Im Land der Orangenblüten - Linda Belago - E-Book
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Im Land der Orangenblüten E-Book

Linda Belago

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Beschreibung

Von den Niederlanden in die Karibik: ein spannendes Schicksal und ein großer Landschaftsroman

Rotterdam 1850: Die junge Julie Vandenberg verliert bei einem tragischen Unfall ihre Eltern. Ihr Onkel übernimmt die Vormundschaft - jedoch nur, um Julies große Erbschaft im Blick zu behalten. Als sie achtzehn Jahre alt ist, verheiratet er sie mit seinem Geschäftspartner Karl Leevken, bei dem er Schulden hat. Julie reist mit ihrem Mann in die niederländische Kolonie Surinam in Südamerika, wo Karl sehr erfolgreich eine Zuckerrohrplantage betreibt. Welches Schicksal wird sie in jenem fernen tropischen Land erwarten? Und welche Rolle spielt Jean darin, der freundliche Buchhalter von Karl?

"Eine farbenprächtige Familiensaga im Surinam der Kolonialzeit. Spannend und mitreißend." Sarah Lark

Ebenfalls von Linda Belago bei beHEARTBEAT erhältlich: "Die Blume von Surinam" - die in sich abgeschlossene Fortsetzung der Surinam-Saga.

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

Vaarwel!

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

De verre kust

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

In hetzelfde bootje zitten

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Het geviel dat …

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Het is niet alles goud, wat er blinkt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Waar rook is, is ook vuur

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Epilog

Nachwort

Dank

Über das Buch

Von den Niederlanden in die Karibik: ein spannendes Schicksal und ein großer Landschaftsroman

Rotterdam 1850: Die junge Julie Vandenberg verliert bei einem tragischen Unfall ihre Eltern. Ihr Onkel übernimmt die Vormundschaft – jedoch nur, um Julies große Erbschaft im Blick zu behalten. Als sie achtzehn Jahre alt ist, verheiratet er sie mit seinem Geschäftspartner Karl Leevken, bei dem er Schulden hat. Julie reist mit ihrem Mann in die niederländische Kolonie Surinam in Südamerika, wo Karl sehr erfolgreich eine Zuckerrohrplantage betreibt. Welches Schicksal wird sie in jenem fernen tropischen Land erwarten? Und welche Rolle spielt Jean darin, der freundliche Buchhalter von Karl?

Ebenfalls von Linda Belago bei beHEARTBEAT erhältlich: »Die Blume von Surinam« – die in sich abgeschlossene Fortsetzung der Surinam-Saga.

Über die Autorin

Linda Belago ist seit ihrer Kindheit durch ihre Familie mit den Niederlanden verbunden. Ihr besonderes Interesse gilt seit langem der Geschichte dieses Landes. Ihre berufliche Tätigkeit führte sie zunächst quer durch Europa und nach Übersee. Heute lebt Linda Belago mit ihrem Mann nahe der deutsch-niederländischen Grenze.

Linda Belago

IM LANDDERORANGEN-BLÜTEN

beHEARTBEAT

Digitale Neuausgabe

»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Dieses Werk wurde vermittelt durch

die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Copyright © 2011/2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Melanie Blank-Schröder

Textredaktion: Marion Labonte

Covergestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung von Motiven © shutterstock: schankz | PowerUp | Oleg Golovnev | Efired | WeStudio | Hayk_Shalunts | geraria | PornphimonWongsirisup | BT.Suksan

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-6282-4

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Für meine Eltern

Leben: Lerne aus der Vergangenheit,träume von der Zukunft, und lebe in der Gegenwart

Prolog

Vereinigtes Königreich der Niederlande 1850Rotterdam, Elburg

Als die Kutsche die Einfahrt hinabfuhr, wirbelten die Hufe der Pferde eine Wolke aus rotem Sandstaub auf.

»Wird Zeit, dass es mal wieder regnet. Diese Hitze …« Jan Vandenberg klopfte sich die feinen Körner vom dunklen Sakko.

Seine Frau Helena, die rücklings zum Kutscher im offenen Wagen saß, streckte die Hand nach ihrer Tochter Juliette aus. »Komm zu mir rüber.«

Doch die neunjährige Julie, wie sie liebevoll von ihren Eltern genannt wurde, schüttelte den Kopf. »Mama, hier kann ich viel besser sehen.« Sie kuschelte sich an den Arm ihres Vaters und hielt ihr Gesicht in den kühlen Fahrtwind.

Seit einigen Wochen lähmte eine drückende Hitze die Menschen und Tiere. Froh, an diesem Juniabend dem stickigen Stall ein paar Stunden zu entkommen, verfielen die Pferde jetzt auf der Straße in einen forschen Trab. Und auf den Straßen Rotterdams erwachte in der lauen Abendluft langsam das Leben.

Julie war auch heute stolz, dass sie ihre Eltern zu einem Dinner bei Freunden begleiten durfte. Es war nicht das erste Mal, und wie immer erfüllte sie die Vorfreude mit einer kribbeligen Nervosität. Ihre Gedanken drehten sich um die feine Gesellschaft, die sie besuchen würde. Hoch konzentriert, sodass sich ihr kleiner Mund verkniffen spitzte, ging sie nochmals die Dinge durch, die sie beachten musste: den höflichen Knicks vor der Gastgeberin, die einzelnen Besteckteile bei Tisch und wie sie zu benutzen waren. Hoffentlich gab es nichts Schwieriges zu essen! Mit Muscheln hatte sie immer Probleme und kleckerte dann oft. Und dass sie sich ja nicht mit dem Ärmel über die Nase wischte! Sie wünschte sich so sehr, dass sie ihre Sache gut machte. Sie hoffte, ihre Eltern würden stolz auf sie sein und sie wegen ihres Benehmens loben.

Julie bewunderte ihre Mutter, die immer mit einer absoluten Selbstsicherheit und stillen Eleganz auftrat. Ihr Vater war, als angesehenes Mitglied der Rotterdamer Gesellschaft, gleichermaßen beliebt und souverän als Gast wie als Gastgeber. Er wusste ein Gespräch immer zu lenken, brachte gerne kleine Scherze ein. Selbst als die Köchin der Werkendams bei einem der letzten Besuche die Dinnersuppe so versalzen hatte, dass die Gastgeberin hochrot anlief und die Gäste husteten, hatte ihr Vater freundlich gelächelt und bemerkt, die Speise sei durchaus exotisch, aber dennoch schmackhaft. Und sein Wort zählte, alle hatten weitergegessen, hinterher aber dem Wein reichlich zugesprochen. Sie wollte eines Tages auch so werden wie ihre Eltern.

»Nun setz dich schon zu deiner Mutter, sonst siehst du gleich aus wie ein Staubmädchen.« Jan Vandenberg schob das blond gelockte Kind hinüber auf die gegenüberliegenden Sitzpolster. Julie tauchte aus ihren Gedanken auf und schaute erschrocken an sich herab. Auf ihrem Kleidchen lag ein leichter rötlicher Schimmer. Nein – mit einem verschmutzten Kleid konnte sie nicht beim Dinner erscheinen.

Helena versuchte, den Schmutz mit sachtem Streichen zu entfernen. »Nicht schlimm Schatz, das sieht man gar nicht!« Dann schob sie ihrer Tochter eine verirrte Locke zurück unter das kleine Hütchen, legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie zärtlich an sich.

»Schau, jetzt werden wir beide gleich ganz sauber ankommen, während dein Vater eher einem Straßenfeger ähneln dürfte. Vielleicht lassen sie ihn so gar nicht rein …«

Julie hob den Blick und betrachtete besorgt ihren Vater. Das leise Lachen ihrer Mutter aber verriet, dass ihre Worte wohl eher als Scherz gemeint waren.

Niemand von ihnen ahnte zu diesen Zeitpunkt, welch tragisches Ende dieser Sommertag nehmen würde.

Ein paar Straßen weiter hatte ein Kutscher sein Gefährt abgestellt: vier wuchtige Belgische Kaltblüter vor einem Wagen, voll beladen mit Weinfässern. Ein paar kleine Jungen, durch die frische Brise des Abends übermütig geworden, machten sich einen Spaß daraus, eines der Pferde mit einem langen Stock zu kitzeln, bis es gereizt mit dem Schweif schlug, aufstampfte und sich dabei mit einem Hinterbein in der Leine verfing, die der Kutscher am Kutschbock festgeknotet hatte. Die vorderen Pferde bekamen dadurch einen kräftigen Ruck im Maul. Eins von ihnen scheute heftig. Sofort setzte sich das Gespann in unkontrolliertem Galopp in Bewegung. Die Bengel rannten blitzschnell in einen Hinterhof, wohl wissend, dass sie es übertrieben hatten. Der herbeieilende Kutscher konnte seinem Wagen nur noch fassungslos nachschauen. Fässer polterten herab und stachelten die Panik der Pferde noch mehr an. Passanten sprangen beiseite, als die vier schweren Tiere mit dem Wagen in höllischem Tempo die Straße entlangrasten.

Der Kutscher der Vandenbergs registrierte nur ein schnelles Ohrenspitzen seiner Pferde und deren leichtes Zögern, dann stürmte das führerlose Gespann der Kaltblüter bereits um die Straßenecke. Seine Pferde scheuten, hatten aber keine Chance auszuweichen. Die vier massigen Körper der Lastpferde prallten mit voller Wucht in den Zweispänner. Innerhalb eines Wimpernschlags schoben sich Lastenwagen und Kutsche ineinander. Zitternde Pferdekörper, reißendes Leder und berstendes Holz. Der Wagen der Vandenbergs wurde auf die Seite geschleudert. Jemand schrie. Das Letzte, was Julie wahrnahm, war graues Straßenpflaster, das auf sie zuflog. Dann wurde es dunkel.

