In all seinen Farben - George Lester - E-Book
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In all seinen Farben E-Book

George Lester

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Beschreibung

Eine außergewöhnliche LGBTQIA+ Geschichte über Selbstfindung, Mut, Freundschaft und wahre Liebe von Own-Voice-Autor George Lester

In Robin Coopers Leben läuft gerade nichts, wie es sollte: Während sich alle anderen schon aufs College vorbereiten, häufen sich bei ihm die Absagen. Für Robin bricht eine Welt zusammen, als sein großer Traum von der Schauspielschule zerplatzt und er plötzlich ohne Plan für die Zukunft dasteht. Und dann ist da auch noch die Sache mit seinem Freund Connor, der sich nicht offen zu ihm bekennt. Alles ganz schön kompliziert! Doch als ihn seine Clique an seinem 18. Geburtstag in eine Drag Show schleppt, realisiert Robin, dass das Leben manchmal ganz eigene Pläne macht ...

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Seitenzahl: 413

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Triggerwarnung

Widmung

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Danksagung

Glossar

Die Namen der Queens

Übersetzung aus dem britischen Englischvon Elisa Valérie Thieme

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der britischen Originalausgabe: »Boy Queen«

Für die Originalausgabe:

Copyright ® George Lester, 2020

First published in 2020 by Macmillan Children's Books, an imprint of Pan Macmillan

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright ® 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München unter Verwendung von Motiven von © Pranch/shutterstock.com; Levskaia Kseniia/shutterstock.com; Paladin12/shutterstock.comLektorat: Katharina Runden

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7517-0439-7

www.one-verlag.de

www.luebbe.de

TRIGGERWARNUNG

(Achtung: Spoiler!)

In all seinen Farben enthält Elemente, die triggern können.

Diese sind:

Homophobie, Mobbing, körperliche Gewalt

Für Jordan <3

Eins

Die Musik ist so laut, dass ich spüren kann, wie sie durch den Boden pulsiert. Der Rhythmus jagt durch meine Füße und durchströmt meinen gesamten Körper.

»Sollen wir's noch mal durchgehen, oder habt ihr's jetzt?«, ruft Miss Emily, die neben den Lautsprechern steht und uns den Rücken zuwendet, während sie ihre dunkle Lockenmähne zu einem Pferdeschwanz bindet. Niemand hier im Raum wird sie um einen weiteren Durchlauf bitten. Wir vergöttern sie, wir bekommen nie genug von ihr – aber wir wissen auch, wann sie weitermachen möchte.

Ich schwitze. Der ganze Kurs schwitzt. Ich schaue in den Spiegel, der ebenfalls zu schwitzen scheint, und mustere mein hellbraunes Haar, das an meiner Stirn klebt, und mein triefendes, gespenstisch blasses Gesicht. Ich sehe zum Fürchten aus. Bei den meisten Mädchen (und auch einigen der Jungen) im Kurs wirkt es eher wie ein gesundes Strahlen, doch ich zähle nicht dazu. Priya, zum Beispiel, steht in einem schweißdurchtränkten grauen Crop-Top und dazu passenden Leggings neben mir, und der kleine Tupfen Highlighter auf ihren Wangenknochen hat sich kein bisschen bewegt.

»Was glaubst du, wie weit wir kommen, bevor sie die Musik stoppt und ausflippt, Robin?«, fragt sie, löst ihren Zopf und bindet sich die Haare neu.

»Erster Refrain«, antworte ich.

Sie schnaubt. »Wir schaffen doch noch nicht mal die erste Strophe.«

»Ach komm, ein bisschen mehr darfst du uns schon zutrauen.«

»Bis wohin kannst du es?«, fragt sie.

»Ich kann das komplette Ding«, gebe ich zurück.

Priya zieht eine perfekt nachgemalte Augenbraue hoch.

»Bis zum Ende des ersten Refrains.«

»Ich auch.« Sie lacht.

»Erste und zweite Reihe tauschen!«, ruft Miss Emily, als die Musik wieder einsetzt. Wir haben etwa sechzehn Takte, bevor hier ein heilloses Chaos losbricht, und im Spiegel sehe ich, dass meine selbstbewusste Maske verrutscht und die Panik in meinen Augen entblößt ist. Priya stolziert nach vorn und wirft sich so gekonnt in Pose, dass ich schwören könnte, der Raum würde buchstäblich im Glanz ihrer Fabelhaftigkeit erstrahlen.

Sie hat etwas mehr auf den Hüften als die restlichen Mädchen in unserem Jazzdance-Kurs. Ganz zu Beginn haben die anderen versucht, sie deswegen runterzumachen, aber nachdem sie Priya tanzen gesehen haben, hatte sich das Thema erledigt. Was hätten sie auch sagen sollen? Priya könnte sie jederzeit in Grund und Boden tanzen, macht aber kein großes Ding daraus. Sie lässt ihr Können für sich sprechen und weiß ganz einfach, was sie draufhat. Jeden Tag versuche ich, ein bisschen mehr zu sein wie Priya. Das hat mir beim Vortanzen definitiv geholfen.

»Kommst du, oder machst du dir ins Höschen?«, ruft sie jetzt und beäugt mich im Spiegel.

Ich eile nach vorn, genau als Miss Emily in die Hände klatscht und ruft: »Fünf, sechs, sieben, acht!«

Und wir legen los.

Es fühlt sich an, als könnte ich beim Tanzen die Musik um mich herum sehen, wie sie durch die Luft flirrt, bei jedem Schritt vor meinen Augen funkelt und metallisch glitzernd erscheint. Der Rhythmus verändert sich, und wir alle verwandeln uns mit der Musik, so als ob sie uns kontrollieren würde oder wir sie. Das damit einhergehende Gefühl ist mit nichts zu vergleichen. Genau so ein High erlebe ich, wenn ich singe, wenn ich tanze – jedes Mal, wenn ich in irgendeiner Form auftrete. Im einen Moment würde ich mir vor Aufregung lieber eine Hand abhacken, als auf die Bühne zu gehen, und im nächsten drehe ich voll auf. Wenn man sich einmal vorwagt, wird man mit schierer Freude belohnt. Ich schwöre: Es ist wie Fliegen.

Nun ja, bis Emily die Musik abstellt.

»Einmal noch vom Anfang!«

Wir wissen, dass das eine gemeine Lüge ist – es wird nicht bei einem Mal bleiben. Wir sind müde, wir schwitzen, und doch gibt es kein Gesicht im Raum, das nicht zu einem breiten Grinsen verzogen ist.

***

»Hab ich's nicht gesagt?«, fragt Priya, als wir das Tanzstudio eine halbe Stunde später verlassen. Unsere Gesichter glänzen, die kühle Luft im Flur ist eine angenehme Abwechslung zur hohen Luftfeuchtigkeit im Trainingsraum.

Jetzt sieht selbst Priya so aus, als hätte sie heute Abend ordentlich geschwitzt – also ist sie doch ein Mensch aus Fleisch und Blut. Gott sei Dank.

»Ja, ja, du hattest recht«, antworte ich.

»Und du konntest es nicht bis zum Ende des ersten Refrains ...«

»Doch, solange ich Leute in der Reihe vor mir hatte, ging es«, unterbreche ich sie.

»Der ultimative Test«, meint Priya. »Solange das bei den LAPA-Aufnahmeprüfungen nicht so gelaufen ist, ist alles okay.« Sie wirft mir einen erwartungsvollen Blick zu, so als würde ich ihr wichtige Neuigkeiten vorenthalten.

