Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Es gibt den Einen. Den ganz Bestimmten. Den Mann, den man sich immer an seiner Seite gewünscht hat, den man aber nie haben konnte. Den Einen, nach dem man sein ganzes Leben lang Sehnsucht haben wird. Und doch weiß: eine gemeinsame Zukunft wird es nicht geben. Clara hat alles, was man braucht, um ein glückliches Leben zu führen. Sie ist gesund, verheiratet, beruflich erfolgreich und wohnt in einem idyllischen und verträumten Ort in Österreich. Doch es gibt etwas in ihrem Leben, das sie quält und unglücklich macht. Der Mann an ihrer Seite ist nicht der, den sie sich immer erhofft hatte. Derjenige, zu dem sie sich ihr Leben lang hingezogen fühlt, scheint unerreichbar. Doch ein schicksalhaftes Ereignis verändert alles ...
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 364
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Es gibt den Einen. Den ganz Bestimmten. Den Mann, den man sich immer an
seiner Seite gewünscht hat, den man aber nie haben konnte. Den Einen, nach
dem man sein ganzes Leben lang Sehnsucht haben wird. Und doch weiß: eine
gemeinsame Zukunft wird es nicht geben.
Clara hat alles, was man braucht, um ein glückliches Leben zu führen. Sie ist
gesund, verheiratet, beruflich erfolgreich und wohnt in einem idyllischen und
verträumten Ort in Österreich. Doch es gibt etwas in ihrem Leben, das sie
quält und unglücklich macht. Der Mann an ihrer Seite ist nicht der, den sie
sich immer erhofft hatte. Derjenige, zu dem sie sich ihr Leben lang
hingezogen fühlt, scheint unerreichbar. Doch ein schicksalhaftes Ereignis
verändert alles...
Romina Wolf, geboren 1986, lebt mit ihrem Mann
in der Nähe von Frankfurt am Main.
„Im Schatten der ewigen Sehnsucht“ ist ihr zweites Buch.
Ihr Debütroman „Im Schatten der Seevilla“ erschien im Sommer 2016.
Dieses Buch ist allen Frauen gewidmet, für die es genau diesen Einen, den
ganz Bestimmten, den Unerreichbaren gibt.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Epilog
Sie warf den Kopf in den Nacken, schloss ihre Augen und genoss die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Sie spürte, wie sie ganz sanft von der Sonne geküsst wurde. Hitze bitzelte auf ihrem Gesicht und ließ ihre Sommersprossen noch deutlicher zum Vorschein kommen. Es war ein wohliges Gefühl, das in ihr Glücksmomente auslöste, die ihre Lippen zu einem Lächeln formten. Für einen kurzen Augenblick erschien es ihr, als könnte sie sich von oben herab beobachten und zusehen, wie sie in einem Ruderboot saß, das mitten auf einem idyllischen See trieb und sanft mit den leichten Wellen des Wassers auf- und ab schaukelte. Claras langes blondes Haar wehte zart im Wind und umspielte malerisch ihr Gesicht. Sie trug ihr Haar offen und leicht gewellt; einzig die vorderen Seiten hatte sie zu lockeren, schmalen Zöpfen geflochten und weggebunden, sodass ihr Gesicht frei blieb.
Ihr Körper war in ein bodenlanges Kleid gehüllt, das mit seinem zarten Türkis die Farbe ihrer Haare noch mehr zur Geltung brachte. Wie eine Meerjungfrau, die gerade den Tiefen des Wassers entstiegen war, saß sie in dem Boot und versprühte Schönheit und Eleganz. Sie stützte sich mit den Armen nach hinten ab, nahm einen tiefen Atemzug und sog die frische sommerliche Luft ein. Der See war umgeben von mächtigen Bergen, die ihn komplett umschlossen und deren wilder Bewuchs von Bäumen, Strauchwerk und Gräsern in den verschiedensten Grüntönen leuchteten. Am Fuß der Berge lag der kleine, verträumte Ort Hallstatt, dessen einzelne Häuser direkt an der umliegenden Felswand zu lehnen schienen und mit ihren spitzen Dächern und bunten Klappläden an eine malerische Märchenkulisse erinnerten. Jedes Haus war andersfarbig gestaltet, und die rötlichen und grünen Klappläden leuchteten weithin. Vom Wasser aus sah man eine langgezogene
Seepromenade, breit genug, um Bootsanlegern und Restaurants großzügig Platz zu bieten.
Eine große spätgotische Kirche, die inmitten der Häuserreihe herausragte, lud mit dem Weiß ihrer Mauern und ihrem schmalen, hohen Turm zum Besuch ein. Etwas oberhalb lag eine kleine Kapelle, die von einem Friedhof umgeben war. Um diesen Friedhof herum hatte man vor vielen Jahren eine Mauer errichtet, von der aus man eine wunderschöne Aussicht über Hallstatt und seinen einladenden See hatte.
Der Friedhof war ein beliebtes Ausflugsziel für Touristen, denn direkt neben der Kapelle befand sich ein uraltes Beinhaus mit Hunderten von Knochen und Schädeln. Manche davon waren künstlerisch gestaltet und verrieten mit ihrer Bemalung einiges über die Menschen, denen sie zu Lebzeiten gehört hatten. Die vorderste Häuserreihe, direkt ans Wasser gebaut, spiegelte sich eindrucksvoll im See wieder. An diesem Ort und in einem der Häuser war Clara zu Hause. Auf diesem See saß sie in einem Ruderboot und genoss einen wundervollen Sommertag und hörte um sich herum nichts als Vogelgesang und das Geräusch der Wellen, die hin und wieder mit sanftem Plätschern gegen den Bauch des Bootes schlugen. Clara öffnete ihre Augen ganz langsam, und es durchfuhr sie ein Kribbeln, als flatterten plötzlich Dutzende von Schmetterlingen in ihrem Bauch auf und kitzelten ihren ganzen Körper. Sie holte tief Luft, und es ergriff sie ein leichtes Schwindelgefühl. Sie war nicht alleine in diesem Boot. Ihr gegenüber saß der Mann, dem ihr Herz gehörte, dem sie lange schon hoffnungslos verfallen war. Sie hatte ihn in ihrer Jugend das erste Mal gesehen und sich sofort in ihn verliebt. Für sie war damals schon klar, dass sie alles daransetzen würde, ihr Leben mit dieser einen Person zu verbringen. Sie war sich ihrer Gefühle von Anfang an sicher und konnte nicht umhin sich zu fragen, ob er ihre Liebe erwidern würde? Ob er genauso empfand wie sie? Sie wusste es nicht. Doch sie hatten sich schließlich gefunden und saßen zusammen in einem Boot. Es war ihr allererstes Rendezvous und es hätte romantischer nicht sein können.