»Mama?«

Hatte sie geträumt? Angestrengt versuchte Julie, die Augen zu öffnen, doch ihre schweren Lider flatterten wie die Flügel eines Schmetterlings, und der erste kleine Lichtstrahl blendete sie. Hatte sie geschlafen?

»Schhhh … bleib still liegen«, flüsterte eine Stimme in weiter Ferne.

»Mama?« Julie bekam endlich die Augen auf und blinzelte.

»Nein, ich bin es, Marit.«

Schemenhaft erkannte Julie das schmale Gesicht ihrer Kinderfrau. Diese beugte sich über sie und strich ihr behutsam eine verschwitzte Haarsträhne aus der Stirn. »Bleib schön still liegen, Juliette, hörst du!«

»Was ist los?« Ihr war ganz komisch. Sie versuchte, sich zu bewegen, aber ein jäher Schmerz im Bein ließ sie zusammenzucken.

Marit legte eine Hand auf ihre Schulter und drückte sie sanft in die Kissen. »Juliette, du musst still liegen bleiben!« Der Ton ihrer Stimme ließ keinen Widerspruch zu. Julie sank auf die Kissen, und noch bevor ihr Kopf den Bezug berührt hatte, war sie wieder in einen tiefen, traumlosen Zustand geglitten.

Als sie nach Stunden erneut erwachte, gelang es ihr nur mit Mühe, die schweren Lider ihrer Augen zu heben. Julie blickte sich völlig verwirrt um und sah, dass sie in ihrem Zimmer lag. Die schweren Vorhänge, die sonst eigentlich nur zur Dekoration seitlich der Fenster hingen, waren zugezogen, draußen schien es aber hell zu sein. Warum lag sie mitten am Tag im Bett? Als sie versuchte, sich aufzurichten, verspürte sie erneut einen stechenden Schmerz im Bein. War sie verletzt?

Was war passiert? Warum war sie so müde?

Ihr wurde schwindelig, und dann war es wieder dunkel.

Als Dr. Maarten wenig später Juliette Vandenbergs Zimmer betrat, erhob sich Marit leise von ihrem Stuhl. Sie knetete nervös das Taschentuch in ihrer Hand. Mit einem Blick auf Julie flüsterte sie: »Sie war vorhin zweimal kurz wach, jetzt schläft sie wieder.« Die Sorge um das Kind stand ihr im Gesicht geschrieben.

Dr. Maarten nickte, rückte seinen Zwicker auf der Nase zurecht und betrachtete das Mädchen nachdenklich. Das arme Kind, welche Tragödie! Er kannte die Vandenbergs schon lange, Juliette hatte er bereits als Baby in den Armen gehalten.

»Sie hat nach ihrer Mutter gefragt.« Marit wischte sich mit dem Taschentuch über die geröteten Augen. Ihr übermüdetes Gesicht zeigte eine ungesunde blasse Farbe, das graue Hauskleid war zerknittert.

Dr. Maarten legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Marit, ich weiß, dass Juliette das Schlimmste noch bevorsteht, aber sie muss es erfahren, sobald sie wieder bei Bewusstsein ist, wie wir besprochen haben.«

Marit schluchzte leise und nickte.

»Gehen Sie und ruhen Sie sich etwas aus, ich bleibe jetzt ein bisschen bei ihr.« Er setzte sich auf den Stuhl, auf dem Marit an Julies Seite gewacht hatte. Die Kinderfrau stand unschlüssig am Fußende des Bettes.

»Nun gehen Sie schon.«

Julie regte sich, und der Arzt beugte sich vor, um zu sehen, ob sie die Augen öffnete. Aber sie blieben verschlossen. Julies Bewusstlosigkeit schien endlich einem heilsamen Schlaf gewichen zu sein.

Als Julie am nächsten Tag erwachte, gelang es ihr endlich, einige klare Gedanken zu fassen.

»Was ist mit meinem Bein? Werde ich wieder laufen können?«, fragte das Mädchen mit einem Blick auf den dicken Verband besorgt.

»Der Knochen ist gebrochen. Dr. Maarten sagt, es wird gut verheilen.« Marit streichelte liebevoll die Wange ihres Schützlings und zog dann die Bettdecke über den Verband.

»Wie lange dauert das denn?«

»Du wirst noch einige Wochen liegen bleiben müssen, bis der Knochen zusammengewachsen ist«, sagte die Kinderfrau und setzte sich wieder auf den Stuhl neben Julies Bett.

»Wie ist das denn passiert? Und wo ist Mama?«

Julie bekam keine Antwort.

Wenig später trat Dr. Maarten ein. Er lächelte, als er hereinkam, aber seine Stirn lag in tiefen Falten.

»Na, Juliette, wie ich sehe, bist du wieder bei Kräften.« Er trat an ihre Seite und wandte sich an die Kinderfrau:

»Marit? Würden Sie uns bitte einen Moment allein lassen?«

Als Marit das Zimmer verlassen hatte, setzte sich der Arzt auf Julies Bettkante.

»Wie geht es denn heute?« Er faltete die Hände in seinem Schoß, und Julie sah, wie seine Fingerknöchel vor Anspannung weiß wurden.

»Ganz gut, Herr Doktor.«

»Was macht das Bein?«

»Tut nicht so weh.« Sie sprach tapfer und versuchte, den Doktor anzulächeln. Sein ernstes Gesicht aber ließ ihr Lächeln verlöschen.

Er nahm ihre Hand in seine Hände. »Juliette, ich muss dir etwas sagen.« Er schien nach den richtigen Worten zu suchen, dann fuhr er leise fort: »Du und deine Eltern, ihr hattet einen schrecklichen Unfall. Deine Eltern waren schwer verletzt«, der Arzt holte tief Luft, »und manchmal sind Verletzungen so schwer, dass sie nicht mehr heilen können.« Er machte eine Pause.

Plötzlich wurde Julie ganz kalt. Die Worte von Dr. Maarten hallten in ihrem Kopf nach: schrecklicher Unfall … verletzt … Ihre Eltern waren schwer verletzt! Aber wo waren sie, sie musste doch zu ihnen, sie … Ängstlich hob sie den Blick, sah das ernste Gesicht des Arztes und seine dunklen Augen, deren trauriger Blick auf ihr ruhte. Die Erkenntnis traf sie mit voller Wucht, sie spürte, wie eine Woge tiefer Traurigkeit sie durchspülte, so stark und unendlich, dass sie ihr fast die Luft zum Atmen nahm. Dass sie nicht mehr heilen können, hatte er gesagt. »Heißt das, Mama und Papa sind … tot?«, hörte sie sich fragen. Ihre Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. Ebenso wie die von Dr. Maarten: »Ja, mein Kind.« Dann schwanden ihr die Sinne.

Die nächsten Tage verbrachte Julie in einem Dämmerzustand zwischen Wachen und Träumen. Immer wieder hoffte sie, die Tür ginge auf, und sie würde in das fröhliche Gesicht ihrer Mutter blicken. Aber das geschah nicht. Julie verfiel in eine stille Melancholie. Sie wusste nicht, wohin mit ihrem Schmerz, konnte nicht einmal weinen. Auch als sie ihr Krankenlager wieder verlassen durfte, besserte sich ihr seelischer Zustand kaum. Das einstmals so fröhlich lachende Kind war schweigsam und still geworden.

Marit versicherte ihr immer wieder, alles würde gut werden, aber die Abwesenheit ihrer Eltern war allgegenwärtig und fügte Julie fast physische Schmerzen zu. Auch die Hausangestellten, die kündigten und nicht mehr erschienen, und die Möbel, die nach und nach mit weißen Laken abgedeckt wurden, sprachen eine andere Sprache.

Zuversichtlich versuchte Julie sich einzureden, dass alles beim Alten bleiben würde. Aber in ihren Träumen geschahen schreckliche Dinge: Sie saß allein in dem großen Haus, alles war leer und dunkel, niemand war mehr da. Oder sie fand sich in einem Waisenhaus wieder. Mit ihrer Mutter hatte sie einmal eines besucht und den Kinder dort kleine Geschenke gebracht. Die Kinder haben keine Eltern mehr, die sich um sie kümmern, hatte ihre Mutter ihr erklärt. In ihren Träumen saß sie nun selbst zwischen diesen Kindern.

Marit gab sich redlich Mühe, den Alltag des Kindes so vertraut wie möglich zu gestalten. Sie verschwieg Julie jedoch, dass ihr Leben langfristig wohl nicht wie gewohnt verlaufen würde. Niemand mochte dieses Thema ansprechen – bis es eines Tages unumgänglich wurde. Zuvor hatte Marit noch versucht, die Feierlichkeiten anlässlich Julies zehntem Geburtstag im September so schön wie möglich zu arrangieren. Einige Mädchen – Kinder aus dem ehemals großen Freundeskreis der Eltern – waren der Einladung gefolgt und hatten versucht, Julie das Leben für einige wenige kostbare Stunden fast normal erscheinen zu lassen. Dann aber musste auch Marit den Tatsachen ins Auge blicken und dem Drängen des Familienanwaltes der Vandenbergs nachgeben. Entscheidungen mussten getroffen werden.

