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Elliots Leben ist außer Kontrolle geraten. Wenn er es nur wieder in die Hand bekommen könnte! Jetzt, an seiner neuen Schule, sieht er die Chance, von vornherein ein anderes Image von sich aufzubauen. Er wird einen neuen Elliot erfinden, der so kaltblütig und abgebrüht ist, dass ihn nie wieder jemand verletzen kann. Das Ergebnis übertrifft seine kühnsten Träume - bald aber auch seine schlimmsten Alpträume. Du musst in der richtigen Weise bemerkt werden - das hat Elliot aus den bitteren Erfahrungen an seiner alten Schule gelernt. Jetzt wird er sich nicht mehr in die Opferrolle drängen lassen, sondern sich als einer geben, den nichts rühren kann.Die aus Angst geborene Strategie geht in ungeahnter Weise auf: Das Opfer wird zum Augenzeugen, eine Maske bedingt die nächste. Wer ist er selbst? Kann er wirklich die Machtphilosophie übernehmen, nach der die im Geheimen agierende Gruppe der Wächter eine ganze Schule beherrscht? Zum ersten Mal im Leben hat Elliot Macht. Aber die Macht hat einen furchtbaren Preis, und er sieht sich einer unlösbaren Aufgabe gegenüber, als er bestimmen soll, gegen wen er sie einsetzen will. Graham Gardners Roman, inspiriert von George Orwells 1984, ist dicht, eindringlich schonungslos offen und dramatisch. Er schildert Elliots Kampf ums Überleben mit einer Intensität, der man sich nicht entziehen kann.
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Seitenzahl: 254
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Graham Gardner
Aus dem Englischen von Alexandra Ernst
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Für meine Eltern
in Liebe und Respekt
Der Zweck der Verfolgung ist die Verfolgung. Der Zweck der Folter ist die Folter. Der Zweck der Macht ist die Macht. Fangen Sie nun an, mich zu verstehen?
George Orwell, 1984
Die letzte Stunde war vorbei. Er war schon fast zum Tor hinaus. Da packten sie ihn und schleppten ihn zurück zu den Umkleidekabinen hinter der Schule. Kevin Cunningham. John Sanders. Steven Watson. Jeder von denen war alleine schon schlimm genug. Die drei zusammen waren schrecklicher als alles, was er sich hatte vorstellen können.
Sie stießen ihn mit dem Rücken gegen die Wand und hielten seine Arme fest. Kevin schob sich ganz dicht an ihn heran, bis sein Atem Elliots Gesicht streifte.
«Hallo, Elliot. Hast du gedacht, wir hätten dich vergessen?»
Er sagte nichts. Jede Reaktion würde alles noch schlimmer machen.
«Antworte, wenn man mit dir spricht.»
«Nein.»
«Nein was?»
«Nein – ich habe euch nicht vergessen.»
«Du bist ein Verlierer, Elliot, weißt du das?»
«Das … weiß ich.»
Kevin lächelte. «Es gibt einen Ort für Typen wie dich, Elliot. Man nennt ihn Müllhalde. Warum tauchst du immer wieder in der Schule auf? Du weißt doch, dass wir auf dich warten, um dich dahin zurückzubringen, wo du hingehörst.» Er beugte sich vor und riss die Brusttasche von Elliots Jackett ab. Sie hing da wie eine tote Zunge.
Dann machte er dasselbe mit den anderen Jackentaschen.
Einen Moment lang fühlte Elliot gar nichts. Doch mit einem Mal bewegte sich etwas in ihm, als hätte man einen Schalter umgelegt. Plötzlich, unerklärlich und erschreckend explodierte ein weiß glühender Zorn, etwas, das Elliot noch nie erlebt hatte. Die Wut fraß sich durch ihn hindurch, geriet außer Kontrolle, wurde zu einem brüllenden Feuersturm, zu der Raserei eines Wahnsinnigen. Er riss sich von den Händen los, die ihn gepackt hatten, stürzte sich auf Kevin und schlug ihn, schlug ihn, schlug ihn – wieder und wieder und wieder …
«Ich bring dich um, ich bring dich um, bring dich um, bring dich um!»
Sie zerrten ihn zurück und warfen ihn wieder gegen die Wand. Sein Hinterkopf schlug gegen die Kacheln, und ihm wurde übel.
Langsam stand Kevin auf. Er wischte sich das Blut von seinem Mund. «Das wirst du bereuen», sagte er. «Sehr sogar.»
Elliots Zorn war verflogen. Er spürte nur noch eine wohlige Taubheit in seinem Innern. Alles stand jetzt klar und deutlich vor ihm. Schon bald würde er tot sein. Aber in Wirklichkeit hatten sie ihn bereits vor langer Zeit umgebracht. Also konnten sie ihm gar nicht mehr wehtun.
