Im Schatten des Glücks - Anja Langrock - E-Book
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Im Schatten des Glücks E-Book

Anja Langrock

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Beschreibung

Eine folgenschwere Entscheidung, die das Schicksal auf die Probe stellt …
Die Fortsetzung der emotionalen Familiengeheimnis-Dilogie im Hotel Hohenstetten

‎Hinter den Mauern von Hotel Hohenstetten brodelt es. Henriette und Justine von Hohenstetten kennen seit Jahren keinen familiären Zusammenhalt mehr. Mittlerweile sind die Fronten innerhalb der adeligen Familie so verhärtet, dass Henriette befürchtet, sich zu Lebzeiten nicht mehr mit ihrer Tochter zu versöhnen. Doch das sind nicht die einzigen tragischen Schicksale, denn auch Helena ist weiterhin unglücklich in Simon verliebt, der seine verwirrenden Gefühle jedoch komplett verdrängt. Für ihn ist Helena lediglich die Nanny seiner Kinder. Aber warum reagiert er dann so eifersüchtig, als sein bester Freund mit Helena flirtet? Und werden Valerie und Emily ihr Glück finden oder schwebt der Schatten ihrer Fehler wie eine dunkle Wolke über ihnen?

Weitere Titel in der Reihe
Im Glanz der Hoffnung (ISBN: 9783989980167)

Erste Leser:innenstimmen
„Die verschiedenen Liebesgeschichten im Hotel Hohenstetten sind eine perfekte Mischung aus Romantik, Drama und Spannung. “
„Anja Langrock versteht es, mit viel Feingefühl die inneren Kämpfe ihrer Charaktere darzustellen.“
„Die Schicksale im Hotel Hohenstetten sind unglaublich packend erzählt.“
„Ein absolut empfehlenswerter Liebesroman, der zeigt, dass Liebe und Vergebung immer eine Chance haben.“

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Seitenzahl: 569

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Über dieses E-Book

‎Hinter den Mauern von Hotel Hohenstetten brodelt es. Henriette und Justine von Hohenstetten kennen seit Jahren keinen familiären Zusammenhalt mehr. Mittlerweile sind die Fronten innerhalb der adeligen Familie so verhärtet, dass Henriette befürchtet, sich zu Lebzeiten nicht mehr mit ihrer Tochter zu versöhnen. Doch das sind nicht die einzigen tragischen Schicksale, denn auch Helena ist weiterhin unglücklich in Simon verliebt, der seine verwirrenden Gefühle jedoch komplett verdrängt. Für ihn ist Helena lediglich die Nanny seiner Kinder. Aber warum reagiert er dann so eifersüchtig, als sein bester Freund mit Helena flirtet? Und werden Valerie und Emily ihr Glück finden oder schwebt der Schatten ihrer Fehler wie eine dunkle Wolke über ihnen?

Impressum

Überarbeitete Neuausgabe September 2024

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98998-019-8 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98998-176-8

Copyright © 2021, Anja Langrock Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2021 bei Anja Langrock erschienenen Titels Hotel Hohenstetten – Als das Glück zu leuchten begann (ISBN: 978-3-75433-043-2).

Covergestaltung: ArtC.ore-Design / Wildly & Slow Photography unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © BK666 stock.adobe.com: © Michal, © D85studio, © karina_lo Lektorat: Katrin Ulbrich

E-Book-Version 16.08.2024, 12:04:55.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Im Schatten des Glücks

Was bisher geschah:

Emily steht vor einem Wendepunkt in ihrem Leben und kann die Enttäuschung darüber nicht verkraften, dass sie sich in Valerie derart getäuscht hat. Ihr fehlt die Kraft, weiter für ein erfülltes Leben zu kämpfen.

Zwischen Simon und Helena herrscht Funkstille, seit Helena sich in seine Erziehungsmethoden eingemischt hat. Simon verwirren seine Gefühle und er geht ihr seitdem aus dem Weg. Yannick versucht die Wogen zu glätten.

Valerie hat das Hotel fluchtartig verlassen, nachdem Justine Zweifel in ihr an Timurcin gesät hat. Timurcin setzt alles daran, um sich endlich gegen Justine zur Wehr zu setzen.

Henriette geht es zunehmend schlechter. Die Sorgen um Timurcin, Valerie und Justine sind ihrem Gesundheitszustand nicht zuträglich.

Viel Spaß beim Weiterlesen.

Kapitel 34

Ein ernstes Gespräch

Diese furchtbare Schwäche, die sie zunehmend überfiel, bereitete Henriette immer größere Schwierigkeiten.

Sie stützte sich müde und kraftlos auf ihren Gehstock, zu dessen Nutzung sie in den letzten Wochen gezwungen worden war. Mittlerweile überkam sie schon bei leichter Anstrengung Schwindel. Zuletzt hatte sie ihre Suite gar nicht mehr verlassen. Besucher bat sie zu sich, aber es gab ohnehin nicht mehr viele Personen, die sich an sie erinnerten. Neben Timurcin war lediglich Valerie in regelmäßigen Abständen zu Besuch gekommen. Seitdem sie abgereist war, war es wieder sehr einsam geworden. Lediglich ihren Hausarzt empfing sie mittlerweile fast jeden zweiten Tag. Viel konnte er ohnehin nicht mehr für sie tun, aber er konnte zumindest ihre Schmerzen weitgehend lindern. Leider führte die hohe Dosis Morphium zu schwerwiegenden Nebenwirkungen. Es war ihr zuwider hinzunehmen, dass ihr reger Verstand regelmäßig im dichten Nebel versank. Erinnerungslücken häuften sich, und es fiel ihr immer schwerer, sich auf ihren Gesprächspartner zu konzentrieren.

Deshalb hatte sie heute auf die tägliche Ration verzichtet, um sich einem ernsten Gespräch mit ihrer Tochter zu stellen.

Da sich Justine nicht gerade durch Rücksichtnahme auszeichnete, war Henriette gezwungen sie aufzusuchen. Ihre Bitte bei ihr vorbeizukommen, hatte Justine rigoros abgelehnt und ihre Mutter kühl darauf hingewiesen, falls diese sie zu sehen wünschte, müsste sie zu ihr kommen.

Henriette legte den kurzen Weg durchs Hotel in den anderen Trakt, in dem ihre Tochter lebte, mühselig zurück. Völlig erschöpft musste sie sich für einen Augenblick im Flur an die Wand lehnen und ein paar Mal tief Luft holen, um wieder zu Atem zu kommen. Danach zwang sie sich zu klingeln.

Justine wusste über den bevorstehenden Besuch Bescheid. Immerhin hatte Henriette sich der Höflichkeit halber rechtzeitig bei ihr angemeldet, um ihre wertvolle Zeit nicht über Gebühr zu beanspruchen.

Trotzdem ließ sich Justine unverschämt viel Zeit, bevor sie ihre Mutter hereinbat.

Henriette zwang sich, die einzelnen Schritte zu zählen, bis sie sich endlich erleichtert und zutiefst ausgelaugt auf der Couch niederlassen konnte.

„Mach es dir ruhig gemütlich, fühle dich ganz wie zu Hause, Mutter“, klang Justines spöttische Stimme wie durch Watte an ihr Ohr. Das Rauschen in ihren Ohren war derart penetrant, dass es ihr unglaublich viel Mühe bereitete, ihre Tochter überhaupt zu verstehen. Vor ihren Augen verschwamm der Raum und sie überfiel ein panisches Gefühl, wie sie sich in diesem unbekannten Terrain zurechtfinden sollte. Justine stand plötzlich in zweifacher Ausgabe vor ihr und diese Sehstörungen beunruhigten Henriette zutiefst.

„Hättest du die Güte, mich nun endlich über den Grund deines Besuches aufzuklären? Ich bin nicht gewillt, mich ewig hinhalten zu lassen. Es handelt sich wohl kaum um einen reinen Freundschaftsbesuch.“ Justines ungeduldiger Tonfall drang in Henriettes Bewusstsein. Sie hatte keine Ahnung, ob Justine ihr eine weitere Frage gestellt hatte, es fiel ihr schwer, ihre Gedanken in Worte zu fassen.

„Wärst du so freundlich, mir ein Glas Wasser zu reichen?“, brachte sie schließlich ein wenig undeutlich, fast lallend hervor.

Justine betrachtete sie eingehend. Dann kniff sie die Augen zusammen und antwortete abfällig: „Mutter, kann es sein, dass du heute Morgen schon das eine oder andere Glas Cognac zu dir genommen hast? Schaffst du es nicht, deiner Tochter nüchtern gegenüberzutreten?“

Sie schien ehrlich beleidigt zu sein, als würde sie ernsthaft glauben, dass ihre Mutter sich erst einmal Mut antrinken müsste, um die Anwesenheit ihrer Tochter zu ertragen.

Henriette unterließ es, ihre Tochter über deren Irrtum aufzuklären, da sie unter keinen Umständen Justines Misstrauen wecken wollte. Ihre Tochter hatte bemerkt, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung war. Wenn nicht Alkohol der Grund für ihre mangelnde Wahrnehmung und Artikulation war, dann müsste es einen anderen gewichtigen Umstand geben, der dazu geführt hatte. Und Henriette wollte auf jeden Fall vermeiden, dass ihre Tochter das herausfand.

Justine hatte ihr zeitlebens keine wohlwollenden und liebevollen Gefühle entgegengebracht, nun würde sie Mitleid und vielleicht auch einen Hauch von Bevormundung und Schadenfreude nicht ertragen. So weit war es schon gekommen, dass sie ihrer Tochter solch niedere Reaktionen auf ihren herannahenden Tod unterstellte, dachte sie traurig.

