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Philipps Herz ist gebrochen, wieder einmal. Er scheint einfach kein Händchen für die Liebe zu haben – oder klappt es nur nie, weil er trans* ist? Vielleicht liegt es aber auch an Ali, dem Jungen, an den er seit Jahren immer wieder denkt. Kurzerhand beschließt Philipp, die Geschichte mit seinem mysteriösen Internet-Freund von damals endlich abzuhaken. Dazu muss er bloß herausfinden, wieso dieser plötzlich wie vom Erdboden verschwunden ist. Bei seiner Suche im sächsischen Pirna begegnet Philipp dem rebellischen Timon mit den bunten Haaren, der ihn nicht nur sofort in seinen Bann zieht, sondern außerdem eine Verbindung zu Ali zu haben scheint …
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Seitenzahl: 516
MARIUS SCHAEFERS
MARIUS SCHAEFERS
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen
Originalausgabe
2. Auflage 2023
© 2022 by LAGO Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Redaktion: Nina Krönes
Umschlaggestaltung: Karina Braun
Umschlagabbildung: Katharina Borgs
Satz: Helmut Schaffer
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-95761-215-1
ISBN E-Book (PDF) 978-3-95762-313-3
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-314-0
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.lago-verlag.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de
(Achtung: Spoiler für das gesamte Buch!)
Liebe Leser*innen,
in dieser Geschichte kommen folgende Themen vor, die triggernd sein können. Diese sind:
Transfeindlichkeit, Homofeindlichkeit (auch internalisiert)
Gewalt an queeren Menschen
Deadnaming (nicht ausgeschrieben), Misgendering, Dysphorie
Trauer, Verlust, Tod eines geliebten Menschen
Ermordung eines Menschen
Depressionen, Trauma, Erwähnung von (möglichem) Suizid
Alkoholmissbrauch, Drogenkonsum
Rassismus
Fat-Shaming
Bitte passt beim Lesen gut auf euch auf.
PROLOG
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
KAPITEL 37
KAPITEL 38
KAPITEL 39
KAPITEL 40
KAPITEL 41
KAPITEL 42
KAPITEL 43
KAPITEL 44
KAPITEL 45
EPILOG
GLOSSAR
DANKSAGUNG
SECHS JAHRE ZUVOR
Ich sitze im Zug. Immer wieder zupfe ich am Saum meines Jeansrocks, unfähig, die Aufregung im Zaum zu halten. Am liebsten würde ich aufstehen und im Abteil auf und ab laufen, um die überschüssige Energie loszuwerden. Mein Mund ist wie ausgetrocknet. Schnell greife ich nach meiner Trinkflasche. Während das Wasser meine Kehle hinunterrinnt, kreisen meine Gedanken nur um eines: Gleich, in nicht mal fünf Minuten, werde ich ihm begegnen. Zum allerersten Mal im Real Life. Ali, diesem einen Menschen, wie ich sonst keinen kenne, und der mich auf eine Weise versteht, die geradezu unheimlich ist. Endlich – nach zwei Jahren – werde ich seine ausgefallenen Ideen und Gedanken nicht mehr nur auf einem Bildschirm lesen, sondern dazu seine Stimme hören und ihn in seiner selbstbewussten, frechen Art erleben dürfen. Ich werde ihn sehen.
Ich freue mich so!
Die S-Bahn, die ich eben von Dresden aus genommen habe, drosselt ihr Tempo. Wie in Trance erhebe ich mich, schultere meine Umhängetasche und schiebe meinen Trolley auf den Gang und in Richtung Tür.
Ich kann meinen Herzschlag bis in die Zehenspitzen spüren. Passiert das hier wirklich?