Da das Erbe der Vandenbergs nicht allein von dem kleinen zehnjährigen Mädchen angetreten werden konnte, oblag es nun ihrem nächsten Verwandten, sich dessen Verwaltung anzunehmen. Und nach Julies Genesung kündigte sich dieser Verwandte schneller an, als allen lieb war.

Eines Morgens im Oktober herrschte plötzlich rege Betriebsamkeit im Hause Vandenberg. Aus der Küche drang das erste Mal seit dem Geburtstag der Duft eines selbst gebackenen Kuchens.

»Was ist los? Bekommen wir Besuch?«

Julie erwischte ihre Kinderfrau in einem der Gästezimmer, wo diese gerade die Fenster zum Lüften geöffnet hatte. Marits Antwort fiel unbefriedigend knapp aus. »Ja.«

Sie schob Julie beiseite, um die Betten aufzuschlagen. Das war eigentlich Aufgabe der Hausmädchen, aber die hatten in den letzten Wochen alle das Haus verlassen und sich neue Anstellungen gesucht. Nur Marit und die alte Köchin waren geblieben.

Julie sah Marits Treiben einen Moment lang verwundert zu. Warum hatte man ihr bis jetzt nichts von einem Gast gesagt, und warum hielt Marit den Namen des Besuchers vor ihr geheim? Seit ihre Eltern … seit dem Unfall und der Beerdigung war eigentlich gar kein Besuch mehr ins Haus der Vandenbergs gekommen. Wer hätte ihn auch empfangen sollen?

»Juliette, geh auf dein Zimmer. Ich komme gleich und helfe dir beim Ankleiden.« Marit schob das Mädchen zur Tür, und Julie trottete nachdenklich davon.

Kurz darauf half Marit – immer noch wortkarg – Julie in ein hübsches Kleid und steckte ihr die geflochtenen Haare zum Kranz auf. Die Kleine ließ die Prozedur widerstandslos über sich ergehen und zupfte verlegen an ihrem Kleid herum. Es war nicht ganz bodenlang, und unter ihren Strümpfen sah man, dass ihr linkes Bein noch merklich dünner als das rechte war. Der Doktor hatte gesagt, es würde sich mit der Zeit geben. Bisher war ihr das egal gewesen, aber nun, so fein herausgeputzt, fiel es ihr auf, und sie genierte sich etwas. Marit reagierte nicht auf ihren verlegenen Blick und band ihr noch eine Schleife in das goldblonde Haar. »So, und jetzt komm«, sagte sie entschieden und schob Julie zur Tür hinaus.

Unten im Haus waren die Räume sauber und ordentlich aufgeräumt, jemand hatte die Laken von den Möbeln entfernt, und im Salon war bereits die Kaffeetafel gedeckt. Julie war aufgeregt.

Dann hörte sie eine Kutsche vorfahren. Leise drang das Klimpern der Pferdegeschirre bis in den Flur, und sie hörte den Kies der Einfahrt knirschen, als der Wagen zum Stehen kam. Marit ging zur Tür, um zu öffnen, während Julie unschlüssig in der Eingangshalle stand. Sie fühlte sich unglaublich einsam, wie gern hätte sie ihre Eltern jetzt um sich gehabt.

Ihre Anspannung lockerte sich etwas, als sie sah, dass Herr Lammers das Haus betrat. Er hatte als Anwalt und Notar für Julies Vater gearbeitet und die Familie regelmäßig besucht. Nachdem Marit ihn ehrerbietig begrüßt hatte, trat er auf Julie zu. »Mejuffrouw Vandenberg, es freut mich, Sie wieder wohlauf zu sehen.« Julie knickste höflich und bedankte sich, ganz wie sie es gelernt hatte. Trotzdem blieb sie skeptisch. Herr Lammers machte einen verunsicherten Eindruck, geradezu wie ein ängstliches Eichhörnchen, und der Funke seiner fahrigen Nervosität sprang gleich auf Julie über.

Vor dem Haus fuhr deutlich hörbar eine weitere Kutsche vor. Julie blickte fragend zu Marit. Wer kam jetzt noch? Und was wollte Herr Lammers hier?

Doch bevor sich jemand erklärend hätte äußern können, betrat ein weiterer Gast das Haus. Als Julie dem Mann ins Gesicht sah, weiteten sich ihre Kinderaugen für einen kurzen, hoffnungsvollen Moment. Sie schnappte nach Luft, doch dann bemerkte sie den Trugschluss. Die Ähnlichkeit dieses Mannes mit ihrem Vater war frappierend. Aber natürlich war er es nicht.

»Juliette, dies ist dein Onkel Wilhelm Vandenberg.« Marit schob das Kind sanft auf den Mann zu.

»Juliette, es freut mich, dich wiederzusehen«, sagte der Mann übertrieben freundlich. Es schwang aber weder echte Freude noch Herzlichkeit in seiner Stimme mit.

Julie knickste brav und griff dann haltsuchend nach Marits Hand. Sie konnte sich an keinen Onkel erinnern. Sie war sich fast sicher, ihn noch nie gesehen zu haben. Zumindest nicht leibhaftig. Hatten ihre Eltern von ihm gesprochen? Sie meinte sich daran zu erinnern, dass ihr Vater ihn einmal erwähnt hatte. Oder bildete sie sich das nur ein? Nachdenklich folgte sie Marit, die die Gesellschaft zu Tisch geleitete, wo sie Julies kleine Hand schließlich sanft aus der ihren löste und ihr einen Stuhl zurechtrückte. Jetzt erst bemerkte Julie, dass Marits Gesicht wie versteinert wirkte.

»Danke, Mädchen.« Das Nicken des Onkels war ein klares Zeichen für die Kinderfrau, den Raum zu verlassen. Julie blickte ihr Hilfe suchend nach. Musste sie jetzt etwa mit diesen Erwachsenen allein am Tisch sitzen? Julie bekam Angst: Was, wenn sie etwas falsch machte?

Die Männer aber beachteten sie zunächst nicht. Herr Lammers schob das Kaffeegeschirr beiseite und öffnete seine lederne Tasche. Er entnahm ihr einen Stapel Papiere, die er sorgfältig vor sich auf dem Tisch ausbreitete. Wilhelm Vandenberg blickte sich kurz pikiert nach Personal um und schenkte sich den Kaffee dann schließlich selbst ein. Den Kuchen, dessen Geruch Julie am Morgen noch das Wasser im Munde hatte zusammenlaufen lassen, ignorierten die Männer. Auch Julie war der Appetit vergangen. Sie zuckte auf ihrem Stuhl zusammen, als Herr Lammers sich an sie wandte.

»Da Sie, Mejuffrouw Vandenberg, sich nun wieder einer guten Gesundheit erfreuen«, Herr Lammers zögerte kurz, seine Hände sortierten fahrig die Papiere, »müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie es mit Ihnen weitergehen soll. Ihr Onkel«, er nickte Wilhelm Vandenberg kurz zu, »ist aus Amsterdam gekommen, um Entscheidungen für Sie zu treffen. Er ist als Ihr nächster Verwandter nun auch Ihr Vormund.«

Julie blickte von einem zum anderen. Sie verstand nicht. Vormund?

Was der Begriff »Vormund« bedeutete, erfuhr Julie dann schneller, als ihr lieb war. Bereits wenige Tage später befand sie sich auf dem Weg in ein Internat.

Sie saß neben ihrem Onkel in der Kutsche und starrte aus dem Fenster. Sie fuhr nicht mehr gerne Kutsche, und dies war im Übrigen auch keine Vergnügungsreise.

Die Eindrücke des Abschieds lasteten schwer auf ihr. Sie dachte an Marit, die vor dem Haus gestanden und mit verkniffener Miene versucht hatte, ihre Traurigkeit zu verbergen – und ihr am Ende noch ein paar aufmunternde Worte zugeflüstert hatte. Julie konnte sich eine Zeit ohne Marit gar nicht vorstellen. Marit war immer für sie da gewesen. Und Julie hatte sich glücklich geschätzt, eine so liebevolle Kinderfrau zu haben. Sie kannte die Kinderfrauen anderer Familien, das waren manchmal ziemliche Drachen. Marit hingegen schimpfte nie laut, nicht einmal damals, als Julie sich das neue Kleidchen zerrissen hatte. Sie erzählte ihr vor dem Einschlafen Geschichten und flocht ihr immer schöne Zöpfe, was selbst ihre Mutter nie geschafft hatte. Wer würde Julie jetzt beim Anziehen helfen? Wer würde ihr die Haare machen? Sie konnte das alles doch nicht allein! Und was würde jetzt aus Marit werden?

Der Abschied war viel zu schnell gegangen. Onkel Wilhelm hatte sie ungeduldig zum Aufbruch gedrängt und sie schließlich unsanft in die Kutsche geschoben. Ihr war gerade noch ein letzter Blick auf ihr Elternhaus geblieben. Alles hatte so still und friedlich dagelegen. Sollte sie es jemals wiedersehen?

