Im Schatten von Xibalba -  - E-Book

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Beschreibung

538 nach Christus an der Spree: Mit außerirdischer Hilfe haben die Maya Amerika und weite Teile Europas erobert. Wo später einmal Deutschlands Hauptstadt errichtet werden würde, liefern sich Germanen, Slawen und Mayakrieger nun erbitterte Schlachten. Zwischen den Fronten wechseln Prinzessinnen und Bauernjungen die Seiten … und teilen manchmal sogar die Betten. Das Kind heißt Mayapunk – mit Storys aus einer blutigen, herausfordernden Alternativwelt … 

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Seitenzahl: 430

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Sven Klöpping (Hrsg.)

IM SCHATTEN VON XIBALBA

und andere Mayapunk-Storys

s*ernwerk 3

Sven Klöpping (Hrsg.)

IM SCHATTEN VON XIBALBA

und andere Mayapunk-Storys

s*ernwerk 3

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: Juni 2016

Sven Klöppings s*ernwerk & p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Lothar Bauer

Illustrationen in der Printausgabe: Lothar Bauer (54, 66, 90, 232), Nils Hamm (242), Tanja Meurer (38, 196)

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Sven Klöpping, Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

Sven Klöppings s*ernwerk im Verlag p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

sternwerk.pmachinery.de

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 067 2

Mayapunk!

Im fünften und sechsten Jahrhundert nach Christus erobern die Maya Amerika und Westeuropa. Sie haben sich sehr schnell technologisch weiterentwickelt und fallen wie Würgeschlangen über die Europäer her, gerade als das römische Weltreich vollständig untergegangen ist. Ihre Waffen und Technologien basieren auf Eigenschaften des Dschungels und der Tiere, die darin beheimatet sind. Außerdem sind die Maya zu begnadeten Seefahrern avanciert, können Raubkatzen, Reptilien, Schlangen und andere giftige Tiere abrichten und im Kampf einsetzen. Gerüchte besagen zudem, dass Außerirdische sie mit einigen speziellen Technologien und Waffen ausgestattet hätten, die es ihnen ermöglichen sollen, durch die Lüfte zu fliegen, mit Lichtstrahlen zu schießen und ständig mit ihrem Oberkommando in Kontakt zu bleiben. Aber das sind bloß Gerüchte … oder?

In diesem ersten Mayapunk-Band finden sich elf Geschichten von Autoren, die sich sehr interessante Gedanken zur Mayapunk-Welt gemacht haben …

Gute Unterhaltung oder: Topoxté!

Sven Klöpping

Herausgeber

P.S.: Der Arbeitstitel der Anthologie lautete »Die Pyramiden von Berlin«, weshalb viele der Storys in und um die Siedlung spielen, die später das moderne Berlin werden sollte.

Herr LÿÐmann: Zähmer und Züchter

Augen klar, Zähne in Ansätzen vorhanden, Schuppen sauber.

Ernst begutachtet Nebosja die winzige Echse.

»Milena, bitte schreib mit!«

Ihre Assistentin unterbricht ihr wildes Spiel mit den anderen Echsenjungen im Nest und stolpert an ihren Schreibtisch zurück.

»Stamm: Großer D. sumatranus, Südostasien, viereinhalb Zentimeter. Diese Züchtung spricht positiv auf eine sanfte Zähmung, wie beispielsweise das Ausstrahlen von Selbstbewusstsein, ruhiges Atmen, Schließen der Augen und leichtes Berühren der …« Milena räuspert sich und spielt unschuldig an ihren purpurnen Haarbändern, die sie unordentlich in ihre honigbraunen Haare geflochten hat.

»Kannst du das bitte noch mal wiederholen?«

Nebosja atmet genervt aus. »Draco. S-u-m-a-t-r-a-n-u-s.«

Eifrig fährt ihr Stift über das Blatt. »Und wie groß werden die?«

Nebosja setzt die Echse wieder zu ihren Geschwistern, blind lecken sie ihre vernarbte Hand.

»Ungefähr so groß wie ein Pferd.«

»Und können sie fliegen?« Sie hebt vorsichtig den Arm einer Echse an. Darunter kommen kleine, zusammengefaltete Flügelchen hervor.

»Sie können damit über kurze Strecken gleiten.« Milena wirkt enttäuscht, verärgert fügt Nebosja hinzu: »Wenn sie sich von einem Baum oder Felsen stürzen, fliegen sie; quasi.«

Milena zuckt mit den Schultern. »Man hört, Maya fliegen auf riesigen Echsen, deren Urväter Drachen gewesen sein sollen. Sie gleiten nicht.« Sie widmet sich wieder ihrer Kritzelei auf dem Brutbericht: einem singenden Mann mit flaschengrünen Augen.

Nebosja kneift sich in ihren Unterarm, um nicht auszurasten. In Kriegszeiten sollte man sich nicht wegen Kleinigkeiten aufregen, schon gar nicht im letzten Echsenzuchtbetrieb der Heveller. Sorgsam räumt sie die Unterlagen zusammen; Zuchttabellen ihrer Mutter und einige Thesen ihres Vaters zur Lebensweise von Gleit- und Flugechsen. Eines von vielen Themen, über das sich ihre Eltern ständig stritten. Ihr Vater, auf der Suche nach unbekannten Echsen, die er zähmen und durch die Hand seiner Frau aufziehen lassen konnte, verweilte oft wochenlang im Ausland. Ihre Mutter glaubte nicht, dass er ihr trotzdem noch treu war; wie er aber immer wieder beteuerte. Als sie ihn dann nach Jahren der Eifersüchteleien tatsächlich mit einer anderen erwischte, vergiftete sie ihn. Die Tat konnte ihr, trotz Vorsichtsmaßnahmen, nachgewiesen werden und sie wurde zum Tode verurteilt. Ihre Strafe konnte sie jedoch nie wirklich antreten, da sie bereits im Kerker jämmerlich verdurstete. Nebosja und Debroslav fiel, nicht einmal volljährig, der Betrieb einer Echsenzucht und Dressurschule zu. Seitdem hatte Nebosja nicht mehr viel zu lachen.

Wumps!

Vor Schreck lässt Nebosja die Tabellen fallen, als die Tür zur Brutkammer aufgestoßen wird. Eine ausgewachsene, grasgrüne Gleitechse steckt den Kopf durch den Türspalt zur Kammer hinein und beschnuppert aufgeregt das Zimmer. Auf ihrem Rücken sitzt Nebosjas Bruder Debroslav, dessen Augen mit den Schuppen der Echse um die Wette funkeln.

»Ich kann es kaum erwarten! Wann kommt der Postbote?« Während er im Sattel sitzt, versucht er hektisch seinen Schuh zuzubinden.

»Er kommt« – genervt sammelt Nebosja die Unterlagen wieder auf – »wie jeden Tag gegen Mittag.«

Er schaut hoffnungsvoll aus dem Fenster, während seine Echse aufgebracht im Nest wühlt.

Nebosja schreitet ein: »Debroslav, sie soll aufhören, das ist nicht ihr Gelege!«

Ihr Bruder zieht geistesabwesend am Zügel und starrt weiter aus dem Fenster. Auf dem Hof fegt seine Assistentin Amankaya. Ihr langes Haar hat sie bei der Hitze mit zartrosa Spangen hochgesteckt, sodass ihr schmaler Nacken freiliegt. Man kann die Ansätze ihrer Tätowierung erahnen, die noch von ihrer Zeit als Sklavin bei den Maya stammt. Debroslav war ihr von Anfang an verfallen, kaufte sie und schenkte ihr die Freiheit.

Die Echse knurrt in die Eierschalen, die Jungen quietschen auf.

»Debroslav!« Statt ihres Bruders reagiert die Echse. Sie springt vom Nest zurück und zischt Nebosja wütend an, die ängstlich zurückweicht. Debroslav lacht und beruhigt das Tier.

»Wovor hast du denn Angst? Die tut doch nichts!«

Nebosja knirscht mit den Zähnen: »Du weißt genau, warum!«

Stets hatten die Echsen, die ihr Bruder anschleppte, sie gebissen, gekratzt oder umgerannt. Die Neueste bildete da keine Ausnahme.

»Sie ist nicht aus meiner Zucht, ich vertraue ihr nicht!« Sie wirft einen verächtlichen Blick auf ihren Bruder. »Und hör endlich auf, Amankaya nachzustellen. Sie ist deine Schülerin, verdammt noch mal!«

Debroslav grinst angriffslustig und wendet seine Echse geschmeidig in Richtung Tür.

»Ich werde auf dem Hof auf den Postboten warten.«

Tatsächlich kommt der Postbote heute früher und ist nicht wie sonst allein. Er wird begleitet von einem königlichen Abgesandten. Eine furchterregende Mayaklinge ist auf seinen Rücken geschnallt, gezackt und aus glänzendem Metall: wahrscheinlich Kriegsbeute oder Diebesgut. Mayawaffen gelten als absolut tödlich und sind mit Giften beschmiert, die unterschiedliche Wirkungen entfalten. Dabei munkelt man, das Gift sei das Blut von Wesen, die vom Himmel fallen.

Neugierig beobachtet Nebosja die Szenerie. Als der Abgesandte feierlich ein Hologramm startet, schwant ihr Schlimmes. Milena quetscht sich neben sie ans Fenster.

»Debroslav Branca …«

Ungelenk verbeugt sich ihr Bruder vor dem Abgesandten und dem digitalen Bildnis des Königs, Amankaya hört auf zu fegen,

»Ihr Gesuch auf Ausführung der Ausschreibung König Rogwolods des schwarzen Bären, zur Gefangennahme und Zähmung einer kürzlich entdeckten Flugechse, wurde aus zahlreichen Bewerbungen auserwählt.«

In Nebosjas Ohren rauscht es. Ihr Daumennagel bohrt sich leicht in ihren Unterarm.