Als wir in Pirna in den Bahnhof einfahren, spähe ich aus dem Fenster. Auf die Schnelle entdecke ich niemanden, auf den die Beschreibung, die mein Freund mir gegeben hat, zutreffen würde: schwarze Haare, rostrotes T-Shirt, graue Cargohose. Wir haben nie Fotos ausgetauscht, was nichts an meiner Verbindung zu ihm ändern konnte. Seine Handynummer gab Ali mir erst, als wir beschlossen, uns zu treffen. Weil er sich bislang bedeckt gehalten hat, habe ich nicht damit gerechnet, dass er meinem Besuch zustimmen würde. Als ich für den Sommer aus dem Internat nach Hause gekommen war, sich die nächsten freien Wochen vor mir erstreckten und ich meinen Mut zusammennahm, ihn danach zu fragen, sagte er überraschenderweise Ja.
Total gern!, hatte er erwidert. Passt super. Über die Ferien bin ich bei meinen Verwandten in Pirna, also sparen wir uns den Stress mit meinen Eltern. Wann wäre es dir denn am liebsten?
Selbst jetzt beginnt in Erinnerung an seine Antwort alles in mir zu kribbeln.
Der Zug hält an. Mit meinem Gepäck steige ich aus und schiebe mich durch das Getümmel, bis ich etwas abseits stehe. So sollte Ali mich leichter finden können. Ich habe ihm ebenfalls beschrieben, was ich heute trage. Mein Blick huscht über die fremden Gesichter auf der Suche nach einem Jungen in meinem Alter, der sich wie ich nach jemandem umsieht. Nach und nach lichtet sich der Trubel – bis ich die einzige Person am Bahnsteig bin.
Mir wird flau, auf eine unangenehme Art und Weise.
Ali ist nicht hier. Verspätet er sich?
Ich schaue auf mein Handy. Er hat mir nichts dergleichen geschrieben.
Hey, ich bin da. Wo bist du?, tippe ich und klicke auf Senden.
Eine Lesebestätigung kriege ich nicht.
Ich rufe ihn an. Er nimmt nicht ab.
Je länger ich warte und keine Reaktion auf meine Nachricht erhalte, desto fester wird der Knoten in meinem Bauch, bis ich mir eingestehe, dass er nicht auftauchen wird. Die Enttäuschung sickert in mich und plötzlich kämpfe ich mit den Tränen. Die Umgebung verschwimmt vor meinen Augen.
Ali wird nicht kommen.
»Autsch!« Vinita verpasst mir einen heftigen Boxhieb gegen die Schulter, so dass ich nicht nur zusammenzucke, sondern mein Smartphone vor lauter Schreck fallen lasse. Mit dieser Attacke hat sie mich überrumpelt. Ich bin schon mal in besserer Verfassung gewesen und sollte nicht zu viel von mir erwarten. Immerhin setze ich das erste Mal seit Wochen und nach der Sache mit Hannes einen Fuß vor die Tür beziehungsweise in ein Auto. Meine Auffassungsgabe und Kommunikationsfähigkeit sind mangels sozialer Interaktion in dieser Zeit etwas eingerostet.
»Was soll das?«, verlange ich von meiner besten Freundin zu erfahren.
Ich hatte geglaubt, sie wäre als Fahrerin hinreichend abgelenkt und auf die Straße fokussiert, so dass sie nicht mitbekommen würde, wenn ich mein Handy aus der Hosentasche ziehe. Das war offensichtlich eine Fehlannahme. Bevor ich mich weit genug vorbeugen und das Gerät aus dem Fußraum fischen kann, befördert ihr abruptes Bremsmanöver es in der nächsten Sekunde unter den Sitz und damit vollständig aus meiner Reichweite. Na super.
»Sorry!«, trällert Vinita und lacht dabei, was ihrer Entschuldigung jede Ernsthaftigkeit nimmt.
Ich verdrehe die Augen.