«Ihr könnt mich nicht umbringen», sagte er. «Ich bin doch schon tot.»
Der erste Schlag traf ihn direkt über dem Herzen, und es tat überhaupt nicht weh.
Ihr könnt mich nicht verletzen. Ich bin doch schon tot. Tot.
Aber dann folgte der zweite Schlag, auf die Seite seines Kopfes, und der dritte, genau dorthin, wo der erste gelandet war.
Und sehr bald kamen die Schmerzen.
Aber ihr könnt mir nicht wehtun, dachte er. Ich bin schon tot.
Der Schmerz wurde stärker – ein warmes Pochen, das sich langsam ausbreitete.
Dann explodierte eine thermonukleare Bombe in seinem Kopf, und er fiel. Und fiel. Und fiel. Und schließlich kam die Erlösung. Er starb.
Elliot Sutton schluckte die klebrige, säuerliche Angst herunter, die ihn zu ersticken drohte. Es war der erste Tag des neuen Jahres. In weniger als einer Woche erwartete ihn der erste Tag an seiner neuen Schule.
Denk positiv, sagte er sich immer wieder. Es sollte ein neuer Anfang für ihn werden. In seiner neuen Schule wusste niemand von den vergangenen Ereignissen. Er ging dorthin mit einer reinen Weste und einer völlig unbefleckten Identität. Er konnte ein neues Leben beginnen – etwas, das sie sich alle erhofften.
Das soll doch wohl ein Witz sein, dachte er. Als ob ein neues Haus und eine neue Stadt einen Zauberbann weben konnten, der seinen Vater gesund machen würde. Bisher hatte sein Vater nicht zu erkennen gegeben, dass er ihren Umzug überhaupt bemerkt hatte. Er saß in demselben Sessel und schaute sich dieselben Sendungen im Fernsehen an, Tag für Tag …
Denk positiv. Elliot schaute sich in seinem Zimmer um und betrachtete die vollen Umzugskisten, die dickbäuchigen Plastiktüten und den abgewetzten offenen Koffer, aus dem seine Kleider auf den Boden quollen. Es war zwei Wochen her, seit sie in dieses Haus gezogen waren, und er hatte es noch immer nicht über sich gebracht, seine Sachen auszupacken. Er zog einfach die Kleidungsstücke hervor, die er täglich brauchte, und redete sich ständig ein, dass er die Sache «morgen» in Angriff nehmen würde.
In Wahrheit fürchtete er sich davor auszupacken. Alles, was in den Kisten, den Plastiktüten und dem Koffer steckte, erinnerte ihn daran, wo er herkam. Und da wollte er ganz bestimmt nie wieder hin, nicht einmal in Gedanken.
Während er so dastand, wurde ihm klar, dass er eine Entscheidung getroffen hatte, ohne sich dessen wirklich bewusst gewesen zu sein. Er würde nicht auspacken. Das meiste, was da verstaut war, gehörte seiner Vergangenheit an, nicht seiner Gegenwart. Es sollte bleiben, wo es war. Er würde nur herausholen, was er unbedingt brauchte. Der Rest sollte verborgen bleiben. Vielleicht konnte er die Sachen sogar irgendwie loswerden – auf diese Art würde er niemals in Versuchung kommen, zu seiner Vergangenheit zurückzukehren.
Eine Welle von Energie überflutete ihn, und er machte sich an die Arbeit, bevor sie wieder abebben würde. Er leerte den Koffer auf dem Bett aus. Drei Paar Jeans, ziemlich abgetragen, aber das machte nichts. Sie durften bleiben. Ebenso seine Sweatshirts und seine T-Shirts. Einer der wenigen Vorteile, die es hatte, dass er seit seinem zwölften Lebensjahr nicht mehr viel gewachsen war, war die Tatsache, dass er noch keine neuen Kleider brauchte. Das war ein glücklicher Umstand, denn bei seinem letzten Versuch, seine Mutter zu überreden, ihm Geld für neue Sachen zu geben, hatte sie in seinen Kleiderschrank geschaut und gefragt: «Was ist denn an deinen Kleidern auszusetzen? Die sind doch noch tipptopp. Wahrscheinlich kannst du sie noch jahrelang tragen, solange du nicht wächst.» Was so viel hieß wie: Tut mir Leid, das können wir uns nicht leisten.
Die Schuluniform war ein Problem. Er brauchte Hosen, ein Jackett, Hemden, eine Krawatte, eine Sporttasche … Das alles würde ein Vermögen kosten. Es war völlig ausgeschlossen, dass seine Mutter das Geld zusammenkratzen konnte, um die Sachen neu zu kaufen. Sie würden in einem Secondhandshop welche besorgen müssen.
Was bedeutete, dass er sofort auffallen würde.
Er schob die niederschmetternden Gedanken über die Kleiderfrage zur Seite, tauchte in die erstbeste Kiste, kramte die wenigen Bücher hervor, die er mitgebracht hatte, und stellte sie auf das Regal.