»In Kriegszeiten ist Mut von größter Wichtigkeit, daher steuert die Krone ein Viertel zur Ausrüstung Ihrer Unternehmung bei.«

Ihr Daumen bohrt sich tiefer in ihr Fleisch.

»Der König erwartet Sie am Zweiten des nächsten Monats, um Sie zu verabschieden, bevor er sich erneut an die Kriegsfronten begibt.« Der Gesandte beendet das Hologramm.

»Eine Verzögerung oder Ausfallen der Mission durch Krankheit oder Tod Ihrerseits wird nur entschuldigt, wenn Sie für gebührenden Ersatz sorgen.«

Debroslav nickt heftig, seine Wangen glühen. Als der Abgesandte sich vom Hof wendet, nimmt der auserwählte Debroslav jauchzend Amankaya in den Arm und wirbelt sie in die Luft. Nebosja indes nimmt endlich den Druck aus ihrem Arm.

Sie blutet.

»Was hast du dir dabei gedacht?!« Wutentbrannt rennt sie auf ihren Bruder zu, der sich nur ungern aus Amankayas Umarmung schält.

»Du willst eine riesige Flugechse zähmen, wobei dir das nicht mal bei einer Gleitechse gelingt?«

Er verschränkt die Arme.

»Du hast keine Ahnung von meinen Fähigkeiten! Ich bin der Beste!«

»Und wer zum Teufel kümmert sich um unseren Echsenbestand? Wer reitet die Tiere ein, wenn du weg bist? Soll das Amankaya alleine machen?«

Wild fuchtelt Nebosja in der Luft herum, ein bisschen Blut bespritzt den trockenen Boden.

»Amankaya wird auch mitkommen.«

Auch Amankaya scheint überrascht.

»Das kann nicht euer Ernst sein!«

»Doch, ist es!« Ihr Bruder baut sich vor ihr auf. »Ich will es so!«

Nebosja schüttelt fassungslos den Kopf und kehrt wortlos zu ihren Echsenjungen zurück.

Einige Tage vergehen. Nebosja ignoriert ihren Bruder hartnäckig, obwohl er ihre Hilfe bei der wochenlangen Vorbereitung der Reise gut gebrauchen könnte. Dabei beobachtet sie argwöhnisch, dass Debroslav und Amankaya immer länger bis in die Nacht hinein zusammensitzen. Sie hofft inständig, dass sie lediglich die Reise gewissenhaft vorausplanen und verdrängt die bösen Vorahnungen, die von schreienden Debroslav-Drillingen handeln.

Am Tag des Reisebeginns wartet Nebosja mit Milena auf dem Hof darauf, dass sie sich endlich auf den Weg zur Abschiedsfeier machen. Sie hat ihr schwarzes Kleid angezogen, auf welchem eine blutrote Echse prangt, das Logo ihrer Zucht. Debroslav, behangen mit billigem Gold, steckt in einer unsäglichen, grün schimmernden Puffhose und prescht voll bepackt auf den Hof. Auf seiner Brust sind die grünen Insignien seiner Dressurschule gemalt. Amankaya sitzt hinter ihm auf dem Sattel. Sie wirkt angespannt und besorgt. Nebosja will sie gerade darauf ansprechen, als ihr Bruder sie von oben herab anspricht.

»Lass dir ruhig Zeit; mit dem Kleid solltest du erst auftauchen, wenn alle betrunken sind.« Er lacht und reitet mit einem fröhlichen Liedchen auf den Lippen davon.

Fuchsteufelswild wirft Nebosja einen Stein nach ihm.

»Das werde ich auch!«

Sehr zur Verärgerung von Milena, die wusste, dass Eldoth der Barde heute für Debroslav singt, kommen sie zwei Stunden zu spät. Zu dieser Zeit ist Debroslav bereits in Hochstimmung: Er tanzt, lacht, brüllt, küsst und liebt. Immer wieder muss der Barde dasselbe Stück für ihn spielen. Nebosja könnte vor Hass und Scham auf den Tisch speien.

Wenige Augenblicke später kommt ihr Bruder ihr zuvor.

Amankaya schreit, Milena bleibt vor Schreck der Mund offen stehen und Nebosja lacht auf. Schadenfroh beobachtet sie, wie die Wachen ihn nach draußen schleifen. Wenn er noch nicht mal so trinkfest wie sie ist, wie will er dann diese Reise überstehen? Hochmütig grinst sie in ihr Glas.

Nach zehn Minuten erscheint Amankaya kalkweiß im Festsaal und winkt panisch. Nebosja winkt grinsend zurück. Milena stößt ihr unangenehm hart in die Rippen und Amankaya zerrt sie von ihrem Platz in Richtung der Eingangshalle. Verärgert will Nebosja beide zurechtweisen, sieht im gleichen Atemzug aber dicke Blutstropfen auf dem blütenweißen Kleid von Amankaya.

Dann hört sie die Schreie ihres Bruders.

Adrenalin. Angst.

Sie beschleunigt ihre Schritte, rennt die letzten Meter zur Halle: Ihr Bruder liegt auf dem Boden, umringt von Soldaten. Er krümmt sich und spuckt schwarzes Blut.

Ihr Herz bleibt stehen.

»Debroslav!« Nebosja stürzt zu ihrem Bruder, schubst die Wachen beiseite und packt ihn bei den Schultern. Als sie ihn umdreht, erschrickt sie: Sein Gesicht ist fast rot, dunkler Speichel tropft von seinem Kinn und er riecht ganz fürchterlich nach …?

Nebosja stutzt. Er riecht nach verdorbenen Blumen.

Energisch ruft sie nach einem Arzt, bekommt aber nur ablehnende Blicke und Kopfschütteln zugeworfen: Jegliche Ärzte sind an der Front und versorgen die Verletzten. Verzweifelt ruft sie Milena und Amankaya zu: »Wir werden gehen!«

Mit einem Ruck hieven sie Debroslav auf die Beine und schleifen ihn unter den Augen der herausgeputzten Partygemeinschaft zu den Echsenställen, wobei sich Debroslav ohne Unterbrechung erbricht. So viel kann er noch gar nicht getrunken haben.

Immer mehr Blut. Amankaya weint.

»Wahrscheinlich wurde er vergiftet!«, keucht Nebosja.

Getrieben von Angst reiten sie wie die Wahnsinnigen zurück zur Zucht. Dort bereiten sie ihm einen Sud aus Eschenkraut, einem Blutverdicker, um das Gift zu verlangsamen: So wird er überleben, fällt dabei jedoch ins Koma. Alle drei halten den Atem an und warten lange Minuten.

Dann beruhigt sich Debroslavs Atem. Sein Gesicht aber bleibt gerötet.

»Was, denken Sie, ist es für ein Gift?« Milena sucht nach dem Hauskräuterbuch.

»Ich weiß es nicht«, entgegnet ihre Meisterin verzweifelt. Amankaya wimmert unverständlich.

Wumps! Wumps!

Tritte an der Eingangstür. Die drei Frauen blicken sich erschrocken an; Milena eilt zur Haustür und kehrt mit einem königlichen Abgesandten zurück. Ohne ihren vergifteten Bruder eines Blickes zu würdigen, der gerade dabei ist, in einen langen Schlaf zu verfallen, durchschreitet er das Zimmer mit einem großen Schritt.

»Nebosja Branca …«

Nebosja verbeugt sich nicht und er fährt fort: »Dem Gesuch auf Ausführung der Ausschreibung des Königs muss Folge geleistet werden.«

Er startet erneut ein holografisches Programm.

»Daher wurde im Falle einer Verhinderung Ihres Bruders ein Ersatz seinerseits bestimmt.«

Ihre Fingernägel bohren sich tiefer in ihren Unterarm, als der Gesandte ihr die schwebende, krakelige Schrift Debroslavs zur Bestätigung hinhält: »Nebosja Branca.«

Für einen Moment bleibt die Welt stehen.

Sie soll für ihren Bruder losziehen, eine fliegende Echse finden, sie zähmen und dem Königreich zur Verfügung stellen, um vielleicht doch noch den Kampf gegen die Maya zugunsten ihres Volkes zu entscheiden.

»Nein, das werde ich nicht tun!«

Nebosja schnappt dem Boten die Rolle aus den Händen und will sie zerreißen, scheitert aber am dicken Papier. Der Bote packt Nebosjas Hand, schiebt ihre Finger auseinander und nimmt sich seine Rolle wieder.

»Sollten Sie sich weigern, zahlen Sie den Aufwand der Suche nach einem neuen Freiwilligen.«

Nebosja spürt schon mit ihrem Fingernagel ihren Knochen durch die Haut.

»So viel hätten Sie uns ja noch nicht mal als Reiseunterstützung gezahlt!«

Der Bote zuckt mit den Schultern.

»Andernfalls droht Ihnen der Kerker.«

Nebosjas Augen brennen; ohne dass sie es will, beginnt ihre Stimme zu zittern: »Ich kann meinen Bruder doch nicht hier zurücklassen!« Sie ringt nach Luft: »Er wurde ganz offensichtlich vergiftet!«

Der Abgesandte schnaubt verächtlich. »Ich bin sicher, er hat nur zu tief ins Glas geschaut.«

Heiße Tränen der Wut quellen über Nebosjas Augenrand; sie wischt sie von ihren schmalen Wangen und sucht in seinem Gesicht ein wenig Mitgefühl. Stattdessen findet sie ein gleichgültiges Gesicht, das pünktlich Feierabend machen möchte.

