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Den ersten Blick, diesen einen magischen Blick, der zwei Menschen schlagartig in Verbindung setzt, konnte Julian nie vergessen. Schon damals, als er Christian erstmals sah, war er von einem unbeschreiblichen Gefühl für ihn ergriffen. Ob Christian wohl das Gleiche für Julian fühlt? Ein Liebesroman, der sich auf zwei Zeitebenen abspielt, die voneinander mehr als 40 Jahre entfernt sind, gibt uns Einblicke in Julians Gefühlswelt, aber auch in seine großen Lebensumbrüche und der tiefen Freundschaft mit Laura.
“Manche Träume sollten immer Träume bleiben, sollten nicht von der Realität, oder von dem, was wir dafür halten, zerstört werden.”
Thomas Frie wurde 1975 in Landshut geboren und ist auf dem Land, in der Nähe von Landshut, aufgewachsen. Nach Beendigung des Zivildienstes, begann der Autor, im Herbst 1997, eine Ausbildung zum Krankenpfleger. In diesem Beruf ist er bis heute tätig. Er lebt, gemeinsam mit seinem Partner, in Landshut. Seit 2003 schreibt der Autor auch Gedichte, die er bislang noch keinem Verlag zukommen ließ.
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Thomas Frie
Im Licht der Ewigkeit
© 2023 Europa Buch | Berlin www.europabuch.com | [email protected]
ISBN 9791220135634
Erstausgabe: März 2023
Gedruckt für Italien von Rotomail Italia
Finito di stampare presso Rotomail Italia S.p.A. - Vignate (MI)
Im Licht der Ewigkeit
Der Ort der ist mir heilig und denke ich zurück, bringt es der Seele Frieden, ergreift mich tiefes Glück.
Denn dort hat es begonnen, vor langer, langer Zeit. Seh ihn noch immer vor mir im hellen Sonnenschein.
Vertrautheit, unbeschreiblich! Gefühle, die vergessen waren, geweckt durch seine Augen, sein Lächeln zog mich an.
Ein Blick der je genügte, Ewigkeit durchbrechen ließ, der mir Erfüllung brachte, hab niemals so gefühlt.
Ein Traum nur ist dies Leben. O Sehnsucht, die mir bleibt, durch Zeit und Raum bestehen, in ihm fand ich mich wieder, im Licht der Ewigkeit.
Durch das weit geöffnete Fenster drang die kühle Frühlingsluft in sein Zimmer. Es war bereits Anfang Mai, doch der erste schöne Morgen seit langem. Julian stand noch leicht verschlafen davor und blickte dem Sonnenaufgang entgegen. Er war absichtlich so früh aufgestanden, denn er liebte diesen Moment, wenn ein neuer Tag die Nacht verscheuchte, wenn ein neuer Tag anbrach. Dann war ihm als wäre noch nicht alles vorüber, als gebe es doch noch etwas das ihn am Leben erhielt. Er schloss die Augen und atmete die kühle Luft tief in sich ein. Ein wohliges Gefühl breitete sich in ihm aus. Als er die Augen wieder aufschlug bemerkte er zu seinem Erstaunen, das er nicht der Einzige war, der sich an dem neuen Tag erfreute. Ein Eichhörnchen schien den endlich erwachenden Frühling ebenso herbeizusehnen. Blitzschnell huschte es über die Wiese unter seinem Fenster, verweilte dort kurz, ehe es im Dickicht verschwand. Seit er alleine lebte versetzten ihn diese kleinen unscheinbaren Begebenheiten in Erstaunen, lösten sonderbare Empfindungen in ihm aus und manchmal stellte er sich selbst die Frage, warum dies so war. Überhaupt stellte er sich viele Fragen, über das Leben im Allgemeinen, auf die er keine Antwort wusste.