Was den Rest des Zeugs anging … Er zog ein verstaubtes Fotoalbum hervor. Die Bilder – von ihm in den verschiedenen Stadien seiner Kindheit, von seiner Familie, seiner Mutter und seinem Vater – waren alle mindestens drei Jahre alt. Seine Mutter hatte schon seit langem keine Fotos mehr gemacht.
Er legte das Album zurück, schob die Kisten unter sein Bett und wuchtete den Koffer auf seinen Schrank.
Er beschloss keine Poster aufzuhängen. Er wollte saubere, blanke Wände haben. Sie würden ihm ständig in freundliche Erinnerung rufen, dass dieses Haus brandneu war. Frisch. So wie alles, was sich von nun an ereignen würde. Er atmete tief ein und genoss den reinen, verführerischen Duft von frischer Farbe und frischem Holz. Lange hielt er die Luft in seinen Lungen.
Eine Idee, die schon seit geraumer Zeit in seinen Gedanken gekeimt war, machte sich breit und entfaltete sich. Hier kennt mich niemand. Er hatte eine Chance. Nicht nur die Chance, den alten Elliot hinter sich zu lassen, sondern einen völlig neuen Elliot zu erfinden. Elliot, geboren aus dem Nichts.
«Hier kennt mich niemand», flüsterte er.
Es musste nicht so sein wie früher.
Ich lasse nicht zu, dass es so wird wie früher.
Einst waren sie eine glückliche Familie gewesen.
Das durfte er nie vergessen.
Sein Vater hatte sein eigenes Geschäft gegründet. Er wollte Verpackungen herstellen und verkaufen, spezielle Verpackungen für zerbrechliche und kostbare Güter. «Der Markt wartet nur darauf», sagte er immer wieder. Es gab Leute, die bereit waren, viel Geld dafür auszugeben, dass die Gegenstände, die sie mit der Post verschickten, nicht beschädigt wurden.
«Teuer und exklusiv. Darum geht es.» Auch das sagte sein Vater immer wieder. Wo er vorher gearbeitet hatte, war es alles andere als teuer und exklusiv zugegangen. Vielmehr hatte sich alles um billige Angebote und Massenware gedreht. Elliots Vater hatte Verpackungen für eine große Firma entworfen, die diese Verpackungen an andere große Firmen weiterverkaufte. Es war ja nicht so, dass er seinen Job verabscheute, hatte er Elliot erklärt. Aber er mochte ihn auch nicht besonders. Und deshalb reichte er eines Tages seine Kündigung ein und stellte sich auf eigene Füße.
Es war eine gute Zeit. Eine Atmosphäre von Erwartung und Erregung. Von ständiger Aktivität: Sein Vater, der ins Haus sauste, sein Essen herunterschlang und eilige Telefonate erledigte. Sein Vater, der sagte: «So muss man es machen – ich weiß es.» Mindestens zweimal am Tag sagte er das, jeden Tag, ein Jahr lang, so schien es. Und jeden Morgen zwängten sich Unmengen von Post, Umschläge über Umschläge, Briefe und Sendungen durch den Briefschlitz in der Tür.
Auch später waren noch jede Menge Briefe gekommen. Nach einer Weile versiegte die Flut. Stattdessen klopfte es an der Tür, meistens während des Frühstücks. Elliots Mutter stand auf, öffnete die Tür, unterschrieb auf dem Klemmbrett des Postboten und kam dann, auf das weiße oder braune Rechteck in ihrer Hand starrend, zum Esstisch zurück. Sie öffnete die Umschläge niemals in Elliots Gegenwart. Sie starrte sie nur an, als ob sie sie nicht deutlich erkennen könnte, als ob sie nicht verstehen würde, was sie bedeuteten.
Aber davor … Sobald die Briefe durch den Schlitz in der Tür raschelten, sprang sein Vater auf, um die Post zu holen. Er brachte sie zum Tisch und riss sie ungeduldig auf, während sich sein Gesicht beim Lesen zu einem Lächeln verzog oder er – gelegentlich – seine Stirn leicht in Falten legte.
«Das ist eine Investition in unser aller Zukunft. Das ist für uns alle.» Eine weitere Lieblingsphrase seines Vaters.
«Hörst du mir zu, Elliot, mein Junge? Das machen wir, damit wir dich weiter mit deinen heiß geliebten Büchern füttern können und trotzdem noch ein Abendessen auf dem Tisch steht. Ich habe übrigens gestern Abend noch um halb zwölf Licht in deinem Zimmer gesehen – aber wahrscheinlich hast du keine Ahnung, wie hoch unsere letzte Stromrechnung war, oder?»