Das war garantiert Absicht! Vorsichtig richte ich mich wieder auf, wobei ich mich am Handschuhfach abstütze. Beinahe wäre ich mit dem Kopf dagegen geknallt – und habe ich jetzt versehentlich irgendwas gelöscht, gelikt oder gepostet? Das ist schon die fünfte rote Ampel, an der wir halten. Alles hat mit einer Straßensperrung begonnen, weshalb wir einen Umweg nehmen müssen. Fast als wollte mir jemand sagen, dass ich lieber im Bett hätte bleiben sollen.
Ich versuche gar nicht erst, mein Smartphone dort, wo es liegen mag, zu erreichen. Stattdessen lehne ich mich zurück und beschränke mich auf ein resigniertes Seufzen. »Solltest du dich nicht aufs Fahren konzentrieren?«, motze ich.
»Und du unseren Trip mal für eine Handypause nutzen?«, kontert Vinita.
»Wir sind immer noch in Dortmund«, wehre ich mich. Der Trip hat also noch nicht wirklich begonnen.
»Umso schlimmer!« Ihre Empörung ist nicht gespielt.
Nun sacke ich ein wenig schuldbewusst zusammen und schenke ihr und unserer Umgebung meine Aufmerksamkeit. Wir stehen nach wie vor an der Ampel. Ich sehe zu, wie eine Gruppe von Schüler*innen, eine ältere Dame und ein Postbote vor uns die Straße überqueren.
Die nächsten fünf Stunden werden wir zu zweit in dem Opel meines Vaters eingepfercht sein, von daher sollte ich mich gut mit Vinita stellen.
Das Auto hat Papa uns netterweise für unsere Reise geliehen. Im Grunde hat er es uns aufgeschwatzt, weil er so begeistert war, dass ich wieder etwas unternehme. Meinen Protest und das Plädoyer für die umweltfreundlichere Alternative der öffentlichen Verkehrsmittel wischte er mit einem »Papperlapapp!« beiseite. Da mein Vater von zu Hause aus arbeitet, braucht er das Auto sowieso kaum. Wieso meine Eltern dann überhaupt beide eins haben, ist wiederum eine andere Frage.
»Wie viele Minuten hast du durchgehalten?«, fragt Vinita vorwurfsvoll. »Wolltest du diese Dating-App nicht löschen?«
»Ich war auf Instagram.«
Das stimmt. Dass die besagte Dating-App trotzdem noch auf meinem Handy installiert ist, verschweige ich wohlweislich.
»Also hast du nicht zum hundertsten Mal euren Chatverlauf gelesen und überlegt, auf Hannes’ Bettelei zu reagieren und ihm zu verzeihen?«
Ich begegne Vinitas funkelndem Blick. Meine Ohren beginnen zu glühen. Jetzt gerade, als sie mich am Handy erwischt hat, war das zwar nicht der Fall, aber es ist schon häufiger vorgekommen.
Dass ich nach wie vor angeschlagen bin, ist nicht von der Hand zu weisen. Während sie sich wie üblich schick gemacht hat, fehlte mir die Motivation dafür, obwohl ich mich normalerweise genauso gern bei meinem Styling ins Zeug lege und unter anderen Umständen vermutlich niemals in Jogginghose rausgegangen wäre. Vinita dagegen hat sich selbst für die mehrstündige Autofahrt geschminkt und ihre langen glatten schwarzen Haare mit einem gelben Scrunchie zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden. Das Kleid, das sie über einer weißen spitzenbesetzten Leggings trägt, hat dieselbe Farbe wie das Haarband.
Als sie heute Morgen in meinem Zimmer aufgetaucht ist und mich ohne Gnade aus den Federn geschmissen hat, habe ich sie noch verflucht. Manchmal hat eine WG auch Nachteile. Wobei ich im Grunde froh darüber bin, dass sie es getan hat. Das hier ist allemal besser, als weiter die Decke anzustarren und mich in negativen Gedankenspiralen zu verlieren, obwohl ich keine Ahnung habe, wie es enden wird.
Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen beim Gedanken daran, dass ich eine so wunderbare Freundin habe, die immer für mich da ist, und manchmal besser weiß, was ich brauche als ich selbst. Wie oft hat sie in der Vergangenheit verhindert, dass ich zu spät zum Unterricht erschienen bin? Häufig. Seit wir in der fünften Klasse im Bismarck-Internat in der Eifel zu Mitbewohner*innen auserkoren worden sind, sind wir unzertrennlich. Eine Welle aus Dankbarkeit überrollt mich. Auch weil sie das Fahren übernimmt und ich Autofahren hasse.
Die Ampel springt auf Grün. Es geht weiter.
Weil ich nicht geantwortet habe, ist eine Pause entstanden. Als ich merke, wie Vinita dazu ansetzt, nachzuhaken und mich dabei mit Namen anzusprechen, halte ich unwillkürlich die Luft an.
»Philipp?«
Ich atme weiter. Sie hat sich nicht versprochen.
»Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?«
Ich schaue wieder aus dem Fenster. Endlich kommen wir etwas zügiger voran und nehmen an Fahrt auf. Turmhohe Bürogebäude, der Glasbau der Stadt- und Landesbibliothek sowie der Hauptbahnhof ziehen draußen an uns vorbei.
Selbst drei Jahre nach meinem Outing fürchte ich in solchen Momenten noch immer kurz, den Leuten, die mich am längsten kennen, könnte versehentlich mein Deadname herausrutschen. Jener von mir abgelegte alte Name, den mir meine Eltern gegeben haben, weil ich aufgrund der anatomischen Gegebenheiten, mit denen ich geboren wurde, in der Kategorie Mädchen gelandet bin.
»Ich bin nervös wegen der Reise und dem, was uns am Ziel erwarten mag.« Ich reibe mir über den unbedeckten Unterarm, auf dem sich wie zum Beweis für meine Nervosität eine Gänsehaut bildet. Wobei die laufende Klimaanlage ebenfalls ihren Teil dazu beitragen könnte. »Da hilft es ein bisschen, mich abzulenken, indem ich durch den News-Feed scrolle.«
Genau wie die Beschäftigung mit Instagram löst auch der Anblick der dichten dunklen Härchen auf meinen Armen und wie sie sich aufstellen, nun so etwas wie Frieden in mir aus und erleichtert mich zusätzlich. Es ist immer wieder schön, die Veränderung derart bildlich vor Augen geführt zu bekommen. Denn das bin ich, so sehe ich jetzt aus. Wie euphorisch mich das macht, weil das nicht immer so war, ist unglaublich. Der falsche Name, die falschen Pronomen, das Gefühl des Fremdseins in meinem eigenen Körper sind so gut wie vergangen. Schon seit einer Weile und dank der Hormonersatztherapie mit Testosteron, durch die sich mein Erscheinungsbild vermännlicht, redet mich inzwischen niemand mehr mit »Frau Neuhoefer« an.
»Okay, dann keine Entzugserscheinungen wegen Hannes, sondern wegen Insta«, resümiert Vinita. »Ich bin mir nicht sicher, ob das weniger bedenklich ist.«
Ja, Social Media ist für mich die perfekte Möglichkeit, um emotionalen Ballast abzulassen. Und das auf konstruktive Weise und zur Unterhaltung meiner Follower*innen. Seit ich begonnen habe, über meine Transition und mein Leben als trans* Mann zu bloggen, hat sich das Ganze rasant verselbstständigt. Mittlerweile rede ich dort nicht mehr nur über mich, sondern setze mich außerdem für generelle Belange und die Rechte der LGBTQIAP+ Community ein. Abgesehen von Vinita und eher kurzlebigen Chats mit meiner Lieblingsschwester und meinem Vater, ist Instagram in letzter Zeit zugegebenermaßen meine einzige Verbindung zur Außenwelt gewesen. Mag sein, dass ich Abstand von dem sozialen Netzwerk nehmen sollte. Vorübergehender digitaler Detox soll immerhin das Wohlbefinden steigern. Einen Augenblick später beschließe ich, diese Tatsache hartnäckig ignorierend, in meinem nächsten Post über das Thema Gender-Euphorie zu schreiben. Jenes Gefühl, das trans* und nicht-binäre Personen empfinden, wenn ihre Geschlechtsidentität von außen bestätigt wird. So wie ich es gerade erlebt habe.