»Die haben sich noch nicht gemeldet«, erkläre ich. »Glaub mir, hätte ich was gehört, würde ich mir vor Freude die Lunge aus dem Hals kreischen.«

»Wird schon alles okay sein«, sagt sie noch einmal. »Dan und Tyler spielen bei Weitem nicht in deiner Liga.«

»Aber ich trete ja nicht nur gegen die beiden an, oder?«, frage ich. »Jeder andere aus dem ganzen Land ist dabei, der ...«

»Nicht schon wieder«, stöhnt Priya. »Lass uns das abkürzen. Du regst dich wieder tierisch darüber auf, dass du nicht aufgenommen wirst, ich erinnere dich daran, wie gut du bist und dass es nur einen einzigen Robin Cooper auf diesem verdammten Planeten gibt und dass du einfach fa-bel-haft bist.«

Ich kann mein Grinsen nicht unterdrücken. Im September steckt so viel Potenzial, dass ich es kaum aushalte. Aber bis ich ein Ja (oder Nein) von der LAPA (der London Academy of Performing Arts) bekomme, weiß ich nicht, was die Zukunft für mich bereithält, und das macht mich langsam verrückt. Priya ist das klar – daher weiß sie auch, was sie sagen muss.

»Warum hast du dich eigentlich nicht beworben?«

»Weil ich das zum Spaß mache«, sagt sie achselzuckend. »Es ist ein Hobby, in dem ich zufällig ganz gut bin. Wenn ich versuche, das zu Geld zu machen, macht es vielleicht keinen Bock mehr, und das möchte ich nicht riskieren.«

»Bei mir war das nicht so.«

»Und genau deshalb, Darling, wirst du eines Tages ein großer Star, und ich hefte mich bei deinem Aufstieg nach ganz oben eng an deine Fersen, sodass ich einen Schauspieler heiraten und ihn durch meinen eigenen beruflichen Erfolg einschüchtern kann.«

»Ein deutlich nobleres Ansinnen.«

»Diese Theatertypen müssen manchmal auf den Boden zurückgeholt werden, die heben sonst ab«, sagt Priya und zwinkert. Sie zieht ihr Handy aus dem BH, und ihre Augen weiten sich ein wenig, als sie ihre Nachrichten abruft. »Mum ist schon draußen, sehen wir uns nächste Woche?«

»Klar.«

»Und wenn du irgendwas hörst, vergiss ja nicht ...«

»Ich melde mich«, verspreche ich. Sie zieht mich in eine Umarmung, dann verschwindet sie durch die Tür und in die Nacht. Die kühle Brise fühlt sich so angenehm auf meiner Haut an, dass ich es nicht schaffe, ein Seufzen zu unterdrücken. Je länger ich über eine mögliche Aufnahme an der Schauspielschule nachdenke, desto nervöser werde ich. Seit ich denken kann, habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht, und die Tatsache, dass mein Traum nun zum Greifen nah ist, ist kaum zu ertragen.

»Vorsicht, du Traumtänzer.« Miss Emily tritt in den Flur und zieht eine Ballettstange hinter sich her. »Könntest du eben mit anfassen?«

Ich stelle meine Wasserflasche ab und eile zu ihr. »Wohin gehen wir?«

»Studio Drei«, sagt sie.

Wir durchqueren den fliederfarbenen Flur und betreten das kleinste der vier Tanzstudios der Fox's Theatre School, wo wir die Ballettstange neben dem Spiegel abstellen.

»Und, wie war dein zweites Vorsprechen?« Miss Emily wirft mir einen strengen Blick zu. Es ist die Art von Blick, die sie auch aufsetzt, nachdem sie dich gefragt hat, was ein coupé ist, und jegliche Ballettfachbegriffe deinem Gedächtnis entfallen sind.

»War die Ballettstange nur eine List, um mich für ein Gespräch hierhin zu locken?«

Sie lehnt sich an die Stange, und ein Lächeln stiehlt sich auf ihre Lippen. »Ich dachte, das sei besser, als dich vor dem ganzen Kurs auszuquetschen. Aber wenn dir das lieber ist? Ich glaube, ein paar müssten noch da sein ...«

»Nein, nein, nein, schon gut«, sage ich schnell. »Es war in Ordnung.«

»In Ordnung?«

»Gut!«

»Gut oder in Ordnung? Das sind zwei völlig unterschiedliche Dinge, Robin. Bitte mehr Einzelheiten.« Sie lacht.

»Beim zweiten Vortanzen haben sie mich gebeten, den Song zu wechseln, was ich natürlich getan habe«, erkläre ich. »Ich hab mich für was weniger Durchgeprobtes entschieden. Und das Vortanzen war ... krass.«

»Aber du hast es geschafft?«

»Jedes Mal«, sage ich. »Sie haben es sich drei- oder viermal angesehen, und ich glaube, ich hab's hinbekommen.« Es schmerzt ein bisschen, das laut auszusprechen, weil ich dabei das Gefühl habe, das Schicksal herauszufordern, aber ich mache es trotzdem. »Ich hätte nichts anders machen können. Ich hab alles gegeben. Ich habe alle Anmerkungen aus der ersten Runde beachtet und ... Ich weiß auch nicht ...«

»Hast du schon was gehört?«

»Nein, noch nicht.« Ich seufze. »Sie haben gesagt, sie würden sich im Laufe der Woche melden, also haben sich die letzten paar Tage natürlich so angefühlt wie vierundachtzig Jahre.«

»Das wird schon werden«, meint sie. »Zerbrich dir nicht den Kopf.«

»Ich kann nicht anders«, sage ich. »Es ist zu wichtig.«

Das klingt dramatisch, entspricht aber meiner Gefühlslage. Von der LAPA hängt viel ab. Meine Aufnahmeprüfungen bei The Arts Centre und Hillview waren okay, aber nicht astrein. Beim Arts Centre habe ich mich in der Gesangsrunde total verrückt gemacht. Ich habe die Songs nicht gefühlt und konnte sie nicht so rüberbringen wie sonst. Da wurde ich nicht noch einmal eingeladen. Im Hillview war die Choreographie so irre kompliziert, dass ich sie nicht in mein erschöpftes Hirn bekommen habe. Absage. Aber bei der LAPA war es anders. Es hätte nicht besser laufen können. Die Choreo war schwer, aber ich hab sie hingekriegt. Die Gesangsrunde war krass, aber es lief gut. Zum zweiten Vorsprechen eingeladen worden zu sein, wirkt wie ein gutes Omen. Die London Academy of Performing Arts. Genau dort werde ich ab September hingehen, da bin ich mir sicher, denn sonst würde es sich nicht so richtig anfühlen. Es muss einfach klappen.

»Heute Abend warst du richtig gut«, sagt Miss Emily und scheucht mich aus dem Studio. »Wie war dein eigener Eindruck?«

»Sobald ich vorne stand, ging gar nichts mehr.«

»Deshalb habe ich dich auch in die erste Reihe geholt«, meint sie neckend, und ein Lächeln breitet sich in ihrem Gesicht aus. »Ich will es dir nicht zu einfach machen, nur wegen deiner Körpergröße kannst du dich nicht immer hinten verstecken.«

»Aber die anderen müssen doch auch was sehen!«

»Also sollen alle schön die Choreo lernen, auch wenn es zu deinem Nachteil ist?« Sie stöhnt auf. »Du musst gesehen werden, trau dich endlich nach vorn, Robin. Insbesondere wenn du ab September zur LAPA gehst.«

Wir stehen nun vor der Umkleide. Die Leute aus meinem Kurs sind verschwunden, stattdessen warten Erwachsene auf den Beginn ihrer Tanzstunde. Die Stimmung ist komplett anders.

»Miss Emily, was ist, wenn ...«

»Oh nein – diesmal nicht«, sagt sie und hält eine Hand hoch. »Wenn du wieder damit anfängst, machst du dich nur noch nervöser ... und mein nächster Kurs wartet schon.« Sie zwinkert mir zu und ruft den Leuten zu, dass sie ihr in Studio Zwei folgen sollen. Währenddessen sammle ich meine Wasserflasche ein und verschwinde in die Herrenumkleide.

Ich ziehe rasch meine Shorts und mein T-Shirt aus, schlüpfe in saubere Klamotten und werfe meine Jacke über. Dann eile ich nach draußen zu meinem Fahrrad.