»Sollten Sie sich aufgrund der Konsequenzen doch dafür entscheiden, keinen Vertragsbruch zu begehen, finden Sie sich bitte erneut am Schloss ein. Dort wird Ihnen die Unterstützungssumme ausgezahlt.«

Er wendet sich zum Gehen.

»Sehr zur Verärgerung der Gäste steht auch noch immer der Reisetross ihres Bruders im königlichen Stall, dessen Echse stark beruhigt werden musste.«

Nebosja kann das Tränenmeer hinter ihrem Auge kaum noch zurückhalten. Er wirft einen letzten Blick auf Debroslav, seine Nase kräuselt sich.

»Ich erwarte Sie dann in zwei Stunden.« Er verlässt eilig das Zimmer.

Der Staudamm bricht.

Nebosja wirft sich auf den Boden und schluchzt hemmungslos in den Dreck hinein. Amankaya vergräbt ihr Gesicht auf Debroslavs Brust, beklagt den Gott Patecatl. Milena, die einzige, die gefasst bleibt, atmet tief, tief, tief ein und –

– donnert ihre Faust auf den Tisch. Er springt, rumpelt nach oben, Amankaya bekommt Debroslavs Rippen hart an die Stirn geschlagen und Nebosja verschluckt sich am aufgewirbelten Dreck.

»Reißt Euch zusammen!« Sie blickt ihrer Ausbilderin mutig ins Gesicht. »Meisterin, Sie müssen gehen. Amankaya und ich kümmern uns um die Zucht und Meister Debroslav.« Wieder atmet sie gefasst ein. »Das Geld können wir nicht zahlen und im Kerker würden Sie ob der Zustände dort sterben.«

Nebosja schweigt und denkt an ihre Mutter.

»Sobald der Meister wieder gesund ist, kann er uns helfen.«

Raschelnd steht sie vom Boden auf und nickt geistesabwesend.

»Du hast recht.« Nebosja seufzt. »Ich habe keine andere Wahl.«

Eine Staubschicht aufwirbelnd rennt Nebosja aus der Küche und kehrt später mit einem Rucksack und in ihrer Reisekleidung auf den Hof zurück. Milena und Amankaya helfen Nebosja, ihre wenigen Taschen auf ihrer Echse festzuschnüren.

»Milena, du musst mitkommen und Debroslavs Echse zurückbringen, ich werde nur seine Ausrüstung mitnehmen.« Ihre Assistentin ist verdutzt.

»Meisterin, Ihre Echse ist zu jung für so eine lange Reise, Sie müssen Meister Debroslavs Echse nehmen!« Nebosja zuckt mit den Achseln.

»Sie schafft das schon.« Sie zurrt die letzten Gurte fest und drückt Amankaya zum Abschied, die sie lange festhält: fast verzweifelt. Nebosja drängt sich sanft aus ihrer Umarmung und macht sich erneut auf den Weg zum Schloss. Dort holt sie sich das Geld, während Milena die zurückgelassene Echse aus dem Stall führt.

»Meisterin, sind Sie sich wirklich sicher, dass Sie dieses Risiko eingehen wollen?«

Nebosja nickt. »Ich vertraue dieser Echse nicht.«

Skeptisch willigt Milena ein.

Die erste Station auf Nebosjas Reise ist die hohe Brücke. Alle Bewohner Berlins müssen diese überqueren, wenn sie ins Reich der Sprewanen gelangen möchten, ein Reich, mit welchem die Heveller in friedlichen Handelsbeziehungen stehen. Die Brücke selbst überspannt eine Schlucht, die die Burgwallinsel umgibt. Nebosja kannte bisher nur die Geschichten von Amankaya; die, als sie als befreite Sklavin mit Debroslav nach Berlin reiste, von einem wundervollen Ausblick berichtete. Wenige Kilometer davon entfernt soll sich Nebosja mit einem Händler treffen, der sie in das Gebiet führen wird, in welchem die flugfähige Echse vermutet wird. So weit war sie noch nie von zu Hause entfernt.

Mit einem etwas mulmigen Gefühl im Bauch kommt Nebosja am späten Nachmittag am Stadttor an. Ihre Echse ist bereits seit Stunden unruhig und scharrt mit den Klauen im Sand. Nebosja klopft ihr beruhigend auf den Hals. Sie werden von ein paar Wachen kontrolliert, durchschreiten das gigantische Stadttor und gelangen auf eine Art Hochplateau. Von diesem ausgehend überspannt eine majestätische Brücke die Schlucht. Es ist ein überraschend fantastischer, furchtbarer Anblick.

Fantastisch, weil sie so eine Art von Aussicht noch nie in ihrem Leben genießen durfte.

Furchtbar, weil sie jetzt begreift, dass sie unter Höhenangst leidet.

Überraschend, weil es ihrer Echse genauso geht.

Sie stemmt ihre Füße fest in den Sand und ist zu einer lebendigen Säule erstarrt. Zitternd steigt Nebosja aus dem Sattel und versucht, nicht wie ihre Echse vor Angst zu erstarren. Sie drückt ihren Finger ins Fleisch. Als das nicht hilft, atmet sie einmal ein und aus, lässt ihren Blick über das weite Land streifen und versucht, sich an den Anblick zu gewöhnen. Sie sieht in der Ferne die gigantischen Pyramiden des Mayareichs, sie blinken und glitzern ob ihres Prunks im Sonnenlicht. Dann konfrontiert sie sich mit einem Blick nach unten mit der Schlucht und erblickt gähnende, schwarze Leere. Ein seltsames Angstgefühl durchfährt sie, es geht von ihrem Bauch aus und schleicht sich quälend langsam nach oben. Schnell blickt sie wieder in die Ferne.

Nach ein paar Minuten hat sie sich an das Angstgefühl gewöhnt und ergreift die Zügel ihrer Echse. Sie wird über die Brücke gehen, anstatt zu reiten. Als sie den ersten Schritt auf die Brücke macht, wird ihr klar, dass die Gewöhnung an die Höhe nicht bei ihrer Echse angekommen ist: Ihre Augen sind weit aufgerissen, ihr Kopf huscht hektisch hin und her und ihr schmaler Leib zittert. Weder ruhiges Zureden, heftiges Ziehen an den Zügeln, Schieben oder Locken helfen: Die Echse bewegt sich kein Stück weiter. Die umstehenden Reisenden beginnen bereits zu lachen; ein vorbeifahrender Barde besingt gar ihre Versuche, die bockende Echse zu bewegen. Verzweifelt und beschämt sinkt Nebosja auf die Knie und kauert sich auf den Boden.

»Meisterin!«

Nebosja hebt den Kopf von ihren Knien und sieht Milena auf Debroslavs Echse auf sie zureiten. Ein rechthaberisches Grinsen umspielt ihre Lippen, als sie absitzt. Die Meisterin blickt ihre Schülerin tadelnd an, ist aber froh über ihre überraschende Verfolgung. Milena reicht ihr die Zügel der Echse.

»Sie hat keine Höhenangst, oder?«

Milena grinst: »Nein.« Mit Blick auf die Echse fügt sie hinzu: »Ihr Name ist übrigens Nanna.« Sie streichelt die Echse zum Abschied. »Die Kühne.«

»Danke.«

Nebosja drückt ihre zierliche Assistentin lange an sich und setzt sich etwas zögernd in den Sattel. Das erste Mal sitzt sie auf einer Echse, die nicht von ihr selbst großgezogen wurde, und fühlt sich sofort unwohl. Sie steigt wieder ab. Milena schüttelt belustigt den Kopf.

Die große Echse hinter sich herführend, macht Nebosja den ersten, wackeligen Schritt auf die Brücke. Ihre Hände schwitzen, ihr Herz schlägt schneller und kräftiger, das eben erfahrene Angstgefühl steigt erneut auf. Trotzdem läuft Nebosja hinüber. Hinüber über die hohe Brücke.

Auf dem Weg zum Gasthaus »Bierström« begegnen ihr vielerlei Händler der Sprewanen, Heveller, Familien, Reisende und Soldaten. Das Wetter ist ungeeignet für eine Reise: Es weht ein unangenehmer Wind, der Himmel ist schwarzgrau und es nieselt leicht. Zu Fuß braucht sie einen halben Tag, bis sie am Gasthaus eintrifft, ihr Treffen mit dem sprewanischen Händler war jedoch gegen Mittag angesetzt. Hastig bindet sie Nanna an, betritt die Gaststube und sucht die Tische nach einem Händler ab. Als sie nach Bogdan von Damir fragt, wird sie in einen Nebenraum geschickt.

Dort schlägt ihr der Geruch von billigem Wein und Parfüm entgegen. In dem Raum befindet sich ein mit Essen vollgestellter Tisch, an welchem ein beleibter Mann und ein Schönling sitzen. Jede Schüssel ist angerührt, aber nicht aufgegessen.

»Ah, Frau Branca!« Der Dicke steht auf, offensichtlich Bogdan von Damir. »Ich hörte bereits von der Feierlaune Ihres Bruders!«

Verärgert, aber gefasst streckt Nebosja ihre schmale Hand über den Fressaltar.

»Herr von Damir«, sie drückt kräftig zu, »es freut mich sehr.«

Sie lösen die Hände voneinander, Bogdan hat Spuren auf ihrer Hand hinterlassen, wie lange, feine Narben.

»Entschuldigen Sie bitte meine Verspätung.«

Von Damir winkt ab. »Nichts ist planbar!«

Beruhigt setzt sie sich an den Tisch.