Claras Blick wanderte schüchtern und verschämt über den See, wissend, dass seiner auf ihr ruhte. Sie zog ihre Schultern nach oben und legte ein verschmitztes Lächeln auf. Seine Blicke glitten über ihren Körper, und sie genoss die Begierde, mit der er alles betrachtete, was er sah. Zu diesem Zeitpunkt wusste sie genau, dass er Wachs in ihren Händen war und seine Empfindungen gleichgestellt mit ihren waren. Er fing an zu rudern. Seine Arme waren leicht muskulös, mit bläulichen Adern durchzogen, die unter der gebräunten Haut schimmerten. In Claras Augen sahen sie bei jeder seiner Bewegungen unwiderstehlich aus. Die Abenddämmerung hatte eingesetzt und die Seepromenade leerte sich. Beide waren so mit sich und ihren Blicken füreinander beschäftigt gewesen, dass sie die Zeit völlig vergaßen.
Nacheinander gingen etliche Laternen an und tauchten den Uferweg in ein diffuses Licht. Am Bootsanlegeplatz hing eine lange Lichterkette, die leicht schwankte, als der Wind über sie strich. Nun fühlten sich beide komplett unbeobachtet und alleine auf dem Wasser.
Clara schaute ihm tief in die Augen und verlor sich vollends in ihnen. Minutenlang hätte sie ihn anschauen können, ohne sich satt zu sehen. Wie lange hatte sie auf diesen Moment gewartet – viel zu lang! Sie studierte jeden Zentimeter, jede noch so kleine Einzelheit seines Gesichts, als müsste sie es sich für immer einprägen. Clara hatte so viele Jahre ihrer Jugend damit verbracht, im Stillen für diesen Mann zu schwärmen, ohne auch nur die kleinste Reaktion zu zeigen, die darauf hätte schließen können, dass sie etwas für ihn empfand. Hätte man sie früher gefragt, ob sie an die schicksalhafte „Liebe auf den ersten Blick“ glaube, so hätte sie es als Redensart abgetan.
Doch als sie ihn zum ersten Mal traf, war alles anders. Als sie ihm gegenüberstand und in seine großen, wunderschönen Augen blickte und von seinem strahlend weißen Lächeln fasziniert und wie hypnotisiert war, blieb ihr Atem für einen kurzen Augenblick stehen und schnürte ihr die Kehle zu. Sein Lächeln machte sie so glücklich und schuf in ihrem Inneren ein solches Gefühl von Wärme und Wohlbehagen, dass sie keinen sehnlicheren Wunsch hatte, als ihn lächeln zu sehen und ihm in die Augen zu blicken – für alle Zeit. Sie hatte noch nie zuvor so etwas verspürt. Sie hatte sich gänzlich an ihn verloren.
Für Clara war es Liebe auf den ersten Blick gewesen und so unglaublich intensiv, dass sie noch Nächte danach schlaflos, mit romantischer Musik in ihrem Bett lag und keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Jede Nacht durchstrich er ihre Träume. Für sie stand fest: dieser Mann raubte ihr den Atem und er hatte sie so sehr verzaubert, dass sie in eine hoffnungslose Schwärmerei verfiel, aus der sie so schnell nicht mehr entfliehen konnte. Diese Liebe schien ihr hoffnungslos und ohne Zukunft zu sein. Und doch saß sie nun diesem Mann gegenüber, an den sie schon vor langer Zeit ihr Herz verloren hatte. Sie konnte es kaum glauben. Das gab es doch nur in kitschigen Liebesfilmen oder einem schnulzigen Roman!
Die Sonne war bereits hinter den Bergen verschwunden und trotz des spärlicher werdenden Lichts, konnte sie seine Gesichtszüge noch klar erkennen.
Sie sah, wie sein Lächeln noch inniger wurde, wie seine warmen braunen Augen sich ein wenig verengten und er ihr zuzwinkerte. Seine Augen leuchteten in einem Braunton, der teilweise sogar gräulich schimmerte. Seine dunkelbraunen Haare hatte er recht locker gestylt, als wäre er gerade erst aus dem Bett gefallen und würde keinerlei Wert darauflegen, wie es wirkte. Genau das mochte Clara besonders an ihm. Sie fühlte sich wie auf Rosen gebettet und wünschte sich, dass dieser Moment für immer bestehen bleiben würde. Die Zeit sollte stehen bleiben! Zu lange hatte sie sich danach verzehrt. Sie formte die Hände vor ihren Augen zu einer Art Rechteck, das eine Fotokamera darstellen sollte, imitierte eine auslösende Bewegung, als würde sie ein Foto von ihm machen und den Moment auf Bild festhalten und einfrieren. Wie er so weiter zum Ufer hin ruderte, schaute sie ihm gedankenverloren zu und spürte ein tiefes Glück und ungeahnte Hoffnung. Er blickte sie noch immer lächelnd an, und als sich ihre Blicke trafen durchströmte sie ein prickelndes Verlangen und durchzog jede noch so kleine Faser ihres Körpers. Sie saßen sich ganz nah gegenüber und so wäre es ein Leichtes gewesen sich anzunähern und den ersten gemeinsamen Kuss zu erleben. Auf diesen Moment hatte sie so viele Jahre gewartet. Immer und immer wieder hatte sie dieses Szenario in ihrem Kopf durchgespielt und sich vorgestellt wie es wohl sein würde, wenn sich ihre Lippen treffen würden.