Den letzten Satz brüllte er immer in gespieltem Ärger hervor. Dann, um zu beweisen, dass alles nur ein Scherz war, packte er Elliot um die Taille, wirbelte ihn herum und sagte: «Und wahrscheinlich erwartest du von mir, dass wir am Samstag schon wieder zusammen in die Bücherei gehen …»
Es war ein uralter Scherz. Elliot und sein Vater gingen jeden Samstag in die Bücherei, und Elliot las leidenschaftlich gern, solange er denken konnte. Wenn er sich in ein Buch vertiefte, versank er in einer anderen Welt, im Innern einer Geschichte. Eine kurze Zeit lang ließ ihn die Wirklichkeit in Ruhe.
Auch jetzt griff er nach einem Buch.
Er versuchte die Angst auszublenden.
Glückliche Familien.
Denk positiv.
Um einen neuen Elliot zu erschaffen, brauchte er zunächst einmal Geld. Viel Geld.
In seiner Spardose hatten sich einhundertzweiundneunzig Pfund und neunundachtzig Pence befunden. Jeder Geldschein und jede Münze, die er sich verdient hatte, indem er fünf Tage in der Woche früh aufgestanden war und Zeitungen ausgetragen hatte. In Gedanken hatte er das Geld für unberührbar erklärt, bis zu dem Tag, an dem er etwas finden würde, was er sich wirklich wünschte.
Seine Geldbörse war ganz prall von den Scheinen und Münzen, als er jetzt durch das Einkaufszentrum streifte.
Er konnte jederzeit wieder anfangen zu sparen, für etwas, das er sich wirklich wünschte. Ja, sicher. Aber im Augenblick war wichtiger, was er wirklich brauchte.
Nachdem er die Sporttasche gekauft hatte, waren allein für seine Schulausstattung schon über hundert Pfund angefallen, und das, obwohl er Glück gehabt und ein gut erhaltenes Secondhandjackett gefunden hatte. Die Schuhe kosteten weitere vierzig Pfund.
Nach seinem Einkauf ließ er sich die Haare schneiden. Anstelle seiner kindisch langen schwarzen Strähnen ließ er sich die Haare an den Seiten abrasieren und sich die Spitzen blond färben.
Langsam kam ein neuer Elliot zum Vorschein.
Auf dem Heimweg war seine Geldbörse so leicht wie eine Feder.
Das lohnt sich. Dafür lohnt sich jeder Penny.
Die Reaktion seiner Mutter auf den Haarschnitt und die Kleider war weit weniger spektakulär, als er erwartet hatte. Der einzige Kommentar, den sie abgab, als er durch die Haustür marschierte, war: «Nun, wenn du unbedingt dein Geld zum Fenster rauswerfen willst, warum nicht? Das ist deine Sache.» Die Tatsache, dass er ihr sowohl Zeit als auch Geld gespart hatte, indem er die Sachen selbst gekauft hatte, würdigte sie mit keinem Wort.
Sie sah müde aus. Sein Vater schaute sich ein Fußballspiel an. Der Ton war laut gedreht. Mit ziemlicher Sicherheit hatten sie sich gestritten, während er weg gewesen war.
Eigentlich, dachte Elliot, war ‹Streit› das falsche Wort. Zu einem Streit gehörte mehr als eine Person, aber die Einzige, die herumbrüllte und weinte, war seine Mutter. Sein Vater saß einfach nur da.
Das Abendessen verlief in unbehaglichem Schweigen. Elliot schaufelte Spagetti Bolognese in sich hinein, ohne irgendetwas zu schmecken. Alles würde hier genauso sein wie früher. Nichts würde sich ändern.
«He.» Seine Mutter beugte sich über den Tisch und legte ihre Hand auf seinen Arm. Sie lächelte: ein echtes Lächeln, nicht die erschöpfte Grimasse, die sie sonst allenfalls zustande brachte. «Ich habe heute zwei Jobs gefunden. Morgens habe ich die Frühschicht als Putzfrau in der Papierfabrik und zweimal in der Woche arbeite ich nachts in einem Altenheim.»
Er war nicht besonders glücklich darüber. «Wann willst du an den beiden Tagen denn schlafen? Du musst doch direkt von einem Job zum nächsten.»
Sie drückte seinen Arm. «Mach dir keine Sorgen. Ich schaff das schon. Und das bedeutet, dass ich zu Hause bin, wenn du aus der Schule kommst.»
Das ist nicht wichtig, wollte er sagen, doch er schwieg. Sein Einwand wäre nach all der Mühe, die sie sich gegeben hatte, ein Schlag ins Gesicht gewesen.
Sie lächelte wieder. Zum ersten Mal bemerkte er graue Strähnen in ihrem schwarzen Haar.