»Genauso wenig, wie eine Abenteuerreise bis aufs Kleinste geplant werden kann, nicht wahr?«

Er stupst den jungen Mann mit seinem Ellbogen an, der Nebosja gerade einen Kuss zuhaucht.

Unangenehm berührt weicht sie seinem Blick aus und starrt auf seine Hose: ein grünlich schimmerndes, unsägliches Puffhosenmodell.

Bogdan redet weiter. »Nicht ich werde Sie in das Gebiet des Drachen führen, sondern mein Sohn Eldoth.«

Nebosja horcht auf und blickt das erste Mal in das Gesicht des Schönlings: Eldoth von Damir. Sie kennt ihn, er ist der Barde des Königs. Milena betet ihn an.

In einer fließenden Bewegung erhebt er sich vom Stuhl und gibt ihr die Hand. Sein minderwertiger Schmuck klingelt.

»Ich kann es kaum erwarten! Wann geht es los?«

Blitzschnell langt er nach seiner Laute.

»Für die Reise habe ich mir das Lied der schlafenden Riesenechse angeeignet, damit wir sie im Schlaf bezwingen!« Eldoth stimmt ein grauenhaftes Lied an; vergewaltigt die Saiten und gurgelt Noten, die die Nerven im Gehirn ankratzen.

Nebosja bekommt Ohrensausen. Bogdan klatscht.

»MEIN SOHN, SO TALENTIERT!«

Tapfer lächelt Nebosja und ist sicher, dass diese Reise zum Scheitern verurteilt ist. Kurz vor zwölf, als beide anfangen, weinend eine ihr unbekannte Nationalhymne zu singen, geht Nebosja zu Bett. Sie schläft sofort ein und träumt von einer trächtigen, singenden Nanna in einem scharlachroten Schuppenkleid.

Als die Sonne morgens ihre Augenlider streift und sie sich aus dem Bett schält, bemerkt sie einen gemeinen Kater; glücklicherweise aber nur den in ihren Muskeln. Flott macht sie sich fertig und wartet lange auf Eldoth, der es schafft, erst gegen Mittag aufzutauchen. Er schwankt und setzt sich schwerfällig auf seine dunkelgrüne Gleitechse. Nebosja verschränkt die Arme. Er grinst entschuldigend.

»Ich kann es wirklich kaum erwarten!«

Nebosja lässt seinen Hundeblick an sich abgleiten.

»Wir sollten los, der Tag ist schon fast vorbei!«

Er lacht herzlich und reitet los. Nebosja nimmt Nannas Zügel und folgt ihm zu Fuß.

Verwundert dreht sich Eldoth nach hinten.

»Warum sitzt du nicht auf?«

Nebosja zuckt mit den Schultern.

»Diese Echse ist nicht aus meiner Zucht, mein Bruder kaufte sie von einem Händler.«

»Und?«

»Ich vertraue ihr nicht.«

Wieder lacht Eldoth, diesmal sehr lange und sehr laut. Nebosja ballt verärgert die Faust, sodass sich ihre Nägel ins Fleisch bohren. Nach langen Minuten beruhigt er sich endlich.

»In dem Tempo brauchen wir zwar doppelt so lange zum Berg, aber das ist nicht so schlimm.«

Wieder erscheint wie aus dem Nichts die Laute in seiner Hand.

»Ich muss sowieso ein paar Stücke einüben!«

Eldoth verfällt in eine Art Sprechgesang, in welchem er die körperlichen Vorzüge der Göttin der Liebe bildhaft und detailreich beschreibt. Genervt trottet Nebosja hinterher und hofft, dass sie Eldoth nichts antut, bevor sie den vermuteten Aufenthaltsort der Flugechse erreicht haben.

Eldoth und Nebosja führen auf ihrer Reise zwar Gespräche, nur sind diese sehr einseitig: Wenn Eldoth nicht gerade über die versklavende Gesellschaft oder diktatorische Politik der Maya schwadroniert und Nebosja dabei kaum zu Wort kommen lässt, klimpert er dümmlich auf seiner Laute oder liegt faul in der Ecke, während Nebosja das Lager oft alleine aufbaut. Nach einer Woche Eldoth-Dauerbeschuss auf ihre Nerven, in der Nebosja kurz davor ist, ihrem Reisebegleiter die Zunge herauszuschneiden, durchbricht die Spitze eines gigantischen Bergs allmählich die Horizontlinie. Wie ein dunkler Schleier legt er sich auf des Barden Gemüt und bewahrt ihn davor, seine Zunge zu verlieren. Er wirkt nachdenklicher, angespannt, singt und redet seit dessen Auftauchen weniger. Nebosja ist beruhigt: Er ist wahrscheinlich doch nicht so dumm anzunehmen, ihre Aufgabe wäre leicht.

Nach weiteren drei Tagen erreichen sie den breiten Fuß des erkalteten Vulkans. Seine Hänge sind aus Schiefergestein, scharf, spitz und blank geschliffen. Eldoth sitzt ab, stemmt einen Arm in die Hüfte und blickt zur Spitze des Bergs.

»Ja«, er beschirmt sein Gesicht mit der Hand, »ich seh’ ihn schon.«

Er zeigt zur Spitze des Bergs. »Kurz vor dem Krater liegt ein Zugang zu einem Tunnelsystem.«

Nebosja sieht einen winzigen Felsvorsprung; dahinter vermutet sie den Eingang.

»Und wie kommen wir da hoch?«

»Mit unseren Echsen.«

Innerhalb von Sekunden wird Nebosja schlecht vor Angst.

»Es gibt leider keinen anderen Weg. Du musst auf Nanna reiten und sie klettern lassen.«

Nebosja ist eine Säule.

Fast fremde Echse. Höhenangst.

»Du schaffst das schon!« Eldoth klopft ihr auf die Schulter, Nebosja schluckt einen riesigen Angstkloß herunter und setzt sich zitternd in den fast jungfräulichen Sattel.

Dann beginnen die Echsen mit dem Aufstieg.

Nebosja kneift die Augen zusammen, bohrt ihren Finger in den Sattel und hofft, dass es bald vorbei ist. Sie fühlt an ihren Oberschenkeln die Bewegungen von Nanna, ihre Wärme und Lebendigkeit, riecht und schmeckt die kühler werdende Luft, umso höher sie gelangen.

»Nebosja, das musst du sehen!« Sie hört Eldoth, wie er sich unruhig im Sattel bewegt, kann nur daran denken, dass die Echsen abrutschen könnten und presst die Lider so hart zusammen, dass bunte Blitze in ihren Augen erscheinen.

Eldoth berührt sie am Arm.

»Wenn du jetzt nicht schaust …«

Panisch zieht Nebosja ihren mit blauen Flecken übersäten Arm weg und reißt die Augen auf. Sie steht auf dem obersten Plateau des Vulkans und erlebt den wundervollsten Ausblick ihres Lebens:

Berlin und die hohe Brücke, die imposante Wallmauer und rings herum ein Schachbrett von Feldern, durchzogen von Straßen, vereinzelten Siedlungen und das Gebiet der Sprewanen, erkennbar an den zahlreichen Wäldern. Sie lässt den Blick östlich schweifen und sieht einmal mehr die spitzen Pyramiden der Mayas, deren Silhouetten den Horizont abgrenzen. Sie glitzern golden, fast weiß durch die Sonne. Geblendet richtet Nebosja den Blick nach Westen: Auch hier reiht sich eine Pyramide an die andere – ein Bild der Übermacht.

Eldoths Gesicht ist starr und seltsamerweise mal unergründlich.

»Lass uns hineingehen.«

Beide steigen von den Echsen, binden sie an und betreten vorsichtig die Höhle. Schwärme von Fledermäusen flattern ihnen entgegen, Nebosja schreit auf, stolpert und landet in einem Haufen menschlicher Knochen. Sie schreit panisch auf und muss sich stark zusammenreißen, nicht Hals über Kopf die Flucht zu ergreifen.

Eldoth bekommt einen Lachanfall. »Klassiker!«

Entnervt befreit sich Nebosja von alten Gebeinen und folgt ihm missmutig. Später laufen sie durch enge, niedrige Gänge. Die Höhlenwände sind fast schwarz und werfen im Licht grauenhafte Schatten. Sie hört den Wind, ihre Schritte auf der glatten Oberfläche und Eldoths Atem. Die Luft schmeckt nach kaltem Rauch. Fast fühlt es sich so an, als lege sich vergangene Asche auf ihre Kleidung.

Der Weg gabelt sich und Eldoth wählt die linke Abzweigung. Nach weiteren Minuten dann die rechte; Nebosja folgt und versucht sich die Abfolge der Abzweigungen genau einzuprägen. Nach langem Laufen stoßen sie immer tiefer zum Herz des Vulkans vor. Irgendwann stellt sie fest, dass sie wahrscheinlich eine Erinnerungslücke zwischen der fünften und sechsten Abzweigung hat.

Und zwischen der zehnten und elften.

Ihre Schritte tragen sie automatisch weiter, während sie sich das Hirn zermartert.

»Hoffentlich verlieren wir uns nicht, das wäre wirklich …« Nebosja stockt. Eldoth ist nicht mehr vor ihr. Sie hört ihn auch nicht mehr.

Panisch blickt sie sich um.

Sie steht am Ende eines Gangs.

Vor ihr breitet sich ein gigantisches Gewölbe aus. An den Decken hängen scharlachrote Stalaktiten, kupferne Äderchen durchziehen das dunkle Gestein, es riecht nach Lagerfeuer und die Luft schmeckt, als stecke man seine Zunge in ein Stück Kohle.