Julian war Ende sechzig, er hatte sein Berufsleben abgeschlossen, hatte an verschiedenen Orten gelebt, ohne sich dabei irgendwo heimisch gefühlt zu haben. Vor beinahe einem halben Jahrhundert hatte er den Ort seiner Kindheit und Jugend verlassen, den Ort, an dem er die ersten einundzwanzig Jahre seines Lebens verbrachte, den er rückblickend als seine Heimat bezeichnete und den er immer noch in seinen Träumen aufsuchte. Als junger Mann war ihm all das nicht bewusst und so machte er sich damals hoffnungsvoll auf den Weg. Er bereute es nicht, eigentlich bereute er keine einzige getroffene Entscheidung, auch wenn er sich gelegentlich dabei ertappte, sich insgeheim zu fragen, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, wenn er einen anderen Weg gewählt hätte. Im Grunde hatte er ein gutes Leben geführt, beinahe vierzig Jahre gemeinsam mit Peter, seinem Lebensgefährten, den er nur wenige Jahre nachdem er aus seinem Heimatort fortgegangen war, kennenlernt hatte. Seine Familie gab ihm eine gewisse Stabilität und immer wieder die Möglichkeit an den Ort seiner Kindheit zurückzukehren. Das alles war schon lange zu Ende, löste sich nach und nach auf und er konnte nichts dagegen tun. Die Sonne streichelte sein Gesicht. Wärmende Strahlen auf der Haut die auch seine Seele wärmten. Julian trat vom Fenster zurück und betrachtete die Bilder, die sich auf der Anrichte erstreckten und die Wand darüber füllten. Im Laufe der Jahre waren es immer mehr geworden. Augenblicke, eingefangen, festgehalten, um die Zeit zu überdauern. Rückwärts ließ er sich auf sein Bett fallen, den Blick zur Zimmerdecke und doch in weite Ferne gerichtet. Im Sonnenlicht wirbelten kleine Staubkörnchen in der Luft, beinahe so als führten sie einen Tanz auf, einen Tanz nur für ihn alleine. Während er gedankenverloren da lag, tauchte er immer weiter in seine Erinnerung ein. Das Ticken der Wanduhr erschien ihm ungewohnt laut. Plötzlich war sie da, diese eine Erinnerung, so fern als sei sie ein lang vergessener Traum, aus einer anderen Zeit, aus einem anderen Leben. Er konzentrierte sich, musste sich anstrengen, um sie aus der Tiefe hervorzuholen. Während er die tanzenden
Staubkörnchen im Sonnenlicht beobachtete, versank er
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immer mehr in diese Erinnerung. Er versank in jenen Sommer, der so unendlich weit, leuchtend im ihm lebte.
„Hast du deine Badehose endlich gefunden? Ach Julian, jetzt lass uns bitte endlich losfahren, ich hab keine Lust immer auf dich zu warten!“ Die Stimme seiner Schwester, die knapp zwei Jahre jünger war als er, klang genervt und auch seine Mutter wartete ungeduldig, halb auf dem Fahrrad sitzend, dass er so weit war und sie losfahren könnten. Schließlich hatte er alles beisammen und sie konnten starten. Das Schwimmbad lag etwa drei Kilometer entfernt, aber seine Mutter fuhr deutlich lieber Fahrrad als das Auto zu nehmen. Außerdem ist es eh gesünder als jede kleine Strecke mit dem Auto zu fahren, sagte sie und er hörte noch den Klang ihrer Stimme. Es war ein Sommer Mitte der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts und die Welt wirkte noch deutlich weniger hektisch, beinahe friedlich. Julian war elf Jahre alt. Er war ein verträumtes, ruhiges Kind, das die Nachmittage mit seinen Freunden genauso gerne verbrachte, wie alle anderen Kinder auch. Sie fuhren durch den Ortskern, alle hintereinander in einer Reihe, seine Mutter voraus, danach seine Schwester und zum Schluss er. Es war ein wunderschöner Sommertag, der nur das Beste versprach und er freute sich darauf den Nachmittag mit seinen Freunden zu verbringen. Sie fuhren langsam durch eine Siedlung, vorbei an Gärten, deren Blumen in allen Farben blühten und deren Duft die Luft erfüllte. Einer dieser Gärten faszinierte ihn besonders. Hinter dem Gartenzaun, auf einer kleinen Anhöhe, waren lauter kleine Häuser zu sehen, die wirkten als wären sie aus dem Stein entstanden auf dem sie sich befanden. Davor standen unzählige Gartenzwerge mit Mützen in leuchtenden Farben, lachenden Gesichtern, mit den verschiedensten Utensilien in den Händen. Einer trug
einen Eimer, ein anderer hielt einen Rechen. Er verlangsamte jedes Mal sein Tempo, um diesen Anblick mit seinen vielen kleinen Details einzufangen. Julian wusste nicht warum, aber er war jedes Mal aufs Neue von diesem Anblick überwältigt. Im Schwimmbad angekommen breitete seine Mutter eine große Decke aus und seine Schwester konnte es nicht mehr erwarten ins kühle Nass zu springen. Sie wurden bereits erwartet und tummelten sich im Wasser. Später aßen sie Pommes und tranken Limonade, lagen in der Sonne und ließen sich vom Wind trocknen, der warm und sanft über ihre Körper strich. Sie sprachen über den nächsten Schultag, über die anstehenden Schulaufgaben und freuten sich das all dies erst in ein paar Wochen sein würde. Ein paar Wochen erschienen ihnen damals wie eine kleine Ewigkeit und insgeheim warteten sie sehnlichst auf die Ferien, die danach folgen würden. Sabine erzählte ganz aufgeregt, dass sie mit ihren Eltern nach Italien fährt. Stellt Euch vor ich werde das Meer sehen, sagte sie und ihre Augen strahlten vor Vorfreude darauf. Lachend und träumend verbrachten sie diesen Sommertag voll Freude und Unbeschwertheit.
