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Bestsellerautorin Becky Albertalli schreibt gefühlvoll über Identität, Freundschaft & Liebe - und die vielen Facetten dazwischen.
Die 17-jährige Imogen sieht sich schon immer als größte Ally: Sie unterstützt ihre queeren Freunde, wo sie nur kann. Als sie ihre beste Freundin Lili - frisch geoutet und ziemlich glücklich in ihrem Leben - an der Uni besucht, weiß jedoch niemand in Lilis neuer Clique, dass Imogen selbst nicht queer ist. Denn Lili hat rumerzählt, dass sie und Imogen in der Vergangenheit ein Paar waren. Plötzlich beschäftigt sich Imogen mit Fragen, die sie bisher immer verdrängt hat. Noch dazu verbringt sie mehr und mehr Zeit mit der charmant-chaotischen Tessa, die ihr ganz schönes Bauchkribbeln beschert. Imogen muss sich eingestehen: Vielleicht ist sie doch mehr als ein Ally - aber wer ist sie wirklich?
Erstauflage exklusiv mit Pageoverlay, Farbschnitt und Charakterkarte!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 358
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Tag eins Freitag 18. März
1
2
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5
6
7
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9
Tag zwei Samstag 19. März
10
11
12
13
14
15
Tag drei Sonntag 20. März
16
17
18
19
20
Tag vier Montag 21. März
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26
Tag fünf Dienstag 22. März
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32
33
Tag sechs Mittwoch 23. März
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Tag sieben Donnerstag 24. März
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39
Tag acht Freitag 25. März
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Tag neun Samstag 26. März
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61
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Danksagung
Becky Albertalli
Übersetzung aus dem amerikanischen Englischvon Bianca Dyck
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Imogen, Obviously«
Für die Originalausgabe:
Copyright ® 2023 by Rebecca Albertalli
Published in arrangement with the author, c/o BAROR INTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S.A.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright ® 2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Anne Schünemann, Schönberg
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München unter Verwendung einer Illustration von © Leni Kauffman
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7517-5978-6
one-verlag.de
luebbe.de
Für Sophie Gonzalez, die Raum geschaffen hat.
Noch habe ich mich nicht abgeschnallt, aber ich bin gleich so weit. Logisch. Ich warte nur darauf, dass mein Gehirn aufhört, so zu tun, als würde ich bei einer Talkshow vor dem leicht feindseligen Studiopublikum live interviewt werden.
Imogen, ist es wahr, dass du Lili gerade das erste Mal auf dem Campus besuchst, obwohl sie eine deiner beiden (2) besten Freundinnen ist und sie dich schon fünfzehn Milliarden Mal eingeladen hat und das Blackwell College so nah an deinem Zuhause liegt, dass du letzte Woche auf dem Weg zum Einkaufen bei Wegmans buchstäblich daran vorbeigefahren bist?
Vom Fahrersitz aus sieht Gretchen mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Sollen wir noch kurz mit reinkommen?«
»Oder auch länger«, fügt Edith hinzu, und ich drehe mich zu ihr um. Sie ist noch angeschnallt, hat die Beine überschlagen und ihre Jeansjacke wie eine Decke auf ihrem Schoß ausgebreitet. Leuchtend blaue Augen und windzerzauste Locken. Mein Haar ist zwei Nuancen dunkler und ein bisschen glatter, aber davon abgesehen sehen wir beinahe identisch aus. Das sagen alle.
Otávio sitzt ebenfalls dahinten und spielt etwas auf seinem Handy. Der Campus ist für ihn mittlerweile nichts Neues mehr – er fährt oft mit seinen Eltern her, manchmal auch nur, um mit Lili und ihren Freunden irgendwo essen zu gehen. Diesmal ist er allerdings einfach so mitgekommen. Nur ich bleibe hier.
Für drei Nächte. Also ungefähr fünfundsechzig Stunden. Nicht, dass ich die gezählt hätte.
»Alles gut.« Ich setze ein Lächeln auf. »Ich will nicht, dass ihr in die Rushhour kommt.«
»Die Rushhour ist mir total egal«, sagt Gretchen.
Und ich weiß genau, dass sie das auch so meint. Ich musste ihr gar nicht erzählen, dass meine Eltern dieses Wochenende beide Autos brauchen. Sie hat mich dabei erwischt, wie ich mir den Busfahrplan des Yates Transit angesehen habe, und ist mir sofort zur Rettung geeilt. Über Gretchen Patterson kann man sagen, was man will, aber für ihre Freunde lässt sie alles stehen und liegen – ausnahmslos.
»Ich kann gar nicht glauben, dass du Lilis queere College-Freunde kennenlernst.« Edith starrt aus dem Fenster, plustert ihre Wangen auf und seufzt. »Ich will auch queere Freunde haben.«
Gretchen blinzelt. »Ähm. Hallo?«
»Klar, aber du bist eher so was wie eine Mentorin«, sagt Edith.
Ich atme ein. »Okay, ich schreibe Lili jetzt.«
»Möchtest du sicher nicht, dass –?«
»Jepp!«
Edith klatscht. »Sieh einer an. Du einsame Wölfin wirst deinem Ruf als toughes Mädchen gerecht.«
Richtig, und jetzt versuche ich, mir das Paralleluniversum auszumalen, in dem mein Ruf auch nur im Entferntesten dem eines toughen Mädchens entspricht. Ich meine, schreiben wir das mal kurz in Fettschrift. Imogen Scott: toughes Mädchen. Allein die Vorstellung fällt ja schon schwer. Ich bin eine von diesen Personen, die ein Lieblingsadverb haben (und zwar logisch. Obviously).
Edith hingegen ...
Ich meine, unsere Babyfotos sagen schon alles. Wie das eine, auf dem ich bei der Yates County Fair im Tierstall neben einem Schild stehe, auf dem Den Esel bitte nicht streicheln!!! steht.
Und im Hintergrund ist Edith zu sehen, wie sie den Esel streichelt.
Oder das Bild, das zeigt, wie ich vor einer Staffelei stehe und sorgfältig einen blauen Streifen als Himmel male. Während Edith nur in Windel bekleidet neben mir hockt und lauter grüne Abdrücke ihrer eigenen kleinen Hände ihre Brust bedecken. Und vergessen wir nicht die Fotostrecke von meinem siebten Geburtstag, an dem Edith ohne Spaß angezogen war wie Jason, der Macheten-Killer aus Freitag der 13.
Fairerweise muss man sagen, dass ich an Halloween Geburtstag habe. Trotzdem.
Es war mittags. Und sie war fünf.
Als ich die Beifahrertür öffne, springt sie sofort von ihrem Sitz – als würde Otávio Cardoso, zertifizierter Teddybär, mit ihr um den vorderen Platz kämpfen wollen. Doch anstatt nach vorn zu gehen, folgt sie mir zum Kofferraum des Wagens.
