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Adán lebt in einer Welt der Bücher, als er Aliénor das erste Mal erblickt. Was als flüchtiger Austausch beginnt und nicht von langer Dauer zu sein scheint, führt sie durch eine Kette von Zufällen und Entscheidungen zueinander. Aus der Magie eines Konzertes entfaltet sich eine Zuneigung, die den beiden neue Welten offenbart und sie auf einen gemeinsamen Weg lenkt. Eine Beziehung scheint greifbar, doch eine schier unüberwindliche Mauer hält Aliénor zurück. Adán versucht zu ergründen, welche Bürde sie trägt, die ihrer Liebe im Weg steht. Immer getrieben von dem Wunsch, gemeinsames Glück zu finden, während er darum kämpft, nicht zu zerbrechen.
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Seitenzahl: 305
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Widmung
Präludium
Prolog
Magisches Meer
Melodien in Momenten der Ewigkeit
Metamorphose
Scherbenweg
Unumkehrbarkeit
Epilog
Seelenmelodie
Autor
Start of Content
Cover
Table of Contents
© 2023 Florian Bottke1. AuflageLektorat: Anna Lisa FranzkeKorrektorat: Charlotte KliemannVerlagslabel: AkiverseISBN Softcover: 978-3-347-93938-7ISBN Hardcover: 978-3-347-93939-4ISBN E-Book: 978-3-347-93940-0Druck und Distribution im Auftrag des Autors:tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, GermanyDas Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung Impressumservice, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Für die Farbe Grün, die Zahl Fünfzehn, das Wohlwollen und Verständnis und die Seele, ohne die all das bedeutungslos wäre.
Vergänglichkeit zeichnet uns aus. Doch schöpfen wir aus ihr das, was uns vorankommen lässt. Und so sehen wir in manchen Menschen plötzlich ein Stück der Ewigkeit.
Wenn Sterne tanzen, ihre Glut sich erhebt. Wenn der Wind heult, der Berg schwankt. Wenn des Inneren kleine Stimme geht. Wenn die Welle dich an die Klippen schlägt. Wenn die Lilie im Morgenlicht bricht. Wenn das Sein sich in Agonie wandelt. Wenn das Meer stillsteht und nichts mehr schwankt.
Dann kommt mein Lied und wird dich berühren. Du wirst dich erinnern an mich. Die Sonne wird lächeln. Es wird Frieden sein, die Erde sich still zurückziehen und der Himmel sich öffnen.
Ich hatte das Leben verstanden. Oder das, was es bedeuten sollte. Alles war so klar. Im Laufe meines Lebens führte ich Beziehungen, ging jeden Tag zur Arbeit, kam wieder nach Hause.
Da war diese Gewissheit, wie sich Beziehungen anfühlten, was Nähe bedeutete und was das Leben ausmachte. Mehr war nicht zu erwarten.
Wo doch die menschliche Erfahrung begrenzt ist, auf das, was wir fühlen. Auf das, was wir gefühlt haben. Und nach vielen Jahren feststellen, dass da nicht mehr ist. Wir so Moment um Moment verleben und am Ende nicht mehr sind.
Doch was wenn? Wenn es nicht so sein muss, sondern da mehr ist? Absurd.
Es war Zufriedenheit, die ich empfand. Angekommen an einem Punkt im Leben, an dem ich dachte, dass alles so ist, wie es sein sollte. Doch ich lag falsch. Und ich war nicht der Einzige.
Wir würden uns verändern, über die Grenzen hinauswachsen, die uns auferlegt wurden, und zu etwas Neuem werden.
»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, las ich den Anfang der Nachricht. Nicht wissend, wie ich damit umgehen würde. Umgehen sollte.
Es war ein wenig kalt draußen. Nicht besonders kalt, aber es war zu bemerken, dass der Herbst einsetzte. Der Blick aus dem Fenster zeigte die Landschaft, die an mir vorbeiglitt.
Etwa anderthalb Stunden sollte es noch dauern, bis ich ankam. Das behauptete zumindest meine Uhr. Nur langsam schritt die Zeit auf ihr fort. Zugfahrten waren immer seltsam. Ich hatte noch Zeit und konnte etwas tun. Ein Buch lesen oder ein paar Zeilen niederschreiben. Stattdessen sah ich aus dem Fenster.
Die letzten Wochen und Monate waren ereignisreich gewesen. Ich blickte vom Fenster weg und betrachtete meine Hand. Ein weißer Streifen war dort zu sehen, wo ich vorher meinen Ehering getragen hatte. Es war eine Trennung in Verständigung.
Wir hatten uns wohl auseinandergelebt, wie es so gerne gesagt wird. Über viele Jahre waren wir glücklich, und es war schön gewesen. Nur leider hatte es nicht für ein ganzes Leben gereicht. Und so verließen wir einander und lebten weiter.
Eine Durchsage ertönte. Der Zug wurde langsamer und blieb schließlich stehen. Ich blickte zu den Türen des Zuges und sah Menschen aus- und einsteigen.
Der Zug fuhr wieder los. Ich wandte mich abermals zum Fenster und starrte in die Landschaft.
Endlich war ich wieder zu Hause. Mit dem Zug zu reisen, war immer eine etwas beschwerliche Angelegenheit.
Es war die Reise an sich, die Frage, ob ein Sitz erhascht werden konnte, und ob es im Zug erträglich war. Alles in allem war mir das Fahren mit der Bahn zuwider. Zu viele Unannehmlichkeiten. Zu wenig Freude.