Kaum habe ich mein Handy angeschaltet, klingelt es auch schon. Ich zucke zusammen und lasse es beinahe fallen.

»Hallo?«

»Du lebst! DU LEBST!«, schreit Natalie in den Hörer. »Ernsthaft, Süßer, ich versuche schon seit einer halben Stunde dich zu erreichen. Ich brauche dringend deine Englischunterlagen von heute. Mrs Finch hat ja nicht aufgehört zu labern, und ich habe das meiste nicht mitbekommen. Ich dachte, dein Tanzkurs endet um acht?«

Natalie ist meine britisch-grenadische beste Freundin und ein echter Wirbelwind. Wir kennen uns quasi schon seit immer. Ihre Mum ist Englischlehrerin, deshalb der Panikanruf, und ihr Dad arbeitet als Anwalt. Ihre Lebensziele sind genauso hochgesteckt wie meine, wobei bei ihr noch die Erwartungshaltung ihrer Eltern hinzukommt. Sie war außerdem die Erste, vor der ich mich geoutet habe, und ihre Reaktion bestand darin, mich fest zu drücken und zu sagen: »Als du an deinem dreizehnten Geburtstag einen Angela-Lansbury-Marathon machen wolltest, habe ich es irgendwie gewusst.« Kurzum: Sie ist einfach die Beste.

»Das tut er, aber ich habe mich noch mit Priya unterhalten und dann mit Miss Emily und dann ...«

»Honey«, unterbricht sie mich. »Lass mich da gleich einhaken, denn ich höre nichts als Ausreden, obwohl ich doch nur dein melodisches Stimmchen im Ohr und deine Englischnotizen im Posteingang haben möchte. Bist du schon zu Hause?«

»Nein.«

»Du bist immer noch beim Training? Warum hast du nie Zeit, wenn ich dich brauche?«

»Ich wäre schneller zu Hause, wenn meine Hand nicht am Handy kleben würde«, gebe ich zurück. »Sekunde.« Ich stöpsle meine Kopfhörer ein und schließe das Fahrradschloss auf. Erst als ich in die Pedale trete, merke ich, wie stark meine Beinmuskeln brennen. Miss Emily hat uns heute nicht geschont, das steht fest. »Okay, red weiter.«

»Ach, lass dich nicht von mir bei der Heimfahrt stören«, säuselt Natalie.

»Aber eigentlich willst du es.«

»Ich will es unbedingt«, erwidert sie, und ich höre, wie sie sich auf ihrem Bett bewegt. »Schickst du mir deine Notizen?«

»Die sind wahrscheinlich nicht so ausführlich, wie du es gerne hättest, wobei ich eh glaube, dass du mehr über Hamlet weißt als Shakespeare selbst, also ...«

»Danke«, meint Natalie. »Ohne Witz, diese Unibewerbungen sind so stressig.«

»Echt?«

»Druck von allen Seiten, Robin«, seufzt sie. »Meine Eltern kauen mir das eine Ohr ab, Mrs Finch das andere, dann hat auch mein Politiklehrer noch ein paar wichtige Anmerkungen ...«

»Wie viele Ohren hast du?«

»Darum geht's nicht!«, ruft sie. »Aber immerhin sind jetzt alle Bewerbungen raus. Ich hab mich entschieden, und niemand braucht mehr nachzuhaken.« Im Hintergrund sind Geräusche zu hören.

»Was guckst du?«

»Drag Race.«

»Welche Staffel?«

»Sechs, ist doch klar. Die beste.«

»Hast recht«, sage ich. »Wobei man auch sagen könnte, dass die vierte ... Moment, ich dachte, du bist fleißig?«

Sie stöhnt. »Ich brauche deine Notizen, Schatz!«

»Sorry, ich schick sie gleich, versprochen.«

»Gut«, entgegnet sie. »Und, hast du was von deinem Lover Boy gehört?«

»Autsch, was für ein Themenwechsel. Wie kommst du darauf?«

»Deinem Geheimen Freund«, flüstert sie theatralisch.

»Nat!«

»Hey, komm schon, einen hab ich noch«, bettelt sie.

Ich seufze. »Okay.«

»Dein süßer, kleiner ...«

»Du kannst ihn auch einfach Connor nennen, stell dir vor«, sage ich und sehe mich automatisch um, ob jemand zuhört.

Die Sache mit Connor ist kompliziert. Wir gehen auf die gleiche Schule und kennen uns schon lange vom Sehen, hatten aber jahrelang nichts weiter miteinander zu tun. Dann mussten wir im letzten Schuljahr gemeinsam nachsitzen und kamen ins Gespräch. Eins führte zum anderen, und jetzt treffen wir uns heimlich so oft wie möglich. Natalie hat seinen Namen als GF (Geheimer Freund) in mein Handy eingespeichert. Teils um seine Identität zu schützen, teils um Witze reißen zu können.

»Ach, komm schon, du weißt, wie verrückt meine Mum nach dir ist. Wenn sie irgendwas aufschnappt, will sie gleich wieder die komplette Story hören, und die ist doch dein sexy Geheimnis«, sagt sie. »Also, was gibt's Neues?«

»Seit dem Wochenende nichts«, antworte ich. »Aber ich weiß nicht, ob er geschrieben hat, weil ich ja mit dir quatsche.«

»Versuchst du, das Gespräch zu beenden?«, fragt sie.

»Ich glaube nicht, dass du das zulassen würdest, selbst wenn ich wollte«, gebe ich zurück. Natalie ist meine allerbeste Freundin im ganzen Sonnensystem, und wir erzählen einander eigentlich alles. Ab September wollen wir zusammenziehen, wenn ich an der LAPA bin und sie ihre Rechthaber- ... äh ... Jurakarriere in Angriff nimmt. »Aber in der Schule machte er einen zufriedenen Eindruck. Ein bisschen unterkühlt, aber das ist ja Teil des Spiels.«

»Ich spiele anders, Süßer«, sagt sie.

»Und wie spielst du?«

»Annäherungsversuche aller Gender ignorieren, bis ich Anwältin und atemberaubend bin«, erklärt Natalie. »Wobei bei meinem Glück bestimmt niemand mehr ein Auge auf mich wirft, sobald ich die Karriereleiter aus dem Blick lasse. So läuft das immer, oder? Alle wollen, was sie nicht haben können, und sobald es doch verfügbar ist, Bäm!, sind sie weg.«

»Wie hast du mich gerade genannt? Katy Bähm?«

»Haha, hast wohl einen Clown gefrühstückt«, witzelt Natalie. »Greg hat mich gebeten, dir auszurichten, dass er dich heute vermisst hat.«

»Was?«

»In der Mittagspause war er total brav und fleißig und hat dich im Gemeinschaftsraum verpasst. Als wir nach Hause gegangen sind, hab ich ihm von unserem Geburtstagsgespräch erzählt, und er meinte, es tut ihm leid, dass er nicht dabei war, um mit uns Pläne zu schmieden.«

»Natalie ...«

»Du musst was an deinem Geburtstag machen, Robin, ich schwöre, falls du auch nur darüber nachdenkst, stattdessen zum Training zu gehen ...«

»Wir machen was, hab ich doch beim Lunch gesagt. Ich weiß nur noch nicht, was.«

»Ob du magst oder nicht, wir gehen am Freitag aus. Ganz ehrlich, nach diesem ganzen Bewerbungsstress muss ich dringend mal runterkommen«, sagt sie. »Und du, Darling, bist der perfekte Vorwand. Glückwunsch.«

»Welch Privileg!«

»Gern geschehen«, gibt sie zurück. »Auf jeden Fall tut es Greg leid, dass er nicht dabei war.«

»Und du hast es bestimmt noch verschlimmert?«

»Kann schon sein, dass ich es ihm ein bisschen reingerieben habe«, antwortet sie, und ich höre heraus, dass sie von einem Ohr zum anderen grinst. Natalie weiß, dass sie sich das bei Greg erlauben kann. Die beiden haben schon so einiges miteinander erlebt. Früher waren sie mal ein Paar, haben dann aber festgestellt, dass sie besser nur befreundet sind. Jetzt bedeutet das, dass sie ihm bei jeder Gelegenheit eins reinwürgt und er es einfach gelassen hinnimmt ... meistens zumindest. Aber Greg ist lieb. Er ist unser weißer Quotenhetero. Jede Clique braucht einen. Er ist unserer. Und er ist besser als eurer, glaubt es mir.