An diesem Abend verspürte Julian den starken Drang sich nochmal auf sein Rad zu setzen und einfach drauflos zu fahren. Er rief seiner Mutter zu das er noch einmal kurz weg sei. Es war früher Abend und die Hitze des Tages wich einer angenehmen Kühle. Die Straßen waren so gut wie leer. Eine sonderbare Ruhe breitete sich aus. In Gedanken war er schon beim nächsten Morgen, sah sich wieder mit seinen Freunden im Schwimmbad um die Wette springen und mit offenen Augen bis zum Boden des Beckens tauchen. Er fuhr an der Kirche vorbei, deren Turm sich groß und mächtig in den Abendhimmel streckte. Als er sich einer Brücke näherte, sah er einen Mann an deren Brüstung stehen. Ganz alleine lehnte er am Geländer unter dem sich, der im Abendrot schimmernde Bach, dahin schlängelte. Als Kind kam er ihm erwachsen und groß vor. Beim Vorüberfahren blickte er zu ihm auf und da geschah etwas mit ihm, was er so noch nie zuvor erlebt hatte. Der Mann sah ihn lächelnd an. Julian fing seinen Blick auf. In diesem Augenblick überrollte ihn ein Gefühl, das er nur schwer beschreiben konnte. Ein Gefühl von absoluter Vertrautheit, von grenzenloser Einheit breitete sich in ihm aus. Eine Woge von Seligkeit durchströmte seinen Körper. Es war ein Augenblick den er als den Magischen Moment seines Lebens bezeichnete. Ehe er sich versah, war er an ihm vorbeigefahren. Er war unfähig sich umzudrehen, dieses Gefühl in ihm war unsagbar schön. Später als er im Bett lag, sah er sein Gesicht, sein Lächeln noch immer vor sich. Wer war dieser Mann, den er doch gar nicht kannte, den er noch nie zuvor gesehen hatte? Warum löste er dieses unglaubliche Gefühl in ihm aus? Er war ein Kind und hinterfragte diese Dinge nicht weiter. Er war verwirrt. Was er fühlte, konnte er nicht einordnen, nur das es unbeschreiblich schön war. In dieser Nacht fand er lange keinen Schlaf, stemmte sich mit Gewalt dagegen einzuschlafen, um dieses Gefühl nicht wieder zu verlieren, es festzuhalten wie einen Schatz. Irgendwann besiegte ihn der Schlaf, trug ihn fort in andere Welten und als er am nächsten Morgen erwachte, war es verschwunden. Er fühlte sich keineswegs traurig, es war alles wie immer, so als hätte es diese Begegnung nicht gegeben, als hätte er es nur geträumt.
In jenem Sommer begegneten sie sich noch mehrmals. Wie selbstverständlich fuhr er an verschieden Sommerabenden die gleiche Strecke und sah ihn bereits von weiten. Er verlangsamte jedes Mal sein Tempo, ihre Blicke trafen sich, das Gefühl war wieder da, intensiv und einmalig schön. Wie oft er ihn insgesamt dort sah, konnte er nicht sagen, es waren die Augenblicke, die zählten. Er fühlte sich zu ihm hingezogen, sich auf eigenartige Weise mit ihm verbunden. Es war der Sommer, der sein Leben verändern sollte, es war mehr als nur eine Begegnung. Danach gab es keinen weiteren Sommer, an dem sie sich dort begegneten. Er sah ihn nach diesem einen Sommer viele Jahre gar nicht mehr. Mit dem Verschwinden des Gefühls, verschwand auch die Erinnerung an diese Begegnungen. Die Jahre zogen dahin, in ihrem eigenen Rhythmus.