Die Tür schloss sich, und ich sah mich um. Das Haus war leer. Es fühlte sich seltsam an. Die Dämmerung war mittlerweile in die Dunkelheit übergegangen, und dadurch wirkten die Räumlichkeiten noch etwas kälter.
Dann dieses Gefühl. Der Versuch, die Träne zurückzuhalten. Doch sie rann bereits durch mein Gesicht. Ich wischte sie beiseite und betrat das Wohnzimmer. Es wurde in ein schummeriges Licht getaucht. Mein Blick fiel auf das Klavier.
Einige Schritte später stand ich davor und strich über das Holz. Es war mehr als das. Es war ein Versprechen, eine Tiefe, gehüllt in Holz, schwarzen Lack, Tasten und Mechanik. Ich setzte mich vor das Klavier, schob den Klavierdeckel zurück, drückte das rechte Pedal und schloss die Augen.
Dann erklang der erste Ton mit der rechten Hand, ein tiefer Akkord mit der linken Hand. Stück für Stück entstand aus einzelnen Tönen Kunst in der Zeit. Musik, die mich ausdrückte und definierte, wer ich war und was ich empfand.
Wenn es den Moment gab, in dem ich selbst nicht wusste, wie ich mich fühlte, so zeigte es mir die Melodie, die ich spielte. Ich hörte, wie aus meinen Gefühlen und Emotionen Musik wurde und sich Note für Note herauskristallisierte, was ich empfand.
Einige Minuten widmete ich mich dem Klavier, und als die letzte Note verklang, schloss ich den Deckel wieder und stand auf. Ich sah auf die Uhr und beschloss, dass es Zeit war, ins Bett zu gehen.
Es dauerte einen Moment, bis sich die Decke um mich schmiegte, ruhige Musik lief und meine Gedanken sich in der Dunkelheit verloren.
Die morgendlichen Sonnenstrahlen entführten mich in eine Halbwelt. Jene, die ich betrat, wenn ich wusste, dass ich schlief, aber bereits wach wurde. Mit dem ersten Klang meines Weckers versuchte ich noch, einen Blick auf den Traum zu erhaschen.
Es war dieses Gefühl, nicht wirklich geträumt, sondern einen Ausschnitt einer Realität betrachtet zu haben, und der Versuch, wieder in diese zurückzukehren.
Aber wie jedes Mal löste sich dieser Traum, diese Realität wieder auf und mit ihr all die Gefühle, die sie enthielten. Sie gaben den Moment frei, in dem alles in Ordnung gewesen war.
In dem wir noch nicht realisiert hatten, wer wir waren und welche Probleme uns belasteten. Einfach der Augenblick, in dem wir Menschen ohne Sorgen waren. Diese kostbaren Sekunden, in denen wir mit der Welt im Reinen waren. Oder vielleicht vielmehr die Welt um uns herum nicht existierte.
Es nur das gab, was wir unmittelbar spürten. Die warme Decke und das Kissen unter unserem Kopf. Ich sah die weiße Zimmerdecke, an der die Schatten und das Licht an diesem Morgen ein Stück aufführten.
Was die Schatten wohl darstellten? Die umhergeworfenen Bäume, die sich im Wind wiegten und ihre Blätter diesem überließen. An diesem Morgen, der dem Namen Herbst alle Ehre machte.
Als sich das Gebäude langsam in Sichtweite erhob, war ich überrascht über die Verwandlung, die in mir vorgegangen war – wie aus meinem Ich, das eben noch verträumt im Bett gelegen hatte, ein Mensch geworden war, der nun eine soziale Funktion erfüllte und ein Bild von sich nach außen gab, das mit der Gesellschaft konform war.
Mich trieb der Gedanke, wie traurig es war, dass wir niemals erfahren würden, wie ein anderer Mensch wirklich war und sein konnte. Doch so flüchtig, wie dieser Gedanke da war, so schnell verschwand er wieder, als ich durch das Portal des Gebäudes trat.
Eigentlich sollte jeder vor diesem innehalten und das Gebäude betrachten. Es fühlte sich in Teilen an, als wäre es einem griechischen Tempel entsprungen. Vermengt mit moderner Architektur, ohne das Bild des Altertums zu verraten, präsentierte sich ein schnörkelloser Bau, der Funktion über Form stellte. Er gab dem, was sich in ihm befand, einen würdigen Rahmen.
Die Bibliothek oder, wie meine Chefin Frau Gottwald gerne zu sagen pflegte, das Büchermuseum. Es war um diese Zeit noch nicht sonderlich gut besucht. Aber das würde sich im Laufe des Tages ändern.
Nachdem ich einige Schritte durch die Haupthalle gelaufen war, stand ich vor einer Tür. Ich verharrte, griff in meine linke Tasche und zog eine Karte heraus. Diese zog ich durch das Lesegerät, das an der Tür angebracht war, und gab meinen Sicherheitscode ein. Ein Piepen ertönte, und die Tür öffnete sich.
Die Erinnerung, wie ich an meinem ersten Tag durch diese Tür getreten war, kam auf, und ich wusste, welche Freude mich durchfahren hatte, als ich die Bücher hinter ihr sah. Es war ein angenehmes Gefühl gewesen, und gelegentlich überkam es mich wieder, wenn ich eintrat und das gesammelte Wissen dieser Institution sah.
An meinem Arbeitsplatz angekommen, tat ich das, weswegen ich hier war. Bewahren. Bücher, mit denen es die Zeit nicht so gut gemeint hatte, Stück für Stück zu heilen und ihr Leben zu verlängern.
Am Ende war der Verfall unvermeidlich. Eines Tages würden auch diese Bücher nicht mehr sein als Erinnerungen. Die Originale, geschrieben vor Dekaden oder Jahrhunderten, würden zerfallen und im Staub der Ewigkeit verschwinden.