»Immy, hör mal zu. Als deine große Schwester –«
»Das ist faktisch inkorrekt –«
»Chronologisch gesehen? Sicher«, sagt sie. »Aber spirituell? Äußerlich?«
Tatsächlich ist Edith eine moderne Version der Amy March aus Little Women. Wohingegen ich absolut in die Kategorie »Wäre gerne Jo, ist aber eigentlich Meg« falle.
»Ich sage ja nur, der ganze Sinn am College –«
»Sagst du, die noch Junior an der Highschool ist.«
»Der ganze Sinn am College«, wiederholt sie, »ist, dass es dir die Gelegenheit bietet, aus deiner Komfortzone auszubrechen. Ich habe eine Menge darüber nachgedacht, und ... Immy, ich glaube wirklich, dass du das mit der Zahnseide dieses Wochenende mal lassen solltest.«
»Der Sinn am College ist ... dass ich keine Zahnseide benutze?«
»Ganz genau.«
Ich hieve mein Gepäck aus dem Kofferraum, bevor ich die Klappe zuziehe. »Ich werde darüber nachdenken.«
»Außerdem denke ich, dir würden ein paar spontane Campus-Dummheiten guttun.«
»Hmm.«
»Es sind Frühlingsferien! Am College! Mit coolen queeren Leuten!«
»Du weißt schon, dass es in Penn Yan auch queere Leute gibt, oder? Sogar einen ganzen Club?« Ich drehe meine Handflächen nach oben. »Du könntest versuchen, einfach mal zu einem der Treffen zu gehen?«
Sie schüttelt den Kopf. »Dienstags kann ich nicht.«
Am Dienstag hat Edith immer ein Zoom-Date mit ihrer Freundin. Genau wie an allen anderen Tagen. Aber schon bevor sie mit Zora zusammen war, hat sie immer einen Grund gefunden, warum sie nicht zur Pride Alliance konnte. Ich hingegen war seit dem Freshman Year bei fast jedem einzelnen Treffen, als einzige Ally der Gruppe. Zumindest war ich das, bis Otávio Anfang des aktuellen Schuljahrs beigetreten ist, nachdem Lili sich geoutet hatte. Wegen ihm sind alle Gruppenmitglieder total ausgeflippt. Woke King, Bruder des Jahres und so weiter. Irgendwie lustig. Währenddessen fragen sich die Leute immer noch, warum ich dabei bin.
Eine Zeitlang habe ich befürchtet, dass ich nicht teilnehmen sollte. Wochenlang habe ich jeden Blogbeitrag und alle Reddit-Threads zu Allies und Safe Spaces durchforstet und nachgelesen, ob es überhaupt okay ist, wenn ich bei den Treffen aufkreuze. Bin ich nur ein weiteres Hetero-Mädchen, das in den Bereich queerer Menschen eindringt? Bin ich eine Außenseiterin, die dem ganzen Raum den Sauerstoff entzieht? Der dahingehende Diskurs hat mir keine eindeutige Antwort geboten. Und das ist etwas, das ich hasse – fehlende Gewissheit. Wenn ich etwas Neues wage, herrscht in meinem Verstand nur dann Ruhe, wenn ich alle Verhaltensregeln kenne: Was ist empfohlen, was erlaubt – und was ist ausdrücklich verboten? Denn Einschränkung bringt ihre eigene Form von Gewissheit mit sich.
Nun, ich wusste, dass ich theoretisch dort sein durfte. Jedenfalls wenn ich nach den offiziellen Richtlinien für außerschulische Gruppen im Schulhandbuch der Pen Yan Highschool ging. Und natürlich wusste ich, wie wichtig es Gretchen war, nach dem, was im queeren Club an ihrer alten Schule passiert ist. Nicht, dass sie das jemals zugeben würde, aber ich glaube, ich bin ihr Hetero für emotionale Unterstützung.
Nur manchmal fühle ich mich etwas unwürdig – zu Normalo, zu eindeutig nicht queer. Zum Beispiel wenn Gretchen mich und Otávio »Heteropotamusse« nennt oder wenn Leute uns nicht mal nach unseren Lieblingssnacks fragen können, ohne dass behauptet wird, sie würden sich »mit den Heteros verbünden«.
Mein Handy vibriert, als eine Nachricht von Lili eintrifft.
Du bist hier!!! Ich komme sofort!!! Bin in fünf Minuten da!!!
Mittlerweile sind auch Gretchen und Otávio aus dem Auto gestiegen. Ich schüttele den Kopf. »Im Ernst, ihr habt schon mehr als genug –«
»Schhh.« Gretchen nimmt meinen Koffer und rollt ihn zum Rand des Parkplatzes, während der Rest von uns ihr hinterhertrottet. Als wir am Gehweg ankommen, bleibt sie stehen, um sich umzusehen: ein kleines Stück Rasen hinter einer Ansammlung von Backsteingebäuden. Noch kein Anzeichen von Lili, was wenig überraschend ist. Lili ist immer »fünf Minuten« zu spät, und das kann manchmal heißen, dass sie wirklich nur fünf Minuten braucht, und manchmal, dass sie gerade erst aufgestanden ist, sich noch anziehen muss und sich wünscht, es würde nur fünf Minuten dauern.
Haufenweise Studierende strömen aus einem der Gebäude – ausgelassen und mit strahlenden Gesichtern, schon ganz im Wochenendmodus. Gretchen beugt sich vor, und so ausgiebig, wie sie die anderen mustert, erwarte ich schon fast, dass sie gleich ihre Beobachtungen niederschreibt. Vielleicht sollte ich genau das tun: richtige College-Kids in ihrer natürlichen Umgebung observieren.
Immerhin bin ich in weniger als sechs Monaten eine von ihnen. Sogar genau hier.
Das fühlt sich noch nicht real an. Wobei ich gerechterweise sagen muss, dass ich das Angebot des Blackwell College auch erst vor einer Woche angenommen habe. Gretchen findet, dass ich zu sehr auf Nummer sicher gehe, indem ich so nah an meinem Zuhause bleibe. Doch sobald ich die Zusage für das Stipendium erhalten hatte, war die Sache entschieden. Der Standort ist nur ein Bonus für mich.