»Ich knuddel ihn morgen früh«, sage ich.

»Gott segne die Heten, so einfach gestrickt«, meint Natalie. »Gibt's sonst noch was zu berichten?«

Und ich weiß, worauf sie hinauswill.

»Ich war noch gar nicht zu Hause, also keine Ahnung«, erkläre ich. »Aber Mum hätte mir bestimmt geschrieben, wenn etwas gekommen wäre, als ich in der Schule war.« Ich seufze. »Die Wartezeit geht weiter.«

»Beschwer dich ruhig, Süßer. In neun Monaten sind wir voll am Ende und beten darum, von unserem irren Arbeitspensum in London erlöst zu werden – wo wir dann nämlich statt in Essex leben, in unserer eigenen verdammten Wohnung, und es wird großartig«, verkündet Natalie. »Okay, mach's gut, du musst dich ja aufs Radfahren konzentrieren. Ich möchte nicht für das Ableben eines künftigen Superstars verantwortlich sein.«

»Wieso? Wen überfahre ich?«

»So viel Humor ist ja kaum zu ertragen«, sagt sie trocken. »Lieb dich, Queen, wir sehen uns morgen.«

»Bis morgen.«

Ich lege auf und radle weiter, wobei ich das Vibrieren in meiner Tasche ignoriere, das einen Anruf von Connor ankündigen könnte. Mein Herz klopft bei dem Gedanken schneller.

Ich fahre über alte Landstraßen in meinen Ort, die gleiche Strecke wie seit sechs Jahren, bis ich unser kleines Eckhaus sehe. Der ungepflegte Vorgarten, den Mum jeden Sommer in Schuss bringen möchte, erobert langsam den Gehweg, der efeubedeckte Zaun gleicht eher einem Schutzwall, denn einer natürlichen Grenze.

Im Haus ist es stockfinster. Mums Auto steht nicht an seinem Platz, also arbeitet sie wahrscheinlich länger als gedacht. Ich fahre ums Haus herum und schiebe mein Rad in den Garten, wo ich es an den Zaun lehne, dann gehe ich durch die Hintertür ins Haus.

»Mum?« Keine Antwort, nicht einmal ein Echo. Das Haus ist nicht groß genug für so was.

Der Anrufbeantworter blinkt, also drücke ich die Abruftaste, während ich aus den Schuhen schlüpfe und die Post auf dem Tisch durchwühle.

Immer noch nichts.

»ROBIN!« Natalies Stimme ertönt, und ich blicke auf. Warum hat sie mir eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen? »Du fragst dich vielleicht, warum ich dir eine Nachricht auf den Anrufbeantworter spreche, so als steckten wir noch im finsteren Mittelalter. Grund eins, ihr habt noch einen, was mich echt den Geschmack deiner sonst so stilbewussten Mum in Frage stellen lässt.«

Ehrlich gesagt hat Mum ihn als Gag gekauft, weil ihre eigene Mum einen hatte und sie die Vorstellung mag, dass Leute Nachrichten hinterlassen. Tatsächlich machen das aber nur wenige. Natalie zählte bisher nicht dazu. Niemals.

»Grund zwei, du schreibst nie zurück. Zur Hölle! Mach dein Handy an! Ich brauche deine Notizen! P.S. Du kannst das hier ignorieren, falls ich dich doch inzwischen erreicht habe. Du hast mit Sicherheit siebentausend Paniknachrichten von mir, sobald du dein Handy aus dem Ich-bin-beim-Training-und-für-nichts-und-niemanden-zu-erreichen-Modus holst. SCHICK MIR DEINE SCHEISS-NOTIZEN! Bis morgen.«

Ich feiere sie für ihre verrückte Art. Der AB piepst und spielt die nächste Nachricht ab.

»Mein lieber, guter Junge.« Mums Stimme ertönt. Das kann nichts Gutes heißen. »Jetzt ist es schon halb neun, und ich bin noch lange nicht durch. Mir wurden Überstunden angeboten, und ich habe zugesagt, weil ich das Geld brauchen kann. Warte nicht auf mich. Hab dich lieb. Es ist noch etwas Essen von gestern im Kühlschrank. Wenn du noch auf bist, wenn ich heimkomme, gibt's was zu hören. Geh schlafen. Hoffe, du hattest ein tolles Training. Schreib mir, wenn du gut zu Hause angekommen bist. Bitte. Am besten jetzt, damit du es nicht vergisst. Wir sehen uns morgen früh. Weißt schon, Morgenstund hat Gold im Mund!«

Ich ziehe mein Handy hervor und wische die Nachrichten beiseite, die meisten davon von Connor, damit ich Mum schnell Bescheid geben kann. So was kommt öfter vor. An manchen Tagen sehen wir uns gar nicht, weil sie arbeitet und ich beim Tanzen bin, dann bleiben nur SMS und Nachrichten auf dem AB. Aber das geht schon so lange so, dass ich mich an nichts anderes erinnern kann.

Ich habe keinen Hunger, also lasse ich die Reste dort, wo sie sind, und mache mich daran, ins Bett zu gehen – doch da fällt mir ein weiterer Stapel Post vor der Eingangstür ins Auge. Als ich ihn vom Boden aufhebe, entdecke ich inmitten von Werbeprospekten einen großen weißen Umschlag.

Scheiße.

Der muss gekommen sein, als Mum schon bei der Arbeit war.

Es ist ein großer Umschlag. Jeder sagt, dass das gute Neuigkeiten verheißt! Heilige Scheiße. Heilige verdammte Scheiße.

Ich atme tief ein und öffne ihn so vorsichtig ich kann, um das Innere ja nicht zu beschädigen. Dann, mit angehaltenem Atem, ziehe ich es heraus.

Mir rutscht das Herz in die Hose.

Schulzeugnis.

»Verdammt noch mal!«, rufe ich in die Dunkelheit, schiebe das Zeugnis in den Umschlag zurück und lege ihn auf dem Esstisch ab.

Ich schnappe ein Post-it von dem kleinen Beistelltisch, auf dem das Telefon steht.

Mein Zeugnis ist da.Wir quatschen morgen früh.Hoffentlich war es nicht zu schlimmbei der Arbeit.Reste stehen immer noch im Kühlschrank.Kuss!

Ich werfe meine Sportsachen in die Waschmaschine, gehe nach oben und lasse mich aufs Bett fallen. Dann knipse ich meine Nachttischlampe an, und ihr warmes Licht erleuchtet mein kleines Zimmer: die Kleidungsstücke auf dem Boden, die Unterlagen auf meinem Schreibtisch, ungeöffnete Schulbücher und natürlich auch mein Handy.

Ich komme meiner freundschaftlichen Verpflichtung nach und schicke Natalie Fotos von meinen Notizen, dann wische ich durch diverse Apps und lese die Nachrichten von Connor, wobei sich ein breites Grinsen auf mein Gesicht schleicht. Es ist die Art von Grinsen, für die Natalie mich aufzieht, aber sie freut sich, dass es mir so gut geht. Connor hat einfach etwas an sich, dass alles ein bisschen heller erscheinen lässt, so wie wenn Dorothy das erste Mal nach Oz kommt.

GF: Hast du heute Abend schon was vor? x

GF: Mist. Hab vergessen, dass du beim Training bist.