Ihr Lampenschein trifft etwas Großes.

Sie richtet das Licht höher und ihr Gehirn erklärt ihr überraschend gelassen: In dieser Höhle liegt eine Echse, so groß wie zehn Pferde, so unvorstellbar gigantisch wie Debroslavs Selbstüberschätzung und so monströs wie ihre Angst vor fremden Echsen.

Und sie hat Flügel.

Starren.

Ihr Gehirn lässt keinerlei Gedanken fließen und gibt sich einer vollkommenen Leere hin. Sie schafft es, ihren Blick von dem haushohen Echsenwesen wegzureißen, als das verzerrte Gesicht ihres Bruders vor ihrem Geist aufblitzt. Sie schleicht rückwärts aus dem Gewölbe und lässt sich zitternd an einer Höhlenwand nieder. Dann kneift sie sich in den Unterarm, hustet ob der Asche in der Luft und beschließt, Eldoth suchen zu gehen. Sie schleicht in den Gängen umher, flüstert so laut wie möglich seinen Namen und kratzt Nachrichten in die Höhlenwände.

Es bringt nichts.

Eldoth bleibt verschwunden. Und das seit Stunden.

Wütend tritt sie einen Stein beiseite.

Er hat sie im Stich gelassen.

Kurz bevor sie vor Wut ausrastet und sich vermutlich mit den Fingernägeln den ganzen Arm aufkratzt, atmet sie einmal tief ein und aus, schluckt ihre Enttäuschung und ihren Hass auf Eldoth hinunter und konzentriert sich auf das Wesentliche.

Sie muss es alleine durchziehen.

Aus ihrem Rucksack kramt sie ein langes Geschirr heraus, das Debroslav extra für diesen Fall gebaut hatte. Es ist aus massivem Stahl und hat vorne zwei Klappen, die sich vor die Augen der Echse schieben, um ihr kurzzeitig die Sicht zu rauben. An der Leine des Geschirrs sind Elektroden angebracht, die der Echse bei Bedarf Elektroschocks verpassen. Beide Dressurmethoden sind unnötig, wenn man die Echsen schon früh an das Geschirr gewöhnt: eine Spezialität ihrer Schule. Debroslav selbst schaffte es, wilde Echsen ohne ihren Einsatz handzahm zu machen. Nebosja vermutet, dass er diese Fähigkeit wohl von ihrem Vater geerbt haben könnte. Trotzdem wird er sich gedacht haben, dass sein Naturtalent bei einer monströsen Flugechse wenig helfen wird.

Ihr Herz pocht aufgeregt an ihre Brust.

Das wird die schwierigste Prüfung aller Zeiten, aber wenigstens hat sie einen Plan.

Auf Zehenspitzen tappt sie in das Gewölbe zurück.

Die Echse schläft noch immer. Ihr Schuppenkleid ist blutrot und wirkt, als halte es glühende Kohlen ab, als strahle die Echse von innen heraus.

Einfach magisch.

Mit größter Überwindung und Respekt legt sie das schwere Geschirr auf den warmen Echsenkörper und hält die Luft an.

Die Echse schläft weiter.

Nebosja zieht das Geschirr um das zahnbewehrte Maul.

Schläft noch.

Positioniert die Klappen auf ihrem Kopf und klebt die Elektroden an.

Sie hört die Echse nicht mehr atmen.

Nebosja springt auf ihren Rücken; packt die Zügel.

Ein loderndes Auge öffnet sich: Die Flugechse ist wach!

Ihr Herz setzt aus, als die Monsterechse betäubend laut brüllt und ihr Körper mit Adrenalin durchspült wird. Staub rieselt von Schuppen, als sie sich erhebt und der widderähnliche Kopf sich quälend langsam zu ihr umdreht.

Beide schauen sich in die Augen. Nebosja sitzt auf dem harten Schuppenrücken und versucht standzuhalten; die Echse riecht ihre Angst und schnappt unvermittelt zu. Rechtzeitig drückt Nebosja den Auslöser für die Elektroden und verpasst ihr einen Stromschlag. Verstimmt schüttelt die Echse ihren gigantischen Kopf und schnappt noch einmal zu. Diesmal kann Nebosja nur mit Mühe und Not ausweichen.

Weitere Stromschläge. Die Echse holt erneut aus.

Nebosja fährt die Blende des Geschirrs über ihre Augen. Kurz erblindet, schlägt sich die Echse ihre Klauen vors Gesicht und gerät in Panik. Stampft mit ihren Hinterbeinen auf und wirft Nebosja fast von ihrem Rücken. Minutenlang prescht sie wild und wahllos durch die Höhle, rammt gegen Felsen, wirbelt Dreck auf und schnappt nach ihr. Oft kann sie nur haarscharf den spitzen Zähnen ausweichen oder sich davor retten, an der Höhlenwand zerquetscht zu werden. Ihre Oberschenkel sind schon nach wenigen Minuten von den scharfen Schuppen aufgescheuert – doch sie hält durch.

Eine ganze Stunde lang.

Dann bricht die Echse zusammen.

Völlig steif sitzt Nebosja auf dem Echsenrücken, ihre Arme und Beine bluten. Wartet ab.

Unter ihr atmet das gigantische, geschuppte Wesen. Erst heftig und schnell, dann immer ruhiger und immer und tiefer.

Nebosja lockert erschöpft ihre Arme, entspannt sich selbst ein bisschen und gibt der Echse das Signal aufzustehen, indem sie ihr einen Elektroschock an die Beine gibt.

Explosionsartig springt die Echse nach oben.

Nebosja wird mit einem Ruck von ihrem Rücken katapultiert und schlägt hart auf dem Boden auf. Vor Schmerz rollt sie sich zusammen und sieht im Augenwinkel das Echsenmonster auf ihre Position zurennen. Todessicher kneift sie die Augen zusammen. In den bunten Blitzen, die vor ihren Augäpfeln tanzen, sieht sie Amankaya, die zartrosa Lilien pflückt und verzückt auf etwas in der Ferne sieht. Ihr Vater lässt eine angelaufene Kupfermünze fallen: auf ihr die Bildnisse von Debroslav und Eldoth. Milena kommt ihr entgegen und hält ihr einen blutroten Spiegel vor, in dem sie ihre Mutter sieht.

Er bringt die Lösung; denn darin erkennt sie sich selbst.

Sie sollte sich auf ihre eigentlichen Talente verlassen, auf das Wesentliche.

Nebosja als Züchterin, das Talent ihrer Familie.

Schnell steht sie auf. Den auf sie zu stürmenden Drachen im Blick streckt sie ihren Rücken durch und die Hände aus, die Handflächen nach unten, den Blick nach oben gerichtet.

Atmet ein.

Die Echse stoppt direkt vor ihr und brüllt sie an. Nebosja hält stand.

Der riesige Drachenschädel kommt zu ihr hinunter und öffnet dabei sein riesiges Maul.

Sie schließt die Augen.

Vertraut und atmet aus.

Einige Sekunden lang passiert nichts.

Nebosja spürt stattdessen, dass ihre vernarbte Hand angeleckt wird. Ganz so, wie es die kleinen Gleitechsen vor (so kommt es ihr vor) Jahrmillionen getan haben. Sie denkt daran, wie sie selbst empfahl, diese mit der sanfteren Dressurmethode aufzuziehen. Mit einem kleinen Lächeln bewegt sie vorsichtig ihre Finger, trommelt leicht gegen die warmfeuchte Echsennase.

Die Echse schnauft.

Etwas mutiger gleitet ihre Hand immer höher die schuppige Stirn hinauf, bis sie spürt, dass beide bereit sind. Sie öffnet die Augen, klappt die Blenden hoch und blickt die Echse an.

Sie sieht Feuerstürme, Sonnen, Freiheit und dann – vergehendes Feuer, Glut und Asche.

Alarmiert fährt sie mit ihren Augen über das Schuppengesicht und bemerkt eine lange, feine Narbe zwischen ihren Augen. Sie streicht darüber und prüft die Narbenverwachsungen. Die Echse lässt sie gewähren, als sie um ihren Körper herumgeht und das Geschirr wieder entfernt. Sie ist übersät mit Narben, Wucherungen und teils frischen Wunden. Sie streicht vorsichtig über die größte Narbe und stellt fest: Sie stammt von einer Mayawaffe.

Verwirrt geht sie einen Schritt zurück.

Dann schlagen ihre Gedanken Purzelbäume.

Jegliche Narben stammen ausnahmslos von Mayaklingen; denn das Gift darauf lässt die Wunden seltsam verwachsen.

Warum sollten die Maya versuchen, eine Flugechse zu töten?

Wäre es nicht sinnvoller, sie zu bändigen?

Sie entdeckt Narben von den ledernden Peitschen der Maya. Sie wollten sie tatsächlich bändigen, was auch erklären würde, warum keine tödliche Wunde dabei ist.

Steine rieseln von der Decke und kullern auf den Boden. Ruckartig reißt die gepeinigte Echse ihren Kopf nach oben. Nebosja bemerkt die aufkommende Unruhe nicht; sinniert über das geheime Eindringen von Maya in das Gebiet der Sprewanen.

Plötzlich brüllt die Flugechse wutentbrannt auf und stürmt zum Ausgang des Gewölbes. Nebosja wird grob beiseite geworfen und landet in einem Haufen Eierschalen.

Panisch blickt sie in die Richtung der davonstürmenden Echse.

Dann sieht sie Eldoth.

Und in seinem Arm: frischgeschlüpfte Echsen.