»Oh, ho, ho.« Gretchen stupst mir in die Seite, während sie weiter geradeaus schaut. »Hab einen.«
»Einen was?«
»College-Typen.«
»Die soll es auf einem College-Campus ja gelegentlich geben ...«
Sie lacht. »Ich meine, einen süßen College-Typen. Heißer Kerl und Körper.«
»Also kein körperloser Kopf. Verstanden.«
Edith lehnt sich zu uns vor und folgt Gretchens Blick. »Was sehen wir uns an?«
»Graues Shirt, weiße Mütze. Das wird Imogens Flirt für die Ferien ...«
»Ähm. Was?«
Edith sieht begeistert aus. »Kennen wir den?«
»Absolut nicht.«
»Noch nicht, werden wir aber! Nennen wir ihn Bruce. Oder Bryce?« Nachdenklich legt Gretchen den Kopf schief. »Bruce. Ich denke, er ist ein ... Sophomore. Und er kommt aus einer coolen Gegend.«
Otávio sieht von seinem Handy auf. »Wer ist Bruce?«
»Maine! Er kommt aus Maine.«
Verdutzt blinzele ich. »Ist Maine cool?«
»Und er mag Hummer. Weil er aus Maine kommt.« Gretchen zuckt mit den Schultern. »Sorry, mehr weiß ich nicht über Maine.«
»Mmm. Sind wir fertig?«
»Warte. Nein, nein. Moment.« Gretchen hat beide Hände an die Wangen gepresst. »Neues Ziel. Okay, okay. Ist gerade aus der zweiten Tür getreten. Nicht der Typ mit dem Bart. Grüner Hoodie, neben dem Mäd–«
»Noch besser. Ein Typ mit einer Freundin.«
»Eine Freundin, die einen Karabiner und einen Daumenring trägt?«
Ich beiße mir auf die Lippe. »Vielleicht?«
»Hey, sorry! Hi! Bin da!« Schlitternd kommt Lili vor uns zum Stehen, ihre Füße stecken nur halb in ihren Sneakers. Sie umarmt mich, dann Edith, zerzaust Otávio das Haar und umarmt dann auch ihn. Schließlich wendet sie sich steif an Gretchen. »Hi.«
»Hi.« Gretchen nickt.
Lili klatscht in die Hände. »Okay! Sollen wir ...?«
»Ja! Okay, ähm. Wir sehen uns dann, Leute«, sage ich. »Gretch, vielen Dank fürs Fahren, wirklich.«
»Kein Problem. Hey.« Gretchen sieht mich an. »Alles gut?«
»Ja. Jepp! Natürlich.«
Lili verdreht dezent die Augen und greift nach meinem Koffer.
Gretchen umarmt mich. »Richte Bruce einen Gruß von uns aus, okay?«
»Und keine Zahnseide«, fügt Edith hinzu, und als sie daraufhin kurz lächelt, zeigt sich ihr Grübchen. Genau wie bei mir.
Chat mit Gretchen
GP: Ok, wir sind weg!! Viel SPASS!!!
GP: Und mach ganz viele Fotos mit deinem Typen!!!
GP: Ok, mal im Ernst, sag Bescheid, wenn du gerettet werden musst
GP: Dann komme ich dich holen, ehrlich
GP: Bin noch bis morgen früh da
GP: Na jedenfalls, hab dich lieb, hab Spaß am COLLEGE
»Gerettet?« Lili verengt den Blick. »Vor mir?«
»Oh, nein. Ich glaube, sie meinte einfach ... Also, das College.« Ich gestikuliere vage Richtung Campus.
Abrupt bleibt sie stehen. »Hey. Bist du nervös?«
»Nein! Alles gut. Bestens! Gretchen ist nur Gretchen.«
»Ja. Sie ist total Gretchen.« Lili führt uns einen gewundenen Betonpfad entlang. »Na jedenfalls ... Hi! Das ist Blackwell!«
»Hi, Blackwell!«
Mein erster richtiger Blick aufs College. Mein zukünftiges Zuhause.
Ich meine, ich bin schon hundertmal daran vorbeigefahren. Dad hat mich sogar einmal die Nebenstraßen rauf- und runtergefahren. Aber das war eher so, als würde man durch ein Fenster ins Haus von jemandem schauen. Jetzt fühlt es sich an, als würde ich den Flur betreten.
Lili mimt schon die Reiseführerin. »Das hier ist der Haupthof, und das Backsteingebäude da ist das neue Zentrum für darstellende Kunst.«
»Wow. Es ist so ...« Ich verstumme, als mein Blick auf ein graues Steingebäude fällt, das von Ranken umgeben ist. »Das sieht aus wie ein Märchenhaus.«
Sie lacht. »Das ist das Studierendensekretariat.«
»Es ist so hübsch!«
»Jetzt weißt du auch, warum ich die ganze Zeit wollte, dass du mich besuchst!«
»Ich weiß, ich weiß ...«
»Aber, hey – wenigstens hast du mich genauso oft besucht wie Gretchen!«
Mein Gesicht wird warm. »Nein, wirklich. Lili, tut mir leid ...«
»Ist nur Spaß.« Sie wirft mir einen schiefen Blick zu. »Alles gut, okay?«
»Ja. Nein, es ist nur ...« Ich schlucke schwer. »Alles ist so verrückt geworden, mit den Bewerbungen und Hausaufgaben, und dann noch die Sache mit dem Auto. Und Nanas Handgelenk ...«
»Stimmt. Nein, Immy, ich verstehe das. Wirklich.«
»Ich will nur nicht, dass du denkst, ich wollte nicht –«
»Tue ich nicht! Ich freue mich einfach, dass du hier bist.« Sie lächelt. »Es wird einfach großartig.«
Und vielleicht wird es das. Vielleicht wird es wie ein großer verlängerter Übernachtungsbesuch, genau wie früher als Kinder. Wir haben ganze Wochenenden zusammen verbracht – Märchenhäuser gebaut, Mario Kart gespielt, Eis beim Seneca Farms gegessen. Im Sommer sind wir ständig zwischen ihrem Haus und meinem hin- und hergependelt, als wäre das eine Art Vereinbarung für geteiltes Sorgerecht.
Ich hatte sogar eigene Rituale bei Lili zu Hause. Damals war ich eine extreme Frühaufsteherin, schon vor sechs Uhr war ich hellwach, obwohl Lili und Otávio im Sommer und an Wochenenden immer mindestens bis neun oder zehn schliefen. Aber diese Morgenstunden waren mit die schönsten überhaupt. Ich bin dann in Pyjamashorts nach unten geschlichen, dicht gefolgt von Lilis Beagle-Mischling Mel. Lilis Eltern waren zu der Uhrzeit meistens schon wach, und ihr Dad sagte immer: »Bom dia, querida!« Dann hat er mir einen Milchkaffee mit viel Zucker zubereitet, bevor er mit einem Buch verschwand. Ich habe es mir mit Mel und Lilis Mom auf der Couch gemütlich gemacht, und meistens hatten wir schon einen ganzen Film gesehen, bevor Lili nach unten kam. So habe ich die meisten meiner Lieblingsfilme entdeckt: Weil ich ein Mädchen bin, Clueless – Was sonst!, Reality Bites – Voll das Leben. Also im Grunde genommen jede Rom-Com aus den Neunzigern. Lilis Mom hat sie sich immer auf VHS-Kassetten angeschaut, um ihr umgangssprachliches Englisch zu verbessern, nachdem sie nach New York gezogen war.
Jedenfalls sind Lili und ich eher wie Cousinen als Freundinnen, weshalb sich der Besuch hier eigentlich so anfühlen sollte, als würden wir da weitermachen, wo wir aufgehört haben. Als würde man einen Film nach einer Pause weiterlaufen lassen. Aber nun, da ich hier bin, frage ich mich, ob es überhaupt eine Pause gegeben hat. Vielleicht bin nur ich stehen geblieben, und alles andere ist weitergelaufen.