Nun fuhren sie schon seit Stunden in nördliche Richtung, vorbei an abgeernteten Feldern und kahlen Bäumen. Windige Böen trieben dunkle Wolken am Himmel vor sich her. Sie kamen durch kleine Dörfer, die bereits für den hereinbrechenden Winter gerüstet wurden, und fuhren durch Wälder, in denen das trockene Laub auf den Straßen im Wind tanzte. Julie fröstelte und zog den dicken Mantel enger um ihren Körper. Sie vergrub die Nase hinter dem hohen Kragen. Der Stoff roch nach ihrem Zuhause, nach Bohnerwachs und Mottenkugeln, und Julie meinte, auch einen Hauch des Parfüms ihrer Mutter wahrzunehmen. Als sie nach dem Unfall hatte aufstehen dürfen, war sie heimlich durch das Haus geschlichen auf der Suche nach etwas, was ihr ihre Eltern wieder näherbrachte. An einem Kissen, einem Taschentuch, sogar am Aschenbecher im Salon, wo Papa abends immer seine Zigarre geraucht hatte, hatte sie geschnüffelt. Aber die kurzfristigen, wohligen Gedanken und Gefühle waren rasch einem stechenden Schmerz und einer großen Leere gewichen. Die Erinnerungen waren untrennbar mit ihrem Elternhaus verbunden – und dieses entfernte sich gerade Meile für Meile, Huftritt für Huftritt weiter von ihr. Sie schienen immer mehr zu verblassen und an Klarheit zu verlieren.

Julie fühlte sich nicht wohl in der Gesellschaft von Onkel Wilhelm. Seit seiner Ankunft hatte er ihr nur ein paar knappe Anweisungen zu den Reisevorbereitungen gegeben und sich ansonsten nicht weiter um Julie gekümmert. Weitaus mehr hatte er sich für das Inventar ihres Elternhauses interessiert und jedes Möbelstück gründlich beäugt, während Herr Lammers unablässig in langen Listen geblättert hatte und dienstbeflissen neben ihm hergegangen war. Marit hatte Julie an jenem schicksalsträchtigen Tag schließlich energisch aus dem Raum geführt mit dem Hinweis, die Herren hätten noch wichtige Dinge zu besprechen. Alle weiteren wichtigen Entscheidungen blieben so vor Julie verborgen.

Die lebensfrohe Art ihres Vaters schien ihrem Onkel nicht zu Eigen zu sein, er zeigte sich Julie gegenüber kalt und distanziert. Die große Angst seiner Nichte vor der Zukunft schien ihn nicht zu berühren. Nun blickte Julie einige Male in seine Richtung, doch er hielt den Blick aus dem Fenster gerichtet. Kurz überlegte sie, ihm die eine oder andere Frage zu stellen, die schwer auf ihrem Herzen lastete. Aber es gehörte sich nicht, ungefragt mit Erwachsenen zu reden. So wandte auch sie den Blick wieder aus dem Fenster.

Julie wusste nicht, wo ihre zukünftige Schule lag. Umso verwunderter war sie, als sie die ersten Abzweigungen in Richtung Amsterdam passierten, diesen aber nicht folgten.

Sie richtete einen fragenden Blick auf ihren Onkel. Und dieses Mal bekam sie in der Tat eine Antwort: »Das Mädcheninternat Admiraal van Kinsbergen liegt in Elburg«, kommentierte er kurz.

Julie zuckte zusammen. Elburg? Sie hatte keine Ahnung, wo das war, aber Stunde um Stunde zerfloss ihre Hoffnung, zukünftig in unmittelbarer Nähe ihrer Verwandten leben zu können. Traurig sackte sie in den Polstern der Kutsche zusammen. Obwohl sie diese Menschen kaum kannte und ihr Onkel so ganz anders zu sein schien als ihr Vater, hatte sie sich in ihrer Lage eine gewisse Zuwendung von ihnen erhofft – diese Hoffnung wurde nun jäh zerschlagen.

Als der Abend kam, war die Reise immer noch nicht vorbei. Julie verbrachte eine einsame schlaflose Nacht in einem kleinen, kalten Herbergszimmer. Die Gastwirtin, an deren Rockzipfel mehrere rotznasige Kinder hingen, verspürte das Leid des Mädchens und brachte ihm abends fürsorglich eine warme Milch und zwei Kekse ans Bett. Julie jedoch rührte nichts davon an. Sie bekam keinen Bissen herunter.

Am nächsten Morgen setzten sie ihre Reise fort. Erst am späten Nachmittag lenkte der Kutscher das Gespann über eine Brücke und das Stadttor der kleinen Stadt Elburg, gut eine Tagesreise von Amsterdam entfernt. Julie war hungrig und erschöpft und unterdrückte die aufsteigenden Tränen, sie wollte vor ihrem Onkel nicht weinen. Die Gassen wurden schmaler, und im schwindenden Tageslicht sah Julie zahlreiche dicht gedrängte Häuser. Es schien, als hätte der Erbauer versucht, möglichst viele Gebäude auf engstem Raum anzuordnen. Die unter anderen Umständen vielleicht gemütliche Enge wirkte auf Julie bedrückend und verstärkte ihre Stimmung noch, in die sich nun zusätzlich Nervosität mischte. Die Kutsche bog noch einige Male ab, bis sie endlich vor einem trutzigen Gebäude zum Stehen kam.

Während Julie zögerlich hinter ihrem Onkel aus dem Wagen kletterte, öffnete sich das große Portal des Hauses, und eine hochgewachsene hagere Dame schritt ihnen entgegen. Julies Magen krampfte sich zusammen.

»Mijnheer Vandenberg, es freut mich sehr. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise«, sagte die Dame und knickste höflich, bevor sie einen Blick auf Julie warf, die verlegen neben ihrem Onkel stand.

»Du musst Juliette sein!« Die Stimme der Frau ließ jeglichen Anflug von Wärme vermissen. Überhaupt machte sie einen sehr strengen und resoluten Eindruck. »Mein Name ist Anna Büchner, ich bin die Direktorin hier.« Ihr Blick glitt kurz und abschätzend über Julie, die schüchtern vor der Frau knickste, bevor diese sich wieder an ihren Onkel wandte: »Kommen Sie doch bitte herein, dann besprechen wir kurz alles Weitere.«

»Juliette«, sie klatschte einmal kurz in die Hände, worauf sofort ein Mädchen in Dienstkleidung aus der Tür trat, »Merle wird dich auf dein Zimmer führen, ich komme dann später und hole dich.«

Julie folgte dem Dienstmädchen in das Haus und weiter durch spärlich beleuchtete und scheinbar endlose Korridore. Schließlich hielt das Mädchen vor einer Tür und öffnete sie. Nach einem braven Knicks vor Julie sagte Merle: »Mejuffrouw Vandenberg, Ihr Zimmer.« Das Mädchen ließ Julie eintreten und huschte hinter ihr ebenfalls ins Zimmer. Sie entzündete eine kleine Öllampe auf dem Tisch und schlich dann aus der Tür und über den Korridor davon. Julie blickte sich neugierig um. Im Vergleich zu den Maßen des gesamten Hauses war das Zimmer winzig. Auf jeder Längsseite standen ein Bett und ein Schrank, ein Tisch mit zwei Stühlen war in der Mitte des Raumes und ein Waschtisch in der Ecke hinter der Tür platziert. Ein kleiner Hoffnungsschimmer regte sich in Julie: zwei Betten! Noch schien keines der Betten belegt zu sein, aber vielleicht würde sie nicht allein hier wohnen!

Julie trat an das schmale Fenster heran. Sie blickte auf einen Innenhof, wo gepflegte Kieswege zwischen kleinen Beeten verliefen. Wie ein Klostergarten, dachte sie spontan. Sie setzte sich auf die Bettkante, unschlüssig, was sie jetzt tun sollte. Ihr blieb nichts als zu warten. Sie fror, aber es gab keinen Ofen im Zimmer, und sie war müde, aber die Laken des Bettes waren klamm, und sie widerstand dem Bedürfnis, sich trotzdem einfach ins Bett zu legen und sich die Decke über den Kopf zu ziehen. Nachdenklich starrte Julie auf die abgenutzten Dielen des Fußbodens. Durch dieses Zimmer waren offensichtlich bereits unzählige kleine Füße getrappelt. Ob die anderen Mädchen am Anfang auch so einsam gewesen waren wie sie jetzt? Alles hier erschien ihr trostlos. Es gelang ihr nur mit Mühe, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Sie musste stark sein, das hatte Marit ihr immer wieder gesagt. Und auch ihre Mutter hätte es so gewollt.

Als nach einer scheinbaren Ewigkeit immer noch niemand gekommen war, um sie zu holen, schlich Julie sich auf den Korridor und trat an eines der Fenster. Von dort konnte sie die Straße vor der Schule sehen. Das Gespann des Onkels stand im Dämmerlicht vor dem Portal. Dampfschwaden stiegen von den warmen Pferdeleibern auf und vermischten sich mit dem aufsteigenden Nebel der Nacht. Dann trat Wilhelm Vandenberg aus der Tür. Er stieg in die Kutsche und fuhr davon, ohne sich noch einmal umzusehen.

Vaarwel!

Lebe wohl!

Vereinigtes Königreich der Niederlande, Surinam 1858–1859Elburg, Amsterdam, Plantage Heegenhut

Kapitel 1

Julie rannte mit dem Brief in der Hand durch die Gänge des Internats. Eine Treppe hoch, um eine Ecke, einen weiteren Korridor entlang. Sie kannte das Gebäude inzwischen in- und auswendig. Seit über acht Jahren war sie nun hier. Aber erst seit dem Amtsantritt von Frau Koning vor drei Jahren und dem fast zeitgleichen Einzug von Sofia in ihr Zimmer fühlte sie sich einigermaßen wohl. Das Internat war ihr ein Zuhause geworden, aber keine Heimat.