Aber nicht heute. Heute waren wir ein Bollwerk gegen das Vergessen und würden diesem Buch etwas Zeit schenken. Es war nur ein fairer Tausch. Ich tauschte etwas meiner Lebenszeit gegen Zeit, welche dieses Buch in die Zukunft tragen würde.
Ich mochte diesen Beruf, diesen Ort, es war ein Ort, an dem die Zeit verflog und der mir das Gefühl oder eher die Gewissheit gab, Erfüllung zu bieten. In einer Welt, die immer näher rückt, lauter wird, in der Geschwindigkeit nur eine Richtung kennt, in dieser Welt genoss ich diese Insel der Ruhe.
Vorsichtig entfernte ich mich von dem Buch, eine seltene Handschrift eines Präzeptors. Es war wohl der Kreislauf des Lebens, wir kamen in diese Welt, lernten, wie sie funktioniert, lebten auf ihr, und eines Tages verließen wir sie wieder. Dann waren dort die Menschen, die uns hierbei ihre Hilfe anboten, mit Rat und Tat beiseitestanden und uns für einen Augenblick mit Licht beschenkten.
Vielleicht versuchte ich manchmal zu viel in die Profanität des Lebens hineinzuinterpretieren. Am Ende war wohl alles sinnlos. Wir zerfielen und in Zukunft das Universum mit uns, starb den Kältetod und ließ Begriffe wie Zeit bedeutungslos werden.
Aber gerade deswegen war es wichtig, dass wir hier waren. Immerhin waren wir das, was zählte in dieser Welt, die aus unserer Perspektive erzählt wurde, und wir nur diese kannten. Und doch das Geschenk erhalten hatten, die Welt aus der Perspektive der anderen zu sehen.
Meine Uhr vibrierte und verriet mir, dass ich die Zeit aus den Augen verloren hatte. Auch mein Körper teilte mir unmissverständlich mit, dass es Zeit war, etwas zu essen, und so beschloss ich, ihm zu folgen. Gleichzeitig amüsierte mich der Gedanke, dass mein Körper und mein Bewusstsein zwei unterschiedliche Entitäten wären.
Als ich den gesicherten Bereich verließ, wurde die Umgebung wieder lauter. Es waren mehr Menschen in der Bibliothek als noch vor ein paar Stunden. Einige liefen durch die Gänge zwischen den Regalen, andere saßen an den Tischen unter dem Licht der Leselampen und lasen. Ich hörte das Geräusch von Papier und dem Umblättern. Zusammengenommen ergaben sie einen Eindruck von Gemeinschaft und doch nicht miteinander verbundener Lebenslinien, einer Menge sich sonst unbekannter Menschen.
Plötzlich hielt ich inne. An einem der Tische saß eine Frau. Sie hatte langes Haar, dessen walnussbraune Farbe im Licht der Sonne schimmerte. Ich wusste nicht, warum, aber es gab ihr ein Antlitz, welches ich mir nicht erklären konnte. Es fühlte sich an, als ob ich in ein Rätsel blickte, das ich in diesem Moment nicht lösen konnte.
Aber dieser Gedanke wurde dadurch verdrängt, dass mein Körper mir zu verstehen gab, dass er in den Genuss von etwas Essbarem kommen wollte. So sah ich in Richtung des Ausganges, einem Mittagessen entgegen. Die Sonne legte sich auf meine Haut und zauberte mir trotz des Herbstes ein warmes Gefühl.
Gewohnheiten waren schnell geschaffen und nur schwer wieder abgelegt. So war es wohl auch mit dem alltäglichen Leben und dem Wissen darum, dass jeder Tag wie der andere war.
Mittlerweile waren einige Wochen vergangen, seit ich sie das erste Mal gesehen hatte. Es fühlte sich wie ein erster Stein an, der Ereignisse in meinen Gedanken in Gang gesetzt hatte. Ohne dass dies beabsichtigt war.
Aber wenn eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt worden war, dann war die Ursache geschaffen, und auf eine solche folgte eine Wirkung. Die Gesetze des Universums verlangten es in dieser Form.
Langsam erwachte ich wieder aus meinen Gedanken. Ich saß in der Bibliothek und wartete darauf, dass der Kleber trocknete. Ich nahm den Tupfer, weichte ihn in der Lösung ein und zog diese über das alte Papier. Der Schleier der Jahrhunderte lüftete sich, die Farbe des Papiers hellte auf. Der Tupfer wurde dunkel und nahm die Verunreinigung der Zeit mit sich.
Mein Handy vibrierte. Ich unterbrach meine Arbeit und griff danach. Eine E-Mail. Ein Blick, dann legte ich das Handy wieder beiseite. Für einen Moment schweiften meine Gedanken zum Nachmittag. Aber dann folgte der Gedanke, dass es am Ende der Woche nicht mehr weiter von Belang war.
Stattdessen würde sich ein Schleier über die Vergangenheit legen, die Zeit wäre vergangen und verloren. Es war der alltägliche Trott, dem ich folgte. Weil wir es alle taten.
Eine Stimme riss mich aus meinen Gedanken. »Hast du das Paper gelesen?«
Ich schreckte hoch. Vor mir stand Valentin. Ich wusste nicht, wie lange er schon hier arbeitete, aber ich war mir sehr sicher, dass er keine Personalnummer hatte, sondern wohl eher eine Inventarnummer. Wahrscheinlich zweistellig.
»Welches Paper?«, fragte ich.