»Oh, das ist irgendwie cool«, sagt Lili. »Es gibt hier ein ganzes Netz an Untergrundtunneln, die die Gebäude auf dieser Seite des Campus verbinden.«
»Wie ein unterirdischer Schutzraum?«
»Dafür könnte man sie wohl benutzen.« Sie hält vor einer Bank an und stellt einen Fuß darauf ab. »Keine Ahnung, warum die gebaut wurden. Eigentlich sollen wir da auch gar nicht runtergehen. Daher muss man jemanden finden, der weiß, welche Türen unverschlossen sind.«
»Also ist es wie bei einem Geheimbund?«
Sie lacht und zieht sich den Schuh über die Ferse. »Absolut nicht. Erinnerst du dich noch an meine Freundin Tessa?«
In meinem Kopf erscheint das Bild eines Mädchens mit Pferdeschwanz und Karohemd – sie ist auf sehr vielen von Lilis Fotos zu sehen, was ziemlich deutlich macht, dass sie beste Freundinnen sind. Tessa ist wohl so was wie die neue und verbesserte Version von mir.
»Ihr Bruder ist hier Junior, und er hat uns letztes Semester mit runtergenommen. Es ist so cool. Und unheimlich. Aber eben auf eine coole Art. Die Wände sind voller Graffiti, aber aus den Achtzigern und Neunzigern. Es ist wie eine Zeitkapsel.«
Lili lächelt mich so locker an, dass sich mir das Herz zusammenzieht. So offen habe ich sie wohl noch nie gesehen. Ich meine, vielleicht zu Hause, wenn wir nur zu viert sind – sie, Edith, Otávio und ich. Aber nie in der Schule. Obwohl sie viele Freunde aus ihrer Stufe hatte, schien sie sich in deren Gegenwart nie richtig zu entspannen.
Hier allerdings lächelt sie, winkt Bekannten im Vorbeigehen und erzählt mir dann: »Das ist Clara aus meinem Philosophiekurs.« Oder: »Okay, also Mika hat tatsächlich eine TikTok-Collab mit diesem einen Typen gemacht – habe seinen Namen vergessen, aber es war die mit dem kleinen Lebkuchenhaus. Hast du das gesehen?«
Habe ich. Dreimal, und Gretchen habe ich es auch geschickt.
Mika ist quasi berühmt auf TikTok – vor allem für detaillierte Dioramen, die dey dann mit einer Green-Screen-App filmt, um es so aussehen zu lassen, als würde dey darin tanzen. Es will mir kaum in den Kopf gehen, dass Lili mit einem richtigen Star befreundet ist. Wobei ihre Freunde für mich sowieso alle Promis sind, allein schon wegen ihrer Storys und Bilder.
Lili führt mich vom Hof herunter und die Wohnstraße neben dem Campus entlang. Hier befinden sich größtenteils Häuser von Studentenverbindungen mit gigantischen griechischen Buchstaben, vor denen Typen ohne Shirts auf Gartenstühlen herumlungern. Anscheinend haben sie nicht mitbekommen, dass in New York gerade März ist.
Vor einem Haus mit Holzverkleidung und Fenstern, die fast alle mit farbenfrohen Flaggen dekoriert sind, bleibt sie schließlich stehen. »Also ... das ist Rainbow Manor. Es ist sozusagen das queere Verbindungshaus. Darin wohnen ein paar Leute, aber es wird auch viel für Events und Öffentlichkeitsarbeit genutzt. Solche Sachen eben.« Schnell schenkt sie mir ein Halblächeln. »Und sie schmeißen die besten Partys.«
Es ist, als wäre ich in einem Paralleluniversum. Sorry, aber ich kenne Lili Cardoso, seitdem sie drei Jahre alt war, und Partys sind die Hölle für sie. Wir reden hier von dem Mädchen, das jeden Sommer dicke, mit Eselsohren versehene Wälzer von Tamora Pierce über den Schulhof geschleppt hat, nur für den Fall, dass es eine unerwartete Freistunde gab und jemand mit ihr reden wollte.
Mit ihren College-Freunden – ihrem sogenannten queeren Rudel – muss es wohl anders sein. Sie haben einander auf einer Party in der Einführungswoche gefunden, und seitdem sind sie unzertrennlich. Lilis erste queere Freundschaften.
Ich freue mich sehr für sie. Logisch.
Auch wenn ich mich ihr manchmal nicht mehr so nah fühle wie früher.
Es ist schwer zu erklären, denn es ist nicht so, als würde sie mich ausschließen wollen. Ich kann gar nicht zählen, wie oft sie mich schon eingeladen hat, ein Wochenende bei ihr zu verbringen. Und seitdem ihre Mitbewohnerin nach den Winterferien ausgezogen ist, ist daraus praktisch eine ständige Einladung geworden.
Ich hatte wirklich vor, ihr Angebot anzunehmen.
Nur manchmal verunsichern mich solche Dinge zu sehr. Ich glaube, das liegt daran, wie Lili von diesem Ort spricht – ohne eine Spur Abfälligkeit oder Zynismus. Nur eitel Sonnenschein. Natürlich ist das toll, aber manchmal macht es mich fertig. Es ist, als würde ihr Leben plötzlich einen Sinn ergeben, seitdem sie weg ist.
Und damit wäre ich Geschichte. Ein Relikt aus Lilis heteronormativer Kleinstadt-Kindheit. Ich sehe sogar so aus: Mein Cardigan ist fast so lang wie mein Rock, und mein sandbraunes Haar habe ich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und mit Haarklemmen an den Seiten festgesteckt. Selbst meine Handtasche lässt mich ein bisschen zu sehr wie eine Kleinstadt-Streberin wirken: eine Mini-Umhängetasche aus braunem Kunstleder.
Vielleicht wäre alles leichter, wenn ich aussehen würde wie Gretchen: mit zuckerwatterosafarbenen Haaren und einer Garderobe, die glatt vom Euphoria-Set stammen könnte.
»Mal ehrlich, geht's dir gut?«, fragt Lili. »Du bist schrecklich still.«
Ich blinzele. »Oh! Sor–«
»Entschuldige dich nicht. Ich meine ja nur. Und wir sind da!« Sie zeigt auf ein Trio aus Backsteingebäuden, die um eine kleine Rasenfläche angeordnet sind. »Das in der Mitte ist Rosewood – da wohnen wir. Aber in allen drei Häusern leben größtenteils Freshmen.«
Ich halte einen Moment inne, um alles zu betrachten. Die drei Gebäude sind sehr verschieden, aber ergänzen sich und werden von einem Netz aus Pfaden miteinander verbunden. Wo man nur hinsieht, sitzen Studierende auf Bänken, auf Decken, laufen in Zweier-, Dreier- oder Sechsergruppen mit Messenger-Bags und Rucksäcken herum. Und absolut niemand hier sieht nach Freshmen aus. Sie alle wirken Jahre älter als ich.
