahl werdender Kopf, auf dem sich das Kerzenlicht spiegelte, standen im scharfen Kontrast zu den straffen Schultern und der aufrechten Haltung seiner Frau. Seine drei Töchter, von denen die Älteste eine junge Frau in Lilys Alter war, trugen steife Kleider und glänzende Schuhe. Ins Haar hatten sie seidene Bänder gebunden, jede in einer anderen Farbe, und ihre dunklen Locken schimmerten im Licht der Buntglasfenster. Lily warf einen Blick auf ihren kaputten Schuh und den verblichenen Stoff ihres Kleides über den Knien.
Sie war so tief in Gedanken versunken, dass sie die allgemeine Bewegung erst bemerkte, als der Junge neben ihr sie anstupste und ihr bedeutete, sich wie alle anderen hinzuknien. Sie neigte den Kopf über ihre gefalteten Hände und beobachtete unter halb geschlossenen Augen die um sie herum Sitzenden. Die Stimme des Priesters ging in einen monotonen Singsang über, und seine Worte kamen ihr bedeutungslos vor.
Thomas’ Mutter rieb ihm die Schulter. In der Bank auf der anderen Seite des Ganges hielt Gerda Mueller ihrer Tochter ein Taschentuch unter die Nase. Mr. und Mrs. Johnson hatten sich bei den Händen gefasst, und ihre gebeugten Gestalten wirkten wie zusammengewachsen. Im Gegensatz dazu wurde die Kluft zwischen Lily und den anderen Kirchgängern immer größer.
Als die Orgel dröhnte, stieß der kleine Thomas sie erneut an. Folgsam wie ein Lamm reihte Lily sich in die Schlange ein, die zum Priester vorrückte. Als sie vor ihm stand, zog er seine ausgestreckte Hand zurück und starrte sie finster und ungläubig an.
»Du darfst nicht zur Kommunion, Lily.« Sie spürte, dass alle sie beobachteten, hörte das Scharren der Füße hinter sich.
»Ich …«
Jetzt hob er streng die Augenbrauen. »Du bist keine Christin.«
Du gehörst nicht hierher, Lily. Diese Worte hallten so laut in ihr nach, als wären sie tatsächlich gefallen. Du gehörst nirgendwohin.
Sie brach aus der Schlange aus. Die Campbell-Mädchen kicherten verstohlen. Ernst flüsterte Mrs. Johnson ihrem Mann etwas ins Ohr. Lily eilte auf den Ausgang zu, doch der Gang zwischen den Bänken schien grausamerweise immer länger zu werden. Als sie umknickte, brach der angeklebte Absatz erneut ab. Sie stürzte durch die knarzende Tür nach draußen, kickte den kaputten Schuh wütend von sich, zog auch den anderen aus und warf ihn fort.
Barfuß floh sie über den eiskalten Boden zum Wäldchen, das dicht genug war, um sich darin zu verstecken. Sie riss sich das Perlenhaarband vom Kopf. Die Glocke der Kapelle fing an zu läuten und übertönte die Stimmen der Kirchgänger, die jetzt ins Freie strömten. Ganze Familien kamen nacheinander heraus. Zu Hause würde es etwas Warmes zu essen geben und nach frisch gebackenem Brot duften. Die Väter würden in großen Sesseln sitzen, Pfeife rauchen und einen Tag ohne Holzhacken oder Jagen genießen. Am Abend würden die Mütter ihre Söhne und Töchter ins Bett stecken und ihnen einen Gutenachtkuss auf die Stirn geben.
Lily Morton lehnte sich an einen Baum, ließ sich daran zu Boden sinken und umschlang ihre Knie. Neidisch beobachtete sie das Geschehen von ihrem Versteck aus.
Du gehörst nicht hierher, Lily, würden sie sagen. Du bist viel zu wild …
Ein Vogel raschelte im welken Laub und pickte an einem Tannenzapfen. Lily beugte sich vor, öffnete ihre Hand und bewegte langsam die Finger, um ihn anzulocken. Zentimeter für Zentimeter rückte sie näher an ihn heran, um ihm übers Gefieder zu streicheln, doch plötzlich breitete er seine scharlachroten Flügel aus und erhob sich in die Lüfte. Lily ließ sich wieder an den Baumstamm sinken.
Zu Beginn des Frühlings wurden Andrews Habseligkeiten nach Pittsburgh geschickt: ein paar saubere Hemden und Hosen, ein Wollmantel, seine Bücher und Hefte. Alle Möbel waren verkauft. Kaum hatten die Houghtons das braune Schindelhaus verlassen, strömten die neuen Bewohner, eine böhmische Familie, hinein.
Am Bahnsteig umarmte Andrew seine Mutter zum letzten Mal. Zumindest fühlte es sich wie das letzte Mal an. Er fühlte sich seltsam taub. Selbst Pittsburgh kam ihm so entlegen vor wie der Mond; die Niederlande, in die seine Mutter zurückkehrte, waren dagegen wie ein ferner Planet.
Beim Anblick der silbernen Gleise, die sich endlos in beide Richtungen erstreckten, zog sich sein Herz zusammen. Hier konnte er nicht mehr bleiben. Es gab kein Zurück. Aber Frederick Houghton war immer noch in der Mine, auf ewig begraben unter den Steinhaufen, die seinen Körper zerschmettert hatten.