»Na, das über die Nassrestauration verklebter Werke.«
Ich überlegte einen Moment und bemerkte, dass ich wohl die letzten Tage zu viel mit dem Werk auf meinem Schreibtisch zugebracht hatte. »Nein. Hatte ich nicht. Ist es gut?«, fragte ich Valentin.
»Es ist interessant. Ich lege dir nachher mal eine Kopie auf den Tisch.«
Ich nickte leicht. »Danke.«
Als ich mich gerade wieder dem Werk widmen wollte, hörte ich eine weitere Stimme. »Wie weit ist das Buch?« Ein Blick nach oben. Christina stand vor mir. Oder wie sie die meisten hier nannten: Frau Gottwald.
»Ein paar Wochen wird es noch dauern«, antwortete ich.
»Das muss schneller gehen, wir haben noch weitere Aufträge.«
»Ich versuche mich ranzuhalten«, erwiderte ich.
Sie ging, und ich überlegte, ob sie es jetzt beschwichtigend zur Kenntnis genommen oder ob sie es missmutig aufgenommen hatte.
Druck und Stress. In den meisten Fällen war es nichts, was mir etwas ausmachte. Es war ein seltsamer Zustand. Ich wurde ruhig, atmete einige Male tief durch. Und dann widmete ich mich wieder der Arbeit. Sorgfältig und etwas schneller als noch vor ein paar Minuten.
Es war ein angenehmer Zustand. Das Gefühl absoluter Konzentration. In der Arbeit aufzugehen und sich Stück für Stück der Lösung zu nähern, das Werk zu vollenden.
Doch manchmal war da dieser Stress, der dem Körper sagte: Bis hierher und nicht weiter. Und dann erklang er. Der Ton, der alles übertönte. Der Schreck, wenn er erklang und auch nach einigen Sekunden nicht nachließ.
Manchmal dachte ich daran, wie es war, bevor der Ton da gewesen war. Es war ruhig. Und in absoluter Ruhe war es zu hören – das Rauschen im Kopf. Nun war es der ewige Ton.
Mit der Zeit wurde er zu einem treuen Begleiter. Wie das Wählgeräusch des Universums. Solang er erklang, war alles in Ordnung. Doch in manchen Situationen wurde er plötzlich lauter.
Es war der Weg des Körpers, zu sagen, dass etwas nicht stimmt. Und es war unangenehm, wenn das Geräusch immer lauter wurde. Gelegentlich kam die Angst hervor. Die Angst vor dem Geräusch, von der Umwelt abgeschnitten zu werden und das Geräusch nicht mehr ertragen zu können.
Die Zeit verstrich, und immer wieder sah ich sie. Wie jeden Tag saß sie an einem der Tische und las ein Buch. Gelegentlich blickte ich hinüber, und dann ging ich wieder meiner Arbeit nach.
Heute war etwas anders. So blieb ich stehen, blickte einen Moment zu ihr hinüber. Sekunden vergingen. Gedanken überschlugen sich. Ich wusste nicht genau, weswegen. Aber ich ging auf sie zu.
Dann stand ich vor ihr. »Hallo«, sagte ich.
Sie sah auf, und ich hatte das Gefühl, dass sie mich das erste Mal wahrnahm. Das erste Mal ein Bild von mir in ihr entstand. Eine Vorstellung, wie der andere wohl sein könnte.
»Hallo«, antwortete sie.
»Bist du öfter hier?«
Sie legte das Buch zur Seite. »Ja. Es sind die Geschichten, die mich anziehen«, sagte sie und lächelte.
»Geschichten?«, fragte ich, und im selben Augenblick kam mir diese Frage ziemlich dumm vor.
»Ja. Es gibt exakt zwei magische Dinge in dieser Welt: Menschen und Geschichten.«
Ich zog den Stuhl, der ihr gegenüberstand, ein Stück zurück und setzte mich.
»Ich mag diesen Gedanken«, antwortete ich.
»Das ist es, was ich aus dieser Welt mitgenommen habe. Während die Welt für Kinder noch magisch wirkt, begreifen sie doch mit wachsendem Alter, dass es sich nur um Atome, Physik, Chemie und Biologie handelt, die sich nach bestimmten Regeln verhalten. Die Welt verliert ihre Magie.«
»Ja«, antwortete ich, und eine Traurigkeit zog sich über meine Stimme. »Aber warum sind Menschen magisch?«
Sie lächelte mich an. Es fühlte sich seltsam an. Als ob sie eine Weisheit besaß, die mir fehlte. Eine Einsicht, die über die meine hinausging. Dann hörte ich wieder ihre Stimme: »Menschen sind magisch, denn wir durchschauen ihre inneren Mechanismen nicht, und Bewusstsein führt uns vor Augen, dass es in ihnen ein magisches Meer gibt.«
Vielleicht lag ich mit der Weisheit, die ich ihr zuschrieb, gar nicht so falsch. »Aber was ist mit den Geschichten?«, fragte ich.