»Komm, wir laden dein Gepäck drinnen ab«, sagt Lili. »Hast du Hunger? Wann willst du was essen?«
»Dann, wenn du –«
»Immy, nein. Richte dich nicht immer nach anderen.«
»Tue ich nicht!«
»Doch!«
»Tja, aber nicht mit Absicht!«
»Ja, ich weiß.« Sie lacht kurz, bevor sie betont ausatmet. »Tut mir leid.«
»Nein, mir tut es –«
»Oder auch nicht! Lassen wir das. Es tut uns nicht leid. Wir sind reuelos. Verstanden?« Sie umarmt mich von der Seite.
Ich grinse. »Verstanden.«
⃰
Wir haben kaum zwei Schritte in das Wohnheim gesetzt, als ein Typ sich von hinten an Lili anschleicht und ihr die Hände auf die Augen legt. »Wer bin ich?!«
Sie weiß sofort Bescheid. »Declan, das ist –«
»Imogen!« Er küsst mich auf die Wange. »Endlich.«
Sein strahlendes Lächeln offenbart eine kleine Lücke zwischen seinen Schneidezähnen, und für einen Moment bin ich sprachlos. Natürlich kenne ich ihn von Lilis Fotos – dieses Laufstegmodel. Er ist weiß, hat eisblondes Haar und ein kantiges Gesicht. Ihm persönlich zu begegnen fühlt sich wirklich an, als würde man einen Promi treffen.
Wenn man mal davon absieht, dass er mich ebenfalls erkennt. Keine Ahnung, warum mir nie in den Sinn gekommen ist, dass ich für Lilis Freunde genauso existiere wie sie für mich.
Declan schnappt sich meinen Koffer und winkt mein überraschtes »Danke« ab. »Babe, wir warten schon ewig. Wir haben schon so viel von dir gehört.«
Ich werfe Lili einen Seitenblick zu. »Ach ja?«
»Ich habe eine Menge Mist erzählt«, sagt sie. »Die hassen dich total.«
»Nicht mal annähernd.« Er dreht sich zu mir und senkt die Stimme: »Keine Angst, ich stelle immer auf Durchzug, wenn sie anfängt –«
Lili verpasst ihm einen spielerischen Stoß. »Hey, was ist fürs Abendessen geplant?«
»Lustig, dass du fragst! Wir wollten gerade zum Winterfield. Bevor ›der Laden aus allen Nähten platzt‹, wie die jungen Leute sagen.«
»Ach, diese jungen Leute. Was für eine wahnsinnig moderne Ausdrucksweise.«
Declan lacht und öffnet den Mund, um etwas zu entgegnen, wird allerdings von zwei Neuankömmlingen unterbrochen: Mika und Kayla. Und wieder überkommt mich dieses nervenaufreibende Déjà-vu.
Mika erkenne ich natürlich von TikTok. Dey hat japanische Wurzeln, ist nichtbinär und stylt sich in einer ganz eigenen Mischung aus maskulin und feminin: Make-up in zartem Glam-Look, Haarspangen, Boyfriend-Jeans und ein Hemd mit Vogelprint. Ich glaube, Lili hat erwähnt, dass dey aus einer Vorstadt von Minneapolis kommt. Es erscheint mir immer noch seltsam, dass jemand, der in Minnesota lebt, Upstate New York überhaupt auf dem Schirm hat. Dass Kayla hier ist, macht schon etwas mehr Sinn, schließlich kommt sie aus Albany. Sie ist groß und schlaksig, hat schwarze Haut, markante Wangenknochen und Sisterlocks, die zu einem Dutt hochgesteckt sind. Ich weiß, dass sie auf Animes steht, und Lili hat erzählt, dass sie früher Cosplay gemacht hat. Als sie mich sieht, keucht sie gespielt übertrieben auf. »Ist das die Imogen?«
»Ja. Hi! Kayla, richtig?« Meine Hand zuckt, da ich nicht weiß, ob ich sie ihr hinhalten soll oder nicht. Ist hier eine Umarmung angemessen? Soll ich es wie Declan eben machen und ihr einen Wangenkuss geben?
Mika klemmt sich eine Haarsträhne hinters Ohr und lächelt. »Fühlt sich an, als würden wir uns schon kennen.«
»Du kommst im Herbst auch her, oder?«, fragt Kayla. »Also, offiziell?«
»Jepp! Ja, ich freue mich schon«, sage ich und nicke sehr schnell, größtenteils, um von dem abzulenken, was Edith mein Resting Bunny Face nennt: große Augen, weiche Züge, immer in Alarmbereitschaft. Ich glaube, es ist nicht mehr so schlimm wie früher. Mittlerweile verfalle ich nur in diesen Modus, wenn ich jemand Neues kennenlerne. Ich spüre es immer sofort, weil es sich anfühlt, als wäre die Verbindung zwischen meinem Mund und meinem Gehirn gekappt. Es passiert auch, wenn ich gerade mitten im Redefluss bin. Das ist besonders lustig.
Aber mal im Ernst, das habe ich von meinem Dad. Er war immer schon schüchtern, wie ich auch. Meine Mom erzählt gern, wie sie jahrelang gedacht hat, Dad wäre ein Riesen-Filmfan, da er in ihrer Kennenlernphase ständig mit ihr ins Kino gefahren ist. Aber eigentlich hat er das getan, damit er nicht reden musste. Und dann hat Mom ihm zu Weihnachten einen Vintage-Popcorneimer geschenkt, also musste er die folgenden Jahre so tun, als würde er Filme lieben, weil er ihre Gefühle nicht verletzen wollte. Also praktisch reine Imogen-Energie.
Aber Dad versteckt es besser als ich. Oder er ist besser darin, im Keller zu verschwinden, wenn es sein muss. Trotzdem erkenne ich es sofort, wenn sein Gehirn offline geht. Das merkt man an den Pausen beim Sprechen.
»Das wird bestimmt der Wahnsinn«, fügt mein Mund hinzu. »Ich weiß ja, wie sehr es Lili hier gefällt.«
Kurz spiele ich das Ganze noch einmal in Gedanken ab. Okay, gut. Ich klinge größtenteils normal. Wahnsinn. Lili gefällt es. Nur ein paar grundlegende Imogenismen.
»Okay, das finde ich gut«, sagt Kayla. »Die Reife. Die gefällt mir.«
Lili reibt sich die Stirn. »Ha. Okay, also ... Ich will euch nicht aufhalten. Wir müssen noch kurz diesen Koffer abladen, aber wir können uns beim Abendessen treffen. Kommt Tessa auch?«
»Hab noch nichts von ihr gehört. Wahrscheinlich ist sie noch bei den Machos«, sagt Declan.
»Ich schau mal bei ihr rein, nur für den Fall.« Lili dreht sich zu mir. »Ihr Zimmer ist genau neben unserem. Genau genommen teilst du dir eine Wand mit ihr.«
So wie Lili das sagt, könnte man meinen, ich ziehe direkt ein.