Langsam stand Julian auf und ging ins Bad. Er fühlte sich eigenartig, die Erinnerung hatte ihn auf eine Art eingeholt, die er so nicht erwartet hatte. Es war lange her das er die Bilder so lebendig vor sich sah, das Gefühl erneut, wenn auch nur als Ahnung, in sich aufkommen spürte. Wenig später saß er in der Küche vor einer dampfenden Tasse Kaffee und dem Marmeladenbrot. Er freute sich auf den morgigen Tag, an dem seine älteste Freundin zu Besuch kommen würde. Sie kannten sich seit der ersten Schulklasse und er konnte sich an keine Zeit vor ihr erinnern. Sie war seine Stütze, sein Halt in den schwierigen Jahren seiner Jugend, als er merkte, dass er irgendwie anders war. Dass er nicht dem Maßstab entsprach und wohl auch nie entsprechen würde. Laura ging es genauso, das war vermutlich einer der Gründe für ihre enge Bindung. Damals war er überzeugt, er wäre der einzige Mensch, der so fühlte und erst als Laura ihm erklärte sie würde das verstehen, weil sie ebenso empfand wie er, war ihm als habe sich der Himmel aufgetan und er dankte Gott dafür. Sie waren wie Geschwister, mit dem Unterschied das sie sich blind vertrauten und verstanden. Meist spürte der andere sofort, wenn etwas nicht stimmte, wenn irgendetwas anders war als gewöhnlich. Als er daran zurückdachte wie sie ihn einmal gefragt hatte was los sei und als er antwortete, nichts, was soll denn sein, beharrlich blieb und nur erwiderte, mir machst du nichts vor, ich spüre sofort wenn etwas nicht stimmt, lächelte er. Damals, sie waren gerade Mal sechzehn, war er zum ersten Mal verliebt und wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Es überhaupt auszusprechen, erschien ihm unvorstellbar und so war es Laura die es aussprach. Stimmt doch, sagte sie mit einem verschmitzten Lächeln, du bist in Stefan verliebt. Er wollte es abstreiten, wollte sagen, bist du verrückt, wie kannst du nur so was denken, aber als er dieses verstohlene Lächeln sah, brach alles aus ihm heraus. Wie ein Wasserfall sprudelten die Worte, befreiten ihn von einer Last, die er mit sich trug und es war ihm in diesem Moment egal was sie denken würde, er konnte reden, konnte es aussprechen, fühlte sich befreit. Sie erwiderte nur, na und, was ist schlimm daran? Soll ich dir was sagen? Mir ist es genauso gegangen wie dir! Und dann erzählte sie ohne Hemmungen, schilderte ihre Gefühle, ihr Chaos und er wusste, dass er von diesem Tage an nicht der einzige war, der sich zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlte.
Von diesem Tage an war alles anders. Es verband sie, sie waren verbündete in einer Welt, in der es so etwas nicht geben durfte. Sie verbrachten die Freizeit damit sich über ihre Gefühle auszutauschen, fuhren zu abgelegenen Wäldern, fuhren an Plätze wo sie wussten das sie ganz für sich waren und sie niemand stören würde. Sie träumten von Liebesbeziehungen, fantasierten sich ihre eigene kleine Wirklichkeit und lebten in den Tag hinein, ohne an eine Zukunft zu denken. Sie waren jung und fühlten sich gemeinsam stark. Julian spürte bei dem Gedanken an diese Zeit auch wieder den Schmerz in sich aufsteigen. Das seine Gefühle einseitig waren, dass sie ihm gegenüber keine ähnlichen Empfindungen auslösten, war ihm zwar bewusst und doch hoffte er, hoffte auf etwas, was unmöglich war und keine Erfüllung finden konnte. Nur in seiner Phantasie, die er mit Laura teilte, kam es zu einem glücklichen Ende, denn nur dort wurden seine Gefühle erwidert, seine Sehnsüchte gestillt.