«Es wird uns hier gut gehen», sagte sie. «Ich fühle es. Ein neuer Anfang für uns alle. Für dich, für mich und …»
Sie blickte seinen Vater an, der von seinem Teller aufschaute. Elliot versuchte in seinen Augen zu lesen. Gab es dort irgendetwas, das anders war? Ein Glimmen des alten Feuers hinter der Stumpfheit? Er redete sich ein, dass es so war, dass er nur nicht gründlich genug hinschaute.
Nach dem Abendessen ging er ins Badezimmer und zog seine Schuluniform an. Die dunkelgrüne Krawatte wirkte an ihm zu groß, aber das konnte er nicht ändern. Doch abgesehen davon sah er ganz in Ordnung aus, dachte er erleichtert. Ein überaus wichtiger Punkt.
Er betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Der Haarschnitt tat seine Wirkung. Er machte seine Züge schärfer und älter. Härter. Das war nicht mehr das Gesicht eines Kindes.
Aber seine Größe (klein) und sein Körperbau (leicht) brandmarkten ihn immer noch als Kind. Er würde auffallen – die Größe war das Erste, was die anderen bemerkten. Daran konnte er nichts ändern.
Er hatte sich gerade ins Bett gelegt, als es an der Tür klopfte und seine Mutter hereinkam. Sie setzte sich auf die Bettkante, etwas, das sie nicht getan hatte, seit sie hierher gezogen waren.
«Du musst Geduld mit ihm haben, Elliot. Er ist krank. Depression ist eine Krankheit. Und er leidet immer noch unter seinen Verletzungen. Es ist nicht seine Schuld, das musst du begreifen. Wir beide müssen das begreifen.»
«Ich wünschte nur …» Er schwieg. Er konnte nicht aussprechen, was er sich wünschte.
Sie beendete den Satz an seiner Stelle: «Du wünschst dir, dass alles so wäre wie vorher. Ich weiß. Mir geht es genauso. Aber es wird nie wieder so sein. Und wir müssen das akzeptieren.»
Er wandte den Blick zur Seite und dachte an die Nacht, in der sein Vater nicht nach Hause gekommen war.
Als das Geschäft schließlich florierte, hatte Elliots Vater angefangen, fast jeden Tag bis spätabends zu arbeiten. Elliot war darüber nicht besonders erfreut gewesen, denn oft war sein Vater nicht einmal zum Abendessen zu Hause. Elliot vermisste die gemeinsamen Mahlzeiten und die Tischgespräche über Gott und die Welt. Er vermisste das Gefühl, eine Familie zu haben.
Auch die Samstage verliefen nun anders. Meistens war sein Vater unterwegs zu einem Kunden und konnte Elliot nicht zur Bücherei bringen. Stattdessen begleitete ihn seine Mutter. Elliot war ganz zufrieden damit und später, als er älter wurde, ging er sowieso allein. Aber manchmal hatte er den Eindruck, dass es nicht mehr so viel Spaß machte wie früher.
Dennoch kamen die drei mit der Situation zurecht. Es gab immer noch die Sonntage, an denen sein Vater den ganzen Tag zu Hause blieb und alles wieder so war wie in den alten Zeiten. An den Sonntagen saßen sie gemeinsam am Küchentisch, aßen, redeten und lachten. Und wenn er an den Werktagen abends nicht rechtzeitig zum Essen zu Hause war, kam er trotzdem jedes Mal zu Elliot ins Zimmer, um mit ihm zu reden oder ihm einfach nur gute Nacht zu wünschen.
Eines Nachts war es schon sehr spät und sein Vater war immer noch nicht heimgekommen. Elliot hatte im Bett auf ihn gewartet und schlief schon halb, als es an der Haustür klingelte. Er hörte, wie sich die Tür öffnete, hörte fremde Stimmen und das Geräusch der Tür, die ins Schloss fiel. Danach das Scharren von Stühlen auf dem Küchenfußboden.
Nur mit seinem Schlafanzug bekleidet, schlich er sich die Treppe hinunter. Die Küchentür war zu.
Er lauschte.
Er konnte nicht genau verstehen, was gesagt wurde. Alles, was er hören konnte, waren vereinzelte Wörter und Satzfragmente: «… Überfall … zahlreiche Verletzungen … Krankenhaus … operieren jetzt …»
In Elliot wuchs die Angst. In seinem Magen machte sich eine nagende Unruhe breit, die schon bald zu seinem ständigen Begleiter werden sollte. Er wollte, dass die Stimmen weitersprachen; so lange sie redeten, war alles in Ordnung. Nichts würde sich verändern.
Redet weiter. Redet weiter.
Dann hörte er, wie Stühle zurückgeschoben wurden. Schwere Schritte näherten sich, und die Tür wurde geöffnet. Zwei uniformierte Polizisten – ein Mann und eine Frau. Ihr Blick fiel auf Elliot. Sie blieben stehen, schauten einander an und nickten. Die Frau trat zurück in die Küche, während der Mann auf Elliot zukam und ihn anlächelte. Aber es war ein mühsames Lächeln, als ob er sich ständig selbst ermahnen müsste, es nicht abzulegen.