Wie oft hatte sie sich gewünscht, neben diesem Mann zu liegen – nur neben ihm, mit seiner Hand in der ihren. Wie oft hatte sie sich gewünscht ihm zu begegnen, in seine wunderschönen braunen Augen zu blicken und ein Lächeln geschenkt zu bekommen. Sie war dem Moment, den sie sich immer erträumt hatte, so nah wie noch nie zuvor und konnte es kaum noch erwarten, ihn endlich zu berühren. Er stoppte abrupt die Ruderbewegung und hielt inne. Er schaute sie an und beugte sich sachte vor. Claras Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie spürte, wie ihr heiß wurde, wie sich ihre Wangen röteten. Wärme durchflutete ihren ganzen Körper, und ihre Hände begannen zu zittern. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich und ihr Herz klopfte so heftig, dass sie glaubte gleich in Ohnmacht zu fallen. Seine rechte Hand fuhr ihr sanft durchs Haar und er zog sie langsam zu sich heran. Behutsam berührte er ihr Gesicht und sein Daumen umspielte ganz zart ihre Oberlippe. Es fühlte sich auf ihrer Haut unglaublich weich und warm an. Er stoppte mit seinem Gesicht ganz nah vor ihrem und beide tauschten intensive Blicke aus. Als er seine Lippen zu einem Lächeln formte, umspielten kleine Fältchen seine Augenpartie, die ihn noch anziehender und unwiderstehlicher machten. Clara schloss ihre Augen und ließ sich einfach nur noch fallen. Sie verlor sich in diesem magischen und unbeschreiblichen Moment der sinnlichen Versuchung. Sie glaubte schwerelos zu sein und konnte ihr Glück kaum fassen. Für sie fühlte es sich an, als würde sich die Erde für einen kurzen Moment lang aufhören zu drehen. Alles war perfekt. Die paradiesische Kulisse, das Ruderboot mitten auf dem See, die Abenddämmerung und die weißen Schwäne, die neben dem Boot friedlich ihre Runden zogen. Zaghaft berührten Claras Hände endlich sein Gesicht, fühlten das weiche Haar seiner Bartstoppeln, ahnten die Haut darunter. Sie sog seinen Duft tief in sich hinein. Jeder Herzschlag führte sie näher zu ihm hin, bis sich ihre Lippen in der Mitte trafen. In Clara brach sich ein Strom von Gefühlen Bahn.
Es war ein Feuerwerk von Gefühlen und Clara wollte, dass es niemals endete.Seine Lippen berührten ihre zuerst etwas zögerlich, dennoch liebevoll und behutsam und umschlossen dann sanft ihre Unterlippe.
Clara spürte seine weichen Lippen auf ihren und erwiderte jede seiner Liebkosungen.
Als sich seine Zungenspitze langsam in ihren Mund vortastete, war es vollkommen um sie geschehen. Ihre Küsse wurden immer leidenschaftlicher und ihre Atmung beschleunigte sich. Seine Hand hielt ihren Kopf liebevoll fest und Clara spürte, wie seine andere Hand zaghaft über ihr Kleid, das Bein hinauf wanderte.
Seine Berührungen waren so leidenschaftlich und emotionsgeladen, dass Clara fast die Beherrschung verlor. Doch er war ein Gentleman und wollte bei der ersten Verabredung nicht gleich zu weit gehen, und somit wanderte seine Hand wieder langsam ihr Bein hinab, und umfasste sachte ihre Hüfte. Es war der erste Kuss, den Clara mit Anton erlebte. Er war noch inniger und intimer, als sie es sich erhofft hatte. Ihr erschien es, als würde die Zeit stillstehen und nichts sie hätte ablenken, oder diesen Moment zerstören können. Der Kuss wurde immer stürmischer und zügelloser und auf einmal kam ihr alles so vertraut und bekannt vor. Sie hatte das Gefühl diese Lippen zu kennen und die Art und Weise wie sie geküsst wurde kam ihr routiniert und gewohnt vor. Ihre Lippen lösten sich von seinen und sie war gerade im Begriff die Augen zu öffnen, als in diesem Moment eine beruhigende Stimme zu ihr sprach und ihr sanft ins Ohr hauchte.
„Guten Morgen meine Schöne.“
Clara schlug die Augen auf und schaute sich leicht benommen und verwirrt um.
Sie lag in ihrem Bett, in ihrem Haus, neben ihrem Mann Gabriel, der sie gerade wachgeküsst hatte. Clara brauchte einen Moment um sich zu sammeln und zu realisieren, dass alles nur ein Traum gewesen war und der Kuss mit Anton nie existiert hatte...
An diesem Morgen stand Clara mit einer Tasse Kaffee in der Hand an ihrem Küchenfenster und blickte auf den verregneten See. Es war Anfang November, die letzten Blätter lösten sich von den Bäumen und verwandelten die Straßen in ein Meer aus bunten Farben. Die Temperatur war gefallen und die Tage wurden kürzer. Die Dunkelheit würde sich am späten Nachmittag bereits über dem kleinen, verträumten Ort ausbreiten und den See dunkel und geheimnisvoll wirken lassen. Hallstatt war mit seinen knapp neunhundert Seelen einer der kleineren Ortschaften im Salzkammergut, dennoch zu jeder Jahreszeit ein beliebtes Reiseziel für Touristen und Erholungssuchende. Besonders zog es Touristen aus China an diesen Platz, denn ein Architekt hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den kompletten Ort mit Marktplatz und Altstadt maßstabsgetreu, wenn auch spiegelverkehrt, in China nachzubauen. Stets sah man Touristen aus aller Welt, besonders aber aus Fernost auf dem Marktplatz stehen und begeistert die hübschen Häuser mit den bunten Klappläden und Blumenkästen fotografieren.
Clara wohnte mit ihrem Mann Gabriel seit einigen Jahren in Hallstatt. Ihr Haus lag etwas oberhalb des Sees und hatte im Erdgeschoss einen kleinen, gemauerten und bauchigen Durchgang, der aussah wie ein kurzer Tunnel. Die meisten Passanten mussten ihn durchlaufen, um in den Ortskern zu gelangen. Ihr Haus war mit dunklem Holz verkleidet und mit wildem Wein bewachsen, sodass teilweise nur noch die Fenster zu erspähen waren. Von ihrem Wohnzimmer aus gelangte Clara auf einen kleinen Balkon, von dem aus sie den ganzen See überblicken konnte. Hier fühlte sie sich am wohlsten und genoss bei gutem Wetter fast täglich ihre morgendliche Tasse Kaffee. Der Balkon hatte zwei Rundbögen aus Holz, die genau wie das gesamte Haus komplett mit Wein bewachsen waren. Von den vorderen Balken der Rundbögen hingen runde Pflanzschalen mit pinkfarbenen Geranien, die dem Balkon einen besonderen Farbtupfer verliehen. Clara hatte sich hier ein kleines Paradies geschaffen und liebte es, von dort aus über den See zu blicken und das Geschehen im Ort zu beobachten. Man konnte von ihrem Balkon aus wunderbar und ungestört die Passanten beobachten, die täglich durch Claras Hausdurchgang liefen, doch da sie dort oben so schön versteckt und geschützt saß, wurde sie fast nie von einem Spaziergänger entdeckt. Sie hatte das Haus von ihren Eltern übernommen, als diese sich in Bad Aussee in einer kleineren Wohnung niedergelassen hatten, um dort ihren Lebensabend zu genießen. Sie hatten zu Clara gesagt, sie würden doch allmählich älter und weniger beweglicher und könnten daher das große Haus nicht mehr alleine bewirtschaften. Clara war dort aufgewachsen, und so war es für sie und Gabriel eine Herzensangelegenheit, das kleine Schmuckstück nach und nach zu restaurieren und ihm zugleich auch ihren eigenen Stil zu verleihen. Gabriel war Antiquitätenhändler und hatte sich zusammen mit Clara in Hallstatts Innenstadt einen kleinen Laden gemietet, in dem er wunderschöne und seltene Möbelstücke verkaufte. Nicht nur Touristen fanden den Weg in ihren Laden, sondern auch Einheimische und Stammkunden statteten ihnen regelmäßig einen Besuch ab. Gabriel war beruflich oft unterwegs, um neue Möbelstücke einzukaufen, die er dann in seinem Laden an den Mann brachte. Claras Aufgabe bestand eher darin, die Buchhaltung zu regeln und die Kunden bedienen zu helfen. Sie kannte sich mittlerweile gut in der Branche aus und konnte die Abnehmer adäquat beraten. Ursprünglich kam sie aus einem gänzlich anderen Berufsfeld und hatte jedoch Gabriel zuliebe einige Jahre zuvor umgeschult. Nach dem Abitur hatte sie eine Ausbildung zur Flugbereiterin begonnen und den größten Teil ihres Berufsalltags in anderen Städten und Ländern verbracht.