»Ich kann mich nicht vollständig ausklinken«, erkläre ich. »Instagram ist gewissermaßen so was wie mein Nebenjob.« Dem ich zuletzt sogar den Vorzug zu meinem Studium in Kultur- und Sozialwissenschaften gegeben habe, weil mich dieses nicht richtig begeistert. Das ist Vinita selbstredend ebenso wenig entgangen.
»Und jetzt machst du Urlaub. Möglicherweise gibt es gesündere Arten, mit Liebeskummer klarzukommen, als darüber im Internet zu quatschen.«
Ich räuspere mich und bin ein bisschen beleidigt, dass sie damit auch meine Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit kleinredet. »Die Leute lieben persönliche Einblicke und wie offen und ehrlich ich immer über meine Gefühle spreche.«
Vinita schneidet eine Grimasse und ordnet sich auf Anweisung des Navis an der nächsten Ampel auf der Linksabbiegerspur ein. Diesmal werden wir nicht ausgebremst. »Pass nur auf, ja? Vergiss nicht, dass du dich damit angreifbar machst.«
Ihre Besorgnis kann ich nachvollziehen und sie rührt mich, weil es mir zeigt, wie wichtig ich ihr bin. Leider ist es mir nicht fremd, Hassnachrichten zu erhalten, aber darum geht es mir: Diskriminierung zu bekämpfen und sich den Raum dennoch zu nehmen. Mit anonymen Trollen im Netz komme ich zurecht, weil deren Kommentare in ihrer Trans- und Queerfeindlichkeit meist derart offensichtlich daneben sind, dass ich sie kaum ernstnehmen kann. Allzu häufig geschieht das auf meinem Account zum Glück sowieso nicht. Andere berichten deutlich öfter von solchen Vorfällen. Offline ist das etwas anderes, obwohl ich mich da bisher hauptsächlich mit Mikroaggressionen auseinandersetzen musste. Nicht berauschend, logisch, nur nichts im Vergleich dazu, beschimpft oder gar körperlich attackiert zu werden.
Ich beschließe, das Thema zu wechseln und sage etwas, das mir schon länger im Kopf umherschwirrt. »Was, wenn ich Hannes unrecht tue?«
Kaum habe ich die Worte ausgesprochen, realisiere ich, wie verzweifelt ich mich nach wie vor an das Gute in ihm, an ein Wir, klammere. Es fing so vielversprechend an, jetzt tut es nur noch weh. Mein Inneres zieht sich schmerzhaft zusammen.
Vinitas Gesichtsausdruck wird weich und sie tätschelt mein Knie. »Das tust du nicht. Du verdienst jemanden, der dich zu schätzen weiß. Ich habe es satt, dich am Boden zu sehen. Immer wieder behauptet er, dass er dich mag. In Wirklichkeit genießt er es bloß, wie du ihm aus der Hand frisst. Ständig versetzt er dich oder vergisst dir zu antworten. Es ist ein Geben und Nehmen und du hast eindeutig mehr gegeben als bekommen. Schreib ihm nicht zurück. Dieses Comeback hätte er sich echt sparen sollen. Wahrscheinlich ist er nur woanders abgeblitzt.«
Nicht gerade glücklich lache ich, weil das vermutlich stimmt. Das Alternativprogramm zu Hannes eine weitere Chance geben, das Vinita sich überlegt hat, ist allerdings mindestens genauso eine Schnapsidee, wie sich noch mal auf ihn einzulassen. Das Navigationssystem wird uns in den Osten von Deutschland führen – nach Pirna, eine malerische Stadt im Elbtal in Sachsen. Dort hat sie uns spontan für die nächsten sieben Tage in einer Ferienwohnung einquartiert. Gleich nach ihrer letzten Klausur für dieses Semester und im Anschluss an die Feierlichkeiten des islamischen Opferfests, welches sie bei ihrer Familie verbracht hat, wurde ich von ihr damit überfallen.