GF: Du fehlst mir. Das WE war super, sollten wir bald wiederholen. Ich frag mal meine Eltern, wann sie das nächste Mal weg sind, dann kannst du wieder vorbeikommen.

GF: Wenn du möchtest.

Natürlich möchte ich das. Wenn er mich jetzt bei sich haben wollte, wäre ich im Nu da. Du meine Güte ... Er hat mich echt um den kleinen Finger gewickelt.

GF: Wir sehen uns morgen, nehm ich an.

Schon sehe ich Connor vor mir, wie er oberkörperfrei in seinem Zimmer vor dem Spiegel steht. Das Licht ist perfekt, sein Körper makellos, die breiten Schultern und die muskulöse Brust, an der man sich so großartig ankuscheln kann, dass ich durchdrehen könnte. Er zieht einen leichten Schmollmund und fährt sich mit der Hand durch sein kurzes dunkles Haar. Unverschämt gutaussehender Typ.

ROBIN: Bist du noch wach?

Ich warte ein paar Sekunden auf die magischen drei Pünktchen, die mein Herz immer sofort hüpfen lassen, doch sie bleiben aus. Also scrolle ich nach oben, durch die Nachrichten der letzten Wochen, lese einzelne Worte, die meinen Puls hochschießen lassen, und lange Absätze, die ich inzwischen vermutlich Wort für Wort rezitieren könnte.

Mir ist bewusst, wie armselig das ist. Aber ich verbringe so viel Zeit damit, zu hinterfragen, ob das gerade wirklich passiert, dass ich ohne diese Nachrichten schwören würde, das alles sei meiner Fantasie entsprungen. Aber das ist es nicht. Es ist echt, und ich halte den Beweis dafür in meiner Hand.

Ich weiß, dass Connor unsere Nachrichten sofort löscht. Er muss auf eine Art auf sich aufpassen, wie ich es zum Glück nicht brauche. Natalie und Greg sind eingeweiht. Mum weiß nicht, dass ich einen Freund habe – wenn er das überhaupt ist –, aber ich glaube nicht, dass es ihr etwas ausmachen würde. Ich habe ihr vor drei Jahren gesagt, dass ich auf Jungs stehe. Aber wenn Mum über Connor Bescheid weiß, wird sie ihn treffen wollen ... und das geht nicht.

Ich will nicht zu viel darüber nachgrübeln. Ganz gleich, wie wichtig Connor mir ist oder wie wichtig ich ihm bin (und das scheine ich zu sein, es gibt Beweise) – ab September wird alles anders. Und es ist aufregend und neu, aber wir haben noch nie darüber gesprochen, wie es weitergehen soll. Ich versuche einfach unsere Treffen zu genießen, weil jedes einzelne ein Highlight für mich bedeutet.

Als ich all unsere Nachrichten durchgescrollt habe und bei seinem ersten »Hey« ankomme, das ich in Connors rauer Stimme höre, ist es weit nach Mitternacht, und mein Körper schreit nach Erholung.

Also tue ich ihm den Gefallen.

Zwei

»Robin, wenn du nicht in den nächsten zehn Minuten runterkommst, fange ich ohne dich an!«

Ich werde schlagartig wach. Mein Handy klebt an meinem Oberkörper, ich muss mit dem Gerät in der Hand eingeschlafen sein. Widerlich.

»Ich höre nichts!«, ruft Mum.

»Weil ich mich noch nicht bewegt habe.«

»Ich hab dich wirklich lieb, mein Schatz, aber ich hab kein Problem damit, dich aus der Kiste zu zerren.«

Ich springe unter die Dusche und ignoriere die Schmerzen, die jede meiner Bewegungen zu begleiten scheinen.

»Fünf Minuten!«, ruft Mum, als ich das Wasser abstelle. Sie sollte noch gar nicht wach sein. Ich habe sie gestern nicht nach Hause kommen hören, also muss sie todmüde sein.

Als ich die Küche betrete, sitzt sie schon am Tisch, hält den großen weißen Umschlag in der Hand und hat verschiedene Cornflakes und zwei Müslischalen vor sich stehen.

Ich habe keine Ahnung, wo meine Mutter ihre Energie hernimmt, denn selbst nach einer Spätschicht sieht sie putzmunter aus. Das braune Haar steht zwar leicht ab, und ihre Bluse ist etwas zerknittert, aber sie lächelt, und ihre Augen strahlen. Sie wirkt so, als hätte sie anständig durchgeschlafen. Ich hingegen sehe aus, als hätte mich gerade ein Lastwagen überfahren.

Ich schaue auf meinem Handy nach der Uhrzeit und verziehe das Gesicht. »Warum hast du mich so lange schlafen lassen?«

Sie zuckt mit den Achseln. »Du hast noch nicht einmal die Reste meiner weltberühmten Lasagne angerührt!«

Die ist nicht weltberühmt, sie ist noch nicht einmal straßenberühmt.

»Ich dachte, du bräuchtest vielleicht ein bisschen Schlaf. Wenn jemand in der Schule Ärger macht, schreibe ich dir eine Entschuldigung.«

»Ich weiß nicht, ob sie das akzeptieren würden.«

»Hör auf zu quatschen, du raubst mir kostbare Zeit meiner lustigen Morgenansprache.« Sie wirft ihr Haar aus dem Gesicht. »Du weißt, wie sehr ich die liebe.«

»Ich glaube nicht, dass es auf dieser Welt irgendjemanden gibt, der, die oder das dich davon abhalten könnte«, antworte ich und gebe ihr einen Kuss auf die Wange. »Guten Morgen, Mum.«

»Guten Morgen, Robin.«

Ich setze mich an den Tisch und fülle meine Schüssel mit der No-Name-Imitation von Cheerios, innerlich wappne ich mich für Mums Strafpredigt. Ich komme auf jeden Fall zu spät; also kann ich mich der Situation auch vollkommen ergeben. »Okay, schieß los, wie schlimm ist es?«

»Ich hab noch nicht nachgeschaut.«

»Du hast noch nicht nachgeschaut?!«

»Natürlich nicht, Robin, das ist doch Tradition! Und du hast auf das Post-it geschrieben, dass wir heute quatschen. Ich konnte nicht ohne dich gucken! Denn dann hätte ich ja einen Wissensvorsprung – und das wäre gegen die Tradition!« Ich kann ihr schon nicht mehr folgen, da seufzt sie, streicht ihre Bluse glatt und nimmt innerlich Haltung an. Eigentlich gelte ich als das Schauspieltalent in der Familie, doch hier sitzt sie und zelebriert ein Zeugnis-Ritual. Sie ist wunderbar albern, und ich habe sie einfach gern.

»Ich dachte, es wäre die Zusage«, murmle ich.

»Ach du Schreck, bist du ohnmächtig auf dem Bett zusammengebrochen wie eine Dramaqueen?«

»Mum ...«

»Hast du gen Himmel gerufen, ›Wann, oh, wann erhalte ich endlich die Zusage?‹« Sie klatscht sich das Zeugnis gegen die Stirn, und ich muss mir ein Lachen verkneifen, als sie von der Ecke des Papiers in die Wange gepikt wird. »Autsch.«

»Das Karma ist ein Miststück.«

»Und du auch«, sagt sie und zwinkert mir zu. »Mein Schatz, sie kommt schon noch, du weißt, dass sie noch kommt. Du hast das Vorsprechen gerockt –«

»Bitte sag nicht mehr ›gerockt‹.«

»Du hast sie mit offenem Mund und vollkommen sprachlos zurückgelassen«, macht sie weiter und strahlt. »Du hast es geschafft. Ich weiß, dass du es geschafft hast. Die halbe Straße weiß, dass du es geschafft hast.«

»Die halbe Straße?«

»Glaubst du ernsthaft, ich lasse mir die Chance entgehen, allen zu erzählen, dass mein Sohn groß rauskommt?«, fragt sie.