Man könnte meinen, dass sie als Flugbegleiterin die ganze Welt habe erkunden können, und die tollsten Sehenswürdigkeiten zu sehen bekommen hätte, doch die meiste Zeit verbrachte Clara in Hotelzimmern und Restaurants, denn die Zwischenstopps waren meist kurz, und der Jetlag trug dazu bei, dass ihr nicht viel Kraft für touristische Aktivitäten blieb. Auf einem ihrer Flüge lernte sie Gabriel kennen, der auf dem Weg nach Palermo war, um dort einen seltenen, alten Sekretär zu erwerben, der ihm in einem Katalog ins Auge gefallen war. Sie hatten sich während des Flugs angeregt unterhalten, und nach der Landung hatte Gabriel im Terminal auf Clara gewartet, um sie zum Essen einzuladen. Eigentlich hatte sich Clara prinzipiell nicht mit Fluggästen eingelassen, doch bei Gabriel hatte sie eine Ausnahme gemacht, weil er charmant und unterhaltsam war und sie zum Lachen brachte. Er konnte spannend und phantasievoll aus seinem Leben erzählen und las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Er war einen Kopf größer als sie, war stets elegant und anspruchsvoll gekleidet und sah mit seinem hellbraunen Haar und den strahlend blauen Augen anziehend aus. Clara war beeindruckt von seinem sicheren Auftreten, seiner souveränen Art und wie er sich artikulierte. Nach wenigen Monaten machte er ihr einen romantischen Heiratsantrag, und sie sagte ja.
Ihre Flitterwochen verbrachten sie überglücklich in Venedig und zogen kurz danach in Claras Heimatort Hallstatt. Sie eröffneten schon bald den Antiquitätenladen und wurden zu einem beliebten Anlaufpunkt für stilbewusste und gut betuchte Kunden. Clara widmete sich ihrer Rolle als Beraterin und bediente die Interessenten kenntnisreich und zuvorkommend. Sie vermisste zwar das Fliegen und Reisen in ferne Länder, doch mittlerweile war sie fünfunddreißig und hatte das Gefühl, es sei angenehm, endlich ein sesshaftes Leben zu führen und dort angekommen zu sein, wo sie immer hatte sein wollen. In den ersten zwei Jahren nach der Hochzeit legte Gabriel ihr die Welt zu Füßen. Sie fand ihn weiterhin charmant und war stolz auf ihren „Vorzeige-Ehemann“. Doch allmählich trübte sich der anfangs so überaus sonnige Ehehimmel, und es schlichen sich unangenehme Verhaltensweisen ein. Zunehmend schien er genervt und schrie Clara aus nichtigen Gründen an. Clara konnte sich das nicht erklären. Sie sah zwar, dass ihm die Arbeit über den Kopf wuchs, litt jedoch sehr darunter, dass er seine Wutausbrüche an ihr ausließ, und sah kein Mittel, sich dagegen zu wehren. Ihm schien seine Ehe indessen weiterhin perfekt, und er sah keinen Grund, sich darüber tiefere Gedanken zu machen. Dass Clara unter seiner Art litt und öfters im Stillen weinte, bemerkte er überhaupt nicht. Sie zog sich immer mehr zurück, war nachdenklich und in sich gekehrt. Sie hatte sich ihm gegenüber immer liebevoll und geduldig verhalten, hatte ihm das Leben nie schwergemacht. Ganz im Gegenteil. Sie tat ihre Arbeit, ohne zu klagen, hielt das Haus in Ordnung und kümmerte sich um die Bestellungen im Laden. Hin und wieder mussten Ausstellungen auf dem Marktplatz von Hallstatt organisiert werden, und sie hatte sich dann um die Stände zu kümmern, wo ein Teil ihrer antiken Möbel zu Schau stand. All diese Anstrengungen sah Gabriel als selbstverständlich an, und je besser Clara ihre Pflichten erfüllte, um so mehr forderte er von ihr. Eines Abends brachte sie beiläufig das Thema Kinder zur Sprache und bekam nur eine mürrische und abweisende Antwort von ihm zu hören. Mit seinen fast vierzig Jahren sei für ihn dieses Thema nun wirklich nicht mehr aktuell, erklärte er und fügte hinzu, sie beide seien doch durchaus glücklich, auch ohne Kinder. Außerdem habe er genug um die Ohren, und seinem weiteren geschäftlichen Fortkommen stünden Kinder bloß im Weg.