Nachdem sie einen Schluck Wasser getrunken hatte, fühlte sie sich etwas wohler und sie antwortete: „Justine, du wirst dir denken können, welche Ursache meinem Besuch zugrunde liegt.“

Justine setzte sich endlich in einen Sessel ihr gegenüber, betrachtete sie kühl. „Wenn du meinst, ich werde mich auf dein Ratespiel einlassen, dann lass dir gesagt sein, du irrst dich. Entweder kommst du zum Punkt oder du musst mich entschuldigen. Denn ich habe noch wichtige Telefonate zu führen.“ Ablehnend verschränkte sie die Arme vor der Brust.

„Warum hast du das getan?“, hauchte Henriette nach einem Moment der unheilvollen Stille fast tonlos.

Justine sprang wütend auf und lief rastlos durch das Zimmer. Henriette schrak über diesen Gefühlsausbruch zusammen, denn das war völlig untypisch für ihre Tochter. Unvermittelt blieb sie vor Henriette stehen und rief aufgebracht: „Mutter, bitte sag mir endlich, wovon du sprichst! Meine Geduld ist erschöpft. Ich gebe dir noch fünf Minuten.“

„Ich rede von deiner Dreistigkeit, deiner Arroganz und zuletzt deiner Skrupellosigkeit, mit der du dir anmaßt mit deinen Mitmenschen umzugehen. Wie konntest du es wagen, Valerie in der Öffentlichkeit dermaßen bloßzustellen? Was bringt es dir, die Menschen um dich herum ins Unglück zu stürzen? Ich kann einfach nicht nachvollziehen, warum du zu solch hinterhältigen Maßnahmen greifst.“ Henriette erhob ihre Stimme und hoffte, sie würde durchhalten, während sie sich bemühte, ihre gerade Position aufrechtzuerhalten.

Die Macht über ihre Gesichtszüge hatte Justine komplett verloren. Sie war blass, fast schon fahl geworden und ihre Augen hatten sich unnatürlich geweitet. Sie schluckte krampfhaft und Henriette wappnete sich innerlich vor Justines wütender Hasstirade, die unweigerlich folgen würde.

Plötzlich sprach Justine mit sachlicher und leiser Stimme, deren unnatürliche Ruhe Henriette mehr ängstigte, als es eine lautstarke Auseinandersetzung vermögen würde.

„Hast du dir jemals die Mühe gemacht, dich mit der Frage zu beschäftigen, warum ich so geworden bin?“ Sie hob fragend die Arme und sah ihre Mutter verächtlich an. „Wer hat mich zu dem gemacht, was ich nun bin? Du bist daran nicht ganz unschuldig und das kannst du nicht einmal in deinem Altersstarrsinn komplett abstreiten.“

Justine funkelte ihre Mutter mit kalten Augen boshaft an und ihre unverhohlene Verbitterung durchdrang die aufgesetzte Fassade. Der Hass, den sie in sich trug, war für Henriette sichtbar. Obwohl es sie schmerzte, versuchte sie, es sich nicht anmerken zu lassen.

Als Henriette nicht antwortete, fuhr Justine fort: „Mutter, du hast mich schon als kleines Mädchen niemals so akzeptiert, wie ich war. Du hast mich niemals um meiner selbst willen geliebt. Vielleicht war ich ein willkommenes Druckmittel in Bezug auf meinen Vater. Aber wenn du ehrlich bist, du wolltest doch niemals Kinder.“ Der Satz hing einen Moment im Raum und raubte Henriette beinah den letzten Atem. Wieder einmal verstand es Justine vortrefflich, die Tatsachen zu ihren Gunsten zu verdrehen. „Die bedingungslose Liebe deines Mannes hat dir vollkommen ausgereicht. Er war dein Lebensmittelpunkt, auf den deine vollkommene Aufmerksamkeit fokussiert war. Ich war für dich doch nur störendes Beiwerk in eurer Ehe. Du warst maßlos eifersüchtig auf mich, weil ich dir die Liebe deines Mannes abspenstig gemacht habe. Was bist du nur für eine Mutter, die mit ihrem Kind um die Liebe und Gunst ihres Mannes kämpft?“ Henriette schnappte nach Luft und wollte sich gern erheben, da Justine mittlerweile direkt vor ihr stand und sie von oben herab erbarmungslos traktierte. Aber dafür fehlte ihr die Kraft.

„Und wenn du dich für ein Kind hättest entscheiden können, dann wäre dein Entschluss zugunsten eines Jungen, eines Stammhalters gefallen. Ich war doch mein gesamtes Leben lang eine unglaubliche Enttäuschung für dich. Ich habe so lange vergeblich versucht, es dir recht zu machen. Aber egal was ich tat, es war nie richtig. Als junges Mädchen war ich dir zu dick und zu unsportlich. Als ich dir einen Gefallen tun wollte und mich dir zuliebe geändert habe, war ich mit einem Mal zu dünn und unnatürlich süchtig nach sportlicher Betätigung. Ich war zu wenig liebenswert, zu wenig herzlich, zu wenig mitfühlend. Andererseits war ich zu dominant, zu ehrgeizig, zu karrieresüchtig. Du konntest nie Gutes in meinen Charaktereigenschaften sehen.“ Justines Verzweiflung war beinah greifbar. „Was hätte ich tun sollen?“, rief sie hysterisch.

Henriette schlug grenzenloser Hass entgegen, der seit Ewigkeiten unter dem Deckmantel von Justines reservierter Fassade gefährlich vor sich hin geschwelt hatte. Henriette musste all ihre Willenskraft aufbringen, um weder Ekel noch Entsetzen oder gar Mitleid in ihren Gesichtszügen aufkommen zu lassen.

„Jetzt weißt du, warum ich keine Kinder wollte. Nicht in dieser vergifteten Atmosphäre. Du hast in mir etwas unwiderruflich zerstört, was es mir unmöglich macht, ein eigenes Kind zu lieben. Ich war von der Angst beherrscht, genauso wie du meinem Kind jegliches Selbstwertgefühl zu nehmen, indem es meinen Ansprüchen nie gerecht werden würde. Ich wollte es keinem Kind antun, in den Augen seiner Mutter dieselbe Enttäuschung und Desillusion sehen zu müssen, die du für mich empfindest, sobald du mich erblickst.“ Justines Brustkorb hob und senkte sich heftig, als ob sie einen Dauerlauf hinter sich hätte. Sie hatte sich so vollständig in der Rolle des hilflosen, gekränkten Kindes verloren, dass es ihr unmöglich war, einen realistischen Bezug zu ihrer tatsächlichen Vergangenheit zu finden.

Henriette schüttelte bedauernd und zugleich fassungslos den Kopf. Justine hatte es schon als Kind verstanden, die Schuld immer bei anderen zu suchen. Sie schaffte es durch ihre perfide und verdrehte Darstellung der Situation perfekt bei ihrem Gegenüber, unvermittelt Schuldgefühle zu wecken.

„Ich habe niemals bestritten, dass ich keine Schuld an unserem schlechten Verhältnis trage“, sagte Henriette in die aufkommende Stille. „Aber du musst irgendwann aufhören, immer nur die Fehler bei anderen zu suchen. Du bist eine erwachsene, intelligente Frau, die für ihre Entscheidungen die Verantwortung übernehmen muss. Du bist dir über die Tragweite deiner Entschlüsse sehr wohl bewusst und trotzdem setzt du sie skrupellos und ohne schlechtes Gewissen in die Tat um. Irgendwann ist ein Punkt erreicht, an dem einen nicht einmal die bedingungslose Liebe zu seinem Kind für dessen Fehler und Schwächen blind machen kann.“ Henriette fing Justines Blick auf, den sie nicht deuten konnte. „Auch eine liebende Mutter kann sich irgendwann nicht mehr blenden lassen.“ Justines spöttisches Prusten erklang, aber Henriette ließ sich nicht beirren und legte so viel Bestimmtheit in ihren Ton, wie ihr möglich war. „Es tut mir aufrichtig leid, dir als Kind nicht die Mutter gewesen zu sein, die du dir gewünscht hast. Lass mich dir dennoch sagen, ich liebe dich und habe es immer, aber ich kam nicht gegen deinen über alles geliebten Vater an. Alles, was ich getan habe, alle Entscheidungen, die ich getroffen habe, waren doch nur zu deinem Besten, oder das, was ich für das Beste hielt. Wenn ich Fehler gemacht habe oder dir meine Liebe nicht zeigen konnte, dann bitte ich dich heute dafür um Verzeihung. Aber dennoch sprechen dich meine Verfehlungen nicht von deiner Schuld frei. Ich habe dich nicht gezwungen, dich zu einer derart hartherzigen Persönlichkeit zu entwickeln.“ Henriette hoffte und bangte, dass Justine sich in ihrer Unversöhnlichkeit ihr gegenüber zumindest den ehrlichen Worten ein wenig zugänglich zeigte.

Justine erhob sich und lief mit verschränkten Armen erneut auf und ab. „Es ist wirklich überaus großzügig von dir, dass du dir Fehler eingestehst. Aber du kannst dich doch nicht im Entferntesten in mich hineinversetzen, wie es mir als Kind ging. Ich musste mit dieser furchtbaren Erkenntnis zurechtkommen, dass meine eigene Mutter mich nicht mag.“ Justine sagte es im Brustton der Überzeugung eines Menschen, der sich immer falsch verstanden fühlte.

„Justine, nun beginnst du das Ganze zu dramatisieren.“ Henriette straffte die Schultern. „Es wirkt nicht sehr überzeugend, du übertreibst maßlos. Eigentlich bin ich nicht zu dir gekommen, um eine Grundsatzdiskussion über meine Erziehungsmethoden mit dir zu führen. Du hast es wieder einmal verstanden, vom eigentlichen Thema abzulenken, indem du mich ins Hintertreffen gebracht hast. Jetzt ist Schluss damit, du beantwortest mir jetzt meine Frage, warum du Valeries und Timurcins Liebe zerstören wolltest.“

Justine blieb steif stehen und nahm eine verletzte und gekränkte Haltung an.