Mitte der siebziger Jahre, sie waren beide achtzehn Jahre alt und somit volljährig, fuhren sie nach Köln. Es war ihre erste größere Reise und sie waren beide aufgeregt. Sie wollten diese Stadt schon seit längerem besuchen. Seit sie im Fernsehen eine Reportage über Köln gesehen hatten, in der die dortige Toleranz hervorgehoben wurde, wollten sie diese Stadt mit eigenen Augen sehen, dorthin, wo es möglich war, offen zu leben. Die Tage in Köln erlebten Sie wie im Rausch, waren fasziniert von dieser Stadt, ein neues Lebensgefühl erfasste sie und vor allem Julian verspürte den starken Wunsch in sich dort zu leben. So zogen seine Jugendjahre dahin, bis zu einem Tag im November kurz nach seinem neunzehnten Geburtstag. Einen Tag der in ihm brannte wie eine nie erloschene Glut, ein Tag der sein Leben für immer verändern sollte.
Julian trank den letzten Schluck Kaffee, stellte das Geschirr in die Spüle und setzte sich auf das Sofa im Wohnzimmer. Er hatte heute nichts geplant, keine Verpflichtungen mehr die ihn davon abhalten könnten sich weiterhin seiner Erinnerung hinzugeben, dem Gefühl nachzuspüren, welches er so nie wieder finden konnte, das nur in seiner Erinnerung lebendig blieb. Er legte die Füße hoch, machte es sich bequem und tauchte erneut in eine längst vergangene Zeit.
Der Himmel war grau verhangen und es war unangenehm kalt, eine feuchte Kälte, die einem in alle Glieder kroch. Julian stand zitternd vor Lauras Haustüre und klingelte. Kurz darauf öffnete ihm Lauras Mutter die Tür. Überschwänglich begrüße sie ihn. „Hallo Julian, komm doch rein bei diesem furchtbaren Wetter, du bist ja ganz durchgefroren“. Er trat in den warmen Hausflur und fühlte sich sogleich wohler. „Nochmal alles Gute zum Geburtstag!“ Sie umarmte ihn. Laura kam auf ihn zu und beglückwünschte ihn ebenfalls. Sie wirkte missgestimmt, dass merkte er gleich, irgendetwas schien ihr nicht zu behagen. Als sie alleine waren fragte er ohne langes überlegen, ob alles in Ordnung wäre. Ach, weißt du, sagte sie monoton, das trübe Wetter schlägt mir einfach auf die Stimmung. Die letzten Tage musste ich viel an Köln denken, an die warmen Tage am Rhein. Irgendwie sehne ich mich danach, wäre am liebsten wieder dort. Julian ging es genauso und so waren sie sich schnell einig, nächstes Jahr wieder nach Köln zu fahren. Wenn es nur nicht noch so lange dauern würde, sagte sie. In diesem Moment kam ihre Mutter mit Kaffee und Kuchen ins Zimmer und riss sie aus ihrer Melancholie. „Warum kommst du eigentlich nicht endlich mal mit in die Kneipe? Ich finde es wird höchste Zeit das du auch mal rauskommst von daheim!“ Laura sah ihn fragend an. „Übrigens“, sie biss in ihren Kuchen, „die anderen wollen dich auch kennenlernen, ich habe so viel von dir erzählt und langsam werden sie den Verdacht nicht los du seist meiner Phantasie entsprungen!“ Sie sah in vorwurfsvoll an. Julian atmete tief ein. „Na gut, dann komm ich halt mit“, sagte er „wenn dir so viel daran liegt. Aber du weißt, dass ich kein Nachtmensch bin, also ich bleibe sicher nicht bis in die Morgenstunden.“ „Musst du doch auch nicht, ich freue mich einfach, dass du mitkommst.“ Sie grinste ihn an. Er spürte, wie sehr sie sich freute, ihre Laune hatte sich schlagartig gebessert. Den restlichen Nachmittag sprachen sie nicht mehr von Köln. Am darauffolgenden Wochenende holte Julian Laura am frühen Samstagabend zuhause ab. Bis zur Kneipe waren es nur wenige Minuten zu Fuß und angesichts des nasskalten Wetters gingen sie im zügigen Tempo. Sie waren die ersten Gäste an diesem Abend. Der Wirt begrüßte Laura wie eine alte Bekannte und danach Julian, der das erste Mal diese Kneipe betrat. Sie setzten sich an einen Tisch in einer Ecke, der für insgesamt sechs Personen ausgelegt war. Julian sah sich verstohlen