Dies war einer der Momente, in dem Clara merkte, dass es vielleicht ein Fehler gewesen war, Gabriel zu heiraten. Sie fühlte sich sehr einsam und von seinen abweisenden Worten verletzt. Ein Kind würde ihrem Leben einen neuen Sinn und schöneren Inhalt geben, das wusste sie genau. Doch jedes Mal, wenn sie auf das Thema zurückkam, gab es Streit, Gabriel wurde ausfallend, und schließlich brüllte er sie regelrecht an, er wolle keinen Nachwuchs, und damit sei der Fall ein für alle Male erledigt. Einen ganzen Tag lang vergrub sich Clara weinend im Bett und trauerte um das Kind, das sie vielleicht nie haben würde. Ihr Leben kam ihr vor wie das sprichwörtliche Hamsterrad, das sie unaufhörlich drehen musste und das sie niemals freigeben würde. Das waren die Augenblicke, in denen sie schmerzlich an den einen Mann dachte, der ihr in ihrer Schulzeit das erste Mal über den Weg gelaufen war und in den sie sich hoffnungslos verliebt hatte. Sie war kaum fünfzehn, genau wie er, als sie sich das erste Mal auf dem Schulhof begegneten und ihre Blicke sich trafen. Sie hatten wohl immer etwas füreinander übrig, wechselten aber niemals ein Wort miteinander. Einzig ihre Blicke trafen sich und ruhten für einen Moment auf dem jeweils anderen. Es waren seitdem einige Jahre vergangen und der Zufall wollte es, dass sie sich durch schicksalhafte Umstände wieder über den Weg liefen und die ersten Worte miteinander austauschten. Nun kannte sie auch seinen Namen – Anton.
Anton war zu einem jungen, überaus attraktiven Mann herangewachsen und wirkte womöglich noch anziehender auf sie als damals. Clara hatte sich unwiderruflich in ihn verliebt, doch nichts verriet ihr, ob er sich erinnerte; im Gegenteil – er wirkte eher kühl und sogar teilweise abweisend auf sie.
An diesem regnerischen Morgen in der Küche ihres Hauses dachte Clara wieder an Anton. Der Traum der letzten Nacht ließ sie nicht los, und sie versuchte sich in Gedanken immer und immer wieder an die Szene auf dem Boot zu erinnern. Sie hatte Anton zwar seit Jahren nicht mehr gesehen, doch sah sie ihn geradezu leibhaftig vor ihrem inneren Auge. Sein Gesicht und seine Stimme hatten sich ihr fest ins Gedächtnis gebrannt. Sie wünschte sich, dass es kein Traum gewesen wäre, und zugleich packte sie das schlechte Gewissen bei diesem Wunsch. Wenn sie sich nun umdrehte und statt Gabriels mürrisches Gesicht in die sanften braunen Augen von Anton blicken könnte – wie herrlich wäre das! War das aber nicht ein sündiger Wunsch?
Sie ermahnte sich wie immer, wenn sie in Gedanken ihren Mann mit einem anderen betrog, und ohrfeigte sich im Stillen dafür. Sie kam sich falsch und albern vor und wollte diese Gedanken und Gefühle abschalten, schaffte es aber nicht. Liebte sie ihren Mann denn nicht? War es möglich, zwei Männer gleichzeitig zu lieben? Wie konnte sie mit dem einen Mann ihr Leben teilen, bedingungslos, immer für ihn da sein, und gleichzeitig ihr Herz an einen anderen schenken, dem anderen, den sie niemals würde haben können? Clara war im Zwiespalt.
Sie hatte ein reines Herz und war beschämt über sich und ihre falschen Gedanken, denn sie hatte das Gefühl ihren Mann zu betrügen und sie wollte ihm gegenüber nicht länger unmoralisch sein, denn egal wie er sie manchmal behandelte, das hatte er nicht verdient. Durfte sie sich in ihren Träumen einem anderen hingeben?
„Clara, ich muss jetzt in den Laden, ich bin spät dran“, sagte Gabriel hinter ihr.
Clara reagierte nicht auf seine Worte. Zu tief war sie in ihren Tagträumen versunken.
„Clara?“, wiederholte er.
Sie holte tief Luft, stellte ihre Tasse auf die Arbeitsplatte und antwortete leise und und etwas zögerlich.
„Ja, ist gut.“
Sie umspielte mit ihren Fingern den Henkel der Tasse und ihr Blick glitt wehmütig über den See. Dort hatte sie im Traum mit dem anderen Mann im Boot gesessen, der nicht ihr eigener war. Tränen stiegen ihr in die Augen, die sie schleunigst unterdrückte und wegzuwischen versuchte. Sie stand Gabriel noch immer mit dem Rücken zugewandt am Fenster und hielt den Kopf geneigt. Auf dem Tisch lagen einige Unterlagen, die er dort ausgebreitet hatte. Er schrieb hastig ein paar Notizen, sammelte die Papiere ein, packte sie in einen Ordner und verstaute ihn in seiner Aktentasche.
Er runzelte die Stirn, stand auf und schob seinen Stuhl an den Tisch.
„Ist alles in Ordnung mit dir? Du machst seit einigen Tagen einen geradezu abwesenden Eindruck. Ist irgendetwas vorgefallen? Warum bist du so komisch zu mir?“
Er rückte seine Krawatte zurecht, knöpfte sein Sakko zu und trat vor Clara hin.
Forschend blickte er ihr ins Gesicht. Sie drehte sich um und setzte ein gequältes Lächeln auf.
„Nein, nein, ich war nur in Gedanken. Ich überlege, was ich noch alles erledigen muss, das ist alles.“
Sie streichelte ihm sanft lächelnd über die Wange und schon schien er beruhigt. Seine Gedanken gingen über sie hinweg, und er fragte: „Ach ja, da fällt mir ein: Denkst du bitte an die Lieferung für Frau Stangel? Sie kommt heute in den Laden, um ihre Vintage Kommode zu holen. Du müsstest noch die Rechnung fertig schreiben, einen Garantieschein ausstellen und alle weiteren Daten und Fakten für sie auflisten.“
Er nahm seine Aktentasche, griff sich noch einen Apfel aus dem Obstkorb und verabschiedete sich mit einem Kuss auf Claras Wange.
„Ich erwarte dich dann in zwei Stunden im Laden. Und sei bitte pünktlich! “, sagte er geschäftsmäßig. Clara nickte einwilligend und bejahte seine Aufforderung. Gabriel war jeden Tag um einiges früher im Geschäft als sie, denn er erledigte vorab diverse Rechnungen und Bestellungen und telefonierte mit Händlern, um Lieferungen zu organisieren. Als er durch die Tür war und das Haus verlassen hatte, begab sich Clara ins Bad, duschte und zog sich für die Arbeit an. Sie band wie immer, wenn sie ins Geschäft ging, ihre langen blonden Haare streng zu einem Dutt, setzte die Brille auf, die sie zum Lesen und Arbeiten am Computer benötigte, und schlüpfte in ihren Hosenanzug. Sie hatte zwar nicht mehr die klassischen Modelmaße, die bei einer Flugbegleiterin erwünscht waren, doch sie fühlte sich mit ihren kleinen Rundungen recht wohl. Es gelang ihr auch stets, die Problemzonen durch geschickt gewählte Kleidung zu kaschieren, und sie machte nach wie vor eine gute Figur. Sie war recht groß, hatte ein üppiges Dekolleté und fand im Übrigen, dass ihre Rundungen genau an der richtigen Stelle saßen. Schließlich brauchte sie sich, seit sie den Job bei der Airline aufgegeben hatte, nicht mehr darum zu kümmern, ob sie in ein Kostüm der Größe 34 oder 36 passte. Sie fühlte sich befreit und schlemmte gelegentlich nach Herzenslust. Hin und wieder trieb sie ein wenig Sport und fühlte sich dadurch gesund und fit.