Seit meinem letzten Vorsprechen sind wir ziemlich optimistisch, und Mums Vertrauen in mich wirkt ansteckend. Natalie neidet ihr den Posten als mein größter Fan, aber an Mum kommt sie einfach nicht heran. Mum hat noch nie einen meiner Auftritte verpasst. Sie hat sich die Finger wundgearbeitet, damit ich das alles machen kann. Und jetzt warten wir darauf, dass es sich endlich auszahlt.

»Ruf mich an, falls der Brief kommt«, bitte ich sie. »Darauf bestehe ich.«

»Gleichfalls.«

»Deal.«

Sie streckt mir ihren kleinen Finger entgegen, und ich winkle meinen hinein. Die Abmachung ist besiegelt.

»Na, weiter mit der lustigen Morgenansprache?« Sie schnappt sich ihre Brille vom Küchentisch und setzt sie auf ihre Nasenspitze, so als ob sie mir eine heftige Predigt erteilen wollte. Jetzt kriege ich mein Fett weg.

Sie öffnet langsam den Umschlag. Mum wirft keinen Blick auf den Inhalt, presst ihn nur eng an die Brust und mustert mich aufmerksam. »Hier, in meinen Händen, halte ich es nun, das vorletzte Zeugnis.«

»Mum ...«

»Halbjahreszeugnis von Robin Cooper.« Sie tupft eine nichtexistente Träne aus ihrem Augenwinkel. »Ich bin so stolz auf meinen Sohn.«

Ich schnaube. »Lies es erstmal.«

Sie schaut auf das Zeugnis und beginnt mit ihrer Ansprache.

»Englisch«, verkündet sie, als würde sie auf der Bühne des Globe Theaters stehen. »›Robin hat ein gutes Sachverständnis und macht einen interessierten Eindruck, lässt sich jedoch leicht ablenken.‹« Sie sieht auf. »Autsch.«

»Krass.«

»Na danke, Mr Goldberg, mit dem flirte ich nicht mehr beim Elternabend.«

Ich verschlucke mich an meinen Cheerios. »Mum!«

»Ich lasse nichts unversucht, um dir gute Noten zu beschaffen.«

»Er kann die Abschlussnote doch gar nicht festlegen, das sind nur Tendenzen. Ich habe in ein paar Monaten noch die schriftliche Prüfung vor mir, das weißt du doch«, erkläre ich.

»Wer bewertet die, mit dem flirte ich auch.«

»Ich könnte mich auch einfach mehr anstrengen.«

»Und wo bleibt da der Spaß?«

»Du bist schrecklich.«

»Es wirkt irgendwie so, als ob du willst, dass ich für immer Single bleibe.« Sie seufzt theatralisch und blättert um. »Bei Psychologie steht das Gleiche. Schreiben die ihre Berichte zusammen und kopieren das Feedback einfach? Was meinst du?«

»Ich glaube eher, dass ich zu viel aus dem Fenster sehe und mich davonträume«, meine ich.

»Aha!«, ruft sie. »Die Gehirnwäsche wirkt, merkste? Diese fiesen kleinen Manipulierer.«

Ich muss einfach lachen. So ist Mum immer. Sie weiß, dass ich mich voll reinhänge, wenn ich nicht gerade beim Training bin, aber auch, dass Englisch und Psychologie mir letzten Endes nicht viel bedeuten. Nicht wirklich.

»Guck mal bei Theaterwissenschaft«, sage ich und gehe zur Spüle hinüber, um meine leere Schüssel hineinzustellen. Wir müssen langsam zum Ende kommen, wenn ich es heute noch zur Schule schaffen will. Ich will sie nicht drängen, aber wenn sie einmal loslegt, kann sie tagelang weitermachen.

»Auf keinen Fall«, erwidert sie. »Damit würde ich es dir viel zu einfach machen, und du wirkst seit dem Wintermusical immer noch reichlich aufgeplustert.« Mum folgt mir zur Spüle und tippt mir sanft gegen die Brust. »Schau mal, ziemlich aufgebläht.«

Panik. »Was?«

»Und er wird immer größer!«

»Mum!«

»Die Brust schwillt und schwillt, bald nimmt sie die ganze Küche ein!«

»Du bist unmöglich!«

Sie lacht und setzt sich wieder. »Okay, Theaterwissenschaft«, sagt sie und nimmt das Zeugnis wieder in die Hand. Sie setzt an, etwas zu sagen, aber hält inne und lächelt einfach.

»Was? So schlimm? Oder steht drin, dass ich bei der Performance von ›Greased Lightning‹ vom Auto gefallen bin? Das war ein dunkler Moment für mich, und ich finde es frech, wenn sie das noch einmal anbringt. Ernsthaft, das Auto war rutschig, was für ein sadistischer Bühnentechniker wachst auch ein Auto, auf das jemand drauf muss, ich hätte ...«

»Halt die Klappe, Robin«, unterbricht Mum mich und sieht zu mir auf, ihre Augen sind feucht. »Es ist hymnisch.«

»Echt?«

»Die Frau betet dich an.« Sie schüttelt den Kopf. »Wenn mir was passieren würde, würde sie dich sofort adoptieren.«

»Mum ...«

»Kein Witz, mach dir um mich keine Sorgen«, sagt sie. »Ich lass sie an mein Totenbett zitieren, setze auf mein schauspielerisches Talent und krächze ihr ins Ohr, Mrs Hepburn, falls Sie wirklich so heißen, kümmern Sie sich gut um meinen Sohn.« Sie beginnt, heftig zu husten, gibt alles für die Rolle.

»Was schreibt sie?«

Sie räuspert sich. »Kein anderer Schüler meines Unterrichts zeigt so viel Talent und Freude am Schauspiel wie Robin. Seit Beginn des zwölften Schuljahrs habe ich ihn sowohl im schulischen Rahmen als auch privat unterrichtet. Ich bin fest davon überzeugt, dass er es weit bringen wird.«

»Das steht da?«

Mum nickt. »Sie vergöttert dich!«

Mrs Hepburn – was sicherlich nicht ihr echter Name ist, das wäre zu schräg – hat schon immer hinter mir gestanden. Sie hat mir schon Broschüren für Colleges, an denen man Theater studieren kann, in die Hand gedrückt, bevor mir selbst der Gedanke kam. Sie ist mein melodramatischer Schutzengel, herabgestiegen aus dem farbenfrohsten Himmelsreich, das man sich vorstellen kann, einem Ort, an dem opulente Statement-Ketten und die Unterstützung tanzender schwuler Jungen zum Job gehören.

»Die flippt total aus, wenn du genommen wirst«, sagt Mum.

»Lass ...«

»Die wird weinen, schreien und sich den Rest ihres Lebens in dem Glanz deines Erfolgs baden.«

Ich hoffe, dass Mum recht behält. Sie muss einfach. Sie behauptet von sich, immer richtig zu liegen, warum sollte es jetzt also anders sein?

»Okay, Themenwechsel, wir müssen über Freitag sprechen«, meint sie.

»Freitag?«

»Robin! Du wirst achtzehn, du wirst ein MANN.«

»Mum!«

»Du bist einfach schon so erwachsen, das ist alles.«

»Ach, sei still.«

»Mitnichten«, sagt sie. »Du bist mein Sohn, und es ist mein gottgegebenes Recht, dich bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu blamieren.« Sie grinst. »Also, was machen wir an deinem Geburtstag?« Sie streicht über ihr Kinn. »Vielleicht sollte ich mit deinen Freunden und dir um die Häuser ziehen. Das wär doch was! Wohin geht ihr?«

Ich zucke mit den Achseln. »Steht noch nicht fest«, antworte ich. »Natalie wird mir heute Feuer unterm Hintern machen, weil ich so schlecht mit Entscheidungen bin. Und so leid es mir tut: Es ist schön mit dir, aber ich muss jetzt los.«

»Unterbrechung meiner Performance!« Sie schnalzt mit der Zunge und schüttelt den Kopf. »Nach allem, was ich für dich getan habe. Muss ich dir noch einmal die Geschichte deiner Geburt erzählen?«

»Dafür habe ich schon zahlreiche Stunden auf der Therapiecouch reserviert«, sage ich und schnappe meine Tasche. »Möchtest du nachher mit deiner Performance weitermachen?«

Sie kommt zu mir und legte ihre Hände auf meine Schultern. »Der Brief kommt«, sagt sie fest. »Er ist in diesem Moment in der Post. Die Welt wartet auf dich, Robin Cooper. Das verspreche ich dir.«

Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht.