Das Seltsame daran ist, dass sie damit nicht ganz unrecht hat.
Chat mit Gretchen
IS: Aww, danke
IS: Aber alles bestens, wirklich
IS: Alle sind super nett!!
IS: Gretch, es ist so schön hier
GP: Super!!! Bin gerade zurück
GP: Warte
GP: Hast du Mika getroffen
IS: Ja
GP: gsfdgjhsjfj;lk;k';
GP: Sag demm Hallo von mir
GP: WARTE
GP: Doch nicht
GP: Sei locker
IS: Ich versuch's, haha
IS: Ich glaube, wir essen gleich zusammen
GP: NICHT WAHR
GP: IMOGEN, DU HÄNGST MIT MIKA HIYASHI AB
GP: Okay, okay. Wir sind cool, voll entspannt
GP: Ich meine, wie ist dey so?!!! Erzähl mir ALLES
Die Gänge in Lilis Wohnheim sind schmal, mit weißen Betonwänden, engmaschigen grauen Teppichen und den gleichen rechteckigen Neonröhren wie in unserer Schule. Aber es gibt auch heimelige Akzente – das Wort Hallo in Blockbuchstaben aus Washi-Tape, Veranstaltungsflyer und ein riesiges weißes Blatt Papier, das in der Nähe des Badezimmers hängt und zur Hälfte mit Kritzeleien und handgeschriebenen Zitaten bedeckt ist. Mir fällt sofort eins auf, das von Lili stammt, mit lilafarbenem Filzstift und in der Handschrift von jemand anderem geschrieben:
Sein oder nicht sein; das ist hier das Brusthaar.
Ich würde es nicht als Schlag in die Magengrube bezeichnen – eher als winzigen scharfen Stich unter meinem Rippenbogen. So treffen mich die Insider anderer Leute immer, aber ich kann das Gefühl nie richtig beschreiben. Eine Variante der Einsamkeit vielleicht.
»Okay, wappne dich«, sagt Lili, als sie ihren Zimmerschlüssel herausholt. »Mein Zimmer ist quasi ein Wandschrank.«
An ihrer Tür hängt eine weiße abwischbare Tafel mit einer Zeichnung von zwei Katzen im Chibi-Stil, deren Schwänze zu einem Herz verschlungen sind. Darüber kleben zwei wolkenförmige Schilder aus Bastelpapier, wie ich sie an den meisten Türen gesehen habe, an denen wir vorbeigekommen sind.
WILLKOMMEN, EMILIA
WILLKOMMEN, SYDNEY
Als Lili die Tür öffnet, lache ich los. »Mit Wandschrank meintest du Kylie Jenners Schrank.«
»Okay, es ist klein für ein Doppelzimmer!«
»Wie oft schläft Sidney hier noch mal?«
Sie verzieht das Gesicht und stellt meinen Koffer neben einem der Betten ab. Davon gibt es zwei, und sie stehen direkt an den Wänden, beide sind mit Steppdecken und Laken bezogen, die ich von zu Hause kenne – von Lilis Zuhause. Ihr Lieblingseinhorn Puppy mit der Regenbogenmähne liegt unter der Decke des einen Betts.
Ich würde sagen, hier drin ist es ein wenig eng – weniger, weil das Zimmer selbst klein ist, sondern eher, weil die Möbel paarweise aufgestellt sind. Zwei Schreibtische, zwei Kommoden, zwei Kleiderschränke, zwei kurze Holzregale. Aber alles ist so von Lilis vertrauter Unordnung eingenommen, dass ich mich sofort wie zu Hause fühle. Auf einer der Kommoden liegt eine Ansammlung von Pop-Tarts und Müsliriegeln zwischen Keramikpferdefiguren und monatealten Geburtstagskarten. Ihr Bücherregal ist das reinste Chaos: Homer, Virgil, Euripides und Aristophanes neben Madeline Miller, Roxane Gay und den Memoiren einer ehemaligen Bachelor-Teilnehmerin. Und natürlich hat Lili ihre gesamte Postkartensammlung in zufälliger Anordnung an die Wände geklebt. Die Niagarafälle neben dem Cover der ersten Ausgabe von Check, Please! Und »Tracy Mitrano for Congress« neben »Bem-vindo a São Paulo«.
Über den Betten hängen allerdings nur Fotos – in Reihen angeordnet, die sich zur einen Seite leicht nach unten neigen, da Lili in ihrem Leben noch nie eine gerade Linie hinbekommen hat. Die Fotos über meinem Bett sind größtenteils aus diesem Jahr – Gruppen-Selfies und sonnige Schnappschüsse von ihren Freunden. Die Bilder über Lilis Bett zeigen hingegen unser Zuhause.
Ich durchquere das Zimmer, um sie mir näher anzusehen, und lächele über die Zusammenstellung: die Scheune meiner Familie bei Sonnenuntergang, die Hauptstraße von Penn Yan, ein doppelter Regenbogen über dem Keuka Lake. Eine Kleinstadt im Staat New York in winzigen Zehn-mal-fünfzehn-Fotoabzügen festgehalten. Und dazwischen: Familienporträts, Bilder aus unserer Kindheit. Natürlich gibt es mindestens ein Dutzend Aufnahmen von Mel, inklusive der von meinem zehnten Geburtstag, auf der Lili als Mel verkleidet ist. Darauf stehe ich als meine Katze Quincy verkleidet neben ihr, und wir tragen beide leuchtende Halsketten und halten unsere Kissenbezüge hoch, die vor Halloween-Süßigkeiten überquellen. Es gibt ein Foto von Lili und Otávio, sieben und fünf Jahre alt, freudestrahlend in weißen Fußballtrikots der Corinthians – und daneben, fast ein Jahrzehnt später aufgenommen, ein Bild von der weinenden Lili, wie sie sich ein Buch von Casey McQuiston signieren lässt. Sie hat sogar das Foto aufgehängt, das ihre Mutter vor zwei Jahren unbedingt machen wollte, als wir im Sommer bei Seneca Farms Eis verkauft haben. Da war Lili auf dem Höhepunkt ihrer launischen Schwarzer-Eyeliner-Phase und funkelt wütend über den Tresen hinweg in die Kamera. Pflichtbewusst stehe ich neben ihr, mit einem Eislöffel und einem »Wie kann ich Ihnen helfen?«-Lächeln.
Aber mein Lieblingsbild ist das von uns bei der Pride-Parade im letzten Sommer, eine Woche nachdem Lili sich geoutet hat. Sie ist in eine rosa-gelb-türkis gestreifte Flagge gehüllt, und ich lehne mich an sie, den Ellenbogen auf ihre Schulter gestützt. Edith hat das Foto gemacht, und sie muss kurz vorher etwas Lustiges gesagt haben, denn wir lachen beide lauthals darauf.
»Hier gefällt es mir sehr«, sage ich, während ich mich auf Lilis Bett setze.