Als sie komplett fertig für die Arbeit war, und sich im Spiegel anschaute, schüttelte sie den Kopf und stieß einen lauten Seufzer aus. Schluss mit den törichten Gedanken! Sie versuchte den Traum zu verscheuchen, der immer von neuem wieder vor ihrem inneren Auge aufsteigen wollte. Antons Lächeln spukte in ihrem Kopf herum. Sie konnte es selbst nicht begreifen, denn mittlerweile waren einige Jahre vergangen, seitdem sie ihn das letzte Mal gesehen hatte.
Sein Gesicht, seine Augen, sein Lächeln, alles sah sie noch prägnant vor Augen. Würde sie ihm denn überhaupt jemals wieder begegnen? Und wie sollte ihr das gelingen? Sie wusste ja gar nicht, wo er wohnte und wo er arbeitete. Sie wusste überhaupt nichts von seinem wirklichen Leben. Vielleicht war er längst vergeben.
Sie überlegte, wann sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Das musste auf einem gemeinsamen Flug gewesen sein. Nach der Schule hatten beide, unabhängig voneinander, bei der gleichen Fluggesellschaft eine Ausbildung begonnen, Anton als Pilot und Clara als Flugbegleiterin. Durch Zufall waren sie sich auf einem Flug nach Spanien begegnet. Da nie eine feste Crew besetzt wurde, sondern die Piloten und auch die Flugbegleiter immer wechselten, war es mehr als nur Schicksal gewesen, dass sie zusammen flogen, dachte Clara damals. Ob er immer noch als Pilot arbeitete? Ob er immer noch bei derselben Airline angestellt war?
Sie wusste nur ein Mittel verwirrende und trübe Gedanken abzuschütteln: sie musste zum Friedhof gehen, an das Beinhaus, in dem die Schädel der Toten von Hallstatt gestapelt waren und hinter der Mauer der kleinen Kapelle einen Stein beiseite rücken.
Dort war ihr Tagebuch versteckt. Dies war ein Geheimnis, das niemand außer ihr wusste. Weder ihr Mann, noch ihre engsten Freunde. Anfangs war sie sich komisch vorgekommen. Tagebuchschreiben war doch eher etwas für verliebte Teenager, hatte sie gedacht. Doch dann hatte sie herausgefunden, dass es ihr guttat, ihre Gefühle schriftlich niederzulegen, und sich alles von der Seele zu schreiben. So wurde das Schreiben zu einer Art Therapie für sie. Da konnte sie sich vollkommen öffnen, und niemand würde sie verurteilen können für das, was sie schrieb.
Sie hatte ihr Tagebuch ganz bewusst oben auf dem Hallstätter Friedhof deponiert, denn die Gefahr, dass Gabriel es finden würde, auch wenn sie es daheim noch so gut versteckte, schien ihr zu groß. Sie mochte sich kaum ausmalen, was passieren würde, wenn er von ihren Gefühlen für Anton erfuhr. Er würde sie wahrscheinlich einfach nur kopfschüttelnd anschauen, seine Sachen packen und sie verlassen. Oder er würde sie heftig anschreien, wilde Diskussion beginnen und die Türen knallen. Es wäre auch nur sein gutes Recht, denn schließlich hegte sie heimliche Gefühle für einen anderen Mann. Als sie merkte, dass sie wieder öfter von Anton träumte und sogar tagsüber immer öfter in Gedanken versunken war und ihn nicht aus dem Kopf bekam, fing sie an Tagebuch zu schreiben. Seit einem Jahr kam sie nun regelmäßig vor oder nach der Arbeit zum Friedhof, Sommer wie Winter, und schrieb alles auf, was ihr in den Sinn kam. Bis jetzt hatte niemand ihr Versteck gefunden, oder sich gefragt, warum eine erwachsene Frau dort auf der Friedhofsmauer saß und in ein Buch schrieb. Die meisten Bewohner von Hallstatt waren viel zu sehr mit sich selbst oder der Grabpflege beschäftigt, als dass sie Clara überhaupt wahrnahmen. Im Winter kamen sowieso nur selten Besucher dorthin, und so saß sie meistens ganz allein, mit einer Decke um sich, auf der Mauer und schrieb. Sie hörte erst auf zu schreiben, wenn die Handschuhe sie nicht mehr genügend wärmten und ihre Finger schon steif vor Kälte wurden. An diesem Morgen beschloss Clara, noch einen kleinen Umweg auf den Friedhof zu machen, bevor sie den Tag mit ihrem Mann im Geschäft verbringen würde. Sie musste einfach wieder schreiben, um ihre Gedanken und Gefühle zu ordnen und zu formulieren, damit sie sich beruhigen konnte und eine Weile Ruhe vor ihnen hatte. Sie wusste, dass ihr das manchmal nur unzureichend gelang, sodass ihr den ganzen Tag über Bilder im Kopf herumschwirrten und sie nicht losließen.
Clara zog Winterstiefel und einen dicken Mantel an und verließ das Haus. In der Diele hatte sie immer eine warme Decke liegen, die sie an besonders kalten Tagen mitnahm und auf der Friedhofsmauer als Unterlage benutzte. Natürlich musste sie das Ding anschließend mit in den Laden nehmen, doch Gabriel war meistens so vertieft in die Arbeit, dass er es nicht in Frage stellte oder sich wunderte, warum Clara mehrmals die Woche mit einer Decke im Laden erschien.