»Geschichten sind wahrscheinlich Magie in ihrer puren Form. Durch das Konstrukt von Kultur erschaffen Menschen diese, übertragen sie durch Sprache oder halten sie mittels der Schrift fest. Mit Geschichten schwingen sie sich zu Göttern auf, denn in ihnen erschaffen sie jedes Mal aufs Neue ein Universum.«
Ich wollte eine Frage stellen, doch noch bevor ich den Mund öffnen konnte, hatte ich das Gefühl, sie zu unterbrechen, und blieb stattdessen stumm. Unterdessen fuhr sie fort:
»Ein Universum, in dem sie die Regeln definieren, ein solches, in dem wir den Ton angeben, und doch ein Universum, das lebendig wirkt oder sogar lebendig ist. In dem die Figuren ein Eigenleben entwickeln und ihrem inneren Kompass folgen. Aus unbelebten Dingen, wie Quarks und wechselwirkenden Feldern, entstehen Menschen, Bewusstsein und am Ende Geschichten. Geschichten, die die Welt erhellen und ihr ein Stück Magie schenken.«
Ich war verdutzt, und ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht, ohne zu wissen, warum genau. »Es sind wundervolle Gedanken. Bist du morgen auch wieder hier?«
Sie blickte auf das Buch, das vor ihr auf dem Tisch lag, und dann zu mir: »Nein, nur noch dieses Buch und dann verlasse ich diesen Ort wieder.«
Ein Schauer überfiel mich. Eine seltsame Mischung aus Angst und Überraschung. Das Gefühl, das Gegenüber eben in diesem Moment kennengelernt und schon wieder verloren zu haben.
»Und wo bist du dann?« Ich befürchtete, dass die Frage zu aufdringlich sein könnte.
Doch sie schien mir die Frage nicht übelzunehmen: »Zu Hause, über die Geschichten nachdenken.«
»Ich verstehe«, erwiderte ich und verstand doch nur wenig. »Es war schön, dich kennenzulernen, ich muss weiterarbeiten.« Es fühlte sich wie ein hilfloser Versuch an, den Schaden zu begrenzen. Was auch immer dies in diesem Kontext bedeuten sollte.
»Das war es.« Sie lächelte und sah mir für einen Moment hinterher, als ich aufstand, bis sie schlussendlich wieder den Blick auf ihr Buch lenkte und weiterlas.
Ich ging zur Tür, und Gedanken bewegten sich in mir. Eingehüllt in unschlüssige Gefühle über Nichtwissen und Ungewissheit.
Die Tage vergingen, und ich dachte immer wieder an das Gespräch. Dabei wusste ich nicht einmal, wie sie hieß. Ich hatte einen Blick in ihren Charakter und ihr Sein erhascht und war unsicher, was ich damit anfangen sollte. Eine Begegnung, die sich im Nichts der Zukunft verlaufen würde.
Ich saß auf der Arbeit, doch statt mich ihr zu widmen, sah ich immer wieder auf die große Uhr, die an der gegenüberliegenden Wand hing. Sie war schön und wirkte einen Tick altmodisch, passend zu diesem Gebäude.
Nur noch wenige Stunden, bis mein Urlaub beginnen würde. So tat ich die letzten Handgriffe an einem Buch, das auf dem Tisch vor mir lag. Christina würde zufrieden sein, und ich konnte beruhigt zwei Wochen Ruhe und Nichtstun genießen.
Es fiel mir schwer zu verstehen, warum es so viele Menschen gab, die ihren Urlaub vollpackten mit Terminen und Stress. Nur um schnell etwas gesehen oder etliche Stunden am Strand gelegen zu haben.
Für mich bestand das Konzept von Urlaub darin, entspannt in den Tag hineinleben zu können, ohne lästige Verpflichtungen einzugehen. Aber wahrscheinlich sah jeder das ein wenig anders.
Der letzte Tag vor einem Urlaub fühlte sich immer seltsam an. Es war, als ob der Auszug aus einer Wohnung geplant wäre und nachgesehen werden müsse, ob nichts vergessen wurde. Allerdings war dies mit dem Wissen gepaart, dass diese Wohnung nicht für immer verlassen wurde. Doch die Zeit dazwischen war dieser Ort, den wir Arbeit nannten, nicht existent. Er verschwand aus unserem Kopf. Oder er war zumindest für eine kleine Weile nicht mehr auffindbar.
Mit diesem Gedanken verließ ich die Arbeit. Kaum hatte ich das Portal der Bibliothek durchschritten, fragte ich mich, was ich wohl mit meiner Zeit anfangen würde. Sicherlich würde ich eine Weile mit dem Klavier verbringen. Vielleicht würde ich auch ein paar lange Spaziergänge unternehmen.
Den Wald genießen, seine Stille, sein Halbdunkel und das versteckte Leben in ihm, welches die Stille nicht absolut werden ließ. Und vielleicht einen Podcast hörend lauschen, was andere Leute über die Welt dachten, und interessante Dinge über diese Welt erfahren.
Es gab da diesen Wald, nicht allzu weit weg von meinem Zuhause. Er war nicht besonders groß, und doch gab es noch viele Wege in ihm zu entdecken.
Es dauerte einige Tage, bis ich endlich im Urlaub angekommen war. Ich hatte die Idee, etwas zu tun, aber die erste Zeit funktionierte das nicht. Als ob der Körper sich erst einmal das nahm, was ihm zustand: Ruhe und Erholung. Und so wurde die Ermattung ein Zustand, der überwunden werden wollte. Das geschah, indem ich im Bett herumlag oder am Schreibtisch saß und die Zeit an mir vorbeiziehen ließ.
Wobei nichts tun ein weitläufiges Feld war. Beginnend beim Schauen von Serien, über das Spiel am Klavier bis hin zum Lesen. Wobei es hier nur der fromme Wunsch war, etwas zu lesen. Meist blieb es bei dem Gedanken ob der Großartigkeit, solch ein entsprechendes Werk zu genießen.
Und dann, nach diesen doch sehr emsigen Tagen des Nichtstuns, geschah es wieder. Das Wunder. Als ob die Kraft, die mich verlassen hatte, wieder zurückkam, mich erfüllte und ich mit dieser Energie in den nächsten Tag starten konnte.