Nebosja springt auf ihre Füße und rennt ebenfalls zum Ausgang. Es steht außer Frage, dass Eldoths Tod durch Zerreißen, Zerfleischen oder Zerstampfen Gewissheit ist, wenn Nebosja nicht eingreift.

So einfach wird sie ihn nicht davonkommen lassen.

Außerdem hat er Flugechsenjunge! Ein unfassbarer Schatz!

Nebosja kann in ihren Gedanken nur erahnen, was das für ihre Zucht bedeuten würde.

Im Kopf ein Wirbelsturm an Gedanken, Gefühlen und Möglichkeiten, gelangt sie erneut in das Tunnelsystem und denkt lieber nicht daran, dass sie sich die Abfolge der Abzweigungen vorhin nicht merken konnte. Stattdessen vertraut sie auf ihr Gehör; denn noch immer hört sie die Echse wütend schnaufen. Es hallt durch alle Höhlengänge. Wenn Eldoth den Weg noch kennt, wird die Flugechse ihm folgen und Nebosja wird ihm folgen.

Das wird sie hinausführen.

Im Dauerlauf rennt sie durch die Gänge. Die schwere Luft des Bergs brennt in ihren Lungen; auf ihrer Kleidung und in ihren Haaren liegt eine dicke Schicht Asche und inzwischen fühlt es sich nicht nur so an, als ob sie ein Stück Kohle im Mund hätte, es ist Tatsache.

Lange hält sie das nicht mehr durch.

Dann ist es lange still. Kein Gebrüll. Kein Schnaufen.

Nebosja hält an, horcht. Hofft.

Die Erde beginnt zu beben, hinter ihr krachen große Steine aus der Decke und verschütten den Gang. Panisch stürzt Nebosja nach vorne. Der Boden unter ihren Füßen schwankt, die Luft wird staubdick.

Sie rennt weiter und weiter und weiter, kämpft.

Nach einer Unendlichkeit wird sie mit einem Licht am Ende ihres Tunnels belohnt. Sie ist fast da, als der Boden erneut bebt und die Luft so schwarz ist, dass sie kaum etwas sieht. Hustend stolpert Nebosja aus dem Berg. Nanna kräht überrascht auf, als sie ihr direkt vor die Füße fällt.

Ein letztes Mal bebt es, dann bricht der Boden unter ihren Füßen auf.

Nebosja rollt sich hektisch auf ihre Füße und ergreift Nannas Leine. Die Risse im Boden werden tiefer und breiter. Dann folgt erneut Getöse, als der Sims, auf dem sie stehen, endgültig wegbricht.

Nebosja denkt nicht mehr lange nach, weder über ihre Höhenangst noch über ihre Angst vor fremden Echsen; stattdessen schwingt sie sich auf den Rücken von Nanna. Mit einem beherzten Befehl stürzen sich Echse und Reiter im Gleitflug den Berg hinunter, um der drohenden Lawine von Geröll und Stein zu entgehen. Der Wind pfeift in ihren Ohren und zerrt an ihren Haaren, schmeckt kühl und leicht – wie Freiheit.

Dann kracht und bebt es erneut. Nebosja wirft einen Blick auf den Berg zurück. Steine werden von der Bergwand weggesprengt, als die Echse mit dem Kopf voran herausbricht. Sie, als der Verursacher des Bebens, schüttelt schwere Steine von ihrem Körper, schnauft, brüllt, kreischt, starrt in die Sonne und faltet ihre gigantischen Flügel aus.

Dann ist es still.

Die Welt scheint den Atem anzuhalten.

Wenige Sekunden später stürzt sie sich vom Berg ab in die Tiefe.

Zuerst ist sie nicht zu sehen, nur an ihren kräftigen Schwingen zu hören; die, die Lüfte bezwingend, ihr Gewicht tragen. Als sie wieder an der Horizontlinie erscheint, glitzert das Sonnenlicht in allen Rottönen auf ihren Schuppen.

Eine Göttin der Lüfte.

Sie fliegt etwas nördlich und sucht den Boden ab. Nebosja betet, dass sie Eldoth nicht findet und gleitet auf Nanna in sicherer Entfernung. Schließlich hat sie noch eine Rechnung mit ihm offen. Nach nur wenigen Minuten kreischt die Echse wieder auf: Sie hat Eldoth gefunden.

Fauchend und fast johlend stürzt sie vom Himmel, direkt auf den winzigen Barden zu, der panisch über Stock und Stein stolpert.

Nicht gut.

Nebosja muss jetzt kühn sein, sonst ist Eldoth verloren. Sie treibt Nanna an, die Richtung des Drachen anzunehmen: nach unten. Ihr Herz und ihr Magen rutschen in ihren Hals, als die Welt senkrecht steht. Kurz verwirrt fragt sich Nebosja, ob ihr spontaner Plan, den Drachen zu rammen und vom Kurs abzubringen, wirklich so klug ist. Nanna kreischt und holt Nebosja wieder an die Luft der Tatsachen zurück. Beide, Gleitechse und Mensch, steuern im Sturzflug einer gigantischen Flugechse hinterher. Dabei hat Nebosja keine Angst mehr. Sie und ihre Gleitechse sind eins, obwohl Nanna von Debroslav angeschleppt wurde, nicht aus ihrer Zucht stammt und obwohl sie sich in schwindelerregender Höhe befinden; sie sind eine fließende, stürzende Einheit. Die kräftige Gleitechse scheint den Plan ihrer Reiterin ebenfalls zu erahnen: Sie legt die Flügel an und beschleunigt.

Als Nebosja fast die frischen Blätter der Baumwipfel riechen kann, der Wind ihr aufgeregt ihre langen Haare ins Gesicht peitscht, sie jedes Detail und jede Schuppe der Echse zählen könnte, die größte Narbe am Bauch wie eine Zielscheibe aufblitzt und die tapfere Nanna kreischend die Krallen ausfährt; prallen beide gegen eine uralte Schuppenwand.

Nanna verstummt.

Nebosja hebt es aus dem Sattel.

Fallen.

Fallen.

Fallen. Vor Angst und Panik bekommt Nebosja keinen Ton heraus, ihre Augen sind so weit aufgerissen, dass ihr der Wind durch die brennenden Augen in den Kopf fährt.

Dann wird sie endlich ohnmächtig.

Rot.

Schwarz.

Jemand singt in ihrer Nähe ein trauriges Lied, ein paar Echsenjunge quietschen, es riecht nach zerquetschten Blättern. Nebosja öffnet die Augen und stöhnt auf, als ihr die Sonne weißes Licht in die Augen schickt.

»Hey, alles gut.« Jemand hilft ihr, sich wieder hinzulegen. Ihr linker Unterarm ist bandagiert.

»Eldoth?« Schnell packt sie den helfenden Arm.

»Ich weiß, dass du es bist, ich habe dich singen hören.« Nebosja öffnet wieder die Augen.

Eldoth lächelt vorsichtig.

»Wo ist die riesige Echse? Was ist passiert?«

Nanna schlummert an seinen Rücken gekuschelt, kleine Flugechsenjungen turnen niedlich auf ihr herum.

»Die Flugechse ist nach eurem Aufprallmanöver verschwunden. Ich schätze, sie ist tot oder hat sich schwer verletzt in die Höhle zurückgeschleppt.« Eldoth hebt die Arme, tut so, als würde er auf einem Seil hängen und lässt die Zunge heraushängen.

»Dich habe in einem Baum gefunden und quasi wie Obst gepflückt.« Lachend schüttelt er den Kopf. »Ein Wunder, dass du das überlebt hast!«

Nebosja überlegt, ordnet ihre Gedanken und wird wütend.

»Warum hast du mich im Berg im Stich gelassen?« Noch immer seinen Arm in der Hand, bohrt sie einen Fingernagel in seinen Unterarm. Eldoth jault auf.

»Weil du sterben solltest!«

Nebosja ist baff, geschockt, verwirrt und lässt los. Damit hatte sie nicht gerechnet.

Ruhig fragt sie: »Warum wolltest du, dass ich sterbe?«

Eldoth atmet sehr, sehr tief ein. Dann wieder aus.

»Ich hatte eine Abmachung mit Bogdan von Damir: Sobald die Flugechse von Debroslav gezähmt worden wäre, hätten wir deinen Bruder noch in der Höhle zurückgelassen und sie an die Maya übergeben. Die Eier hätten wir in eurer Zucht durch dich aufziehen lassen und dich dann ebenfalls umgebracht.«

Wie vorhin im freien Fall bleiben Nebosja die Worte im Hals stecken.

Eldoth greift sich einen Stock und fährt fort: »Debroslav fiel aus, wir brauchten einen Alternativplan.« Ratlos malt er im Sand und Nebosja fragt sich, wer ihren Bruder vergiftet hat.

»Wir wussten, dass die Flugechse Eier besaß und auch, dass du nicht das Talent deines Bruders zur Zähmung von Echsen geerbt hast. Also schrieben wir die eigentliche Flugechse ab.«

Nebosja spürt, wie sehr sie das erste Mal in ihrem Leben das Bedürfnis verspürt, jemanden tatsächlich und wahrhaftig auf der Stelle zu ermorden.

Sie geduldet sich aber.