Clara lief die Straße entlang, die in die Altstadt von Hallstatt führte - vorbei an kleinen Wohnhäusern, einladenden Bäckereien und aparten Souvenirläden, bis sie an ihrem Stammkiosk anhielt. Dort kam sie jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit vorbei, holte sich ihren zweiten Becher Kaffee und kaufte eine Kronenzeitung. Franz, dem der Kiosk gehörte, kannte sie schon seit vielen Jahren und legte ihr oft eine kleine Süßigkeit zu ihrem morgendlichen Einkauf dazu. Er war ein herzensguter Mensch, der für seine Kunden stets ein Lächeln und einen lustigen Spruch auf den Lippen hatte. Der Kiosk lag direkt an der Seepromenade und bot Süßigkeiten, Tabakwaren und Kaffee an dazu die wichtigsten Zeitungen und Magazine, eben alles, was ein Tourist oder Einwohner auf dem Weg in die Innenstadt im Vorbeigehen gerne mitnahm. Franz trug stets Lederhosen und einen Filzhut, saß hinter der Verkaufstheke und löste Kreuzworträtsel, um seine grauen Zellen auf Trab zu halten. Clara machte sich oft den Spaß und verriet ihm die Lösungen für die Spalten, die noch unausgefüllt waren. Dann schmunzelte er und brummte, dass er ohne ihre Hilfe wahrscheinlich nie das Lösungswort erreicht hätte und sie ein eingespieltes Team seien, wenn es um das Lösen von Kreuzworträtseln ging.
„Guten Morgen, Franzl. Wie geht es dir heute?“
Clara legte ihre Handtasche auf die Theke und kramte nach der Geldbörse.
„Guten Morgen, Clara. Wie soll es einem alten Mann schon gehen, so kurz vor dem Ruhestand? Blendend natürlich. Und wenn ich dich sehe, geht doch gleich die Sonne auf, auch an einem tristen Tag wie heute.“
Clara lächelte. Er erinnerte sie ein wenig an ihren Großvater, der schon vor längerer Zeit verstorben war, und in seiner Gegenwart fühlte sie sich ruhig, so weise und verständnisvoll wirkte er auf sie.
„Ach, Franzl, du bist zu gut zu mir.“
Er griff in den Zeitungsständer, holte eine Kronenzeitung hervor, und goss ihr einen Becher Kaffee ein.
„Ich nehme an, du nimmst das Übliche?“
Er zwinkerte ihr zu.
Clara nickte und legte die Münzen auf die Theke, genau wie jeden Tag, und wie immer rundete sie den Betrag ein bisschen auf.
„Danke dir Franzl! Ich muss weiter, bin etwas spät dran. Gabriel wartet nicht gerne.“
„Ist schon Recht. Die jungen Leute haben eben kaum noch Zeit.“
Franz nickte freundlich zum Abschied.
„Morgen sehen wir uns wieder!“
Clara raffte lächelnd ihre Decke und die Zeitung zusammen, nahm den Kaffeebecher in die andere Hand und lief weiter.
Um zum Friedhof zu gelangen, musste sie eine steile Treppe hinaufsteigen, die im Winter hin und wieder vereist und dann so gefährlich rutschig sein konnte, dass es schier unmöglich schien, sie zu erklimmen. Doch Clara wusste, dass da oben ihr Tagebuch auf sie wartete und sie fast alles dafür tun würde, um darin zu schreiben.
Der Regen hatte aufgehört. Die Stufen waren noch etwas nass und rutschig, doch das feuchte und diesige Wetter würde dafür sorgen, dass Clara auf dem Friedhof ungestört war. Sie würde ihren Gedanken freien Lauf lassen können, ganz ohne dass jemand sie beobachtete, ablenkte oder gar ansprach. Wie wohltuend diese Stille war! Sie legte ihre Decke auf die Mauer, ging um die kleine Kapelle des Beinhauses herum zu der Mauer dahinter, die aus unregelmäßig angeordneten Steinen bestand, und kniete nieder. Unter einem der Steine hatte sie eine kleine Kuhle gegraben und darin ihr Tagebuch versteckt.
Clara zog es hervor, klopfte die lose Erde ein wenig ab und ging zu der Mauer zurück, auf der ihre Decke lag. Sie ließ sich darauf nieder und holte einen Kugelschreiber aus der Handtasche. Was für einen schönen Blick hatte man von hier aus über den ganzen See und die umliegenden Berge! Es war ein traumhaftes Naturidyll.
Bei diesem Anblick geriet Clara immer wieder ins Schwärmen, und dann stiegen die Gefühle in ihr hoch, die sie oft bezwingen und unterdrücken musste, und sie wünschte sich, Anton wäre bei ihr, legte den Arm um die Schulter und betrachtete mit ihr diese herrliche Gegend. Sie seufzte leise und wickelte sich die Decke um. Nun konnte sie anfangen zu schreiben.
Heute ist wieder so ein Tag! Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen oder mich einfach nur ohrfeigen soll. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen, und, dass ich jetzt gleich zu Gabriel ins Geschäft muss, macht mich schier wahnsinnig. Ich ertrage es nicht, ihm in die Augen zu schauen und zu wissen, dass mein Herz etwas Anderes sagt und will als mein Verstand. Zu wissen, dass ich eigentlich in einen anderen Mann verliebt bin, den ich noch nicht einmal richtig kenne, von dem ich nicht viel weiß und mit dem es nie eine Zukunft geben kann, lässt mich nicht mehr ruhig schlafen. Ich fühle mich Gabriel gegenüber so schuldig und kann mir das Ganze selbst wohl nie verzeihen. Was ist nur mit mir los? Es war nie meine Absicht meinen Mann zu verletzen, denn auch wenn er nichts von meinen Gefühlen für Anton weiß, spüre ich, dass ich Verrat an ihm begehe. Ich betrüge ihn zwar nur in meiner Fantasie, aber es ist einfach falsch solche Lust und Empfindungen einem anderen Mann gegenüber zu haben.
Aber es heißt doch auch, dass man gegen die Gefühle des Herzens nicht ankämpfen kann! Das Herz macht was es will. Vielleicht sollte ich aufhören mich ständig selbst zu beschuldigen und einfach entspannter an die Sache rangehen - vielleicht löst sich dann alles von selbst.
Aber ich kann nicht. Ich kann Anton einfach nicht vergessen oder aus meinem Bewusstsein entfernen. Gut, es funktioniert vielleicht ein paar Tage lang, doch dann gibt es wieder irgendeine Situation in meinem Alltag, die mich an ihn erinnert, und schon sind all die Bilder in meinem Kopf wieder da. Manchmal glaube ich selbst nicht was ich hier schreibe und ich bin davon überzeugt, wenn jemand das hier lesen würde, hält er mich für komplett wahnsinnig und würde mich sofort ins nächste Spital einweisen lassen. Warum kann ich nicht einfach meinen Kopf ausschalten, aus meinem „Traum“ erwachen, und es wäre so, als hätte es Anton nie gegeben?
Will ich das denn? Nein, in meinem Innersten will ich, dass er der Mann ist, der mich jeden Morgen wach küsst, mich auf Händen trägt, stundenlang mit mir im Bett liegt, mich einfach nur ansieht, oder sich mit mir streitet, wenn etwas zwischen uns steht. Was würde ich darum geben einfach nur neben ihm zu liegen und in seine wunderschönen Augen zu blicken.