So öffnete ich die Augen. Es war kühl geworden in der Nacht, und das Licht des Morgens schien an die Zimmerdecke. Ich blickte auf die Decke und hatte das Schneegefühl. Es war die seltsame Empfindung, dass jenseits des Fensters Schnee liegen würde und die Welt plötzlich leiser und gedämpfter war.
Vom Bett heraus konnte ich nicht aus dem Fenster sehen, deswegen spielte es keine Rolle, ob wirklich Schnee lag. Wichtig war nur, dass das Licht an der Decke in den Raum reflektierte und dieses Gefühl des liegenden Schnees an mich übergab. Es erfüllte mich und schenkte mir Glück.
So blieb ich noch einige Minuten länger liegen, als ich es geplant hatte. Ich wollte mich der Illusion eines schneebedeckten Ausblicks hingeben, wenn ich aus dem Fenster sah.
Doch konnte ich nicht den ganzen Tag im Bett verbringen und so stand ich, nach diesen Minuten der Illusion, auf. Ich blickte aus dem Fenster. Kein Schnee. Trotz der Enttäuschung war es ein schöner Anblick.
Während ich ein paar Sachen heraussuchte, dachte ich über ein Frühstück nach. Es erschien mir etwas zu viel Aufwand dafür, dass ich keinen Appetit hatte. So lief ich in die Küche und sah in die Schränke. Meine Augen blieben schließlich an einem halben Marzipanbrot hängen. Ich zog meine Jacke über, verstaute das Brot und machte mich auf den Weg zum Wald. Meinem Wald.
Die Blätter wogten im Wind. Ihre Farben überraschten und erfreuten mich aufs Neue. Ich steckte mir meine Kopfhörer in die Ohren. Jetzt folgte der schwierige Teil: die Musikauswahl oder die Wahl, ob ich einen Podcast hören wollte. Und im gleichen Atemzug die Frage, ob ich nicht vielleicht einfach die Natur genießen sollte. Manchmal wurde es überschätzt, welche Überraschung die vermeintliche Stille bereithielt.
Ich entschied mich für etwas Musik und begann mit meinen ersten Schritten und folgte dem Weg. Es wurde ruhiger, und das Halbdunkel des Waldes gab mir ein schummriges Gefühl. Das Gefühl, geborgen zu sein und darüber hinaus einen Schritt auf die Natur zuzugehen, aus der wir selbst auch stammen.
Einige Schritte weiter, grübelte ich darüber nach, wie weit mich mein Gefühl heute wohl tragen würde. Manchmal drehte ich schon nach ein paar hundert Metern um, manchmal ging ich länger und lief Kilometer um Kilometer, soweit mich meine Füße trugen.
Die Sicht wurde mir von einer Kurve versperrt, und so folgte ich ihr. Der Weg führte schier endlos geradeaus. Ein Ende war nicht zu erkennen. Es war eines dieser Dinge, die ich an diesem Wald liebte.
Einige Schritte vergingen noch, und ich bewegte mich auf eine Wegkreuzung zu. Gerade überquerte ich sie, als ich aus dem Augenwinkel etwas erblickte. Ich blieb stehen und sah nach links. Ein Schreck durchfuhr mich. Sie war es und lief auf mich zu. Plötzlich stand sie ebenfalls.
Wir blickten uns an. Zwei Ewigkeiten. »Hallo«, sagte ich.
»Hallo«, erwiderte sie.
Ich überlegte und versuchte, etwas Sinnvolles zu antworten: »Du kennst diesen Wald?« Eine Frage, die mir ziemlich blödsinnig erschien, aber es war besser, als sie anzustarren und zu schweigen.
»Ja. Ich bin immer hier, wenn ich über die Geschichten nachdenke.«
»Welche Gedanken kamen dir?«, fragte ich. Ich wollte dieses Gespräch um jeden Preis am Laufen halten. Als ob ich eine Gesellschaft erfuhr, die ich so einfach nicht aufgeben wollte.
»Hauptsächlich die Frage, woher sie kommen. Und wohin sie gehen, wenn ihre Schreiber nicht mehr sind«, antwortete sie.
Ich wusste nicht so recht, was ich darauf erwidern sollte, und versuchte das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. »Ich wollte mir den Pavillon ansehen. Magst du mitkommen?«
Sie sah einen Moment zu mir, und dann sagte sie: »Ich komme gerade von dort, aber warum nicht.«
»Ich habe dich nie gefragt, wie dein Name ist«, stellte ich fest.
Es herrschte Stille, und dann sagte sie an mich gewandt: »Aliénor und du?«
In Gedanken ließ ich den Namen durch meinen Kopf gleiten, versuchte seine Aussprache und sein Wesen zu erfühlen. Ich mochte ihn und antwortete: »Adán. Ich bin Adán.«
Wir gingen ein paar Schritte und fühlten die gespannte Stille, als sie sagte: »Adán und Aliénor. Vielleicht der Anfang einer Geschichte.« Ich musste sehr verwirrt ausgesehen haben, denn nachdem sie einige Sekunden verstreichen ließ, fuhr sie fort: »Wir trafen uns und jetzt gehen wir ein Stück des Weges. Metaphorisch und doch auch in diesem Moment.«
»Ja«, erwiderte ich. Chaos breitete sich in meinem Kopf aus. Ein solches, dessen Ursprung in diesem Augenblick lag und das mich sicherlich noch sehr lange begleiten würde.
Wir folgten dem Weg, bis wir auf den Pavillon trafen. Es war eine einfache Konstruktion. Ein großer Pfahl in der Mitte hielt das kleine Turmdach. An den Seiten boten Latten einen Sichtschutz. Im Pavillon befanden sich lange Bretter, die als Sitzgelegenheit dienten. Wir setzten uns und ließen unseren Blick über die Landschaft schweben. »Es ist schön hier«, sagte sie.