Sie küsste mich auf die Stirn. »Ich habe für heute Abend wieder eine zusätzliche Schicht angenommen«, meint sie. »Ich weiß, dass wir zusammen essen wollten, aber ...«

»Schon gut«, unterbreche ich sie. »Ich mache mir was. Wahrscheinlich nichts Weltberühmtes, aber ...«

»Dann morgen«, beschließt sie. »Ich heb dir was für nach dem Training auf.«

»Was das wohl sein wird?«

Sie wedelt abwehrend mit der Hand. »Weiß ich nicht, bestimmt irgendetwas Weltberühmtes, ich stecke voller Talent.«

Ich rolle mit den Augen und lache. »Tschüss, Mum.«

Drei

Ich erreiche die Schule, offenkundig mit Verspätung, offenkundig aus der Puste und offenkundig überrascht, dass Natalie und Greg am Fahrradständer auf mich warten. Ihr Größenunterschied ist so krass, dass es lustig aussieht, und obwohl man denken könnte, Natalie hätte ein zartes Stimmchen, das zu ihrem zarten Körper passt, ist genau das Gegenteil der Fall. Man hört sie meist, bevor man sie sieht. Greg hingegen wirkt wie ein sanfter Riese, spricht mit leiser Stimme und ist unfassbar freundlich, während er so ziemlich alle anderen überragt. Ich bin stolze 1,80 Meter groß, aber im Vergleich zu Greg komme ich mir klein und schmächtig vor.

»Warum wartet ihr auf mich?«

Natalie zuckt mit den Achseln. »So spät ist es ja noch nicht.«

»Ihr seid ja verrückt.« Ich schließe mein Fahrrad ab und sehe zu Greg, der versucht, ein Lächeln zu unterdrücken. Ich hechte ihm entgegen und ziehe ihn fest in die Arme. »Natalie hat mir gesagt, dass du mich gestern vermisst hast.«

»Sie lügt«, brummt er in meine Schulter.

Natalie schnaubt. »Die einzigen Lügen sind die, die man sich selbst erzählt.«

»Habt ihr ernsthaft wegen einer Umarmung auf mich gewartet?«, frage ich, als Greg mich loslässt. Der Junge ist echt ein Meister im Umarmen.

»Kein Kommentar«, erwidert Greg, dreht sich um und geht los in Richtung Schule. Natalie hakt sich bei mir unter und wir folgen ihm. »Wann besprechen wir deinen Geburtstag?«, fragt Greg. »Ich muss Mum rechtzeitig Bescheid geben, damit sie einen Babysitter für Archie organisieren kann.« Archie ist Gregs jüngerer Bruder, sieht aus wie eine Mini-Version von ihm und ist superniedlich.

»Sobald Mademoiselle entschieden hat, worauf sie Lust hat.« Natalie drückt meinen Arm. »Mal im Ernst, Süßer, das ist ja wie Pudding an die Wand zu nageln. Wie schwer kann es sein, eine Entscheidung zu treffen?«

»Würdet ihr mir glauben, wenn ich sage, dass ich schon nach Locations schaue?«

»Nein«, antworten beide.

»Krass, ihr scheint ja echt Vertrauen in mich zu haben.«

»Das ist es nicht«, meint Nat. »Ich kenne dich einfach zu gut.«

Wir gehen durch die Schulkorridore, und wie jeden Tag begrüße ich die meisten Leute mit einem Lächeln. Das Wintermusical liegt noch nicht lange zurück, und das Stück wurde durch alle Jahrgänge hindurch besetzt, sodass ich zahlreiche Mitschülerinnen und Mitschüler kennengelernt habe. Wir haben drei Monate lang geprobt, und nichts schweißt die Menschen zusammen wie ein gemeinsames Trauma. Grease, musste ich feststellen, kann ziemlich traumatisierend sein.

»Hi, Robin!« Katy – die Sandy zu meinem Danny – taucht auf, den Rest des Drama Clubs dicht hinter sich. »Hast du schon etwas gehört?«

»Noch nicht«, antworte ich.

Sie zuckt mit den Schultern. Nicht nur Mum und ich gehen fest von einer Zusage aus. Auch der Drama Club und Mrs Hepburn sehen das so. Genau wie Natalie und ich, wenn wir über all die schönen Dinge reden, die wir ab September erleben werden. Das macht mich nervös. Aber auch angenehm aufgeregt. Ein bisschen wie beim ›Schrödingers Katze‹-Gedankenexperiment: ›Schrödingers Academy of Performing Arts‹.

Natalie boxt mich gegen den Arm.

»Was?«

»Ich habe noch Gossip für dich.«

»Heißen Gossip?«

»Brühendheiß, Babe«, meint sie.

»Ohne Witz, manchmal hab ich das Gefühl, ihr würdet eine eigene Sprache sprechen«, wirft Greg ein.

»Wir haben einen Neuen: Seth Harris. Gestern angefangen, zwei Stunden dagewesen, zwei!, dann ist er abgehauen.«

»Ernsthaft, er hat nur einen Kurs durchgestanden?«, fragt Greg. »Ist unsere Schule echt so schlimm?«

»Nein, aber anscheinend er«, meint Natalie. »Holly und Eric konnten in Politik über nichts anderes reden. Er ist aus dem Nichts aufgetaucht, keiner weiß, wer er überhaupt ist, woher er kommt, gar nichts.«

»Oje, der Arme«, seufzt Greg.

»Was?«, fährt Natalie ihn an.

»Wieso? Er tut mir leid.«

»Warum?«

»Das hast du doch gerade selbst gesagt: Alle reden über ihn. Er ist gerade neu dazugekommen, und plötzlich steht er voll im Mittelpunkt – kein Wunder, dass er abgehauen ist. Hätte ich auch gemacht. Oder Robin?«

»Ja, ich auch«, sage ich. Ich weiß, wie es ist, wenn andere über einen reden, hinter dem Rücken miteinander flüstern. Es ist scheiße.

»Oh mein Gott, ich erzähl euch hier den heißen Scheiß, und ihr macht eine Mitleidsnummer daraus«, stöhnt Natalie. »Echt mal, Robin, ist das nicht krass? Feinster Gossip!«

»Ist es«, gebe ich zu. »Aber, sorry, ich sehe es trotzdem wie Greg. Er tut mir leid.« Auf der Bühne das Rampenlicht zu genießen ist das eine, aber abseits davon neugierig beäugt zu werden? Nein, danke.

»Himmel, mir kommt's vor, als wärt ihr während eurer lustigen Zweierzeit in den Sommerferien zu einer Person zusammengeschmolzen.«

»Ach, komm!« Greg lacht. »Du warst einen ganzen Monat lang auf Grenada, das war bestimmt nicht spaßfrei.«

»Ich war mit meiner Familie da und habe alles verpasst!«

»Zum letzten Mal: Du hast nichts verpasst«, erkläre ich. »Im Wesentlichen haben wir nur herumgehangen und über die Hitze gejammert.«

»Und du hast dich beim Training verletzt«, sagt Natalie und versucht, ein Kichern zu unterdrücken. »Wie war noch mal dein Unfall mit der Ballettstange?«

»Ach«, erwidere ich. »Hab eine dreifache Pirouette versucht, bin falsch aufgekommen und, peng, mit dem Kopf voran draufgeknallt.«

Natalie lacht laut auf. Greg schweigt. Er schüttelt stumm den Kopf, da er weiß, wie anders die Wahrheit aussieht. Aber er hat versprochen, niemandem zu sagen, wie ich mich tatsächlich verletzt habe. Natalie scheint nichts zu bemerken.