„Ach, du wusstest ebenfalls von ihrer Affäre und hast es nicht für nötig befunden, mich, deine Tochter darüber in Kenntnis zu setzen? Nun weiß ich endgültig, was ich von deinem leeren Geschwätz halten kann. Mutter, du bist wirklich das Allerletzte.“ Justine spie den letzten Satz aus.

Henriette versuchte sich vor dem jäh erfolgten Schmerz zu verschließen.

„Du weißt genau, warum ich es dir nicht erzählt habe. Dir liegt überhaupt nichts an Timurcin, weder liebst noch schätzt du ihn. Dein einziger Beweggrund, diese irrsinnige Ehe aufrechtzuerhalten, ist dein hochgeschätztes Ansehen in der Presse, das in deinen Augen einen empfindlichen Knacks erhalten würde. Das ist lächerlich. Wie lange glaubst du, bist du für die Öffentlichkeit interessant? Ein paar Wochen? Wohl eher lediglich ein paar läppische Tage, du hast dich schon immer wichtiger genommen, als du wirklich bist. Und dafür würdest du dein eigenes Glück, aber auch das von Timurcin und Valerie ohne Bedenken aufs Spiel setzen? Das ist einfach nur total irrsinnig. Ich zweifle wirklich an deinem gesunden Verstand.“

Justine erhob die Hand und zeigte mit dem Finger auf ihre Mutter. „Ich weiß genau, was ich tue, da brauche ich keine Belehrungen seitens meiner senilen Mutter.“ Verächtlich schüttelte sie den Kopf. „Du bist doch nur um das Wohl deines geliebten Timurcin besorgt. Seine sensible Künstlerseele könnte irreparablen Schaden davontragen. Weißt du was? Das ist mir scheißegal. Timurcin ist ein Versager, ein Säufer, ein Niemand, der in seinem Leben nichts auf die Reihe bringt. Ich habe keinen Respekt vor ihm. Warum sollte ich auf seine Gefühle Rücksicht nehmen?“

„Rücksichtnahme?“ Henriette funkelte sie aufgebracht an. „Du weißt doch überhaupt nicht, was das bedeutet. Es gab und gibt für dich immer nur Justine und sonst niemanden. Aber lasse dir in deinem freudetrunkenen Triumphgefühl von einer alten Frau gesagt sein, Valeries und Timurcins Liebe ist groß genug, um deinen kleinen intriganten Vorstoß zu überwinden. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass Valerie wirklich von Timurcins Schuld überzeugt ist? Falls doch, dann verstehst du wirklich nichts von dem großartigen Gefühl namens Liebe. Liebe überwindet jede Grenze und alle unüberwindbaren Schwierigkeiten. Es tut mir wirklich leid, dass es dir nicht möglich ist, wahre Liebe für jemanden zu empfinden. Ich würde dir von ganzem Herzen gönnen, dass dir dieses reine, unverfälschte Gefühl der Liebe irgendwann doch einmal zuteilwird.“

Mit diesem endgültigen Appell erhob sie sich so würdevoll wie möglich, griff nach ihrem Gehstock und ging – ohne auf Justines giftige und keifende Reaktion zu achten – zur Wohnungstür. Ein letztes Mal drehte sie sich noch einmal um und ihr Blick ruhte nachdenklich und sehnsüchtig, aller Hoffnung auf Versöhnung beraubt, auf ihrem einzigen Kind. Justine stand weiterhin im Wohnzimmer. Deren hässliche Worte blendete Henriette komplett aus. Sie sah nur das schöne, hochmütige Gesicht ihrer Tochter und bedauerte ihre eigene Unfähigkeit, jemals zu Justine vorgedrungen zu sein.

Sie bereute zutiefst ihre in der Vergangenheit gemachten Fehler. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Justine nur ein wenig Bereitschaft zeigte, sich ihr anzunähern. Aber das Gegenteil war der Fall. Justine schien sich in ihrer Eifersucht auf Timurcins und Valeries Glück nun erst recht in einen gärenden Hass hineinzusteigern.

Henriette löste sich aus ihrer Starre und schloss die Wohnungstür hinter sich, ohne noch einmal die vielleicht letzte Chance zu ergreifen, zu Lebzeiten ein versöhnliches Wort mit ihrer Tochter zu wechseln.

Kapitel 35

Justines Rache

Justine kam es vor, als strömte durch ihren gesamten Körper nichts als Hass, gnadenlos und kalt. Wahrscheinlich war dieses Gefühl für sie so lebensnotwendig wie für andere Menschen Luft zum Atmen und eine gesunde Blutzirkulation.

Warum schaffte es ihre Mutter immer noch, nach all den Jahren, die sie in Misstrauen, Neid und Abscheu nebeneinander gelebt hatten, sie derart zu verletzen? Falls sie bis zu diesem Zeitpunkt noch einen winzig kleinen Tropfen schlechten Gewissens in sich getragen hatte, so hatte es ihre Mutter gerade vortrefflich verstanden, ihr das letzte bisschen Anstand und Moral endgültig zu nehmen.

Schon vor geraumer Zeit hatte Justine begonnen, ein gehöriges Misstrauen gegenüber Timurcins plötzlichem Sinneswandel zu entwickeln. Wo einst ein heruntergekommenes, ungepflegtes Wrack zu bedauern war, hatte mit einem Mal ein attraktiver Mann gestanden, der etwas für Geist, Seele und nicht zu verachten für seinen Körper tat.

Eines Tages war es glasklar in Justines Bewusstsein gedrungen, dass Timurcin seit Wochen zumeist aus dem Bett aufstand, bevor sie die Wohnung verließ. Ein unglaubliches Ereignis, das seit Jahren nicht mehr vorgekommen war. Als ob das nicht schon seltsam genug wäre, ging er noch vor dem Frühstück eine Stunde joggen. Im Tenniscenter hatte er ebenfalls einige Privatstunden genommen.

Alkoholexzesse in der Bar gab es ihren zuverlässigen Informationsquellen zufolge auch nicht mehr. Überhaupt hatte sie in ihrer Wohnung in der letzten Zeit weder leere Bierflaschen noch benutzte Cognac- oder Whiskeygläser gefunden. Und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, beschäftigte er sich in seiner Freizeit mit dem Lesen von klassischen Werken der Weltliteratur. Das war nicht normal, nein, das war schlichtweg unfassbar.

Ab diesem Zeitpunkt hatten Justine die schlimmsten Befürchtungen geplagt. Timurcin war seit Jahren nicht zu bewegen gewesen, sein jämmerliches Selbstmitleid aufzugeben. Also musste etwas Bedeutendes vorgefallen sein, das ihm wieder zu neuem Lebensmut und Tatkraft verhalf.

Justine schwante Böses, sämtliche Indizien hatten darauf hingedeutet, dass Timurcin eine Frau kennengelernt hatte, die ihm mehr bedeutete. Als sie ihn damals vor der Wohnungstür angetroffen hatte, war sie davon ausgegangen, dass es sich um einen unbedeutenden One-Night-Stand gehandelt hatte. Justine lachte bitter auf. Es wirkte, als habe sich ihr Mann mit seinem unerfüllten Leben ausgesöhnt. Während ihrer gesamten Ehe hatte Timurcin niemals Anstalten gemacht, sich einer anderen Frau zuzuwenden. Justine wusste nicht genau, ob es daran lag, dass er die Ehe nicht aufgeben wollte, oder ob er einfach Angst vor ihrer Reaktion hatte. Vielleicht war er auch schlichtweg zu lethargisch und bequem gewesen. Egal, was auch immer ihn dazu bewegt hatte, ihr war es gelegen gekommen.

Plötzlich hatte sie heiße, unfassbar große Wut auf diese unbekannte Frau überkommen. Wenn diese Person es geschafft hatte, Timurcin in diesem kurzen Zeitraum gravierend zu verändern, was würde sie zukünftig noch bewegen können?

Wahrscheinlich würde sie sich nicht ewig damit begnügen, heimliche Geliebte zu bleiben, und eines fernen Tages würde sie von Timurcin eine Entscheidung verlangen. Entweder sie oder seine Frau! Erstmals konnte sich Justine vorstellen, dass Timurcin für seine neue Liebe alles riskieren würde. Sie wusste aus eigener Erfahrung, dass Timurcin, wenn er wirklich und wahrhaftig liebte, alles gab, um seine Herzdame glücklich zu machen. Er hatte auch sie in den ersten Jahren ihrer Beziehung auf Händen getragen, denn sie allein war die Quelle seines Lebens gewesen. Schlussendlich hatte er alles, was ihm wichtig war, aufgegeben, um sie zufriedenzustellen.

Dass sie irgendwann nur Hohn und Verachtung für seinen nicht vorhandenen Kampfgeist verspürte, konnte er damals nicht ahnen.

Justines Hände zitterten, als sie sich einen Drink einschenkte. Ihr bitteres Lachen klang selbst in ihren Ohren schaurig. Nun flüchtete sie sich schon ins selbige Vergessen wie ihr Mann. Trotzdem trank sie das halbe Glas leer, aber ihre Gedanken ruhten nicht.

Seitdem ihre Befürchtungen immer größere Ausmaße annahmen, plagten sie beängstigende Albträume. Ein unangenehmes Gefühl, das sie zweifelsohne nicht gewohnt war und sie in dieser Intensität beunruhigte. Sie hatte all die Jahre die Oberhand in allen Belangen ihres Lebens behalten und verschwendete keinen Gedanken daran, jemals die Führung aus den Händen zu geben. Keinesfalls würde sie sich in der Öffentlichkeit von ihrem Ehemann bloßstellen lassen. Dieses Weichei, dieser Versager hatte wohl immer noch nicht begriffen, mit wem er sich da anlegte. Sie hatte beschlossen, ihn und seine Schlampe fertigzumachen. Er würde es noch bitter bereuen, sich mit ihr angelegt zu haben.