»Da du anstelle von Debroslav mitkommen musstest, konzentrierten wir uns auf die Eier: Sie sollten das eigentliche Ziel sein.«

Eldoth malt ein Viereck in den Sand. »Als ich sah, dass die Jungen bereits geschlüpft waren, wusste ich, dass wir dich nicht mehr benötigen.« Er seufzt. »Die Zähmung der jungen Echsen hätte auch dein Bruder übernehmen können. Wäre er jedoch vom Gift bereits dahingerafft worden, hätte es auch jeder x-beliebige Züchter tun können; vielleicht eure Auszubildende Amankaya? Bei jungen Echsen soll das ja weniger das Problem sein.«

Wieder verspürt Nebosja vor Wut einen unglaublichen Drang, sich schmerzhaft zu kneifen. Stattdessen versucht sie, gleichmäßig zu atmen.

»Warum die Mühe?«

»Einer von euch musste offiziell sterben, quasi im Scheinwerferlicht, um keinen Verdacht zu erregen. Wenn ein Geschwisterpaar gleichzeitig durch mysteriöse Umstände stirbt, horchen alle auf.«

Nebosja ballt die Faust. »Und dafür opfert man das Versteck einer Flugechse und ihrer Eier?«

Eldoth nickt. »Wir brauchten jemanden, der diese Ressourcen auch nutzen kann, sowohl die Eier als auch die Echse. Sie konnten wir nicht zähmen und die Eier nicht aufziehen.«

»Aber warum sollten wir deswegen gleich sterben? Ihr hättet uns doch auch zwingen können, im Auftrag der Maya die Flugechse zu zähmen und die Jungen aufzuziehen!«

Eldoth schüttelt traurig den Kopf.

»Das ging nicht und wäre auch nicht sicher genug gewesen. Bogdan brauchte eine dauerhafte Versicherung, dass die Flugechsen aus einer Zucht auch wirklich zu ihm geliefert werden. Außerdem bestand ja immer noch die Hoffnung, dass diese gezüchtet werden könnten.«

Nebosja stellt endlich die richtige Frage.

»Wer bist du?«

Eldoth malt einen Kreis in den Sand.

»Ich bin Barde, Teilzeitsöldner und stehe im Auftrag von Bogdan von Damir, der übrigens kein Händler der Sprewanen ist, und mein Name«, er tippt sich an die Brust, »ist auch nicht Eldoth; das ist mein Künstlername.« Er blickt sie mit seinen flaschengrünen Augen ernst an.

»Ich heiße Tibur und bin ein Bastard deines Vaters.«

Nebosja trocknet der Mund aus.

»Damit bin ich auch ein potenzieller Erbe der Zucht.«

Nebosja schlägt zu.

Ganz fest. Ganz tief. Bis sie es knirschen hört.

Benommen taumelt Tibur, ehemals Eldoth zurück und fällt zu Boden. Nebosja holt mit ihrem Fuß aus, überlegt kurz; stellt den Fuß wieder ab und packt ihren Halbbruder an den Schultern.

»Warum zum Teufel erzählst du mir das alles? Warum tötest du mich jetzt nicht gleich?!«

Tibur will etwas sagen, da schreit Nebosja schmerzerfüllt auf. Ihr Unterarm pocht, ihr Verband wird rot. Sie lässt ab und Tibur kann sich wieder aufrichten.

»Du hast mich gerettet, also rette ich jetzt dich.« Er wirft den Stock ins Gebüsch. »Ohne natürlich zu wissen, wer ich bin, aber auch obwohl ich zeitweise verschwunden war.«

Er tippt mit dem Fuß auf den gemalten Kreis im Sand: »Du hast mich akzeptiert, ich …« Er wendet den Blick zur Seite. »Bei den Maya ist es schrecklich.« Dann schaut er Nebosja direkt an. »Ich konnte dich nicht sterben lassen, ich möchte bei dir, bei euch, in eurer Echsenzucht sein, als Familie … irgendwie.«

Nebosja ist verstört.

»Unfassbar.« Sie reibt sich die schmerzende Wunde.

»Wie kommst du darauf, ich würde dir je wieder vertrauen?« Verächtlich schnaubend fügt sie hinzu: »Das kannst du vergessen, das mit der Familie.«

Sichtlich verletzt wendet Tibur sich ab. Beide schweigen sich lange an. Nanna wühlt in den glänzenden Haaren des Barden und kräht ihn an.

Er lacht kurz auf, Nebosja verzieht keine Miene.

»Hör zu«, verschwörerisch senkt er die Stimme. »Ich weiß, wie wir Debroslav helfen können.«

Kurz steigt Tränenflüssigkeit in Nebosjas Augen auf und sie wendet sich ab. Tibur fischt schnell ein paar Eierschalen von ihrem Rücken.

»Übrigens: Die Eierschalen von Flugechsen wirken entgiftend, wenn sie zu Pulver verarbeitet werden.«

Er grinst. »Du bist voll davon.«

Bevor Nebosja ihn unterbrechen kann, redet er hastig weiter.

»Als ich Debroslav auf dem Fest sah, wusste ich, was ihm verabreicht wurde.«

Nebosja pult eine Schale aus ihrem Haar und betrachtet sie kritisch.

»Dieser Extrakt wird von Maya benutzt, wenn sie etwas Verdorbenes gegessen haben; wirkt schnell, wird von Sklaven aus Lilien hergestellt …«

Die Erkenntnis fegt jegliche Wut, jegliche anderen Gedanken hinfort: Sie weiß jetzt, wer ihren Bruder vergiftet hat! Der Gedanke daran treibt ihr vor Übelkeit vollends die Tränen in die Augen.

Das kann einfach nicht sein.

Beide brechen auf, sobald es Nebosjas Verletzung zulässt. Im Gepäck Eierschalenpulver und die Flugechsenjungen. Die Rückreise zieht sich zäh dahin; Nebosjas Ungeduld wächst. Als sie nach einigen Tagesreisen ankommen, scheint die Sonne trügerisch schön vom Himmel.

Milena rennt ihnen entgegen. Ihr Gesicht ist von Sorgen gezeichnet. Neugierig kreischen die Flugjungen sie an. Da schlägt ihre Stimmung von einer Sekunde auf die andere um:

»Wie groß werden die?«

Fast muss Nebosja lachen, unterdrückt es aber. »Ungefähr zehnmal so groß wie ein Pferd.« Milenas Miene wird um Facetten sorgenfreier. Dann führt sie sie zu Debroslav ins Schlafzimmer.

Debroslav liegt aufgebahrt zwischen Lilien; sein Gesicht ist gerötet und eingefallen, reglos. Auf ihm kauert Amankaya, ihre hellrosa Haarspangen sind mit ihrem dicken Haar verknotet. Als sie sich umdreht, erschrickt Nebosja. Sie scheint um Jahre gealtert. Ihr zartes Gesicht ist vom vielen Weinen angeschwollen, ihre Augen rot.

Tibur fackelt nicht lange und schiebt Amankaya mit sanfter Gewalt von Debroslav weg.

»Nicht!« Amankaya wehrt sich. »Ihr macht es nur noch schlimmer!«

Nebosja packt sie und zieht sie von ihrem Bruder weg. Tibur flößt ihm eine blassgrüne Flüssigkeit ein, die verdächtig nach klassischem Gift aussieht.

Dann: Hoffen.

Als Nebosja sich gerade überlegt, was sie alles verliert, wenn sich herausstellen sollte, dass ihr Vertrauen in Tibur keine gute Idee war, hebt sich Debroslavs Brust leicht an und sein Gesicht nimmt eine gesündere Farbe an.

Der Zähmer lebt!

Amankaya fällt auf die Knie, Tränen fließen über ihr Gesicht. Immer wieder dankt sie Patecatl, dem Mayagott der Gesundheit und Fruchtbarkeit.

Bevor Nebosja es zulässt, dass ihr ein Gebirge vom Herzen fällt, packt sie Amankaya an der Schulter.

»Hast du meinen Bruder und deinen Geliebten vergiftet?«

Amankaya hört auf zu weinen. Stumm nickt sie. Die Drachenjungen umflattern sie, stürzen auf ihrem Schoß ab, kuscheln sich an ihren leicht gerundeten Bauch.

Nebosja kontrolliert ihre aufkommende Wut.

»Warum?«

Mit großen Augen blickt sie zu Nebosja, streichelt nervös die kleinen Jungen in ihrem Schoß und hält mit der anderen Hand ihren gewölbten Bauch.

Die Züchterin versteht: Debroslav dürfte nicht auf eine ungewisse Reise ohne Wiederkehr gehen, er sollte in Sicherheit sein, musste Verantwortung übernehmen und hat sich dagegen gesträubt.

»Aber warum Gift? Du hast ihn dabei fast umgebracht!«

Amankayas Augen schwimmen in Tränen.

»Ich hab es falsch dosiert, das sollte nicht geschehen …«

Sie schnieft. »Er hätte eigentlich nur leichte Bauchschmerzen haben sollen …« Mit einem unendlich traurigen Gesicht wischt sie sich über die Augen: »Es tut mir leid, das werde ich mir nie verzeihen können!« Sie verschluckt sich. »Ich liebe ihn!«

Flehentlich blickt sie Nebosja direkt in die Augen und entdeckt: Verständnis.

Tibur lacht und greift nach seiner Laute, schlägt die ersten Noten an: »Zufälligerweise kenne ich das Lied der schlafenden Drillinge …«

Amankaya hört auf zu weinen, Milena jauchzt und:

Nebosja lacht.

Das erste Mal seit …

Friedhelm Rudolph: Iki Balam

Ich hörte ihr Johlen und Fluchen, das Geifern, die Häme; das Schlagen von Holz auf Holz. Die Knaben und Jünglinge übten sich im Kampfe, irgendwo innerhalb des Burgwalls, irgendwo zwischen den Häusern.