Frau Koning hatte die Führung des Internats übernommen, nachdem ihre Vorgängerin, die Julie damals empfangen hatte, nach endlosen Querelen gezwungen worden war, das Amt aufzugeben. Frau Büchners Abberufung war für Julie ein Segen gewesen. Der neuen Direktorin brachte sie Bewunderung und Ehrfurcht entgegen. Was hatte sich durch Frau Koning alles geändert – nicht zuletzt für sie persönlich!

Das Mädcheninternat Admiraal van Kinsbergen war vor vielen Jahren in den Gemäuern eines ehemaligen Klosters als Pendant zu einer ebenfalls in Elburg ansässigen Jungenschule gegründet worden, die einen ausgesprochen guten Ruf besaß. Allen Erwartungen zum Trotz konnte das Mädcheninternat jedoch nie an den Erfolg der Jungenschule heranreichen. Als die Schülerzahlen stagnierten, berief man die erfahrene Pädagogin Büchner zur Direktorin. Die Rettung der Schule ließ sich tatsächlich zunächst gut an. Was aber den dann folgenden Sinneswandel der Dame hervorrief, war allen ein Rätsel. Direktorin Büchner verfiel nach kurzer Zeit, noch vor Julies Ankunft, in einen religiösen Eifer, der dem Ansehen der Schule mehr schadete denn nützte. Die Familien meldeten ihre Töchter nach und nach von der Schule ab, bis nur noch die Mädchen dort wohnten, die keine andere Bleibe hatten. Julie hatte sich mehr als einmal gefragt, ob ihr Onkel wohl um den Ruf der Schule wusste. Sie hatte freilich nie gewagt, ihn selbst um eine Antwort zu bitten. Er hatte sie damals lediglich hier abgegeben und sich nicht weiter um sie gekümmert. Er sorgte dafür, dass ihr Schulgeld pünktlich gezahlt wurde, und einmal im Jahr musste Julie ihn für drei Wochen besuchen, mehr aber auch nicht. Die Familie ihres Onkels blieb ihr fremd. Die kurzen Aufenthalte brachten keine Vertrautheit.

Julie hätte sich im Übrigen nie angemaßt, die Zustände in der Schule zu bemängeln. So durchlitt sie fast fünf Jahre lang die zahlreichen und immer gleichen Gottesdienste in der eiskalten Klosterkapelle, die einen Großteil ihres Alltags bestimmten, und besuchte geduldig die ihr unendlich erscheinenden Gebetsstunden.

Als dann kurz vor dem endgültigen Aus der Schule die Zügel an Alida Koning übergeben wurden, änderten sich zahlreiche schulische und alltägliche Abläufe im Internat. Die neue Direktorin führte einen modernen Lehrplan ein und erlaubte ihren Schützlingen regelmäßigen Ausgang. Ganz zu schweigen von den neuen Öfen, die sie installieren ließ … Ihr Handeln trug schon bald Früchte, schnell kamen wieder neue Schülerinnen hinzu. Unter ihnen auch Sofia. Julie hatte die Veränderungen, die sich um sie herum vollzogen, damals im Stillen bestaunt. Es war ihr vorgekommen, als hätte jemand erst lange die Zeit angehalten, um dann die Uhren schneller laufen zu lassen. Innerhalb weniger Wochen hatten sich die dunklen, zugigen Korridore in helle, warme und belebte Flure verwandelt. Fasziniert lauschte sie den Mädchenstimmen, hörte sogar leises Lachen, sah bunte Kleider. Trotzdem war Julie zunächst zu schüchtern gewesen, sich der neuen Stimmung hinzugeben.

Alida Koning verfügte über ein unfehlbares Gespür für Menschen, und Juliette Vandenberg hatte ihr von Anfang an Sorge bereitet. Das junge Mädchen wirkte stets in sich gekehrt und schien jegliche Lebensfreude verloren zu haben. Was an und für sich nicht verwunderlich war bei der Vorgeschichte und dem mittelalterlichen Gebaren, das in dieser Schule geherrscht hatte. Es war eine weise Entscheidung gewesen, die muntere Sofia als Zimmergenossin zu Juliette zu stecken. Sofia war es mit ihrer herzlichen Art gelungen, das Mädchen aus seiner Schüchternheit zu schälen. Juliette hatte sich langsam geöffnet.

In ihren ersten Jahren in Elburg war Julie mit ihren jugendlichen Sorgen und Nöten allein gewesen. Sie wäre eher vor Scham im Boden versunken, als sich jemandem anzuvertrauen. Zumal ihr die ehemaligen Mitschülerinnen immer sehr gottgefällig vorkamen, an ihnen schienen insbesondere die körperlichen Veränderungen vorbeizugehen. Sie selbst hingegen hatte lange beschämt versucht, ihren fraulich werdenden Körper zu verstecken. Die Wandlung vom Kind zur Frau hatte ihr Angst bereitet. Und mit wem hätte sie solche Ängste besprechen sollen? Weder ihre Mitschülerinnen noch Frau Büchner wären ihr eine Hilfe gewesen, im Internat war zu jener Zeit zudem jegliche Zerstreuung um Themen wie Mode oder gar junge Männer strengstens untersagt. Als die neuen Schülerinnen eintrafen, öffnete sich vor Julie plötzlich die Welt junger Damen – für sie eine völlig neue Erfahrung, verlockend und beängstigend zugleich. Zögerlich fand Julie Anschluss. Erst Sofia vermittelte ihr die Erfahrung, dass junge Mädchen durchaus froh waren, wenn ihr Busen wuchs. Und auch die allmonatliche »Schande« war plötzlich ganz normal und nicht mehr Anlass für tagelange Gebete. Julie erinnerte sich noch gut an den Tag, als Sofia sie beiseitegenommen und beschämend offen über gewisse Dinge des Lebens gesprochen hatte. Julie war krebsrot geworden, aber Sofia hatte ihr beschieden: Alles ganz normal.

Julie hatte zum ersten Mal Freundschaften geschlossen und in der Direktorin eine erwachsene Vertrauensperson gefunden, die ihr die Mutter zwar nicht ersetzen konnte, aber immerhin Leitfigur auf dem Weg ins Erwachsenenleben sein konnte, an dessen Schwelle sie jetzt stand. Ihr wurde immer häufiger bewusst, dass sie sich um ihre Zukunft Gedanken machen musste. Die anderen Mädchen überlegten bereits seit einer ganzen Weile, was sie nach ihrer Schulzeit tun würden. Julie hatte keine Ahnung, wo ihr Weg hinführen sollte. Lehrerin werden, das konnte sie sich vorstellen. Ihr Onkel hatte sich dazu noch in keiner Weise geäußert. Sollte sie das etwa selbst entscheiden? Wohl kaum. Von einer Hochzeit träumen wie die anderen jungen Mädchen, daran dachte Julie nicht einmal. Wo sollte sie schon einen passenden jungen Mann finden? Meistens schob sie die Gedanken schnell beiseite, doch ganz verdrängen ließen sie sich nie.

Jetzt polterte Julie atemlos durch die Tür zu ihrem Zimmer. Sofia schrak hoch. »Juliette? Was ist denn passiert?«

Julie streckte ihr wortlos den Brief entgegen. Ihre blonden Locken hatten sich aus dem streng gebundenen Knoten gelöst und fielen nun wirr auf ihre geröteten Wangen. Mit einer fahrigen Geste strich sie sich die Strähnen hinter die Ohren. »Lies! Sie wollen nicht, dass ich mit zu dir komme. Ich muss zu ihnen!«

Während Sofia mit fragendem Blick das Papier entgegennahm, setzte Julie sich auf die Kante ihres Bettes und versuchte, ihre Atmung zu beruhigen. »Nun lies schon!«, drängelte sie ungeduldig.

Sofia setzte sich in ihrem Bett auf und faltete das Blatt Papier auseinander. Julie bemerkte, wie sich in Sofias Gesicht erst Überraschung und dann Ärger ausbreitete. »Juliette … aber …? Du solltest doch …? Wir hatten uns doch schon so gefreut!« Entsetzt blickte Sofia ihre Freundin an.

Julie zuckte nur ergeben mit den Schultern. »Ich war genauso überrascht, als Frau Koning mir eben dieses Schreiben überreichte. Ich hätte nicht gedacht, dass sie es ablehnen. Ich will da nicht hin!«, seufzte sie. »Du weißt, ich hasse diese jährlichen Zwangsbesuche. Wenn ich doch nur mit zu dir kommen könnte!« Traurig schaute Julie ihre Freundin an. Sie hatten es sich so schön ausgemalt: Julie sollte das erste Mal auch in den Winterferien mit zu Sofia. Eine Vorstellung, die ihr wesentlich besser gefiel als ein Aufenthalt bei ihrem Onkel. Schriftlich hatten sie um Erlaubnis gebeten. Die entsprechende Antwort aber fiel jetzt unerfreulich aus.

»Ach komm, so schlimm wird’s wohl nicht werden. Letztes Jahr war es doch auch … nett.« Sofia versuchte, die Situation zu retten. Sie wusste, was der Aufenthalt bei ihr zu Hause für Julie bedeutete. Aber wenn der Onkel sich sperrte, würde daraus nichts werden.

Als nach Alida Konings Amtsantritt die ersten Sommerferien vor der Tür gestanden hatten und alle Mädchen, bis auf Julie, betriebsam ihre Sachen packten, hatte sich die Direktorin auch hier etwas einfallen lassen.