»Ha, danke.« Sie lässt sich neben mich plumpsen. Dann starrt sie einen Moment lang stur geradeaus, ohne etwas zu sagen. »Okay, wir müssen reden«, meint sie schließlich.
Mein Herz macht einen Hüpfer. »Oh ...«
»Es ist nichts Schlimmes! Ich meine, also, nichts Katastrophales? Keine Ahnung.« Langsam nicke ich, und sie sieht mich an. »Also. Meine Freunde –«
»Sind toll! Im Ernst. Sie sind so nett.«
»Ja, doch, definitiv, aber das ...« Sie verstummt und nimmt ihre dunklen Haare im Nacken zusammen, bevor sie sie hochdreht und wieder fallen lässt. »Ich weiß, das eben war ein bisschen seltsam – nicht wegen dir«, fügt sie hinzu. »Imogen, nein. Wenn du dich jetzt entschuldigst, bringe ich dich wirklich um.«
Schnell presse ich mir eine Hand auf den Mund, und Lili lacht.
Dann seufzt sie. »Also, Folgendes: Meine Freunde hier sind so queer.«
»Du doch auch.« Kurz halte ich inne und runzele die Stirn. »Oh Gott ... denken sie ... Ich will nicht, dass sich jemand nicht sicher fühlt, oder ...«
»Immy, nein, komm schon. Niemand hält dich für queerphob.« Lächelnd schüttelt sie den Kopf. »Und ja, ich bin queer. Ich gehöre dazu. Definitiv. Ich schätze, es ist einfach so, wie sie ... Weiß auch nicht. Sie wissen, wer sie sind, verstehst du?«
»Okay ...«
»Kayla zum Beispiel?«, fügt sie hinzu. »Sie hat sich schon in der Mittelschule geoutet. Ist in der achten Klasse mit einem Mädchen zum Schulball gegangen und hat sie auf der Tanzfläche geküsst. Mitten in der Sporthalle.«
»Wow, cool!«, erwidere ich und verziehe das Gesicht, schon bevor die Worte überhaupt meine Lippen verlassen haben. Meine Stimme klingt immer höher, wenn andere Leute darüber sprechen, dass Mädchen sich küssen. Was überhaupt keinen Sinn ergibt, da ich 24/7 von queeren Menschen umgeben bin. Manchmal findet Gretchen das nervig. Aber manchmal sagt sie, es sei süß und dass ich die Unschuld vom Lande mit einer Mommys-erster-Tag-bei-PFLAG-Ausstrahlung bin. Das macht mich allerdings nur noch befangener.
Vielleicht ist diese Verlegenheit so ein Kleinstadt-Ding, das man erst mal abschütteln und verlernen muss. Abgesehen von den Treffen der Pride Alliance ist Penn Yan nicht gerade ein Paradies für queere Menschen. Zwei Mädchen, die sich auf der Tanzfläche in der Sporthalle meiner Mittelschule küssen, kann ich mir nicht einmal vorstellen. Das Bild will nicht in meinen Kopf. Ich weiß, dass in meiner Stufe damals ein oder zwei gleichgeschlechtliche Paare waren, aber es war eher eine verschwiegenere Sache. Kein Geheimnis, aber eben auch nicht sehr auffällig.
Und alle in der Pride Alliance reden davon, wie schwer es ist, jemanden aus unserer Schule zu daten. Gretchen sagt, das liege daran, dass sich in Penn Yan alle kennen. Man kann schlecht die Hand eines Mädchens in der Mensa halten, wenn deine Lehrer mit deinen homophoben Eltern befreundet sind. Nur theoretisch natürlich, denn Mama Patterson ist nicht homophob, auch meine und Lilis Eltern nicht. Aber irgendwie hat es die Homophobie wohl trotzdem in die Atmosphäre geschafft. Denn selbst Edith, die quasi immer schon geoutet war, hat vor Zora niemanden gedatet.
Ich wünschte wirklich, ich könnte lockerer mit solchen Dingen umgehen.
»Und das ist nur Kayla«, sagt Lili. »Tessa und Mika hatten beide Freundinnen auf der Highschool. Eigentlich schon in der Mittelschule. Und Mika war sogar fünf Jahre mit deren Ex zusammen. Und Dec kommt aus Manhattan, also wer weiß? Er ist noch mal eine ganz andere Nummer. Da ist es schwer, sich nicht unzulänglich zu fühlen, weißt du?«
»Weil du noch nie jemanden gedatet hast?«
Früher haben wir beide oft Scherze darüber gemacht. Wir gehörten dem Für-immer-Single-Club an. Keine festen Freunde. Keine Flirts. Nur zwei ewig alleinstehende Besties, die mehr Zeit mit Tieren als mit Jungs verbringen.
Dabei ist es ja nicht so, als hätte ich keinen Freund gewollt. Denn das wollte ich. Das will ich. Ich verliebe mich ständig. Nur spreche ich nicht darüber. Nicht mal mit Gretchen und Lili so richtig. Schwärmereien waren für mich immer schon etwas sehr Persönliches. Ich weiß, dass das seltsam ist. Es fühlt sich definitiv einsam an. Aber ich glaube nicht, dass ich mir als Single jemals unzulänglich vorgekommen bin.
»Das ist es nicht.« Lili runzelt die Stirn. »Nicht direkt. Manchmal fühle ich mich nur wie ein Baby in Sachen Queerness. Ich war erst drei Monate lang geoutet, als ich hergekommen bin.«
»Dafür sollte dich niemand verurteilen.«
»Tun sie auch nicht.« Sie hält kurz inne. »Ich habe ihnen erzählt, dass ich mich in der Highschool geoutet hätte.«
Damit fühle ich mich gerade total überfordert. »Interessiert es Leute echt, wann du dein Coming-out hattest?«
»Also, meine Freunde nicht.« Lili bedeckt ihr Gesicht mit beiden Händen. »Keine Ahnung, das war einfach dumm von mir, und ... okay.« Dann stößt sie eine Art kurzes gedämpftes Stöhnen aus, bevor sie die Hände sinken lässt. »Ich muss dir was erzählen.«
Plötzlich ist es wieder Sommer – dieser Sonntagabend im Juni. Lili hat sich irgendwie überreden lassen, zu der Abschlussparty von dieser Brianna zu gehen, was genauso langweilig war, wie wir erwartet hatten. Also sind wir schon früh wieder gegangen. Lili hat mich nach Hause gefahren. Ich weiß noch, dass es geregnet hat, ganz wenig nur, und dass ich irgendwie von den Tropfen hypnotisiert war, die an dem Beifahrerfenster heruntergeflossen sind. Und dann hat sie bei einer Ampel auf der Main Street gehalten und plötzlich meinen Namen gesagt.
»Also, ich denke ... wahrscheinlich bin ich pan. Also pansexuell.«
Dabei hat sie stur geradeaus gestarrt und ist sofort weitergefahren, als es grün wurde. Aber sie hat sich auf die Lippe gebissen, genau wie jetzt, und ich frage mich fast ...
