Im Siegeskranze - Wilhelm Raabe - E-Book

Im Siegeskranze E-Book

Wilhelm Raabe

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Beschreibung

Im Siegeskranze ist eine Erzählung von Wilhelm Raabe, die in einem historischen Setting spielt. 1813 rückt die russische Armee in Hamburg ein. Die Stiefschwester der Erzählerin verliert dort ihren Ehemann. Auszug: Ja, mein liebes Kind, ich wundere mich wahrlich oft selber darob, daß der Himmel über einer alten Frau noch so blau sein kann und daß das Lachen immer noch gern mit ihren lahmen Füßen Schritt hält und nicht längst weiter gesprungen ist, dem jüngeren Volk nach und zu, was ihm viele Leute gewiß nicht verdenken würden. Aber es ist so, trotzdem es wohl recht hätte, anders zu sein, und weil wir grad dabei sind, so will ich die gute Stunde benutzen, um dir einmal ein wenig von dem zu erzählen, was alles der Mensch erfahren und ertragen kann, ohne in der Hand des Schicksals zu vergehen wie ein Flöckchen Werg auf einem Kohlenbecken. Man hat wohl Gelegenheit gehabt, etwas zu erleben, wenn man im Jahre achtzehnhundertundeins geboren wurde und seine Tage bis in diesen unruhvollen und angsthaften Frühling des Jahres sechsundsechzig fortspinnen durfte; und was die Eltern und Großvater und Großmutter anbetrifft, so ist das, als ob man hinabsieht in eine große dunkle Tiefe und sieht Lichter in dem Dunkel und Gestalten und hört allerlei Töne, daß einem ein Sehnen und ein Grauen um das Vergangene zu gleicher Zeit ankommt.

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Im Siegeskranze

Im SiegeskranzeAnmerkungenImpressum

Im Siegeskranze

Ja, mein liebes Kind, ich wundere mich wahrlich oft selber darob, daß der Himmel über einer alten Frau noch so blau sein kann und daß das Lachen immer noch gern mit ihren lahmen Füßen Schritt hält und nicht längst weiter gesprungen ist, dem jüngeren Volk nach und zu, was ihm viele Leute gewiß nicht verdenken würden. Aber es ist so, trotzdem es wohl recht hätte, anders zu sein, und weil wir grad dabei sind, so will ich die gute Stunde benutzen, um dir einmal ein wenig von dem zu erzählen, was alles der Mensch erfahren und ertragen kann, ohne in der Hand des Schicksals zu vergehen wie ein Flöckchen Werg auf einem Kohlenbecken. Man hat wohl Gelegenheit gehabt, etwas zu erleben, wenn man im Jahre achtzehnhundertundeins geboren wurde und seine Tage bis in diesen unruhvollen und angsthaften Frühling des Jahres sechsundsechzig fortspinnen durfte; und was die Eltern und Großvater und Großmutter anbetrifft, so ist das, als ob man hinabsieht in eine große dunkle Tiefe und sieht Lichter in dem Dunkel und Gestalten und hört allerlei Töne, daß einem ein Sehnen und ein Grauen um das Vergangene zu gleicher Zeit ankommt.

Sieh, hier sitzen wir auf der Bank vor deines Vaters Hause, und du bist nun auch schon ein großes Mädchen geworden, und wer weiß, ob du nicht bald eine Braut sein wirst; das Plätzchen ist gut, und in den Wind werd ich auch nicht reden, du wirst's schon verstehen, wie ich's meine. Da drüben raucht des Nachbars Schornstein, und dort guckt seine weiße, dumme Zipfelmütze über die Hecke, der Nachbarin nichtswürdiger blauer Unterrock dorten auf der Leine gehört gleichfalls zu unserer Aussicht, und wir kennen alle Kinderstimmen um uns her. Ja, rings um uns her liegt das deutsche Land im Frühlinge, und du und ich, dein Vater und deine Mutter wissen es gar nicht anders, als daß wir immer und ewig dazu gehört haben, daß wir zu dem Boden, den wir betreten, gehören, gleichwie das Gras und der Baum, und daß wir daraus emporwuchsen wie der Weizenhalm, der wohl im Wind sich neigt und schwankt hierhin und dahin, aber nimmer seinen Fuß hervorziehen kann und mag.