»Dieser Sommer wird besser«, verspreche ich. »Lustige Sommerferien Teil zwei, diesmal mit Natalie.«

»Honey, ich bin nicht bloß mit dabei, sondern der Star!«

Wir treten auf den Pausenhof. Dabei entdecke ich Connor und muss automatisch lächeln.

Es fühlt sich so an, als sei mein Körper auf seine Wellenlänge geeicht, selbst wenn unsere Begegnungen in der Schule immer etwas peinlich sind. Ich könnte in einer Masse untergehen und ihn trotzdem noch finden.

Er steht bei seinen Freunden, eine Rauchwolke hüllt sie geradezu ein, als sie einen Joint herumreichen. Ich habe schon genug homophoben Bullshit erlebt und weiß, dass ich lieber nicht allzu lange hinschauen sollte, aber ich will, dass Connor mich sieht.

Guten Morgen, Freund.

Er registriert mich. Für einen winzigen Moment lächeln seine Augen mir zu, dann bitten sie mich entschieden, da zu bleiben, wo ich bin. Ich lächle in seine Richtung und gehe weiter. Man kann nicht sagen, dass es ideal ist. Es ist halt einfach so, wie es ist. Ich weiß, dass ich ihm etwas bedeute. Er kann es nur nicht laut aussprechen.

»Oh, là, là ... Soll ich euch allein lassen?«, flüstert Natalie neben mir.

»Leck mich«, kontere ich lachend.

»Was?«, fragt Greg. »Hab ich was verpasst?«

»GF«, schießt Natalie augenblicklich zurück.

»Kapier ich nicht.«

»Schockierend!«, ätzt Natalie. »Geheimer Freund.«

»Ach so«, meint Greg, und mehr trägt er nicht zu diesem Austausch bei. Greg kann Connor nicht ausstehen. Wirklich, kein bisschen. Und er hat seine Gründe.

Mein Handy vibriert in meiner Tasche.

GF: Hast du nachher Zeit?

»Hey!«, ruft Natalie. »Was schreibt er?«

Ich zeige ihr die Nachricht, und sie johlt laut auf. Greg ... sagt nichts.

ROBIN: Ja. Und sturmfrei.

GF: Dann bis später! x

Ich sehne das Schulende herbei. Dann rase ich geradezu nach Hause, damit ich noch genügend Zeit habe, mich zu duschen und umzuziehen, bevor Connor auftaucht. Außerdem kann ich so sicherstellen, dass Mum tatsächlich nicht zu Hause ist. Bestimmt gibt es irgendwo ein Paralleluniversum, in dem Connor sich geoutet hat und einfach so bei uns ein- und ausgeht, weil er und meine Mum dicke miteinander sind. Es wäre bestimmt leichter, dort zu leben.

Aber es ist nicht an mir zu entscheiden, wann jemand sich outet. Wäre mein Leben unkomplizierter, wenn er es täte? Ja. Wäre es auch für ihn leichter? Nach dem, was vorgefallen ist, denke ich eher nicht.

GF: Fast da. Sturmfrei?

ROBIN: Sturmfrei.

Ich gehe nach unten und öffne die Tür. Connor läuft eilig über den Gartenweg, er hat die Kapuze seines Hoodies über den Kopf gezogen und sieht mehrfach über seine Schulter, bevor er reinkommt. Ich habe kaum die Tür geschlossen, da ist die Kapuze schon heruntergezogen, und er küsst mich. Damit habe ich nicht gerechnet.

»Wow, nette Begrüßung«, keuche ich.

Er zuckt mit den Schultern. »Sollen wir eben schauen, ob ...«

»Sie ist nicht hier«, unterbreche ich. »Glaubst du wirklich, dass ich mit dir im Flur rummachen würde, wenn sie da wäre?«

Er zuckt noch einmal mit den Schultern und küsst mich dann stürmisch auf den Mund. Keine schlechte Antwort, finde ich.

Ich nehme seine Hand, und wir stolpern die Treppe hinauf, sind albern und kichern. Das ist der schöne Teil. Wenn wir zusammen sind, nur wir, ist die Geheimnistuerei egal. Dann zählen nur der Spaß, die Aufregung und wie sehr wir es genießen, zusammen zu sein.

Wir stürzen in mein Zimmer und aufs Bett. Connor küsst mich erneut. Ich erwidere den Kuss, unsere Zungen umtänzeln einander, seine Finger wandern über meinen Bauch und Rücken, drücken unsere Körper eng aneinander. Ab jetzt scheint jegliche Kleidung überflüssig.

Wir halten kurz inne und ringen um Atem.

Er lacht leise, sieht mit seinen dunklen Augen zu mir herab. In der Schule hängt er mit lauter Arschlöchern ab, aber wenn wir zusammen sind, ist er wie ein anderer Mensch. Ich glaube nicht, dass es auch nur einen in seiner Clique gibt, der ihn so gut kennt, wie ich. Sie haben keine Ahnung, dass er geweint hat, als wir Waitress gesehen haben. Sie haben keine Ahnung, dass er verdammt gut kuscheln kann – wirklich verdammt gut.

»Warum grinst du so?«, knurrt er.

»Wegen dir«, sage ich.

Er lehnt sich wieder zu mir nach unten, und ich atme ihn ein. Ich könnte ewig so weitermachen, aber so wie er mich überall berührt, spüre ich, dass er sich heute mehr erhofft. Und ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, bei mir wäre es anders.

Unten öffnet und schließt sich eine Tür. Connor hört sofort auf, mich zu küssen, und setzt sich auf. Mir wird schlagartig bewusst, dass wir uns in einer verfänglichen Lage befinden.

»Robin?«, ruft Mum von unten.

»Deine Mum?«, flüstert Connor über mir. Jegliche Farbe ist aus seinem Gesicht gewichen und mit ihr die Hoffnung, dass heute noch irgendetwas zwischen uns passieren wird. »Ich dachte, sie ist ...«

»Ich auch«, erwidere ich. »Ich hätte dich nicht eingeladen, wenn ...«

»Psst!«

»Lass das!«, fauche ich.

»Robin?«

»Bin oben, Mum!«

»Was soll das?«, zischt Connor.

»Ich kann sie nicht einfach ignorieren.«

Er sieht sich hektisch um und sucht nach einem anderen Ausgang als meiner Zimmertür. Ich überlege fieberhaft, was wir machen können.

»Schrank?«, schlage ich vor.

»Wie bitte?«

»Du kannst dich im Schrank verstecken, sozusagen Going-In statt Coming-Out.«

»Nicht lustig.«

»Ist auch nur halb als Scherz gemeint!«, protestiere ich. Es ist ein bisschen klischeehaft, aber er würde tatsächlich gut in den Schrank passen, zumindest bis ich Mum irgendwie abgewimmelt habe.

»Fenster?«, fragt er hoffnungsvoll.

»Hä?«

»Ich könnte aus dem Fenster klettern.«

»Stimmt, schwing dich aus dem Fenster, schnapp dir ein fliegendes Schwein und reite darauf nach Hause.«

»Sarkasmus bringt uns nicht weiter, damit verschwenden wir nur Zeit«, sagt er, aber ich sehe, dass ein Lächeln an seinen Mundwinkeln zupft. »Darf ich aus deinem Fenster klettern?« Er hält inne. »Bitte?«

Und das Bitte gibt mir den Rest. Er fürchtet sich davor, dass andere von uns erfahren, und irgendwie kann ich es verstehen. Ich kann jetzt keine Witze machen; ich muss dafür sorgen, dass er sicher aus dem Fenster kommt, ohne zu stürzen und vor meinem Haus zu sterben.