Solche Wünsche kann niemand empfinden, der glücklich verheiratet ist. Demnach bin ich eine schlechte Frau. Und da stellt sich mir die Frage: bin ich denn wirklich glücklich? In meiner Ehe? Mit meinem Leben? Wie definiert man Glück? Glücklich schätzen kann ich mich ja im Grunde genommen, weil ich gesund bin, einen Mann an meiner Seite habe, der natürlich auch seine Ecken und Kanten hat, mich aber dennoch bedingungslos liebt und eigentlich immer gut zu mir war. Natürlich hat er hin und wieder seine Wutausbrüche und ist nicht immer fair zu mir, aber insgesamt ist doch alles gut zwischen uns. Und wir sind auch zufrieden mit dem, was wir haben. Unser Geschäft läuft fabelhaft. Ich habe eine verständnisvolle, liebe Freundin, die immer ein offenes Ohr für mich hat und mich auffängt, wenn es mir schlecht geht. Was ist es also, nachdem ich mich so sehne und verzehre? Warum kann ich nicht einfach mit dem zufrieden sein, was ich schon habe? Es ist ja nicht so, als ob ich materielle Dinge brauche um glücklich zu sein. Ich brauche einfach nur diesen einen Mann. Anton!
Oh Gott, was schreibe ich hier? Lächerlich. Ich weiß ja nichts von ihm! Woher will ich eigentlich wissen, wie er wirklich ist? Vielleicht ist er ein absoluter Vollidiot, unfähig eine Beziehung zu führen und nur auf kurzweilige Affären aus. Ja, so wird es sein.
Aber gab es denn wirklich eindeutigen Anzeichen, dass er mich in irgendeiner Art und Weise anziehend gefunden hat, oder bilde ich mir das nur ein und rede es mir schön?
Es gab da so einige Situationen, da dachte ich, dass er meinem Aussehen und meinem Charme nicht widerstehen konnte. Das glaube ich zumindest. Oder war es Einbildung?
Habe ich nur gesehen, was ich sehen wollte, empfunden, was ich empfinden wollte?
Ich weiß es einfach nicht. Und doch bin ich der festen Überzeugung, dass jeder Mann, egal ob ledig, vergeben, verheiratet, kinderlos oder Vater, Frauen hinterherschaut, die er attraktiv findet.
Ich meine, das ist ja nicht verwerflich, sondern ein normaler Reflex, den wohl jeder Mann in sich trägt. Und mir kann keiner erzählen der vergeben ist, dass er nicht schon mal einer anderen Frau hinterhergeschaut hat und sich gedacht hat: “Nicht schlecht, die würde ich auch nicht von der Bettkante schubsen.“ In dieser Hinsicht sind doch alle Männer irgendwie gleich gepolt.
Damals, als Anton und ich einen gemeinsamen Flug hatten, gab es so viele Situationen, in denen es geradezu geknistert hat und ich mir aber bis heute nicht sicher bin, ob er eine Freundin hatte oder nicht. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, wie ich auf einem Langstreckenflug mehrmals zu beiden Piloten ins Cockpit gegangen bin, um sie mit Kaffee und Essen zu versorgen. Da stellte ich Antons Tablett mit dem Essen vor ihn hin und brachte ihm anschließend noch einen Kaffee.
Ich hatte meine Hand noch nicht von dem Becher gelöst, da ergriff er sie und hielt sie für einen kurzen Moment fest. Er schaute mich an, lächelte und zwinkerte mir zu. Das kann doch kein Zufall gewesen sein? Danach hatte ich das Gefühl, als ich dabei war das Cockpit zu verlassen und die Tür hinter mir zu schließen, dass beide über mich redeten und sich nach mir umdrehten. Mehrmals auf diesem Flug wurde ich ins Cockpit gebeten und jedes Mal lag irgendwie etwas Magisches in der Luft. Dann sind wir uns auf dem Weg zur Toilette begegnet. Wir mussten uns sehr dicht aneinander vorbeidrängen, da der vordere Teil im Flieger recht eng ist und bei voller Besatzung immer viel Trubel herrscht. Wir schauten uns beide tief in die Augen, pressten unsere Körper aneinander und gingen dann wieder unserer Arbeit nach. Wenn ich an seinen Duft denke, bekomme ich jetzt noch weiche Knie.
Ich hatte eine heiße Thermoskanne mit Kaffee in der Hand und wollte gerade meine zweite Runde im Service beginnen, als es geschah. Er blieb vor der Toilettentür stehen, legte seine Hände an den Gürtel und schaute mir nach, so intensiv, dass ich seinen Blick spürte. Ich drehte mich um, biss mir verführerisch auf die Lippen und scannte ihn von oben bis unten ab. Als er das sah, stieß er einen leisen Pfiff aus und fuhr sich leicht kopfschüttelnd durch die Haare. Ich hatte diese Begegnung eigentlich als Schlüsselmoment gedeutet, aber ich kann mich natürlich auch täuschen, denn er hat nie zu mir gesagt, dass er interessiert wäre. Gott, warum haben Männer in Uniform auf viele Frauen so eine anziehende Wirkung? Zumindest ist es bei mir so, denn sobald ich einen Mann in seiner Arbeitskleidung sehe, macht sich in mir augenblicklich ein betörendes Gefühl breit. Vielleicht assoziiert man diese Männer automatisch als die starken Beschützer, die viel Verantwortung tragen und deshalb so eine anziehende Wirkung haben. Ich jedenfalls empfinde das so, wenn ich einen Mann in Uniform vor mir habe. Ich kann dafür einfach keinen plausiblen Grund finden, aber Fakt ist: Anton plus Uniform gleich Sexsymbol und Magnat.
Warum aber, wenn es doch so viele Andeutungen und Anzeichen gab, kam es nie zu einem nächsten Schritt? Hätte ich vielleicht selbst die Initiative ergreifen sollen? Vielleicht hätte ich ihn einfach nach dem Flug in der Gangway ansprechen sollen und mich ganz zufällig wieder an ihm vorbeidrücken müssen. Aber darüber brauche ich mir keine Gedanken mehr zu machen, denn das sind alles Dinge die hinter mir liegen und die ich sowieso nicht mehr ändern kann. Ich darf einfach nicht zu sehr in der Vergangenheit leben, oder denken, was mir die Zukunft wohl bringt, sondern im Hier und Jetzt, denn das ist es schließlich was zählt und mich wirklich weiterbringt.