»Ähm.« Sie lacht nervös, und ich werde zurück ins Hier und Jetzt geworfen. In Lilis Zimmer. Sie muss mir etwas erzählen. »Versprich mir, dass du mich nicht hassen wirst.«
Ich lache. »Nein, ich werde dich nicht hassen, versprochen.«
»Äh. Vielleicht doch.« Sie blinzelt, presst die Lippen aufeinander und redet dann sehr schnell weiter: »Okay, es war Einführungswoche. Alle haben in meinem Zimmer abgehangen, und irgendwie ist das Thema Dating aufgekommen. Ich saß also hier, habe einfach nichts dazu beigetragen und bin mir wie eine Hochstaplerin vorgekommen ...«
»Bist du ni–«
»Ich weiß! Ich weiß, es ist lächerlich. Keine Ahnung, was da in meinem Kopf vor sich gegangen ist, aber ich wollte mich einfach mehr ... dazugehörig fühlen, schätze ich. Also meinte ich: ›Ja, absolut, ich hatte definitiv eine Freundin.‹ Nur, Immy, ich war nicht überzeugend. Überhaupt nicht.«
»Du musst niemanden überzeugen! Du gehörst total dazu.«
»Ich habe mich absolut bescheuert verhalten, weißt du noch? Also kam die Panik in mir hoch, weil sie mich definitiv durchschauen würden, und ich dachte mir: ›Cool, cool. Alle werden mich für ein Hetero-Mädchen halten, das nur so tut.‹«
»Du ... Haben sie das?«
»Überhaupt nicht! Sie haben es nicht mal hinterfragt! Sie meinten nur: ›Oh, schön, wie habt ihr euch kennengelernt?‹ Was mich natürlich ins Schwitzen gebracht hat. Gut gemacht, Emilia, viel Spaß dabei, dir spontan eine falsche Ex-Freundin auszudenken.« Kurz schließt sie die Augen. »Aber dann meinte Tessa – sie saß genau da, wo du jetzt sitzt, und meinte plötzlich: ›Oh, ist sie das?‹, und hat auf dieses Foto gezeigt.« Lili dreht sich zur Seite und tippt auf eine Aufnahme.
Es ist das Bild von der Pride Parade, auf dem wir lachen.
»Oh!« Ich werde rot. »Sie dachte –«
»Genau.«
»Ich meine, das ist lustig«, sage ich.
»Ich habe es bestätigt«, fügt sie leise hinzu.
Jetzt lache ich ein bisschen. »Dass ich ... deine Freundin bin?« Die Worte fühlen sich seltsam auf meiner Zunge an, fast schon fremd.
»Ex-Freundin. Wir haben uns letzten Sommer im Guten getrennt. Es tut mir so leid. Uff. Das ist total scheiße und komisch, ich weiß.«
Ich blinzele. »Nein! Nein, es ist –«
»Es ist ... In dem Moment war es die einfachste Antwort. Aber das ist keine Entschuldigung. Ich habe es nicht richtig durchdacht. Nichts davon.« Sie stößt ein panisches Lachen aus. »Wie die Tatsache, dass meine ›Ex-Freundin Imogen‹ eine reale Person ist, die sie irgendwann treffen würden.«
Ich versuche, das in meinen Kopf zu bekommen. »Also wissen sie, wer ich bin. Nur denken sie, dass wir zusammen waren?«
Lili drückt sich beide Hände an die Wangen. »Wir sind an Neujahr zusammengekommen und haben uns im Juli getrennt, aber das war's. Du bist du, wir sind beste Freundinnen, sind zusammen aufgewachsen und so. Alles andere ist wahr. Oh, aber du bist queer. Sie denken, du bist bi.« Sie verzieht leicht das Gesicht. »Sorry.«
»Nein, das macht Sinn. Natürlich bin ich das. Wäre ich es. Wenn wir zusammen waren. Logisch.« Ich nicke schnell.
»Okay, du nimmst das Ganze zu gut auf. Immy, ich habe gelogen! Ich habe deine Identität ausgelöscht.«
»Meine Hetero-Identität? Ich glaube, das geht nicht.«
»Hör auf, mir zu Munde zu reden! Du darfst eine Meinung dazu haben.«
»Aber es ist keine große Sache.«
»Die Tatsache, dass alle meine Freunde denken, du wärst queer? Und dass wir zusammen waren? Damit hast du kein Problem?«
»Warum sollte ich?«
Lili schüttelt den Kopf. »Wieso flippst du nicht aus? Du musst dich doch fragen, ob ich insgeheim in dich verliebt bin, oder?«
»Was? Nein, Lili ... Ich habe nicht –«
»Das bin ich nicht, versprochen. Ich will nur sagen, dass du das Recht hast, dich deswegen unwohl zu fühlen. Es macht mir auch nichts aus, wenn du mich auffliegen lässt. Also, es macht mir schon was aus. Aber wenn du die Dinge klarstellen willst, können wir das tun. Das würde ich verstehen.«
Ich öffne den Mund und schließe ihn wieder, da mir immer noch ganz schwindelig ist. Irgendwie bin ich an dem Punkt hängen geblieben, dass Lili denkt, ich denke, dass sie in mich verliebt ist.
Was sie nicht ist. Und ich nicht denke.
Aber die Tatsache, dass sie denkt, ich könnte mich das fragen ... Als wäre ich diese Art Hetero, die überzeugt davon ist, alle queeren Leute in ihrer Nähe würden kaum die Hosen anbehalten können.
Zugegeben, manchmal frage ich mich schon, was queere Mädchen von mir halten. Aber das ist nur so ein gelegentlicher flüchtiger Gedanke. Definitiv keine Du-liebst-mich-Sache.
Nicht, dass ich ein Problem damit hätte, wenn ein queeres Mädchen auf mich stehen würde. Ehrlich gesagt, würde ich mich ziemlich geschmeichelt fühlen.
Ich drücke Puppy das Einhorn fest an meine Brust. »Also geht es nur darum, dass ... ich bisexuell bin? Und wir mal zusammen waren, aber jetzt Freunde sind? Und abgesehen davon –«
»Nur darum. Alles andere ist echt, versprochen. Keine falschen Dates oder Erinnerungen oder so was. Nur das, was wir wirklich gemacht haben. Wie der Eiscreme-Marathon, die Scheunenabenteuer und das eine Mal, als wir Mel und Eloise nach Watkins Glen mitgenommen haben. Davon habe ich nichts geändert. Nur denken sie wahrscheinlich, dass wir anschließend nach Hause gefahren sind und rumgemacht haben. Aber über den Teil müssen wir nicht reden«, fügt sie schnell hinzu. »Ich will wirklich nicht, dass du dich unwohl fühlst –«
Es klopft an der Tür. Lili sieht mich an.
»Ich fühle mich nicht unwohl. Echt nicht.«
»Okay, na dann. Ich schulde dir was«, murmelt sie, bevor sie »Herein!« ruft.