Ihr war damals klar gewesen, dass sie so schnell wie möglich in Erfahrung bringen musste, wer die Unbekannte war. Unter den Angestellten gab es einige Personen, die gegen ein geringes Entgelt bereit waren, Ohren und Augen für sie offen zu halten. Sie hatte ihre Informanten zu diesem Thema befragt und auf umgehende Ergebnisse gehofft.

Justine schreckte aus ihren Gedanken auf und starrte das halb volle Glas in ihrer Hand an. Sie hatte sich völlig in ihren Erinnerungen verloren.

Sie hatte wieder einmal eine Glanzleistung vollbracht. Höhnisch lachte sie auf, als sie sich ihre Intrige noch einmal genüsslich auf der Zunge zergehen ließ.

Justine hasste es, zur Untätigkeit verdammt zu werden, und so hatte sie die Angestellten unter Druck gesetzt, ihr innerhalb eines Tages Erkenntnisse zu liefern.

Am Abend desselben Tages saß Justine triumphierend im Büro. Gerade hatte sie von Henriettes persönlichem Dienstmädchen erfahren, dass es sich bei Timurcins Geliebter allem Anschein nach um Valerie Greifenwald handelte. Das Mädchen hatte Timurcin schon zweimal beobachtet, als er Valeries Räumlichkeiten zu abendlicher Stunde verließ oder wie heute betreten hatte. Wie praktisch, dass die Suiten auf derselben Etage lagen. Es sah Timurcin ähnlich, dass er jegliche Sorgfalt und Vorsicht vergaß. Offensichtlich unterschätzte er seine Frau auch nach den vielen gemeinsamen Jahren noch immer. Ausgerechnet diese alte Schachtel machte ihr Konkurrenz. Anscheinend war Timurcin nicht allzu wählerisch. Immerhin musste Valerie fast zehn Jahre älter sein als er. Wie konnte Timurcin ihr das nur antun? Er zog ihr eine deutlich ältere Frau vor.

Justine hatte Valerie gezwungenermaßen zugestehen müssen, sich für ihr Alter recht gut gehalten zu haben. Aber sie spielte keineswegs in ihrer Liga. Für die Presse wäre diese Neuigkeit ein gefundenes Fressen. Jeder würde sich entsetzt fragen, was mit ihr nicht stimmte. Wie konnte sie von einer Frau um die Fünfzig ausgestochen werden? Schlimmer hätte es für Justine nicht kommen können. Wenn es sich bei seiner Liebschaft wenigstens um ein blutjunges Ding handeln würde, dann hätte sie die Medien im Falle einer Veröffentlichung seiner Affäre auf ihrer Seite. Aber in diesem speziellen Fall würde sie zum Gespött der Öffentlichkeit werden. Justine war sofort klar gewesen, dass sie das verhindern musste. Dabei spielte es ihr in die Karten, dass es sich bei Valerie um eine Person des öffentlichen Interesses handelte. Nun hatte sie in ihrer makellosen Vergangenheit nur noch einen schwarzen Fleck finden müssen, um Valerie bloßzustellen und aus Timurcins Leben zu vertreiben.

Justine lächelte bei dem Gedanken, wie sie Miguel so unter Druck gesetzt hatte, dass er sich schließlich des Lebens von Valerie angenommen hatte. Sie erinnerte sich, wie Miguel sich gewunden hatte. Der Schlappschwanz und sein dämliches Gewissen. Regelrecht überraschend hatte er sogar versucht, sich gegen Justine zur Wehr zu setzen. Aber so ließ sie nicht mit sich umgehen und hatte ihm zu verstehen gegeben, was er schon längst für sie war: ein speichelleckender Handlanger und nicht mehr. Triumphierend hatte sie zugesehen, wie er darunter zusammengebrochen war und ihr seine Unterstützung zugesagt hatte. Das Versprechen auf Sex als Entlohnung hatte sie ihm dann zugestanden, sie hatte nicht so sein wollen.

Ihre skrupellosen Machenschaften waren schlussendlich nach ihren Vorstellungen aufgegangen. Wie ein Puzzle hatten alle Teile gepasst. Timurcin wusste von dem Schwangerschaftsabbruch und Miguel hatte eine Freundin Valeries ausfindig gemacht, die alles darüber ausgeplaudert hatte. Geld gewann immer, dachte Justine lächelnd und es war alles so wasserdicht, dass Valerie niemals dahinterkommen würde, wer wirklich ihr Geheimnis preisgegeben hatte.

Der Artikel war ein voller Erfolg, wie sie sofort realisiert hatte, als Valerie vor ihrer Tür gestanden hatte und auch da hatten alle Rädchen perfekt ineinandergegriffen.

Blieb nur noch Timurcin, aber davor fürchtete Justine sich nicht. Allerdings wunderte es sie, dass er bisher noch nicht auf sie zugekommen war.

Dafür ihre Mutter. Aber auch davon ließ Justine sich nicht beirren. Sie war auf Erfolgskurs und würde es bleiben.

Kapitel 36

Zwei bemitleidenswerte Gesellen

Simon schalt sich einen Egoisten, der nur seine eigenen Probleme sah. Jeder verstand, dass seine Kinder an erster Stelle standen. Aber dieser völlige Rückzug und die Tatsache, dass er seine Freunde sogar absichtlich von sich fernhielt, waren äußerst untypisch für ihn.

Irgendwann wurde es selbst einem geduldigen Freund wie Yannick zu blöd. Immerhin sorgte Yannick dafür, dass sein bester Kumpel sich nicht vollständig abkapseln konnte, so wie er es auch nach der Flucht seiner Frau getan hatte. Simon war froh, dass dieser es jedes Mal schaffte, ihn wieder ins soziale Leben einzubinden.

Ohne Yannicks stoische Gelassenheit und sein Verständnis hätte er es wahrscheinlich irgendwann geschafft, alle Freunde aus seinem Leben zu verbannen. Es gab schließlich genügend Bekannte, die sich nach der Geburt seines Sohnes unter fadenscheinigen Begründungen von ihm abgewandt hatten.

Bei Timurcin sah es ein wenig anders aus. Er war ein nachdenklicher, in sich gekehrter Charakter, der seine Probleme wie Simon zumeist mit sich selbst ausmachte und dabei sein Heil im Alkohol suchte.

Simon hatte natürlich nicht ahnen können, dass sich Timurcins Beziehung zu Valerie gravierend verändert hatte. Die Geschehnisse hatten sich in den letzten Tagen überschlagen. Wenn er nicht so verbissen versucht hätte, das Leben um sich herum auszublenden, hätte er mit Timurcin telefoniert und eher davon erfahren. Jetzt wollte er so schnell wie möglich mit ihm sprechen.

Es sträubte sich zwar alles in ihm, Helena für die Betreuung seiner Kinder in Erwägung zu ziehen, aber was blieb ihm schon anderes übrig? Seine Eltern waren mit dem regelmäßigen Aufpassen hoffnungslos überfordert. Ab und zu nahmen sie die Kinder gerne zu sich, aber nicht jeden Tag. Außerdem konnte er Helena nicht ewig von Leon und Laura fernhalten. Beide hatten in der letzten Woche ständig nach ihr gefragt und es war ihnen gegenüber nicht gerecht, sie aufgrund seiner persönlichen Differenzen aus deren Leben zu verbannen.

Deshalb überwand er seinen Stolz und rief sie an, bevor er es sich noch einmal anders überlegen konnte.

„Hallo Helena, hier ist Simon. Ich hoffe, ich störe gerade nicht. Ich wollte nur fragen, ob du morgen Abend Zeit hättest, auf die Kinder aufzupassen? Wenn es nicht geht, finde ich eine andere Lösung“, nahm er Helena eine eventuelle Absage vorweg, um ihr zu zeigen, dass es für ihn keinerlei Schwierigkeiten bedeutete, auf sie zu verzichten.

„Das ist überhaupt kein Problem. Ich muss bis sechzehn Uhr arbeiten. Wann soll ich vorbeikommen?“

Sie vereinbarten, dass Helena um achtzehn Uhr zu Simon nach Hause kam, um mit den Kindern zu Abend zu essen.

Somit konnte er Timurcin hoffentlich abfangen, bevor er sich zu nächtlicher Stunde mit seinem Lieblingsfreund namens Alkohol zu trösten begann.

Simon zeigte sich erleichtert, dass Helena nicht auf ihre Auseinandersetzung einging und völlig normal wirkte.

Es stand ihm momentan nicht der Sinn danach, eine weitere Diskussion auszulösen. Vielleicht war er feige, aber manchmal war Schweigen besser als offen über Probleme zu sprechen. Er würde sowieso nicht die richtigen Worte finden und dann würde die Situation wahrscheinlich wieder im Desaster enden.

„Hallo Timurcin, schön, dich zu sehen.“ Simon hatte sich vorab nicht angekündigt, damit Timurcin keine Gelegenheit bekam, eine Ausrede zu erfinden. Er klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter und betrat unaufgefordert dessen Wohnung. „Ich gehe mal davon aus, dass sich deine reizende Gattin nicht zu Hause befindet.“

Timurcin verdrehte die Augen und bemerkte anschließend: „Sie scheint mir aus dem Weg zu gehen. Wahrscheinlich wundert sie sich, dass ich sie noch nicht mit dem Artikel konfrontiert habe, den sie vermutlich in Auftrag gegeben hat. Du hast bestimmt schon davon gehört, wie sie Valerie verraten hat.“ Timurcin fuhr sich aufgebracht durchs Haar. „Natürlich steckt Justine hinter dieser feigen Intrige. Das Schlimmste ist, dass sie es geschafft hat, mir die ganze unschöne Geschichte in die Schuhe zu schieben und Valerie zu vertreiben.“

Timurcin ließ sich am Esstisch auf einem Stuhl nieder und sah Simon bedrückt an. „Ich weiß weder, ob Valerie wirklich glaubt, dass ich hinter dem Artikel stecke, noch ob sie unserer Beziehung noch eine Chance geben wird. Sie ist ohne ein Wort zu verlieren, abgereist und ich kann sie nicht erreichen. Andererseits möchte ich zuerst meine Unschuld beweisen. Dafür muss ich etwas gegen Justine in der Hand haben. Ich habe Kontakt zu einem der Journalisten des Klatschblattes aufgenommen und bin gerade dabei, diesen auf die Geschichte anzusetzen. Noch ist er unschlüssig, ob er mir helfen wird.“ Timurcin seufzte und Simon ging zur Küche, um sich beiden ein Glas Wasser einzuschenken. Stumm reichte er eines der Gläser seinem Kumpel, bevor er sich zu ihm setzte.