«Hallo. Hast du gelauscht?»
Elliot sagte nichts.
«Kannst du bitte nach oben gehen und dich anziehen? Deine Mutter wird gleich fertig sein.»
Elliot schwieg weiterhin. Er dachte nur immerzu: Das ist nicht wirklich. Nicht wirklich. Nicht wirklich. Das war etwas, das nur im Fernsehen passierte – der Streifenwagen vor dem Haus, das Klopfen an der Haustür, die Gestalten in Uniform, die ruhigen Worte und die mitfühlenden Gesichter. Das war nicht das wirkliche Leben. Es würde erst real werden, wenn er Anteil daran nahm. Also würde er das nicht tun.
«Dein Dad wurde verletzt. Wir bringen dich zusammen mit deiner Mutter ins Krankenhaus, weil hier niemand auf dich aufpassen kann. Okay? Deine Mum macht sich gerade fertig.»
Nicht wirklich. Nicht wirklich. Nicht wirklich. Nicht wirklich.
Sein Vater war auf dem Weg zu seinem Wagen überfallen worden. Wer immer das gewesen war – sein Vater konnte sich an nichts erinnern und es gab keine Zeugen – hatte seine Brieftasche gestohlen, seine Wagenschlüssel und sein Handy. Elliots Vater hatte einen Schädelbruch erlitten. Der Angreifer hatte ihm mehrere Rippen gebrochen und mit seinen Schlägen die Milz angerissen. Dann ließ er ihn auf dem Asphalt liegen. Blutend. Sterbend.
Nicht wirklich. Aber die Worte konnten die Welt nicht länger zurückhalten.
«Elliot? Hörst du mir zu? Ich sagte, dass er sich erholen wird. Es braucht nur seine Zeit, das ist alles.»
Elliot besuchte seinen Vater im Krankenhaus, sah sein geschwollenes und zerschmettertes Gesicht, die Röhren, die aus seiner Nase ragten, die Drähte an seinen Handgelenken und an seiner Brust. Er sah, dass er sich nicht bewegen, ja kaum sprechen konnte. Zerstört. Damals weinte Elliot um ihn. Und er betete, obwohl er nicht an Gott glaubte.
Aber das war vor drei Jahren gewesen. Die Knochenbrüche waren geheilt. Sein Vater war nach Hause gekommen.
Aber er war nicht gesund geworden.
«Du verstehst das doch, oder?» Die Stimme seiner Mutter klang flehentlich.
Elliot zwang sich dazu, sie anzuschauen. «Natürlich verstehe ich das. Ich weiß, dass es Zeit braucht, so wie die Ärzte sagten. Ich wünschte nur … Ich wünschte nur, das alles wäre nie passiert. Das ist alles.»
Nachdem sie wieder nach unten gegangen war, schaltete er das Licht aus und starrte in die Dunkelheit. Immer noch zogen die Bilder durch seinen Kopf.
Fast war es ihm, als könnte er die Stimme seines Vaters hören, aus weiter, weiter Ferne.
«Die Frage ist, wie sehr du dich auf eine Sache konzentrierst», sagte er immer, gewöhnlich beim gemeinsamen Abendessen. «Wenn es dir ernst mit etwas ist, dann musst du dich voll und ganz darauf konzentrieren. Und wenn du das tust, wird dir dein Vorhaben auch gelingen. So muss man das machen, genau so.»
Und seine Mutter lächelte und sagte: «Oh ja, du hast völlig Recht. Würdest du mir bitte das Salz reichen?», weil sie diesen Vortrag schon hundertmal gehört hatte.
Dann lächelte auch sein Vater, aber was er sagte, war ernst gemeint. Einmal, als sie mit dem Essen fertig waren, wandte er sich zu Elliot und sagte: «Hör mir zu, mein Sohn. Ich meine, was ich sage. Es wird immer Menschen geben, die dir einreden wollen, dass du dies oder jenes nicht kannst. Sie wollen dir weismachen, dass du es nicht tun sollst, weil es nicht geht, weil es unmöglich ist. Als ich meinem alten Boss erklärte, dass ich mich selbstständig machen wollte, weißt du, was er da gesagt hat? Er sagte: ‹Viel Glück, Sie sind ja vollkommen verrückt. Wir halten Ihnen den Job frei, damit Sie was haben, wohin Sie zurückkehren können, wenn Sie gründlich auf die Nase gefallen sind.› Ist das zu glauben?»
Elliot schüttelte den Kopf, wie es sein Vater von ihm erwartete.
«Das sind die Sprüche, mit denen du fertig werden musst, Elliot, mein Junge, und zwar dein ganzes Leben lang. Aber hör nicht auf sie. Hör bloß nicht auf sie.»