»Ja. Wenn du Geschichten so magst, bist du dann gelegentlich im Theater?«, erwiderte ich.
Sie schien über diese Frage nachzudenken. »Nein. Eigentlich nie.«
»Warum nicht?«
Wieder nahm sie sich etwas Bedenkzeit und blickte auf den Boden und dann für einen Augenblick zu mir. »Ich denke, mir fehlt die Gesellschaft. Vor einem Buch darf ich einsam sein, aber im Theater nicht.«
»Ich mag das Theater. Wenn du möchtest, können wir gemeinsam dorthin?« Ich fragte mich, woher der Mut für diese Frage kam. Obwohl ich mir nicht sicher war, ob es wirklich Mut und nicht vielmehr Eingebung war.
Stille. Dann antwortete sie: »Das können wir gerne tun.« Während sie das sagte, lächelte sie mich an. Erstmals wurde mir klar, wie mich dieses Lächeln glücklich machte und mich mit einem ungewohnten Gefühl erfüllte.
»Okay. Wollen wir uns dann schreiben, welches Stück wir uns ansehen?«, fragte ich. Etwas an der Frage schien sie zu beschäftigen, bis sie wie aus dem Nichts nach ihrem Handy griff und sich meine Telefonnummer notierte.
Danach blickten wir über die Landschaft, die sich vor dem Pavillon erstreckte. Felder, die absanken und erst am Horizont endeten. Für diesen Moment schien es so, als ob alles gesagt war, und wir wussten, wie wir den anderen erreichen konnten, und so genossen wir und schwiegen.
Ich war wieder zu Hause angekommen. Langsam fiel die angenehme Kälte des herbstlichen Spazierganges von mir ab, und ich begann über die letzten Stunden nachzudenken.
Und dann kam ein Gedanke, eine Frage, wonach es sich anfühlte? Nach Aufbruch. Oder Neugier. Dem Gefühl, etwas entdeckt zu haben. Etwas, das nicht unentdeckt bleiben durfte. Weil es sich nur in einem Gefühl von Bedauern auflösen würde, wenn ich, oder vielleicht wir, dem nicht nachgehen würden.
Ich nahm mein Handy in die Hand und öffnete den Messenger. Dann schloss ich ihn wieder. Stattdessen öffnete ich den Browser und rief das Programm des Theaters auf. Das Programm sah mau aus, aber eine andere Veranstaltung in der nahegelegenen Kirche erweckte meine Aufmerksamkeit. Eine Aufführung der Schwarzen Orchidee.
Wieder wechselte ich zum Messenger und schrieb Aliénor: »Wollen wir uns eine Oper in der Kirche ansehen?«
Ich war in Eile. Auch wenn eigentlich kein Grund für eine solche bestand. Ich wollte schnell die bestellten Karten abholen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass noch knapp zwölf Stunden bis zur Vorstellung verblieben und ich eigentlich ganz entspannt alles hätte erledigen können.
Aber ich war nervös, und bisher hatte ich noch nicht wirklich herausgefunden, warum. Es war das unterschwellige Gefühl, dass ich nicht wollte, dass etwas schiefging. So versuchte ich wohl auf Nummer sicher zu gehen, holte die Karten so schnell wie möglich ab und machte mich wieder auf den Weg nach Hause.
Ich wusste nicht mehr genau, wie ich dort ankam, da meine Gedanken sich in dem nahenden Abend verfingen, während der Rest von mir das Auto nach Hause steuerte.
Dort angekommen suchte ich meine Sachen, überlegte, was ich nicht vergessen dürfte, und sah immer wieder nach der Zeit. Sie hatte mir versprochen, mich abzuholen, und ich konnte es nicht erwarten, dass die Uhr endlich die passende Zeit anzeigen würde.
Dann erschien die Dämmerung endlich zu ihrem abendlichen Auftritt, fing an, den Tag in ein Dunkel zu hüllen, die Nacht freizugeben und mit ihr die Geheimnisse, die in ihr bewahrt wurden.
Ich stand draußen und wartete darauf, dass sie erschien, als mich Scheinwerfer blendeten und ich einen Schritt zurücktrat. Ein Auto blieb neben mir stehen. Ich blickte hinein und sah sie. So öffnete ich die Tür und sagte: »Hey.« Sie lächelte. Nachdem sie die Tür von innen verschlossen hatte, fuhren wir los.
Es dauerte eine Weile, bis wir an der Kirche waren. Die Fahrt führte uns durch die Dunkelheit, und einige Worte wechselten zwischen uns. Die Erwartungen des Abends füllten sich mit der Gewissheit der Realität.
Es war keine übermäßig große Kirche, aber trotzdem sah sie beeindruckend aus. Wir traten durch das Portal. Ich ging einige Schritte in Richtung des Saales und zeigte die Karten einer der beiden Frauen am Eingang. Sie ließ uns durch, und wir gingen zur Garderobe.
Dort zog Aliénor ihre Jacke aus und gab sie der Garderobiere. Ich blickte sie an, und war schlichtweg überwältigt. Sie sah wundervoll aus, auf eine Art, die sich mir der Erklärung entzog. Es war ein Augenblick, der mehr war als die Summe seiner Teile.
Wir gingen in das Kirchenschiff. Ich war erstaunt, wie viele Leute bereits da waren, und sah auf meine Karte. Ich hatte die Nummer 15 in der 24. Reihe, sie den Platz neben mir. So ging ich mit ihr die Stufen entlang, bis wir unsere Reihe erreichten.