„Sonst sehe ich mich gezwungen, Justine unter Druck zu setzen. Ich habe genügend Material über ihre ungewöhnlichen Vorlieben und Gewohnheiten, die einen hervorragenden Artikel abgeben würden. Aber eigentlich ist es mir zuwider, mich derselben skrupellosen Methoden, von denen Justine regelmäßig Gebrauch macht, zu bedienen.“

„Du bist wirklich der Letzte, der Skrupel zeigen sollte“, warf Simon endlich ein. „Sie hat dir im Laufe eurer Ehe genügend Gründe geliefert, die es rechtfertigen, dass du sie mit ihren eigenen Waffen schlägst.“

Timurcins Schultern sackten nach vorn, als er Simon dankbar ansah. „Danke, dass du mich dafür nicht verurteilst.“

„Natürlich nicht. Wie könnte ich, nachdem ich jahrelang zugesehen habe, was diese Frau mit dir macht?“ Für einen Moment schwiegen beide.

„Nun zu einem anderen Thema.“ Simon beschloss, es wäre an der Zeit für einen Themenwechsel. „Yannick hat nächsten Donnerstag Geburtstag und veranstaltet eine kleine Party in der Hotelbar. Ich hoffe, du wirst auch kommen.“

Timurcin zögerte einen Moment und Simon konnte nachvollziehen, dass es ihm schwerfiel, an eine unbekümmerte Party zu denken. „Jetzt gib dir einen Ruck. Du musst mal wieder unter Leute gehen. Sonst fällt dir irgendwann die Decke auf den Kopf“, versuchte Simon ihn zu überreden.

„Okay, ich werde kommen. Es bringt ja nichts, sich immer zu verstecken.“

„Das wollte ich hören.“ Simon hob erleichtert die Hand und Timurcin klatschte ihn ab. Sie beschlossen, ein Fußballspiel im Fernsehen anzugucken, um sich von ihren schwermütigen Gedanken ein wenig ablenken zu lassen.

Kapitel 37

Yannicks Geburtstag

Zur Feier des Tages hatte Yannick beschlossen, seine Freunde auf einen Umtrunk in die Hotelbar einzuladen. Da er bis einundzwanzig Uhr arbeiten musste, hatte er keine große Lust mehr, sich noch außer Haus zu begeben. Anscheinend kam er langsam, aber sicher in die Jahre. Früher wäre dieser Umstand kein Grund für ihn gewesen, nicht die gesamte Nacht durch zu feiern. Aber er wurde heute fünfunddreißig Jahre alt und war nun wirklich kein Jungspund mehr. Dass einige seiner Freunde ebenfalls im Hotel arbeiteten, kam seinem Plan nur entgegen.

Neben seinen stressigen Dienstzeiten blieb wenig Zeit, um soziale Kontakte, außerhalb des Hotels, zu pflegen.

Yannick hatte neben Simon noch sporadisch zu zwei weiteren ehemaligen Schulfreunden Kontakt, die in der Nähe von Oberstdorf in Kempten lebten. Beide hatten ebenfalls zugesagt, heute Abend vorbeizukommen. Darüber freute Yannick sich sehr, da er sowohl seinen Kumpel Sebastian als auch seine Schulfreundin Anna seit Monaten nicht mehr gesehen hatte.

Er freute sich auf die Feier, denn sein bevorstehender Geburtstag hatte ihm in letzter Zeit manch nachdenkliche Stunde beschert. Er musste sich langsam Gedanken über seine weitere Zukunft machen. Früher war er der Überzeugung gewesen, mit Mitte dreißig wären seine wilden, unruhigen Zeiten längst Vergangenheit und er würde ein gesetztes Familiendasein führen. Mittlerweile war er zu der Ansicht gelangt, nicht der Typ für ein geselliges Familienleben zu sein. Er konnte sich nicht einmal vorstellen, jahrelang monogam in einer Beziehung zu leben. Eigene Kinder, dieser Gedanke war ihm so fremd wie eine Reise zum Mond.

Nun arbeitete er schon geraume Zeit beständig am selben Ort im gleichen Betrieb, für seine Verhältnisse grenzte dies schon an einen Rekord. Langsam machte sich in ihm die gewohnte Unruhe breit, die ihn jedes Mal ab einem gewissen Zeitpunkt überfiel, sollte er zu lange im gleichen Hotel arbeiten. Eigentlich hatte er gehofft, mit der Rückkehr in seinen Heimatort würde ihn dieses vertraute Gefühl, das er mit Oberstdorf in Verbindung brachte, dazu verleiten, endlich an einem Ort sesshaft zu werden. Über Monate hinweg sah es ganz danach aus, als könnte sein Plan aufgehen. Er hatte zwar keine Familienangehörigen mehr vor Ort, aber es gab genügend Freunde, die er in sein Herz geschlossen hatte, die ihn dazu verleiten könnten, hier glücklich zu werden.

Nun musste er die Wahrheit erkennen. In den letzten Wochen wurde er zunehmend von großem Fernweh geplagt. Er träumte von fernen Ländern, die er noch nie bereist hatte. Er sehnte sich nach neuen, großartigen Herausforderungen, nach anderweitigen Impulsen und Denkanstößen. Dieses eintönige Leben, welches tagein, tagaus seinem gewohnten Lauf nachging, dafür war er einfach nicht geboren. Seine Freunde hatte er noch nicht über seine Pläne in Kenntnis gesetzt. Er wollte keine Pferde scheu machen, bevor es nicht wirklich ernst wurde.

Vor allem Helena und Simon würde es hart treffen, ihren besten Freund zu verlieren. Ihm wurde schon ganz mulmig bei der Vorstellung, ihnen seine Zukunftspläne zu gestehen. Jetzt aber wollte er alle Gedanken an zukünftige Veränderungen erst einmal ruhen lassen und ausgelassen den Geburtstag im Kreis seiner Freunde genießen.

***

Eigentlich müsste Helena sich auf die gemeinsame Geburtstagsfeier ihres besten Freundes freuen, aber wenn sie ehrlich war, verspürte sie ein mulmiges Bauchkribbeln, sobald sie nur daran dachte, dass Simon ebenfalls anwesend sein würde. Sie hatte ihn in den letzten drei Wochen zwar gesehen, als sie seine Kinder betreut hatte, aber sie hatten es beide unterlassen, ihren vorangegangenen Streit noch einmal zu erwähnen. Stillschweigend waren sie übereingekommen, das leidige Thema vorsichtshalber ruhen zu lassen. Ob es ihrem angespannten Verhältnis zugutekam, blieb allerdings zu bezweifeln.

Simon blieb kurz angebunden und sprach nur das Nötigste mit ihr. Sie fühlte sich äußerst unwohl in seiner Gesellschaft, da sie spürte, wie unwillkommen sie war. Helenas Sensibilität zeigte ihr deutlich, dass Simon sie lediglich seinen Kindern zuliebe in seinem Heim duldete.

Sobald er nach Hause kam, verabschiedete sie sich möglichst bald von den Kindern, um keine Minute länger als nötig in seiner Anwesenheit zu verbringen. Sie hoffte so sehr, dass ihre Gefühle für ihn sich irgendwann verflüchtigen würden, dass sie in der Lage wäre, einen normalen Umgang mit ihm zu pflegen. Aber zu ihrer Verzweiflung wuchsen das Verlangen und die Sehnsucht mit jeder Begegnung, und sei diese auch noch so kurz und schmerzlich, stetig an.

Dennoch war es für Helena undenkbar, Yannicks Einladung nicht zu folgen. Sie musste ihre eigenen Befindlichkeiten hintanstellen. Heute ging es weder um sie noch um Simon, sondern einzig und allein darum, Yannick einen schönen, geselligen Abend zu bescheren. Zumal er ausgerechnet heute Abend arbeiten musste.

Aber Frau von Hohenstetten hatte ihn höchstpersönlich darum gebeten, da sich heute ein ausnehmend wichtiger Geschäftspartner zu einem gemeinsamen Dinner angemeldet hatte. Helena lachte ironisch auf, sie konnte sich schon vorstellen, wie diese Bitte aussah. Wahrscheinlich hatte sie ihrem Chefkoch indirekt mit Kündigung gedroht, sollte er auch nur Anstalten machen, sich ihren Wünschen nicht zu beugen.

Da Helena davon überzeugt war, dass Yannicks Dienstschluss sich hinauszögern würde, hatte sie keine besondere Eile, sich für die Party fertigzumachen. Denn sie wollte nichts weniger, als sich gezwungen zu sehen, mit Simon Small Talk zu betreiben.

Während sie einen Blick in den Kleiderschrank warf, stöhnte sie frustriert auf. Natürlich befand sich nicht ein passendes Kleidungsstück darin. Sie probierte ein Outfit nach dem anderen an, aber sie fand sich in jedem unvorteilhaft gekleidet. Wahrscheinlich war sie einfach zu dick. Sie fühlte sich schon seit geraumer Zeit nicht mehr wohl in ihrem Körper, was vor allem der Trennung von ihrem Verlobten und auch Simons unübersehbarer Ablehnung ihr gegenüber zuzuschreiben war.