»Juliette? Fährst du nicht zu deinem Onkel im Sommer?«

Julie hatte betrübt mit dem Kopf geschüttelt. »Nein, ich darf dort nur im Winter hin, im Sommer fährt die Familie in die Sommerfrische. Und ich … sie möchten nicht …«

Der Direktorin hatte das Mädchen leidgetan. Sollte Juliette die schönste Zeit des Jahres in diesen dunklen Mauern verbringen?

»Du könntest doch vielleicht mit zu Sofia. Ich werde die de Weeks fragen«, hatte sie spontan vorgeschlagen. Und Julie mit dieser Idee zum ersten Mal seit langem in den Genuss von familiärer Geborgenheit gebracht.

Sofias Familie war sofort begeistert gewesen. Wohl auch, weil Sofia selbst unter ihren drei älteren Brüdern immer etwas einsam war. Herzlich hatten die de Weeks Julie aufgenommen. Diese hatte sich zwar erst etwas unwohl gefühlt, sie wollte sich niemandem aufdrängen, aber die Scheu war schnell von ihr abgefallen, und sie hatte den Aufenthalt bei Sofia in vollen Zügen genossen. Seitdem hatte Julie jede Ferien, bis auf die jeweiligen drei Wochen im Winter, bei Sofia und deren Familie auf dem seit vielen Generationen in Familienbesitz befindlichen Landgut Hallerscoge verbracht. Es war ein wunderschönes altes Herrenhaus inmitten geheimnisvoller Wälder, umgeben von Kreeken, auf denen Enten dahinpaddelten, und Weiden voller prachtvoller Pferde. Dieses Haus war erfüllt von Leben und Liebe. Sofia hatte eine große Familie, und immer herrschte reges Treiben. Sie machten gemeinsam Ausflüge zum Picknick, häufig kam Besuch, und den Höhepunkt des Sommers bildete stets die große Jagdgesellschaft. Für Julie waren die Wochen auf Hallerscoge wie ein Traum. Dort hatte sie ein eigenes Zimmer, durfte hübsche Kleider tragen und wurde voll in das Familienleben einbezogen. Sofias Mutter hatte nie einen Unterschied zwischen Julie und ihren eigenen Kindern gemacht. So manchen Abend vor dem Einschlafen hatte Julie Alida Koning im Stillen für ihren Einsatz gedankt.

Jetzt war der Traum vom winterlichen Aufenthalt bei Sofia geplatzt.

Wie immer, wenn es Sorgen oder Probleme zu beraten gab, zog es Sofia und Julie aus der Enge des Internats hinaus in die Natur. Julie hatte während ihrer ersten fünf Jahre nichts von der Schönheit des Städtchens Elburg mitbekommen, sie hatte einzig den Ausblick aus den Fenstern und den Weg zur Kirche gekannt. Umso mehr hatte sie während der vergangenen drei Jahre die Freiheit genossen.

Es war Anfang Dezember, und die Luft war merklich abgekühlt. Die Mädchen hatten sich warm angezogen, ihr Atem bildete kleine weiße Wolken, und ihre Füße stoben raschelnd durch das gefallene Laub der alten Eichen. Nachdenklich gingen sie nebeneinander auf dem breiten Weg zwischen der alten Stadtmauer und der tiefen Gracht, die Elburg gänzlich umgab.

Vom Internat aus war dieser Weg außerhalb der Stadtmauer in wenigen Gehminuten erreichbar, und viele Bewohner Elburgs kamen hierher, um zu flanieren und durchzuatmen, was auf den kleinen, dicht befahrenen Gassen innerhalb der Stadt kaum möglich war. Im Sommer trafen sich Familien hier zum Picknick, und Kinder spielten auf den Rasenflächen. Junge Galane ruderten ihre Auserwählten in kleinen Booten über das Wasser, und manchmal zogen sich die frisch Verliebten in aller Heimlichkeit in den Schatten der großen Bäume zurück. Den jungen Mädchen aus dem Internat waren derartige Beobachtungen immer eine beliebte Zerstreuung. Aber jetzt im Winter und bei frostigem Wetter fanden sich nur wenige Menschen ein.

Julie seufzte. »Ich weiß nicht, warum mein Onkel unbedingt möchte, dass ich wieder zu ihm komme.« Es war ihr in der Tat ein Rätsel, warum ihr Onkel jedes Jahr aufs Neue darauf bestand, dass sie den Jahreswechsel in seinem Haus verbrachte. Julie kam weder mit ihm noch mit seiner Frau oder seinen Töchtern gut aus. »Vielleicht plagt ihn ja sein schlechtes Gewissen, weil er mich hierhin abgeschoben hat«, grollte sie.

Sofia legte einen Arm um ihre Freundin. Sie selbst hatte sich sehr auf die Ferien mit Julie gefreut und konnte deren Enttäuschung gut nachempfinden. »Ach, Juliette … ich glaube, sie meinen es nur gut.« Sie spürte selbst, wie leer ihre Worte klangen. Als sie den alten Wehrturm erreichten, dessen Grundmauern ihnen als Aussichtspunkt dienten, setzten sie sich auf eine Bank. Einige Enten versuchten, über das dünne Eis ans Wasser zu gelangen, und zwei große Schwäne saßen ruhend unter den tief hängenden, vom Frost weißgepuderten Ästen einer Weide am Ufer.

»Es sind doch nur drei Wochen«, setzte Sofia erneut an.

»Es sind seit acht Jahren immer nur drei Wochen, aber die reichen mir wirklich«, widersprach Julie heftig. Dann kam ihr eine Idee: »Vielleicht … wenn ich krank wäre, könnte ich doch zumindest hierbleiben?«

»Meine Güte, Juliette, du bist jetzt achtzehn Jahre alt, stell dich doch nicht an wie ein Kleinkind! Zum Jahreswechsel gibt dein Onkel doch immer eine große Gesellschaft, hm? Da hast du wenigstens ein bisschen was, worauf du dich freuen kannst. Schöne Kleider, Tanz, Musik, interessante Leute … und zu Ostern kommst du ja wieder mit zu uns.« Sofia ließ sich ihre eigene Traurigkeit über die geplatzten Pläne nicht anmerken. Für Julie war es schwer genug.

Julie grollte immer noch, aber Sofia hatte recht, die alljährliche Feier im Hause des Onkels war bisher immer ein kleiner Höhepunkt gewesen und entschädigte zumindest ein wenig für die restliche Zeit. Nicht zuletzt, weil der Rest der Familie Tage vorher und hinterher von Julie abgelenkt war. Nicht dass sie sich sonst sonderlich um sie gekümmert hätten, aber das lästige, unehrliche Gerede über das »arme Kind« verstummte dann zumindest zeitweise. Da aus der Familie des Onkels niemand außer ihrem Cousin Wim so recht Zugang zu Julie fand oder sich gar darum bemühte, beschränkte man sich darauf, Julie immer und immer wieder zu bedauern, weil sie ihre Eltern und ihr Heim verloren hatte und überhaupt … Dieses geheuchelte Mitleid spendete ihr keinen Trost – kaum war sie wieder im Internat, vergaß diese Familie sie erneut für ein Jahr.

»Amsterdam ist doch eine wundervolle Stadt! Dort gibt es tolle Einkaufsstraßen, und du wirst wieder viele neue Leute kennenlernen. Das ist doch aufregend!« Sofia machte einen erneuten Ansatz, die Freundin aufzumuntern, aber allmählich gingen ihr die Argumente aus. Julie machte indes immer noch ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. »Und dein Cousin ist doch auch noch da … dieser Wim.«

Ja, Wim. Ein kleiner Lichtblick, das musste Julie sich eingestehen. Ihr Cousin Wim, Wilhelms Sohn, war der Einzige aus dieser Familie, den sie mochte. Als Julie damals, nach über einem Jahr im Internat, das erste Mal nach Amsterdam gerufen worden war, war er noch ein kleiner, ziemlich frecher Bengel gewesen, aber jetzt war er zu einem jungen Mann gereift. Als Kind hatte sie sich gesträubt, sich dem zwei Jahre jüngeren Wim anzuschließen, auch wenn sie dankbar beobachtet hatte, dass der Junge seinen großen Schwestern und seiner Mutter offensichtlich ebenso wenig abgewinnen konnte wie sie selbst. Mit ihm hatte sie sich eigentlich immer gut verstanden, außerdem brachte er etwas Abwechslung in den ansonsten langweiligen Alltag im Hause ihres Onkels.

Unwillkürlich musste sie lächeln. Im Geiste sah sie jetzt seinen blonden Schopf und seine verschmitzten Augen vor sich, als er ihr damals, sie mochte zwölf Jahre alt gewesen sein, vorgeschlagen hatte, ein Stück vom frisch gebackenen Kuchen aus der Küche zu stibitzen. Julie hatte sich geziert, sie wollte nicht unangenehm auffallen im Haus ihres Onkels und schon gar nicht durch einen Diebstahl. Dann war sie der süßen Verlockung und Wims Drängen aber doch erlegen – es war ein prickelndes, aufregendes Gefühl gewesen. Und erwischt worden waren sie auch nicht – wie von Wim vorausgesagt.

Die Zeit bis zu den Ferien verrann viel zu schnell.

»Juliette? Nun komm, ich glaube, die Kutschen sind schon da.«

Sofia stand abreisefertig in der Tür.