um. Die Kneipe war klein, die Wände mit Holz vertäfelt und mit lauter Bierdeckel verklebt. Es war düster, die Lampen warfen nur einen schwachen Lichtschein in den Raum. An einer Wand, gleich neben der Tür, die zur Toilette führte, stand eine Musikbox. Eine große Theke bildete den Mittelpunkt des Raumes, an dessen Wänden sich mehrere Tische mit Bänken verteilten. Die Luft war erfüllt von kaltem Zigarettenrauch und anderen Gerüchen, die er nicht so einfach zuordnen konnte. Er fühlte sich unwohl und Laura schien dies wieder einmal sofort zu bemerken. „Entspann dich“, sagte sie, „wenn die anderen kommen, die Musik erklingt, wirst du dich bestimmt wohler fühlen. Mir ging es beim ersten Mal genauso wie dir und jetzt fühle ich mich schon fast zuhause hier“. Der Wirt kam zu ihrem Tisch und wandte sich an Julian. „Hallo“, sagte er gut gelaunt, „ich bin der Karl, ganz kurz und bündig. Was darf ich euch zum Trinken bringen?“ Sie bestellten sich Cola – Weiße und kaum hatten sie das erste Mal angestoßen, winkte Laura in Richtung Tür. Julian sah Kerstin in Begleitung eines ihm unbekannten Jugendlichen eintreten. Als sie Laura sahen, kamen sie schnellen Schrittes auf sie zu. Laura stellte Julian den anderen vor. „Das sind Kerstin und Manfred.“ Sie deutete auf die beiden. „Später kommen dann noch Sabine und Stefan“, sagte sie. „Es gibt dich also wirklich, ich habe schon geglaubt wir lernen dich überhaupt nicht kennen!“ Manfred setzte sich lachend neben Julian. Zögernd kam ein Gespräch in Fluss, die Musikbox ertönte und der Raum füllte sich immer mehr. Stimmengewirr, Lachen, Musik, die Luft von Rauch der Zigaretten verhangen. Julian störte dies alles nicht, er zündete sich selbst eine Zigarette an und beobachtete die anderen Gäste. Manche kannte er bereits vom Sehen, die meisten aber waren ihm fremd. Sabine und Stefan gesellten sich dazu und die Stimmung wurde zunehmend ausgelassener. Julian fühlte sich nicht mehr unwohl, dennoch stellte er sich in Gedanken die Frage wie lange er noch bleiben sollte und was es ihm eigentlich brachte, hier zu sein. Am liebsten war er mit Laura alleine, unter sich. Sie verhielt sich anders, wenn sie in Gesellschaft waren, und das mochte er nicht sonderlich an ihr. Er empfand es als gekünstelt, ihr Verhalten unecht und teilweise hatten sie deswegen schon die heftigsten Diskussionen geführt. Laura vertrat die Auffassung, dass es die anderen nichts angehen würde, was in ihr vorging, und deshalb sei sie einfach immer gut drauf, auch wenn es ihr innerlich nicht danach war. Julian sah das anders aber in diesem Punkt kamen sie nicht auf einen gemeinsamen Nenner. Laura war gesellig, lachte und scherzte und war sehr beliebt in einer Gruppe. Er hingegen war zurückhaltend, es brauchte lange bis er sich anderen gegenüber öffnen konnte. Der größte Unterschied zwischen ihnen bestand jedoch darin, dass er sich nie verstellte, nie schauspielerte, sondern einfach er selbst war, so wie er sich fühlte, wie er an diesem Tag eben war. Manchmal lustig, manchmal in sich gekehrt und betrübt. An diesem ersten Abend, in dieser Kneipe, dachte er an diese Unterschiede zwischen ihnen, während er den Gesprächen lauschte und an seiner Zigarette zog. Er unterhielt sich mit Manfred, fand ihn wirklich sympathisch und hatte das Empfinden es würde auf Gegenseitigkeit beruhen. Später in dieser Samstagnacht, es war kurz vor halb zwölf und Julian wollte sich am liebsten verabschieden, sagen das es schön war und er bestimmt bald wieder mitkommen würde, jetzt aber nach Hause möchte, betrat ein Mann in Begleitung einer Frau die Kneipe und setzte sich auf einen Barhocker an den Tresen. Julian beobachtete, wie er vertraut mit dem Wirt sprach. Die Frau neben ihm stützte den Kopf auf ihren Ellbogen und wirkte eher gelangweilt.