Eigentlich war Helena einmal ein selbstbewusstes Mädchen gewesen. Noch nie hatte sie sich mit ihrem Äußeren so kritisch beschäftigt, wie in den vergangenen Monaten. Wie konnte ihr das Aussehen mit einem Mal so viel bedeuten? Früher hatte sie keinerlei Bedenken gehegt, Männer könnten sie für unattraktiv halten. Helena gehörte zu einer der wenigen glücklichen Frauen, die weder schon einmal eine Diät gehalten noch jemals mit ihrer Figur gehadert hatten. Im Gegenteil, obwohl sie keine Traummaße besaß, war sie zufrieden gewesen. Nun war von ihrem Selbstwertgefühl nichts mehr übriggeblieben. Marc hatte sie kurz vor der Hochzeit für eine schlanke 36 verlassen und Simon bevorzugte Emilys Modelmaße 32/34. Wie in Gottes Namen sollte man unter diesen Voraussetzungen keine Komplexe erleiden?

Sie war beileibe nicht dick. Sie trug normale Standardgröße 40. Vielleicht war diese Kleidungsgröße bei ihrer Körpergröße ein wenig zu hoch. Trotzdem hatte sie einen wohlgeformten, sehr weiblichen Körper. Ihre schöne Oberweite passte zu ihren breiteren Hüften und einem gut gepolsterten Hinterteil. Außerdem hatte sie ein hübsches Gesicht mit großen, wachen Augen. Aber Simon hatte anscheinend keinerlei Blick für ihre Vorzüge übrig.

Jetzt hatte sie schon zehn verschiedene Kleiderkombinationen ausprobiert und hatte immer noch nicht das Passende gefunden. Ihr Zimmer befand sich mittlerweile in einem katastrophalen Zustand. Überall lagen die Anziehsachen auf dem Boden und den Sitzgelegenheiten verstreut.

Nach einer Stunde gab sie auf. Sie musste sich eingestehen, dass es in ihrer desolaten Gemütsverfassung überhaupt nicht möglich war, etwas zum Anziehen zu finden, in dem sie sich hundertprozentig wohlfühlte. Sie musste wohl damit leben, sich mit einem der zahlreichen Outfits zu arrangieren. Deshalb entschied sie sich für das geringste Übel.

Eine dunkle Röhrenjeans, die ihren Hintern sehr vorteilhaft betonte. Dazu ein silbrig schimmerndes Oberteil, welches weich und weit über ihre etwas zu ausladenden Hüften fiel und diese somit geschickt kaschierte. Ihren Busen hingegen betonte es auf herausragende Art und Weise.

Dazu trug sie weiße Stiefel mit fast zehn Zentimeter hohen Absätzen, die ihre kleine gedrungene Gestalt in die Länge streckten und sie schlanker erscheinen ließen.

Nachdem sie sich geschminkt hatte, fühlte sie sich viel wohler. Ihre Haare trug sie zu einem streng zurückgebundenen Pferdeschwanz hoch oben am Hinterkopf. Als sie nun einen weiteren Blick in den Spiegel riskierten, atmete sie erleichtert auf. So konnte sie sich sehen lassen.

Sie reckte ihr Kinn in die Höhe, straffte die Schultern, zog den Bauch ein und nahm sich fest vor, sich ihre wiedergefundene gute Stimmung nicht von Simon ruinieren zu lassen. Im Vorbeigehen griff sie nach einer farblich passenden Handtasche und wollte gerade die Tür zuziehen, als sie sich die Hand an die Stirn schlug.

„Vielleicht solltest du Yannicks Geschenk auch noch mitnehmen.“

Im zweiten Anlauf konnte sie sich nun endlich auf den Weg machen. Dort begegnete sie Andrea. Sie überkam ein Gefühl wohltuender Erleichterung, nicht allein die Party betreten zu müssen. So konnte sie Simon aus dem Weg gehen, indem sie vorgab, in ein Gespräch mit Andrea verwickelt zu sein.

„Hast du heute noch etwas anderes vor?“ Helena sah skeptisch, wenn auch neidisch an Andrea auf und ab. „Du siehst wirklich großartig aus. Aber dein Outfit ist eher geeignet für den Besuch eines Opernballes, als einer privaten Geburtstagsfeier im lockeren, ungezwungenen Rahmen.“

Andrea warf mit einer eleganten Handbewegung ihre blonden Locken zurück. „Meinst du? Ich fühle mich dem Anlass entsprechend gekleidet“, gab sie mit einem Augenzwinkern selbstbewusst zurück. Sie trug ein eng anliegendes mit Goldpailletten besticktes feingeripptes Wollkleid. Zwar verfügte Andrea nicht über Idealmaße, die das Tragen eines derart figurbetonten Kleides rechtfertigen würden, aber ihr natürlich angeborenes Selbstbewusstsein ließ jeden über das eine oder andere Pölsterchen hinwegsehen. Dazu trug sie Stilettos, in denen sie kaum laufen konnte.

„Ich hoffe, Yannick hat ein paar wohlhabende, alleinstehende Freunde eingeladen. Ich bräuchte bei meinem Lebensstil langsam, aber sicher finanzielle Unterstützung“, gab Andrea mit vollem Ernst zu.

„Ich würde dir raten, dich umgehend nach einer gemütlichen Sitzgelegenheit umzusehen, denn ich befürchte, du wirst nicht länger als ein paar Minuten in diesen grässlichen Dingern stehen können“, tat Helena ihre Befürchtung kund.

„Grässliche Dinger? Spinnst du? Die haben fast dreihundert Euro gekostet.“ Andrea sah ihre Freundin verständnislos an. „Der Schönheit wegen lohnt es sich doch immer, ein wenig zu leiden.“

Helena trug gewöhnlich Sneakers und im Sommer Ballerinas. Selten hatte sie Schuhe mit Absätzen an. Deshalb fühlte sie sich mit ihren Stiefeln schon auf unsicherem Fuß. Aber das war überhaupt nichts im Vergleich zu Andreas hauchdünnen Stilettos, die aussahen, als würden sie bei der geringsten Belastung auseinanderbrechen.

Helena hakte sich freundschaftlich bei Andrea unter und sie begaben sich auf die Feier.

Nachdem sie sich um fast eine Stunde verspätet hatten, war mittlerweile auch das Geburtstagskind anwesend.

Natürlich befand er sich im anregenden Gespräch mit Simon und seinem neuerdings weiteren besten Kumpel Timurcin. Helena nannte die Freunde im Geist gerne die drei Musketiere. Einer für alle, alle für einen, schien ihre Freundschaftsdevise zu lauten.

Andrea zerrte Helena etwas unsanft in Yannicks Richtung. Da diese sich zierte, ihr zu folgen, ließ Andrea sie einfach stehen und stürzte sich in eine übertriebene Umarmung mit Yannick. Helena musste sich zwingen, einen Fuß vor den anderen zu setzen, um ihrem Freund ebenfalls zu gratulieren. Aber es war ihr, als würde sie eine unsichtbare Macht von der Kleingruppe um Yannick fernhalten. Sie wurde immer langsamer und beschloss kurzerhand, die eingeschlagene Richtung zu ändern, und drehte sich um fünfundvierzig Grad, den hoffnungsvollen Blick in Richtung rettender Bar gerichtet. Sie war sich sicher, sobald ein oder zwei Gläser hochprozentigen Alkohols durch ihre Adern flossen, würde sie sich imstande sehen, Simon souverän gegenübertreten zu können.

Während ihr Santino den gewünschten Gin Tonic reichte, nachdem sie es sich auf einem Barhocker bequem gemacht hatte, umarmte sie plötzlich jemand von hinten. Helena drehte sich überrascht um und sah in Yannicks Gesicht. Er lächelte und sagte einfühlsam: „Ich dachte, ich nehme dir die quälende Entscheidung ab, ob du es über dich bringen kannst, Simons Anwesenheit zu ertragen. Nun kannst du mir in Ruhe gratulieren.“ Helena war gerührt von Yannicks offensichtlicher Sorge, die er hinter seiner saloppen Art zu verstecken versuchte. Sie stand auf, umarmte ihn herzlich und gab ihm zur Feier des Tages einen dicken Kuss auf die Wange.

Yannick war durch die Feierlichkeiten ein wenig übermütig geworden, vielleicht war auch der Alkohol schuld daran, dass er Helena überraschend auf den Mund küsste.

Auf ihren verblüfften Blick hin, erklärte er treuherzig: „Ich habe heute schließlich Geburtstag, da wirst du mir doch diesen einen Kuss gestatten.“

Helena grinste ihn ein wenig verlegen an und erwiderte mit strenger Miene: „Aber das mir das nicht zur Gewohnheit wird, mein Lieber. Ich möchte unsere Freundschaft nur ungern aufs Spiel setzen.“

„Dein Wunsch sei mir Befehl“, salutierte er und küsste sie umgehend noch einmal.

„Yannick!“, rief sie entrüstet.

Reumütig blickte er sie an. „Wahrscheinlich habe ich doch schon mehr getrunken, als ich angenommen hatte.“

Helena platzte fast vor Lachen. „Sollte das jetzt als Kompliment für mich gedacht sein? Du warst auch schon mal charmanter. Aber da du heute Geburtstag hast, werde ich dir ein letztes Mal verzeihen.“

Sie sahen sich einen Augenblick lächelnd an, sie verstanden einander auch ohne Worte. Dann legte Helena ihre Hand auf seinen Arm. „Ich habe dir noch gar nicht unser Geschenk gegeben. Es ist von Andrea und mir.“ Sie wühlte eine Weile erfolglos in ihrer Handtasche.