Ein paar Entschuldigungen später, als wir versuchten, zu unseren Plätzen zu kommen, saßen wir auf den Sitzen. Wir blickten zur Bühne und sahen das bereits aufgebaute Bühnenbild. Dann lächelten wir uns wieder an. Es war eine Mischung aus schüchterner Nervosität und erwachsender Erkenntnis.
Ich musste daran denken, dass sie Magie nur in Menschen und Geschichten sah. Und ich sah in diesem Moment Magie in ihr. Die Stimmung im Saal veränderte sich, es wurde dunkel. Uns wurde klar, dass das Stück nun beginnen würde. So wandten wir unsere Blicke voneinander ab.
Musik wurde gespielt. Menschen bewegten sich, und wir verfolgten die Geschichte. Doch an diesem Abend gab es zwei Geschichten, die auf der Bühne vor uns und die in der Bühne in uns. Immer wieder sahen wir uns an. Ein flüchtiger Blick, um etwas von der Existenz des anderen zu erhaschen. Blicke, die mit Glück und Aufregung gespickt waren. Solche, die erwidert wurden.
Zwischen uns war eine Lehne. Und so legten wir auf ihr unsere Arme ab. Nebeneinander. Dann drückte ich meinen Arm sanft an den ihren. Ich hatte Angst vor der Zurückweisung. War nervös. Doch nichts passierte.
Die Bühne der Kirche bot mit ihrer Musik auf, ihren Gesängen und der Geschichte, die sie dort webten. Wieder schenkten wir dem Stück etwas Aufmerksamkeit. Anschließend brandete der Applaus auf. Der Abend neigte sich dem Ende. Nur noch die Fahrt nach Hause, und dann würden wir für heute wieder getrennter Wege gehen.
Wir saßen im Auto. Die Nacht war dunkel. »Das Stück war interessant«, sagte sie.
»Ja, das war es. Ich hatte nur andere Musik erwartet, es war etwas überraschend.«
Sie blickte von der Straße kurz zu mir. »Ja, das war es.«
»Wann möchten wir uns das nächste Mal etwas ansehen?«, fragte ich.
»Vielleicht im nächsten Monat? Wir müssen nur sehen, welches Stück wir nehmen.«
»Das klingt gut«, erwiderte ich.
Wir fuhren auf einer langen und schmalen Straße durch die Dunkelheit. Links erstreckte sich ein leeres Feld über die Landschaft. Rechts waren ein paar Hecken gepflanzt. Gelegentlich war im fernen Licht des Scheinwerfers ein Reh zu sehen.
In nur wenigen Minuten würde ich wieder zu Hause sein. Ein Gedanke, der mich betrübte, weil ich dann ihre Gesellschaft nicht mehr genießen konnte. Wieder allein war. Es war ein seltsames Gefühl. Die Angst, sie zu verlieren und die Ungewissheit der Zukunft zu sehen.
Sie parkte etwas abseits und stoppte den Motor.
»Es war schön«, sagte ich.
Ein Lächeln. »Das war es.«
Ich sah sie einen Augenblick an, der sich ewig anfühlte.
»Was würdest du fragen, wenn du eine Frage ohne Konsequenzen stellen könntest?«
Sie überlegte einen sehr langen Moment, blickte zu mir und erwiderte: »Ich weiß nicht so genau. Wieso fragst du?«
Auch ich überlegte und fragte mich in einem inneren Monolog, was ich damit bezweckte.
Mir wurde klar, warum ich diese Frage gestellt hatte. Ich wollte ihr sagen, dass ich in mir mehr entdeckt hatte. Sympathie, nein, Gefühle, es waren Gefühle. Und ich wollte ihr das vermitteln. Aber ich hatte Angst vor dem Risiko. Und so goss ich dies in diese indirekte Frage.
»Ich glaube, weil ich nicht möchte, dass Dinge ungesagt bleiben«, antwortete ich ihr.
Sie schluckte. Blickte mich an, und ich fuhr fort: »Ich denke, da ist mehr. Ich mag dich.« Ich versuchte in ihrem Gesicht zu lesen, was sie wohl in diesem Moment dachte. Es verzog sich. Sah schmerzlich aus. Aber auch voller Erstaunen über die Entwicklung der Situation.
»Ja. Es fühlt sich seltsam an. Ich habe Angst«, sagte sie. Es wurde spät. Langsam ließ die Wärme im Auto nach. Die Nacht mit ihrer Kälte zog ein. Wir froren etwas, und doch wollten wir diesen Ort nicht verlassen. Es war deutlich zu spüren.
Wir wussten nicht genau, was da zwischen uns war, aber es fühlte sich aufregend, beängstigend und seltsam wundervoll an. Es war eine besondere Begegnung. Wir erkannten oder ahnten zumindest, dass dort mehr war.
Sie sah mich an. Es wirkte, als ob sich Hilflosigkeit in ihrem Gesicht abzeichnete. Ich sah ihre Hand und wollte die meine darauflegen, aber traute mich nicht.
»Ich denke, da ist mehr, als dass ich dich einfach nur mag«, sagte ich und blickte sie an. Da standen die Worte im Raum. Es war ausgesprochen.
»Wollen wir uns am Samstag sehen?«, fragte ich sie. Ich hatte Angst, wenn ich jetzt nicht fragen würde, dass wieder eine lange Zeit vergehen würde, bevor wir den anderen anblicken konnten.
»Ja«, antwortete sie. Die Uhr tickte weiter. Wieder war eine Stunde vergangen. Die Kälte zog in unsere Glieder. Aber wir konnten das Gespräch nicht beenden.