Ich schüttelte den Kopf. Warum sehnten sie die Stunde herbei, in der sie das Holz gegen den Stahl tauschen durften? Ich musste in meiner Arbeit innehalten, denn mich übermannte eine Übelkeit und Gliederschwäche bei dem Gedanken, ich müsste mich zu ihnen gesellen.

Nein! Mit einer Handbewegung verscheuchte ich eine Fliege und mit ihr den Schatten auf meinem Geist. Das wird nie geschehen. Niemals!

Ich nahm meine Arbeit wieder auf, schnitzte zum Schmuck und als Schutz eine Rune in das Holz; legte das Messer beiseite, prüfte mein Werk mit Augen und Fingern, nickte und lächelte. Ich nahm die Flöte an die Lippen, rutschte auf der Bank nach vorn, lehnte den Rücken an die Bohlen der Hauswand, blinzelte in die Morgensonne und spielte eine Melodie.

Helmar, mein Bärenhund, trabte heran, setzte sich vor mich hin und sah mich an, als wollte er sagen: Das gibt Ärger, Thoralf.

Ich unterbrach mein Spiel und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, Helmar. Ich habe mein Bestes getan. – Schau, die Flöte, ist sie nicht ein Meisterstück? Und der Klang …«

Helmar schnaubte und legte sich nieder. Ich befestigte eine Schnur an der Flöte und hing sie mir um den Hals.

Arnhild stampfte heran, schleppte einen Eimer Wasser. »Thoralf, da hast du was Schönes angerichtet.«

Es hatte sich herumgesprochen.

Sie stellte den Eimer ab, setzte sich neben mich auf die Bank und kuschelte sich an mich. Ich mochte Arnhild, doch meine Zuneigung kannte ihre Grenzen. Ich rutschte ein Stück zur Seite, sie folgte mir. Ich rutschte weiter, sie folgte mir. Ich gab mich geschlagen, zumal ich ans Ende der Bank gelangt war. Sie wärmte meine Seite, ihr Scheitelzopf roch nach Heu.

»Thoralf, hättest du ihn nicht entführen können und alle abstechen, die sich in den Weg stellen? Das hat sich bewährt, seitdem Odin, Vé und Vili aus Ymir die Welt bauten.«

»Dein Wort den Winden, du Friedenspfand. Brächte das deinen Lieblingsvaterbruder zurück ins Leben? Du sprichst wie dein Vater, Häuptling Volkmar. Du sprichst wie alle.«

»Weil es die Wahrheit ist. Denk nach, Thoralf, Sohn von Waldemar, dem Häuptling der Heveller und Herrn dieses Burgwalls. Keine Freiheit ohne Krieg.«

Arnhilds Finger spielten mit dem Keilerhauer, der an ihrem Gürtel hing. Seit Sommern lebte sie bei uns, so wie Ragnhild bei Häuptling Volkmar lebte. Es ging die Kunde, ihre Burg sei zerstört und Volkmar und sein Stamm geflohen. Niemand wusste, wo sie sich aufhielten.

Keine Freiheit ohne Krieg. So dachte Arnhild, so dachten alle. Hätte Arnhild ein Messer tragen dürfen, sie hätte statt des Messers den Sax tragen wollen. Hätte sie den Sax tragen dürfen, sie hätte die Spatha gewollt.

»Arnhild, es muss Wege geben …«

»Zum Beispiel die Häuptlingstochter rauben?«

Wenn Arnhild wüsste. Ansgar sagte, allen Gefangenen schneiden sie die Köpfe ab und spießen sie auf, zerhacken ihre Leiber oder reißen ihnen das Herz heraus und opfern es ihren Göttern. Ich wollte es nicht darauf ankommen lassen.

»Kunolf befahl es. Eine Prüfung. Ich folgte dem Befehl nach meinem Vermögen.«

»Ich rate dir, gehe deinem Vater und deinem Vaterbruder eine Weile aus dem Weg. Du bist und bleibst ein Tagträumer, Thoralf. Wie kann ich dir helfen?«

Sie wollte mir wie Mutter durch die Locken fahren. Ich entzog mich ihrer Hand. Fehlte nur noch, sie sagte: »Junge, du bist wie ein Hänfling. Du musst mehr essen.«

Ich betrachtete die Flöte, legte die Fingerkuppen auf die Grifflöcher und tat, als spielte ich eine Melodie. »Du kannst mir nicht helfen. Ich werde die Scharte auswetzen. Ohne Blut und ohne Tod.«

Arnhild tätschelte meinen Oberschenkel. »Ach, Thoralf …«

Alarmrufe. Die Männer griffen zu den Waffen und rannten hinauf zur Palisade. Die Frauen und Kinder eilten zu den Brunnen und füllten die Eimer mit Wasser. Die Reetdächer waren wie Zunderschwamm.

Das Vieh in den Ställen erschrak ob des Tumultes und blökte und brüllte.

Ein Mann rief: »Zum Tor! Sie sind am Tor!«

Arnhild und ich schnellten empor. Helmar wollte mit. Mit einer Handbewegung gebot ich ihm, zu bleiben. Er kroch unter die Bank und fiepte seinen Unmut heraus.

Arnhild schnappte den Eimer und eilte davon auf ihren Posten.

Den Ringwall erklommen, beobachtete ich das Geschehen von Ferne, wollte mich um die Verwundeten kümmern statt um die Feinde, auch wenn Vaters Zorn wieder über mich kommen sollte.

Ich lugte über die Palisade. Unter meinen Füßen spürte ich die Kraft des Erdwalls, die Härte der Feldsteine, die ihn befestigten. Da war kein Hinaufkommen. Der Tortunnel durch den Wall war verschlossen, der Steg eingezogen.

Vor dem Wall der Graben. Jenseits des Grabens die Reste der Vorburgsiedlung. Diejenigen, die nicht der Mordbrennerei zum Opfer gefallen waren, hatten sich in die Burg gerettet.

Hinter der Vorburgsiedlung das Wasser der Habula. Am Ufer ein Einbaum der Maya.

Hundert Augen, Lanzen-, Speer- und Pfeilspitzen beobachteten die Mayakrieger. Sie standen am Wassergraben, der sie vom Tor trennte.

Wir kannten ihre Namen, waren vertraut mit der Fremdheit ihrer Kinne und Stirnen; ihren Kriegeranzügen, die Katzenfelle und Federn schmückten; ihren Helmen wie Tierköpfen. Außer ihren Steinmessern trugen sie keine Waffen. Kein Feuerschwert, mit dem sie Blitze schleuderten. Nur einer führte eines dieser Blasrohre mit sich, trug es wie eine Lanze.

Diese Krieger waren das Inbild von Grausamkeit, Mordlust und Verschlagenheit. Der Übelste war ihr Anführer, der Sohn des Häuptlings. Sein Name war Iki Balam. Aus seinen Augen sprühte der Hass.

An seiner Seite eine Art Luchs, ein Fenriswolf in Verkleidung, der uns Hevellern mit Wonne die Kehle zerfleischte. Ansgar nannte die Bestie einen Kriegsjaguar. Die Leute erzählten sich über diesen Blutsäufer mehr Geschichten, als Blätter auf Yggdrasil wuchsen.

Hinter Iki Balam standen seine Getreuen, seine Schatten, Kraftmenschen wie er, Drillinge der Tücke und Hinterlist, Schädelspalter und Armabhauer: der Vogelmann Ah Ulil, der Echsenmann Tzitzimit und Paxoc, wie Iki Balam ein Jaguarmann. Und wie Iki Balam hatten sie sich Gesicht und Oberschenkel geschwärzt.

Iki Balam ließ sich Zeit. Er schaute in die Gesichter, die sich hinter der Palisade zeigten. Auch Ah Ulil, Tzitzimit und Paxoc schienen jemanden zu suchen. Ich konnte mir denken, wen, und zog den Hals zwischen die Schultern.

Iki Balam legte die Hand auf das Amulett, das er am Hals trug. Jeder Maya trug ein Amulett von der Größe eines Ohres. Wir wussten, legte ein Maya die Hand auf das Amulett, begann es zu leuchten, und der Maya sprach mit uns in unserer Sprache. Es ging das Gerücht, diese Amulette seien Götter. Nach dem Sieg über die Maya werden Odin und Thor sich um sie kümmern.

Iki Balam sprach: Sie seien an der Rückgabe des Mädchens nicht interessiert. Mädchen besitzen im Krieg keinen Wert. Das Amulett wolle er zurück. Um jeden Preis, sonst zürne der Gott der Silberwolke. Und grollen die Mayagötter, übersteigt der Zorn der Maya deren Grimm. »Die Pfähle für eure Köpfe sind gespitzt!« Er forderte die Auslieferung des Flötenschnitzers – mich. Falls dies nicht geschehe, werde er mich holen. Die Maya lachten beim Gedanken daran; die Mordlust blitzte in ihren Augen.

Paxoc entdeckte mich, tat, als prüfte er sein Blasrohr. Ein Giftpfeil bohrte sich mit einem Zischen ins Holz der Palisade. Ich erschrak zu Tode und ließ mich zu Boden fallen.

Kein Kriegsgeschrei. Niemand hatte den Schuss bemerkt – außer Ansgar.

Ich zitterte wie eine Espe im Sturmwind. Auf eine Wiederholung der Begegnung mit dieser Midgardschlange konnte ich verzichten. Nur mit einer List hatte ich ihn abschütteln und das Mädchen herbringen können.

Ansgar kauerte sich neben mich, seine Hände beteten. Auf seiner Brust baumelte an einer Hanfschnur sein Holzkreuz. Von diesem Kreuz ging Magisches aus, das ich mir nicht zu erklären vermochte. Es fesselte meinen Blick.