Yannick betrachtete sie bei ihren Bemühungen spöttisch und konnte nicht unterlassen, ihr Unterfangen zu kommentieren: „Das Geschenk muss wirklich winzig sein, wenn du es in deiner kleinen Handtasche nicht mehr findest. Die Tatsache an sich, dass es überhaupt in dieses Miniding passt, macht mich sehr skeptisch.“

„Ha.“ Mit einem triumphierenden Ausruf hielt Helena ein Briefkuvert in der Hand. Als Yannick ihr das Geschenk gierig aus der Hand reißen wollte, versteckte sie es hinter ihrem Rücken. „Wenn du kein Interesse daran hast, opfert sich bestimmt jemand anderes auf. Ich finde bestimmt jemanden, der das Geschenk zu würdigen weiß.“

„Bitte, bitte, ich bin jetzt auch ganz lieb.“ Treuherzig legte Yannick den Kopf schief.

„Wie könnte ich diesem Blick widerstehen?“, erwiderte Helena lächelnd.

Yannick beachtete sie überhaupt nicht und begann wie ein kleines Kind das Kuvert aufzureißen. Als er den Inhalt überflogen hatte, riss er Helena mit einem Freudenaufschrei an sich und vollführte eine Drehung mit ihr. „Das wollte ich schon immer mal machen. Wie bist du nur darauf gekommen? Kannst du Gedanken lesen?“, fragte er sie ratlos.

Spöttisch betrachtete sie ihn und antwortete: „Du hast es gefühlte hundert Mal unauffällig erwähnt, dass ein Fallschirmsprung dein großer Traum ist. Nachdem du Bungee-Jumping schon hinter dir hast, suchst du eine neue Herausforderung. Das waren deine eigenen Worte. Es war jetzt nicht besonders schwer, diese dezente Andeutung zu verstehen.“

„Das muss ich gleich den anderen erzählen und bei Andrea muss ich mich auch noch bedanken.“ Damit setzte er Helena ab und ließ sie stehen.

Sie blickte Yannick kopfschüttelnd und zugleich amüsiert hinterher.

Als sie ihren Blick abwandte und ihn neugierig durch den Raum wandern ließ, bemerkte sie zu ihrer Überraschung, dass Simons Blick auf ihr ruhte. Wie lange beobachtete er sie schon, fragte sie sich erschrocken.

Sie konnte dem Blickkontakt keinen Augenblick länger standhalten. Obwohl er sich mindestens zehn Meter von ihr entfernt befand, brannte lichterloh ein Feuer in ihr, sobald sie nur an ihn dachte. Seufzend wandte sie sich ab und widmete sich eingehend ihrem Gin Tonic.

Wahrscheinlich saß sie annähernd eine halbe Stunde allein an der Theke, als sich ihr ein unbekannter Mann näherte.

Er war nicht wirklich als gut aussehend zu bezeichnen, trotzdem wirkte er durch sein offenes Lächeln sehr sympathisch und nicht unattraktiv.

„Du siehst nicht gerade so aus, als würdest du dich blendend amüsieren“, stellte er trocken fest, nachdem er sich vorgestellt hatte. Sebastian war ein ehemaliger Schulkamerad von Yannick.

„Sieht man mir das etwa an?“, frage Helena schockiert.

„Ich beobachte dich schon eine geraume Weile und du hast in dieser Zeit nichts anderes getan, als dich gelangweilt im Raum umzusehen und einen Drink nach dem anderen zu schlürfen.“

„Ertappt.“ Helena zupfte gedankenverloren an ihrem Pferdeschwanz. „Aber vielleicht habe ich nur auf Ablenkung gewartet. Du wirst es bestimmt schaffen, mich im Handumdrehen aufzumuntern“, flirtete Helena. Wie lange hatte sie schon nicht mehr ein lockeres Gespräch mit einem Unbekannten geführt? Etwas Bestätigung tat ihr sicherlich gut.

„Dann spendiere ich dir als Erstes einen weiteren Drink. Bleibst du beim Gin Tonic oder darf ich dich auf einen Cocktail einladen?“, fragte Sebastian.

„Cocktail klingt gut“, stimmte Helena sofort zu.

„Wie wäre es mit Sex on the Beach?“, hauchte Sebastian dicht an ihrem Ohr.

Helena richtete sich auf und straffte die Schultern. Das versprach noch ein interessanter Abend zu werden.

„Klingt gut, aber leider verfügt das Hotel über keinen Strand. Wie wäre es mit Sex on the Table?“, scherzte Helena ungewohnt locker.

Zu ihrem Erstaunen wurde Sebastian unversehens rot und schluckte hastig. Sie konnte seinen Adamsapfel vor Nervosität auf und ab hüpfen sehen.

„Ich glaube, wir haben uns missverstanden. Ich habe von dem Cocktail geredet“, entgegnete er gepresst, als er seine Stimme wiedergefunden hatte.

„Entschuldige bitte, ich habe nur einen Scherz gemacht. Mir sind meine zahlreichen Gin Tonics wohl schon zu Kopf gestiegen. Am besten halte ich mich jetzt an alkoholfreie Cocktails“, bemühte Helena sich, die Wogen zu glätten.

Sebastian nahm es mit Humor und bestellte ihr das Gewünschte. Nachdem sie sich eine Weile ausgetauscht hatten, nahm er sie an den Händen und zog sie energisch von ihrem Barhocker.

„Was wird das jetzt, wenn ich fragen darf?“, entgegnete Helena verwirrt.

„Reden wird auf die Dauer langweilig. Wie wäre es, wenn wir für ein wenig Stimmung in der Bude sorgen und tanzen?“ Schon schlang er einen Arm auffordernd um ihre Taille.

„Wir haben überhaupt keine Tanzfläche“, wiegelte Helena ab.

„Ich brauche keine Tanzfläche. Mir reicht ein Stückchen freier Boden und schon geht es los.“ Er duldete keine Widerrede und wirbelte Helena zu einem Popsong übers Parkett. Ihr blieb überhaupt nichts anderes übrig, als sich ihrem Schicksal zu beugen, denn es würde sehr merkwürdig aussehen, wenn sie sich aus seiner festen Umarmung losriss. Helena war es schon immer höchst zuwider gewesen, im Mittelpunkt zu stehen. Natürlich blieb es sämtlichen Anwesenden nicht verborgen, dass sie eine heiße Nummer hinlegten, denn der Raum war nicht sonderlich groß und geräumig.

Sebastian war ein hervorragender Tänzer, der es verstand, auch Helenas Qualitäten in einem günstigen Licht erscheinen zu lassen. Sie begann sich nach dem ersten Tanz zu entspannen und genoss es, sich von einem derart begabten Tänzer führen zu lassen.

Das dritte Lied war sehr ruhig und melancholisch angehaucht. Sebastian zog sie eng zu sich heran und sie wiegten sich im Rhythmus der Musik harmonisch im Einklang. Als die letzten Takte verklangen, löste Helena sich abrupt aus der vertrauten, intimen Umarmung. Es fühlte sich nicht gut an. Sie war weder an Sebastian interessiert, noch sollte sie in ihm Hoffnungen wecken.

Die anderen Gäste spendeten ihnen für die gelungene Darbietung spontan Applaus. Mit verlegenem rotem Gesicht zog sie sich an die Bar zurück. Sebastian folgte ihr.

„Habe ich etwas falsch gemacht?“, fragte er und Helena seufzte innerlich, weil er ihren Rückzug so deutlich gespürt hatte.

„Sebastian, du bist ein wirklich total sympathisch. Ich weiß nicht, was du in mir siehst, aber ich bin momentan nicht bereit, mich auf eine neue Beziehung oder auch nur auf einen One-Night-Stand einzulassen“, sprach sie klare Worte.

Er sah sie einen Moment an und Helena hielt unwillkürlich die Luft an, weil sie keine Lust auf eine Diskussion hatte.

„Danke für deine Offenheit. Aber es spricht dennoch nichts dagegen, uns einen schönen Abend zu machen“, sagte er und Helena entspannte sich. Er schien keineswegs beleidigt zu sein, dass sie ihn abwies, und Helena beschlich der leise Gedanke, ob Yannick seinen Freund auf sie angesetzt haben könnte. Sie wollte für Klarheit sorgen und fragte Sebastian unverzüglich aus.

Er wandte sich einen Moment verlegen und sagte dann entschieden: „Es stimmt, Yannick hat mich gebeten, dass ich mich ein wenig um dich kümmern soll. Aber ich habe dir keine Komplimente gemacht, die ich nicht wirklich so meinte. Ich sollte dich nicht nur aufmuntern, sondern Yannick hätte sich aufrichtig gefreut, wenn sich zwischen uns mehr als nur ein wenig Interesse entwickelt hätte. Insofern habe ich dir nichts vorgespielt. Ich würde mich wirklich freuen, wenn du mich wiedersehen möchtest“, besänftigte er Helena.

Diese war ein wenig beruhigt, dennoch ärgerte es sie, dass Yannick sich als Kuppler aufspielte. Eigentlich müsste er sie so gut kennen, dass sie für keinen anderen Mann als Simon Augen hatte. Wahrscheinlich sollte sie diesen Verkupplungsversuch als Zeichen deuten, dass auch Yannick keinerlei Chancen für eine gemeinsame Zukunft mit Simon sah.

Trotzdem war sie Sebastian aufrichtig dankbar für seine Bemühungen, sie in eine heitere Stimmung zu versetzen.

Kurze Zeit später verabschiedete Sebastian sich mit einem freundschaftlichen Wangenkuss von ihr, da er sich auf den Heimweg machen wollte.

Helena durchquerte ausgelassenen und beschwingten Schrittes den Saal, um Andrea von ihrem aufbauenden Erlebnis mit Sebastian zu erzählen. Nur konnte sie diese nirgends sehen. Helena blieb mitten im Raum stehen und sah sich um. Nicht weit von ihr entfernt befand sich das dreiblättrige, scheinbar unzertrennliche Kleeblatt. Sie sah schnell weg, bekam aus dem Augenwinkel jedoch mit, dass Simon sich in Bewegung setzte. Vielleicht wollte er nach Hause gehen. Als sie einen vorsichtigen, verstohlenen Seitenblick riskierte, stellte sie zu ihrem Erschrecken fest, dass er geradewegs auf sie zukam.