Nun, zumindest jetzt blieb sein Vater vor solchen Sprüchen verschont. Heute sagte niemand mehr zu ihm: «Du wirst niemals mehr gesund werden. Es ist unmöglich. Es geht nicht.»
Niemand hatte in den letzten drei Jahren so mit seinem Vater geredet. Ganz im Gegenteil.
Aber es machte sowieso keinen Unterschied.
Als Elliot gesagt hatte: «Ich wünschte», hatte er in Wahrheit etwas gemeint, was er niemals aussprechen würde. Ich wünschte, er würde einfach sterben. Wieder dachte er diesen Gedanken und fühlte sich dann schuldig und ekelte sich vor sich selbst, weil er ihn gedacht hatte.
Aber auch das war nicht eigentlich das, was er gemeint hatte. Wie konnte er wünschen, dass sein Vater sterben würde, wenn er in Wirklichkeit schon tot war?
Die Person, der er den Tod wünschte, war der Mann, der da unten saß und nichts sagte; der Mann, der stumm und stumpfsinnig ins Leere starrte; der Mann, der nicht sein Vater war, egal, wie ähnlich er ihm auch sehen mochte. Wenn diese Person sterben würde, würde sein Vater vielleicht zurückkommen, würde durch die Haustür treten und sagen …
Zornig schüttelte Elliot den Kopf, um die Bilder zu verscheuchen. Hör auf zu fantasieren! Das wird nicht geschehen. Nicht heute. Nicht morgen. Niemals.
Aber er konnte nicht aufhören sich vorzustellen, wie er diesen Mann aus dem Haus treiben würde. Er würde ihn anschreien. Raus hier! Raus! Mach, dass du rauskommst! Mit der größten Bratpfanne, die er in der Küche finden konnte, würde er den Bildschirm des Fernsehers zertrümmern. Die Bildröhre würde mit einem herrlichen WUMP! implodieren, und es würde Funken regnen.
Er wusste, dass er das niemals tun würde – aber nicht, weil er sich nicht traute, nicht weil ihm der Mut dazu gefehlt hätte. Er würde es nicht tun, weil er wusste, dass es keinen Sinn hatte. Der Mann in dem Sessel – der Hochstapler – würde ihn mit seinen leeren Augen geistesabwesend anschauen und sich dann wieder dem Kasten in der Ecke zuwenden. Die kleine Störung hätte er vergessen, noch bevor er sie richtig wahrnehmen konnte.
Ich hasse dich.
Ich hasse mich selbst.
Und immer noch stand ihm der Auftritt an der neuen Schule bevor. In weniger als einer Woche.
Vielleicht war es ein neuer Anfang.
Vielleicht.
Der erste Schultag nach den Weihnachtsferien. Mit einem unguten Gefühl in der Magengrube näherte sich Elliot dem Haupteingang seiner neuen Schule.
Das Holminster Gymnasium.
Er hatte der Schule kurz vor Weihnachten einen Besuch abgestattet. Das Erste, was ihm bei dem Anblick eingefallen war, war ein alter Schwarzweißfilm mit dem Titel Auf Wiedersehen, Mr. Chips. Das Hauptgebäude war alt, erbaut aus rotem Backstein, mit altmodischen Schiebefenstern. Die wenigen modernen Gebäudeteile bestanden aus braunem Backstein und hatten getönte Fensterscheiben. Der ganze Komplex strahlte Stil aus, guten Geschmack und Exklusivität.
Seine alte Schule war eine planlose Ansammlung von niedrigen, rosafarbenen Betontürmen. Von jeder Wand stachen dem Betrachter Graffitis in die Augen – die Schulleitung hatte es aufgegeben, die Schmierereien zu entfernen. Wenigstens lenkten die bunten Farben von der Hässlichkeit der Architektur ab.
In Holminster gab es keine Graffitis.
Vor der Schule breitete sich ein weitläufiger Rasen aus, der im Sommer zu einem Teil des Schulhofs wurde. Altehrwürdige Bäume standen dort, hohe, dicke Eichen und Buchen. Eingerahmt wurde der Rasen von Blumenbeeten mit immergrünen Pflanzen, die in zarten Farben blühten, und anderen kostbar wirkenden Blumen. Elliot hatte Mühe, nicht allzu beeindruckt zu sein.
Das Innere war eine Mischung aus Altem und Modernem, aus Tradition und Hightech-Ausstattung. Die geschnitzte Holztäfelung an den Wänden ging harmonisch in einen dezent gemusterten Linoleumboden über. Sepiabraune Fotografien früherer Schulleiter hingen neben abstrakten Gemälden, die einer Kunstgalerie zur Ehre gereicht hätten. Noch mehr Stil, noch mehr guter Geschmack und noch mehr Exklusivität.