Julie lag lesend auf ihrem Bett, bereits in Reisegarderobe, aber keineswegs sonderlich zur Eile gewillt. Müßig klappte sie unter Sofias drängendem Blick das Buch zu und legte es auf das kleine Nachttischchen. Seufzend stand sie von ihrem Bett auf, strich zuerst die Decke glatt und dann ihr schlichtes braunes Kleid, um sich anschließend prüfend im Spiegel zu betrachten.

Bei ihrer Ankunft in Elburg hatte ihr ein kleines Mädchen aus diesem Spiegel entgegengeblickt, jetzt betrachtete Julie die Silhouette einer jungen Frau. Julie war zwar nicht so hochgewachsen wie Sofia, zeigte dafür aber an den richtigen Stellen etwas mehr weiche Kurven als ihre schlaksige Zimmergenossin.

Die anderen Mädchen befanden Julie immer für hübsch, mit ihrem goldblonden Haar, ihren fein geschnittenen Gesichtszügen und der kleinen, etwas zu spitzen Nase. »Du siehst aus wie eine echte Aristokratin«, witzelte Sofia gerne.

»Ja, ja, und eines Tages kommt ein Prinz auf seinem Pferd und rettet mich«, sagte Julie dann stets, während sich eine steile Falte zwischen ihren eisblauen Augen bildete, wie immer, wenn sie ungehalten war. Auch jetzt zeigte sich dieser unverkennbare Ausdruck in ihrem Gesicht, als sie seufzend das Hütchen auf ihrem Haar zurechtrückte.

Sofia hatte in den vergangenen Tagen immer und immer wieder versucht, Julie die Vorzüge von Amsterdam schmackhaft zu machen. Allerdings nur mit geringem Erfolg. Der Schatten von Julies Onkel schwebte über Amsterdam, und das machte Julie eher Angst, als dass sie sich auf diese Reise freuen konnte. Er war ein Fremder, er war in Julies Leben gepoltert und hatte sie damals aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen. Manchmal war sie furchtbar wütend auf ihn. Und er war wohl mehr an ihrem Erbe als an ihr interessiert, da war Julie sich inzwischen ziemlich sicher. Sie machte sich nicht viel aus Geld und hatte damals nicht verstehen können, wie es sich mit dem Erbe ihrer Eltern verhielt. Sie schien aber versorgt, Frau Koning hatte ihr gegenüber angedeutet, sie brauche sich in finanzieller Hinsicht keine Sorgen zu machen. Aber jedes Mal, wenn sie nach Amsterdam musste, war sie auf der Hut. Sie fürchtete, ihr Onkel könnte ihr wieder etwas wegnehmen oder sie gar irgendwohin schicken, wo sie nicht hinwollte. Die Erinnerungen an den lieblosen Abschied vor acht Jahren und der Schmerz saßen noch tief. Ihre Eltern, die hatte ihr das Schicksal genommen. Ihrer Heimat aber, ihrem Elternhaus, allen ihr Vertrauten hatte er sie entrissen. In Julies Herz hatte sich eine unauslöschbare Kälte gegenüber diesem Mann gebildet. Er mochte sie nicht, und er wollte sie nicht. Das hatte sich im Laufe der Jahre nie geändert.

Sofia, die jetzt bemerkte, dass Julie in Grübelei verfiel, legte tröstend, aber mit resolutem Nachdruck den Arm um Julies Schultern. »Nun komm. Wir schauen mal, ob die Wagen schon da sind.« Sofia schob ihre Freundin zur Tür.

Als Sofia durch das Fenster im Korridor die Kutsche ihrer Eltern erspähte, rannte sie mit gerafftem Rock, so schnell wie es sich gerade noch geziemte, davon. Julie freute sich kurz für ihre Freundin. Sofias Eltern waren wirklich herzensgute Menschen.

Als Julie kurz darauf vor das große Portal des Internats trat, zog sie ihren Umhang fester um sich. Es war der 20. Dezember, früh am Morgen und bitterkalt. Vor dem Haus herrschte rege Betriebsamkeit. Sofias Mutter kam gleich mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. »Juliette, wie schön, dich wiederzusehen, wie geht es dir?«

»Danke, gut, Mevrouw de Week«, sagte Julie freundlich, auch wenn ihre Worte nicht ganz der Wahrheit entsprachen. Als sie sich jetzt auf dem Vorplatz der Schule umschaute, sah sie auch die Kutsche ihres Onkels. In großen, verschnörkelten goldenen Lettern stand »WV« für Wilhelm Vandenberg auf der Tür. Der Kutscher zog ein mürrisches Gesicht, er hatte schließlich eine ganze Weile auf Julie warten müssen. Julies Mitleid allerdings beschränkte sich auf die Pferde, die so lange in der Kälte hatten stehen müssen. Sie verdrängte den Anflug von schlechtem Gewissen, winkte ihrer Freundin noch einmal wehmütig zu und straffte sich schließlich, um ihren Pflichtbesuch anzutreten.

Kapitel 2

Wilhelm Vandenberg stand am Fenster seines Arbeitszimmers und schaute gedankenverloren auf das Amsterdamer Handelsviertel, das sich direkt vor seinem Hause erstreckte.

Margret, seine Frau, hatte sich damals geziert, sich hier niederzulassen, aber Wilhelm war die Nähe zu seinem Kontor wichtig gewesen. Das große Grundstück und die Baupläne des durchaus standesgemäßen Hauses hatten Margret schließlich beschwichtigt. Später hatten sich mehrere Kaufleute in der Nachbarschaft angesiedelt, und nun war dies eine der besten Adressen der Stadt. Was Margret inzwischen stets mit einem »Ich war ja immer dafür, hierher zu ziehen« kommentierte.

Wilhelm seufzte. Margret. Einst war sie zumindest noch recht ansehnlich gewesen, aber heute … Sie war klein und drahtig, trug die grauen Haare streng aufgesteckt und wirkte in ihren biederen Kleidern mit den steifen Kragen älter, als sie mit ihren sechsundfünfzig Jahren tatsächlich war. Ihr selbst schien die Rolle der alternden Familienmatrone zu gefallen. Mit harter Hand führte sie ihren Haushalt und das Personal und ließ kaum eine Gelegenheit aus, ihren Mann oder ihre Kinder herumzukommandieren. Wobei sie mit den beiden fast erwachsenen Töchtern, Martha und Dorothea, etwas milder umsprang als mit ihrem Sohn Wim. Wilhelm Vandenberg fürchtete sich ehrlich gesagt ein wenig vor seiner Frau. Oder besser gesagt, vor ihrem aufbrausenden Wesen und den impulsiven Ausfällen bei Widerspruch oder ihren Ohnmachtsanfällen bei Streitigkeiten. Sie ließ ihn zudem immer wieder ungeniert und auch im Beisein der Kinder wissen, dass ihr sein Lebenswandel missfiel. Manchmal wünschte er sich den Mut, ihr ins Gesicht zu sagen, dass es ihre herrische Art war, die ihn so häufig aus dem Haus trieb. Bei gutem Essen und reichlich Wein konnte er sein ungemütliches Weib vergessen.

Wilhelm fuhr sich durch das ergraute und deutlich lichte Haar und schleppte seinen massigen Körper wieder an seinen Platz hinter dem Schreibtisch. Nachdenklich strich er über die dunkle Edelholzplatte des Möbelstücks. Die Geschäfte liefen nicht mehr so gut, die Konkurrenz war vor allem in den letzten beiden Jahren enorm gestiegen. Wilhelm Vandenberg hatte lange das Monopol auf einigen Importwaren, insbesondere Zucker aus den Kolonien, halten können, doch seit einigen Jahren drängten immer wieder findige und günstigere Anbieter auf den Markt und machten ihm das Leben schwer. Vor allem der Rübenzucker ließ die Preise drastisch fallen. Die Gewinne waren verschwindend gering, und die wirtschaftliche Lage stand den hohen Ansprüchen seiner Familie entgegen. Margret dachte nicht im Traum daran, den Lebensstandard zu verändern. Und in den kommenden Jahren hatte er auch noch seine Töchter zu verheiraten, was ebenfalls ein großes Loch in die Kasse reißen würde. Wenn sich für die beiden überhaupt passende Männer fanden. Er schätzte, dass er in dieser Angelegenheit mit seinem Vermögen nachhelfen musste. Noch gab er die Hoffnung jedoch nicht auf, dass die beiden standesgemäße Männer fanden, die sie nach der Heirat versorgten. Bis dahin zumindest musste er die Geschäfte am Laufen halten. Nicht zuletzt auch für seinen einzigen Sohn, der das Unternehmen schließlich übernehmen sollte, auch wenn der Junge zurzeit andere Pläne hegte, was Wilhelm zusätzlich verärgerte. Aber Wim würde schon zur Vernunft kommen.

Und einen kleinen Trumpf hatte er ja noch in der Hinterhand. Juliette. Zähneknirschend hatte er damals die Vormundschaft für seine Nichte übernommen, obwohl sein verstorbener Bruder ihn in keiner Weise testamentarisch bedacht hatte. Verwalten und versorgen? Ja, das durfte er. Aber verfügen? Nein!

»Der feine Herr Bruder!« Wilhelm spürte die Wut in sich aufwallen, eine Wut, die ihn immer wieder überkam, auch wenn sein Bruder nun schon acht Jahre tot war.