Seine gewitterumwölkte Miene versprach nichts Gutes. Helena verspürte den wohlbekannten Kloß im Hals, als sie ihn auf sich zukommen sah.

Da ihr jegliche Fluchtmöglichkeit fehlte, blieb sie einfach an derselben Stelle stehen. Sie hätte es sowieso nicht fertiggebracht, sich der magischen Anziehungskraft seines intensiven Blickes zu entziehen.

Unmittelbar vor ihr blieb er stehen. Sie schwiegen für einen Moment und Helena stellte bedauernd fest, dass sie nur ihren Arm ausstrecken müsste, dann könnte sie ihn berühren. Ihr Herz stach fürchterlich, als sie wieder einmal vor Augen geführt bekam, wie nahe Simon ihr war, und zugleich doch so unfassbar fern.

Als Simon endlich zu sprechen begann, wurde der Schmerz, der Helena in seiner unmittelbaren Nähe überfallen hatte, schnell zur Nebensache.

„Was willst du mit dem Theater, das du den gesamten Abend konsequent betreibst, eigentlich erreichen?“

Helena sah ihn nur mit verständnislosem Gesichtsausdruck an, sie hatte überhaupt keine Ahnung, von was Simon sprach.

„Schämst du dich denn gar nicht? Zuerst hängst du dich permanent Yannick an den Hals, lässt dich von ihm trösten, nützt seine Gutmütigkeit gnadenlos aus und weckst in ihm Hoffnungen. Andererseits hast du überhaupt keine Skrupel, dich an seinem Geburtstag mit einem anderen Mann derart dreist und unverschämt zu amüsieren. Du hast dich Sebastian förmlich an den Hals geworfen. Und das direkt vor Yannicks Augen.“

Helena verschlug es aufgrund Simons selbstgerechter und unverschämter Anklage den Atem. Sie hatte Mühe, Luft zu bekommen, und sie überfiel ein panisches Gefühl, ersticken zu müssen. Dann setzte sich aber eine unfassbare Wut auf diesen ignoranten Idioten durch und half ihr, sich ein wenig zu fassen.

„Was fällt dir eigentlich ein, dich in meine Angelegenheiten einzumischen? Ich bin dir doch keine Rechenschaft über mein Verhalten schuldig“, fauchte sie wütend zurück.

Simon kam noch einen Schritt auf sie zu, und sie musste sich mit aller Macht beherrschen, stehen zu bleiben und vor seiner bedrohlichen Gestalt nicht zurückzuweichen. Diese Blöße wollte sie sich keinesfalls geben.

Seine Augen funkelten wutentbrannt und er erwiderte so laut, dass es sämtliche Umstehende hören mussten: „Es geht mich aber etwas an, wenn du meinen Freund ausnützt und noch schlimmer ihn sogar verarschst. Du führst ihn derart vor, dass ich mich schon beim Zuschauen für dich schämen muss. Anscheinend habe ich mich in dir gründlich getäuscht. Ist es schon immer deine Art gewesen, mit jedem Typen ins Bett zu springen, egal ob du mit dieser Verhaltensweise einen anderen Menschen verletzt? Weißt du, wie ich das nenne? Schlampe!“

Er hatte Helena einen derartigen Schlag versetzt, dass sie nur noch rot sah. Sie holte aus und versetzte ihm im Affekt eine schallende Ohrfeige. Von der Heftigkeit des Schlages tat ihr die Hand ungemein weh. Sie hielt seinem wutentbrannten Blick stand, zitterte aber dermaßen am gesamten Körper, dass sie sich wunderte, warum ihre Zähne nicht klapperten. In ihren Augen schwammen Tränen, die sie unter größter Anstrengung unterdrückte.

„Dann weiß ich jetzt wenigstens, was du wirklich von mir denkst, und befreie dich von meiner furchtbaren Gesellschaft.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging hastig aus dem Raum. Kaum war sie aus dem Sichtfeld der Gesellschaft verschwunden, begann sie zu rennen. Sie wollte nur noch fort von hier, fort von diesem ungehobelten Kerl, der sie so verletzt hatte wie noch kein Mensch zuvor.

***

Simon bekam keine Gelegenheit, sich über sein Verhalten Gedanken zu machen, denn Yannick kam wütend auf ihn zugeschossen.

„Verdammt noch mal, Simon. Was sollte das? Wie kannst du Helena derart schlecht behandeln und sie vor versammelter Mannschaft so bloßstellen? Das wird sie dir nie verzeihen. Diesmal bist du einfach zu weit gegangen.“ Yannick stand direkt vor ihm und hatte die Hände in die Seiten gestemmt.

„Yannick, ich habe nur ausgesprochen, was ich durch meine Beobachtungen für einen Eindruck von ihr erhalten habe“, versuchte er sich zu rechtfertigen.

„Was hat sie denn Schlimmes getan? Ach, ich vergaß, sie hat es gewagt, sich ein wenig zu amüsieren. Das ist wirklich verboten. Und was sind das für Hirngespinste, die du immer noch bezüglich Helena und mir hegst? Wir sind nur gute Freunde, mehr nicht. Ich weiß nicht, wie oft ich dir das noch erklären muss, bis es endlich bei dir angekommen ist.“ Yannick klopfte Simon mit seinem Fingerknöchel nicht gerade sanft gegen die Stirn.

Simon sah ihn perplex an und erwiderte dann langsam: „Ich habe euch in den letzten Wochen ständig in vertrauten Umarmungen gesehen, heute habt ihr euch geküsst. Was soll ich denn anderes glauben, als dass ihr ein Paar seid?“

Yannick atmete tief durch, wahrscheinlich um sich zu beruhigen. „Vielleicht hättest du einfach mal nachgefragt. Darf man gute Freunde nicht umarmen und ihnen einen rein freundschaftlichen Kuss geben? Simon, manchmal frage ich mich, bist du so blöd oder tust du nur so? Helena ist nicht in mich, sondern in dich verliebt und das schon seit Langem. Und du verdammter Idiot behandelst sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit wie einen Haufen Dreck“, schimpfte Yannick und stieß Simon heftig gegen die Brust, sodass er einen Schritt zurücktaumelte.

***

Yannick war zwar nicht wohl bei dem Gedanken, Helenas Geheimnis ausgeplaudert zu haben, andererseits hatte sie es ihm nie erzählt. Es waren lediglich seine eigenen Beobachtungen und Vermutungen, die er hier kundtat.

Simon erblasste schlagartig. Seine Arme, mit denen er gerade noch lebhaft gestikuliert hatte, sanken herab und baumelten schlaff an seinem Körper. Reglos schien er am Boden festgewachsen zu sein.

„Möchtest du dich zu diesem Thema vielleicht auch mal äußern? Wenn du dir die Ehre geben könntest, wäre ich dir sehr verbunden“, höhnte Yannick sarkastisch.

Simon hingegen beachtete ihn überhaupt nicht, sondern lief ohne ein weiteres Wort von sich zu geben einfach davon.

„Des gibts doch net, lässt der mich hier einfach so deppert stehn.“ Yannick blickte ihm fassungslos hinterher und vor lauter Aufregung verfiel er in einen Dialekt, den er sich fast vollständig abgewöhnt hatte.

***

Als Simon das Foyer des Hotels erreichte, irrte sein Blick erst einmal unschlüssig und ziellos umher, bis er an der Rezeption hängenblieb. Mit wenigen Schritten erreichte er den Tresen. „Guten Abend, können Sie mir bitte behilflich sein und mir sagen, wo ich die Unterkunft von Frau Brückner finde?“

Herr Steigenberger betrachtete ihn eingehend über den Rand seiner Brille. Der Rezeptionist war Simon natürlich bekannt, genauso wie seine Diskretion, daher wunderte es ihn nicht, dass er kein Wort darüber verlor, warum Simon mitten in der Nacht nach einer Angestellten fragte.

„Das tut mir wirklich leid, aber ich kann Ihnen nicht weiterhelfen“, entgegnete er schließlich.

Simon musste sich eisern beherrschen, um seinem Frust nicht freien Lauf zu lassen, indem er den älteren Mann anbrüllte.

„Wären Sie dann so freundlich, sie auf ihrem Zimmer anzurufen?“, fragte er schließlich halbwegs freundlich.

„Um ein Uhr morgens?“ Herr Steigenberger sah ihn entsetzt an.

„Sie war bis eben noch auf einer Party, da müssen Sie sich keine Sorgen machen, sie aus dem Schlaf zu reißen. Ich muss nur wissen, ob sie da ist, das ist alles. Bitte, es ist wirklich wichtig“, fügte er eindringlich hinzu.

„Dann will ich mal nicht so sein. Möchte dem jungen Glück ja nicht im Wege stehen“, feixte Herr Steigenberger und lachte, als er Simons verstörte Miene sah, während er den Hörer abnahm und wählte.

Er ließ es mindestens zwei Minuten klingeln, aber es hob niemand ab.

„Sie scheint nicht da zu sein. Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen konnte“, sagte er bedauernd, als er aufgelegt hatte.

„Danke für Ihre Bemühungen“, brachte Simon enttäuscht hervor. Er hob kurz die Hand und verließ das Hotel nachdenklich. Es war undenkbar, jetzt einfach nach Hause zu fahren, anstatt sie zu suchen. Simon begann die Wege rund um das Hotel abzulaufen. Leider gestaltete sich seine Suche alles andere als leicht, da sich in unmittelbarer Nähe ein kleiner Wald befand und das Gelände nicht gerade klein war. Nachdem er zuerst den Hotelpark durchkämmt hatte, begab er sich auf einen angrenzenden Waldpfad.