Plötzlich drehte er seinen Kopf seitlich, so dass Julian sein Gesicht deutlich erkennen konnte und lächelte die Frau an.
In diesem Moment wusste Julian nicht was ihm geschah. Ein Blitz durchfuhr seinen Körper, er war bewegungsunfähig, konnte seinen Blick nicht mehr von diesem Mann abwenden, den er doch gar nicht kannte und dennoch das Gefühl hatte ihn zu kennen, ihn von irgendwoher zu kennen. Aber Woher nur? Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er hoffte insgeheim, dass niemand der anderen etwas davon bemerken würde. So sehr er sich auch anstrengte, überlegte, er kam nicht darauf, woher er diesen Mann kannte, dessen Namen er nicht einmal wusste. Laura war glücklicherweise so sehr in ein Gespräch mit Kerstin vertieft, sodass sie diesmal nicht bemerkte, was in ihm vorging. Der fremde Mann schien ihn nicht wahrzunehmen, sah nicht in seine Richtung, merkte nichts von seiner Verzweiflung, von seinen inneren Kämpfen. Gleichzeitig spürte Julian eine Wärme in sich aufsteigen. Ein Gefühl, das er ebenfalls kannte und sich dennoch nicht ins Gedächtnis rufen konnte woher, bemächtigte sich seiner. Die Zeit schien stillzustehen, er wusste nicht wie lange er ihn wie gebannt anstarrte. Er wollte nicht mehr nach Hause, wollte nicht gehen solange dieser Mann, den er kannte, den er von irgendwoher kannte, am Tresen saß. Die Atmosphäre in dieser Nacht, in dieser grauen, kalten Novembernacht, entzündete ein Feuer in ihm, dem er sich nicht entziehen konnte. Er konnte sich nicht dagegen wehren. In dieser kleinen düsteren Kneipe empfand er ein Gefühl für einen fremden Mann, das schon in ihm und mit dem Unbekannten untrennbar verbunden war.
„Julian!“ Lauras Stimme drang zu ihm wie aus weiter Ferne. „Wir sollten langsam zahlen. Ich bin müde, lass uns nach Hause gehen.“ Endlich wandte er seinen Blick von ihm ab. Sabine und Stefan hatten sich bereits verabschiedet, er hatte es kaum wahrgenommen, nur bis zum nächsten Mal gemurmelt, bis bald dann. Er wollte gerade zu Laura sagen, dass er gerne noch bleiben würde, da sah er wie der Fremde seine Geldbörse aus der Hosentasche zog. Mit einer Handbewegung winkte er den Wirt zu sich. Julian beobachte ihn, dann sagte er zu ihr: „Ich bin auch müde, lass uns nach Hause gehen.“ Sie zahlten und gingen, kurz nachdem der Unbekannte mit seiner Begleiterin gegangen war, in die kalte Nacht hinaus. Laura redete mit ihm, doch er konnte dem gesagten nicht folgen. Sie schien es nicht zu bemerken, zumindest sagte sie nichts. Vielleicht war sie auch einfach nur zu müde, um noch eine Diskussion zu beginnen, ihn zu fragen was eigentlich mit ihm los war. Sie verabschiedeten sich und Julian ging den restlichen Weg nach Hause alleine. Alleine mit einem Feuer im Herzen und der einen Frage, die er nicht beantworten konnte. Er nahm die Kälte nicht war, spürte keine Müdigkeit mehr, war gefangen in einem vertrauten Gefühl, in Gedanken bei einem Mann ohne Namen. Lange lag er in dieser Nacht wach, konnte keinen Schlaf finden. Dann kurz bevor er dabei war einzuschlafen, schreckte er hoch und plötzlich wusste er, woher er diesen Mann kannte. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen, Bilder zogen in seinem Geist vorbei. Er sah sich als Kind mit seinem Fahrrad, sah ihn am Ufer, am Brückengeländer stehen, dasselbe Lächeln, der gleiche Blick und dieses unbeschreibliche Gefühl. Er ließ sich in sein Kissen fallen. Erleichtert, verwirrt, seltsam glücklich. Als er endlich einschlief dämmerte bereits der Morgen.