Nun merke auf, mein Kind; es ist doch nicht ganz so, wie wir meinen, und wenn ich nicht eine alte dumme Frau wäre, möcht ich wohl zu manchem ein recht kluges Wörtlein darüber reden können. Es wird aber wohl grad so recht sein, daß die Menschen sich einbilden, sie seien mit ihren Zuständen immer in der Art dagewesen, wie sie am heutigen Tage vorhanden sind. Ist übrigens am End auch ein übel Ding, wenn einem das Leben nicht paßt und anwuchs wie der Schnecke ihr Schneckenhaus.

Was nun unsere Familie betrifft, so hat es damit folgendermaßen seine Bewandtnis. Als zu Ende des vorigen Jahrhunderts da drüben im Franzosenlande die große Revolution angegangen ist, ist es über die einen gekommen wie eine schnelle Wassersnot von einem Wolkenbruch und über die andern gleich einem Feuer, welches bei Nacht ausbricht. Und weil mit einem Male alles anders wurde und das Unterste zu oben kam, so haben sich viele, viele Menschen nicht darein finden können, haben sich nicht zu raten und zu helfen gewußt und sind in ein großes Unglück gefallen. Da ist alle Ruhe und Stille, alle Reinlichkeit und Zierlichkeit des Lebens plötzlich in Unruhe, Angst, Gefahr, Wüstenei und Verwirrung verkehrt worden, und Hunderttausende haben alles, was sie nicht auf den Schultern und unter dem Arm forttragen konnten, hinter sich gelassen und haben sich auf die Flucht begeben mit ihren Angehörigen oder auch wohl allein. Wenn die Flut heranschießt oder das Feuer aufgeht über Nacht, so verlieren die einen den Kopf, die andern das Herz und wieder andere beides, und es sind immer wenige, die beides zusammen behalten. Also ist's mit den Menschen in ihrer Schwachheit beschaffen, und also wird's auch fürs erste mit ihnen bleiben.

In jenen Zeiten nun kam mit den Fliehenden ein französischer Mann aus Frankreich über den Rheinstrom und führte mit sich eine Frau, ein klein Töchterchen und eine Magd und war noch glücklich vor Tausenden zu nennen, denn er brachte auch einen geringen Teil seines Vermögens mit. In seiner Heimat war er ein sehr reicher Mann gewesen, doch das ist heut alles einerlei; aber was anderes ist wohl in unserm Haus im Gedächtnis zu behalten, nämlich sein Kind ist meine Mutter und deine Urgroßmutter geworden. Ich hab sie aber nicht gekannt, denn sie ist mit ihrer Mutter, meiner Großmutter, nach ihrem Herzenswunsch in ein und derselben Stunde gestorben und in ein und dasselbe Grab gelegt worden; das ist mir alles wie ein ganz nebeliger Tag, oder als ob man durch ein dichtbeschlagenes Fenster auf die Straße hinaussieht, und für dich, mein Kind, hat es wohl gar keinen Sinn, keinen Klang und keine Farbe. Es haben mir alte Leute, die jetzt auch schon dreißig oder vierzig Jahre tot sind, von diesen Voreltern erzählt; allein auch die haben wenig mehr sagen können; es hat ja der Einfältigste so viel für sich selbst zu bedenken, daß er wenig Gedächtnis für andere übrigbehält.

Meine Mutter soll sehr schön gewesen sein, als sie zu einer Jungfrau herangewachsen war, zierlich und fein und nicht gar groß; sie hat jedoch in dem fremden Land, welches jetzt längst unser Mutterland ist, ein einsam Leben führen müssen, recht wie eine Nonne; denn ihr Herr Vater, dein Ururgroßvater, hat niemandem mehr in der Welt getraut. Er hat im Gegenteil eine hohe Mauer um sein Haus und seinen Garten gezogen und ist gar nicht so lustig und flink gewesen, wie du und ich uns heute die Franzosen vorstellen, sondern ein gar stattlicher und recht finsterer und langsamer Mann, der den Mund selten aufgetan und noch seltener den Leuten ein Kompliment gemacht hat. Was meine französische Mutter angeht, so hat sich denn das zu seiner Zeit doch gefunden – sie ist aus ihrem Versteck herausgezogen worden, grad so wie das auch heut noch geschehen mag, und auch davon will ich dir erzählen.