In der Broschüre, die die Schule herausgab, stand viel über die Verbindung von «Tradition» und «Pflichtgefühl» mit «dynamischen Lehrmethoden» und «fortschrittlichem Denken». Man rühmte sich einer «ausgezeichneten Disziplin», einer «moralischen Erziehung» und beschrieb das Umfeld als «positiv und produktiv». Auf jeder Seite waren mindestens zwei Fotos von Holminster-Schülern zu sehen, die ernsthaft über ihre Schularbeiten gebeugt waren, einen sportlichen Wettkampf bestritten oder ihre Auszeichnungen und Pokale präsentierten.
Elliot hatte keine Sekunde an all das geglaubt. Aber es wäre schön, wenn er die Illusion daran noch festhalten könnte – wenigstens für eine kurze Zeit.
In einem Meer von roten Schuluniformjacken ließ er sich mit durch das Tor schwemmen.
Ein Gesicht in der Menge. So soll es sein.
Die nächste Viertelstunde, bis der Unterricht begann, war eine gefährliche Zeit. Er durfte nicht auf die falsche Art und Weise auffallen.
Erst dachte er, es wäre am besten, irgendwo stehen zu bleiben, dann kam er zu dem Schluss, dass es doch unauffälliger wäre, wenn er herumlaufen würde. Er bemühte sich herauszufinden, was die anderen Schüler taten, aber es war unmöglich, ein Muster zu erkennen. Die meisten standen in kleinen Gruppen zusammen. Manche davon bestanden nur aus Jungen, manche nur aus Mädchen, manche waren gemischt. In zwei verschiedenen Ecken wurde Fußball gespielt. Ein paar Jugendliche schlenderten ziellos herum und waren nur mit sich selbst beschäftigt.
Er ging ein paar Schritte und blieb dann stehen. Ging weiter. Blieb stehen.
Der Stoff seiner Hose kratzte. Der Kragen scheuerte ihn am Hals. Die Schuhe drückten. Aus seinen Achselhöhlen floss Schweiß, obwohl es ein kühler Tag war. Er stellte sich vor, wie der Schweiß sein Hemd durchnässte und der knisternd saubere weiße Stoff sich mit Flüssigkeit vollsaugte. Er war froh, dass er sein Jackett trug.
Die Schule war nicht immer ein Albtraum gewesen. Das musste sich Elliot wieder und wieder ins Gedächtnis rufen. Aber es fiel ihm schwer, sich an solche Zeiten zu erinnern.
Sein erstes Gymnasium war in Ordnung gewesen. Um die Wahrheit zu sagen, hatte er sich dort sogar einigermaßen glücklich gefühlt, trotz allem, was zu Hause passierte. Er hatte eine kleine Clique von Freunden gehabt, mit denen er seine Freizeit verbrachte. Auch das Lernen machte ihm nicht besonders viel aus, schon gar nicht in Englisch, wo sie Zusammenfassungen von Büchern schreiben mussten. Lesen als Hausaufgabe? Nichts leichter als das. – Dann kam der Umzug.
Da sein Vater nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus nicht wieder arbeiten konnte, ging sein Unternehmen Pleite. Seine Mutter nahm einen Job in einem Altenheim an – ein weiterer Schritt weg von der Normalität; sie hatte noch nie zuvor gearbeitet –, aber dennoch waren sie nicht in der Lage gewesen, die Miete für das Haus zu zahlen. Sie mussten sich nach einer billigeren Bleibe umschauen.
Am Anfang, direkt nachdem seine Mutter den Entschluss verkündet hatte, hatte Elliot noch geglaubt, dass es ihm nichts ausmachen würde. Doch damals hatte er noch nicht geahnt, dass sie sich etwas Besseres als diese miserable Wohnung nicht leisten konnten. Er hatte nicht geahnt, dass er wegen des Umzugs von der Schule abgehen musste, in der er kaum ein halbes Jahr verbracht hatte. Dass er sich von allem trennen musste, was er kannte.
«Es tut mir Leid, Elliot», hatte seine Mutter gesagt, «wirklich Leid. Aber wir können es uns unmöglich leisten, dich fünf Tage in der Woche ans andere Ende der Stadt zu schicken. Das verstehst du doch, nicht wahr?» Ihr Gesicht flehte: Bitte versteh doch. Bitte, bitte, bitte!
Natürlich verstand er. Er verstand immer. Er war elf Jahre alt, besser gesagt elfeinhalb. Alt genug, um sich nicht zu beklagen. Alt genug, um zu wissen, dass Diskutieren keinen Sinn hatte.
Aber alles, was er in der neuen Schule tat, tat er lustlos. Es war, als ob die Energie, der Wille, seine ganze Lebenskraft aus ihm herausgezogen worden wären. Jede Anstrengung – das Denken und das Handeln – war zu viel für ihn. Zu schwer. Unüberwindlich schwer. Er unternahm keinen Versuch, neue Freunde zu finden. Seine Noten rutschten in den Keller.