Anfangs hatten sie das Geschäft gemeinsam geführt. Sie hätten ein kleines Imperium aufbauen können, wenn Jan Vandenberg nicht so ein Feigling gewesen wäre und immer brav alles ganz rechtens hätte machen wollen. Das Geschäftsleben war nun einmal hart, und manchmal musste man einfach ein bisschen tricksen, das hatte Wilhelm früh verstanden. Im Gegensatz zu Jan. Darüber hatten sich die Brüder dann schließlich zerstritten. Der jüngere Jan war seine eigenen Wege gegangen und dabei, zu Wilhelms großem Ärger, nicht minder erfolgreich gewesen. Zum Zeitpunkt seines Todes hatte das Vandenberg’sche Unternehmen in Rotterdam floriert, während Wilhelms Geschäfte in Amsterdam bereits stagnierten.

Juliette war auf jeden Fall ein kleines Pfand. Ihr Vater hatte ihr sein gesamtes Vermögen vermacht. Auch wenn Juliette es erst mit einundzwanzig Jahren erhalten würde, hegte Wilhelm immer noch die Hoffnung, sich in dieser Angelegenheit irgendwie ins Spiel bringen zu können. Vielleicht gelang es ihm, eine passende Ehe zu arrangieren, am besten mit einem Mann, der Juliettes Vermögen ohne zu zögern in das »sichere Geschäft« ihres Onkels investierte. Bei einer Eheschließung vor der Volljährigkeit des Mädchens würde ihr Vermögen ihrem Gatten zufallen. Wilhelm hatte wieder und wieder über diesem Plan gebrütet und sah keinen Grund, ihn nicht in die Tat umzusetzen. Einziges Problem war Juliette selbst, sie würde sich mit Sicherheit dagegen sträuben. Sorge bereitete ihm in diesem Zusammenhang auch Juliettes Beurteilung durch die neue Internatsleitung. Diese hob nicht nur Juliettes schulische Fähigkeiten hervor – das Mädchen war gut in Niederländisch, Deutsch, Französisch, Englisch, Rechnen und Geschichte –, sondern auch ihre Eigenschaften: Ihre Sanftmut und ihr tugendhaftes Verhalten empfehlen sich für eine spätere Ausbildung als Lehrkraft, so stand es im Bericht geschrieben. Wilhelm schlug bei dem Gedanken erbost mit der Faust auf den Tisch. Hoffentlich hatte man dem Mädchen noch keine Flausen in den Kopf gesetzt. Diese modernen Ansichten – Frauen, die gar arbeiteten! Wilhelm wollte Juliette als tugendhafte Ehefrau sehen und nicht als Frau, die aufgrund ihrer Berufung auf die Ehe verzichtete. Als solche würde sie ihm nicht viel nützen. Die alte Direktorin war ihm in dieser Hinsicht durchaus lieber gewesen, auch wenn sie ansonsten doch erschreckend streng gewirkt hatte, das musste Wilhelm sich eingestehen. Fast wie Margret, dachte er unwillkürlich.

Margret und Juliette – die beiden hatten aus irgendeinem Grund nie zusammengefunden. Vor acht Jahren hatte sich Margret vehement dagegen ausgesprochen, das Kind in ihrem Haus aufzunehmen. Mitleid hin oder her, sie hatte selbst drei Kinder, und die waren ihr mehr als genug. Wilhelm hatte es fast nicht anders erwartet. Eilig hatten sie sich bei Bekannten nach einer geeigneten Unterbringung erkundigt. Viele Söhne und Töchter besuchten Internate, und man hatte ihnen das Mädcheninternat in Elburg nahegelegt. Es sei eine gute Institution unter fachkundiger Führung, so war zu hören. Und es war, wie sie damals positiv bemerkt hatten, mit einem eher geringen Schulgeld zu finanzieren – im Gegensatz zu den gehobenen Internaten in Rotterdam oder Amsterdam. So war die Entscheidung schnell auf diese Schule in der kleinen Stadt am Veluwemeer gefallen. Welch idealer Ort für dieses Kind! Und offensichtlich eine gute Wahl. Nie waren Klagen gekommen, stattdessen hatte es alljährlich einen positiven Bericht über Juliettes gutes Betragen gegeben.

Mehr wollten sie sich Juliettes auch nicht annehmen. Wilhelm war seine Nichte relativ egal, sie störte ihn nicht besonders und war ihm mit ihrer ruhigen Art eher angenehm. Margret jedoch mochte Juliette aus irgendeinem Grund nicht. Kurz musste Wilhelm schmunzeln. Vielleicht war Margret ja eifersüchtig, weil Juliette sich mit den Jahren zu einem hübschen Ding gemausert hatte. Insgeheim fand er das Mädchen viel attraktiver als seine eigenen Töchter.

Margret hatte ihm immer wieder zu verstehen gegeben, wie erpicht sie darauf war, die Verantwortung für dieses Mädchen sobald als möglich abzugeben, auch wenn sie im Grunde ja nicht viel Last mit ihrer Nichte hatte.

Gerade neulich hatte Margret wieder darauf hingewiesen, dass Juliettes Zeit im Internat bald vorbei sein würde. Dann müsse man sie verheiraten – oder in einer Diakonissenanstalt einkaufen …

»Du willst sie ins Kloster schicken?«, hatte Wilhelm seine Frau ungläubig gefragt.

»Wir können sie ja schlecht zu uns ins Haus holen«, hatte Margret ihn empört angefahren, wieder einer Ohnmacht nahe.

Wilhelm seufzte. Eine Diakonissenanstalt war teuer … das halbe Erbe würde dabei draufgehen. Ganz abgesehen davon, dass man Juliette nicht zwingen konnte, der Welt zu entsagen. Nein, das weitaus Beste wäre, einen passenden Ehekandidaten für sie zu finden. Möglichst rasch.

Wilhelm goss sich einen Whisky aus der gläsernen Karaffe ein, die auf seinem Schreibtisch stand. Eigentlich für Gäste, aber jetzt brauchte er selbst eine kleine Stärkung. Ihm stand ein recht unangenehmes Geschäftsgespräch bevor. Einer seiner Zulieferer hatte sich angekündigt, Karl Leevken aus Übersee. Angeblich hatte der Mann den weiten Weg nach Amsterdam auf sich genommen, um mit Wilhelm persönlich zu sprechen. Wilhelm dünkte nichts Gutes. In den letzten Jahren war er dazu übergegangen, die Zahlungen an seine Lieferanten zu seinen Gunsten zu kürzen. Er wähnte sich dabei in Sicherheit, schließlich befanden sich diese Leute in weiter Ferne, und selbst Briefe brauchten oft Wochen, rechtliche Forderungen sogar Monate. Außerdem lag auch die Plantagenwirtschaft zurzeit weitgehend am Boden, viele seiner Zulieferer waren sicher froh, überhaupt Geld zu erhalten. Wenn Leevken die ausstehenden Zahlungen jetzt einforderte … wer weiß, wie viele andere seinem Beispiel folgen würden.

Aber noch war nichts verloren, und es galt, Schlimmeres zu verhindern. Wilhelm rekapitulierte noch einmal, was er von Leevken wusste: Der Mann war Besitzer einer Zuckerrohrplantage in Surinam – einer seiner größten Produzenten, und zweifellos derjenige, den Wilhelm unterm Strich um die höchste Summe betrogen hatte.

Surinam, wo lag das noch gleich? Irgendwo im Regenwald von Südamerika. Wilhelm hoffte, dass Leevken ein eher bäuerlich anmutender Charakter war, irgendein Nachfahre eines abenteuerlustigen Kolonisten, der vor vielen Jahrzehnten sein Glück in der Ferne gesucht hatte. Inzwischen unterhielten zwar viele Kaufleute aus den Niederlanden selbst Plantagen in Übersee, die sie vor Ort allerdings von einheimischen Direktoren verwalten ließen. Denn leben, leben mochte man dort nicht. Zu heiß, zu feucht, zu weit entfernt von der Zivilisation …

Immerhin verstand Leevken, sich auszudrücken: Bezüglich der ausstehenden Zahlungen werde ich Sie im Dezember dieses Jahres persönlich aufsuchen, hatte er per Brief verlauten lassen. Es schien auf der Plantage zumindest einen halbwegs gebildeten Sekretär zu geben, immerhin. Selbst Wilhelms Anwalt hatte zur Ruhe gemahnt, man würde diesen Plantagenmenschen sicherlich mit kleineren Ausgleichszahlungen erst einmal ruhigstellen können.

Als Karl Leevken wenig später das Arbeitszimmer von Wilhelm Vandenberg betrat, verschlug es dem Unternehmer zunächst die Sprache. Vor ihm stand kein bäuerlicher Plantagenbesitzer, sondern ein akkurat und in feinsten Stoff gekleideter Mann. Wie ein dunkler Schatten folgte ihm ein hünenhafter schwarzer Bursche, der seinem Herrn Hut und Mantel abnahm, um sich dann gleich gehorsam und unauffällig neben der Tür zu platzieren, während Leevken auf Wilhelm zuschritt. Wilhelm musterte einen Moment verwirrt den schwarzen Diener, der zwar europäische Kleidung, aber keine Schuhe trug. Dann besann er sich auf seinen Gast. Er durfte jetzt keine Irritation zeigen, schließlich wollte er vor Leevken einen gestandenen Eindruck machen.

Aber schon bei der Begrüßung schlug ihm von Leevken eine Welle von Selbstbewusstsein entgegen, die Wilhelm endgültig die Ruhe raubte. Leevkens Tonfall ließ keine Zweifel aufkommen, dass dieser Mann es gewohnt war zu befehlen.

»Mijnheer Vandenberg, wie nett, Sie kennenzulernen. Setzen wir uns doch.«