»Okay. Du hast mich überzeugt«, witzele ich, um die Enge in meinem Brustkorb wieder zu vertreiben. »Suchen wir lieber den Typen, der deiner Meinung nach dafür verantwortlich ist, dass ich ständig an so miese Kerle gerate. Ergibt total Sinn, dass ich mich bei der Partnerwahl unbewusst selbst sabotiere. Immerhin bin ich in Wahrheit noch in meinen Internet-Freund aus Teenagerzeiten verschossen, auch wenn wir uns nie persönlich getroffen haben.«
»Ich finde, das ist eine stichhaltige Theorie. Man muss das Problem an der Wurzel packen. Wenn du erkennst, dass er nicht der Eine ist, wirst du dich auf wen anders einlassen können und potenziell vielversprechendere Kandidaten auswählen. Ein Stolperstein weniger.«
Es ist lieb von ihr, das so zu formulieren. Trans* zu sein und Dating ist eine vertrackte Sache. Möglicherweise fällt es mir deshalb so schwer, Hannes als das, was er ist, abzuhaken: ein Arschloch. Ein Teil von mir, auf den ich nicht stolz bin, denkt, dass ich froh sein muss, dass Hannes Interesse an mir gezeigt hat. Unabhängig davon, dass sich das nicht als konstant erwiesen hat. Immerhin wollte er sich überhaupt mit mir treffen und hatte schon mal eine Beziehung mit einer transmaskulinen, wenn auch nicht-binären Person.Vielleicht kann ich irgendetwas tun, damit es noch klappt, sagt mir eine kleine Stimme im Inneren. Dass das falsch ist, weiß ich, aber es ist die Sehnsucht nach jemandem an meiner Seite, die mir solche Gedanken ins Hirn pflanzt. Man muss dagegen ankämpfen und Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung, vielleicht sogar zu mehr Selbstachtung, nicht wahr?
»Deine Argumentation hat nur einen Schwachpunkt«, korrigiere ich meine Freundin. »Das zwischen Ali und mir war nie etwas anderes als Freundschaft.«
Vinita verdreht die Augen. »Sicher. Die Aussicht auf einen Besuch in deiner Lieblingspizzeria oder einen Spaziergang zum Phönixsee hat dich im Gegensatz zu einer möglichen Begegnung mit einem gewissen Typen nicht aus deiner Lethargie gerissen. Noch dazu haben wir das schönste Sommerwetter! Da sollte man nicht in seinem Zimmer versauern.«
»Ich dachte, du wärst auch Team Couchpotato«, grummle ich leise.
»Wie war das?«
Ich schlage einen ernsteren Tonfall an. »Ich bezweifle, dass wir Ali wirklich finden. Es ist sechs Jahre her, dass wir Kontakt hatten. Die Spuren sind veraltet und erkaltet, gaben selbst damals nicht viel her. Plötzlich war er wie vom Erdboden verschwunden und ich habe nie wieder etwas von ihm gesehen oder gehört. Egal, wie oft ich versucht habe, ihn zu erreichen oder ihn online zu erwischen. Wahrscheinlich wohnt er nicht mal mehr in Dresden, geschweige denn haben wir seine exakte Anschrift von früher. Und falls wir ihn doch finden, habe ich keine Ahnung, wie er reagieren wird. Wir waren quasi Kinder.«
Obwohl ich mich heute mit zweiundzwanzig nach wie vor häufig unbedarft, weltfremd und schlichtweg überfordert mit dem Leben fühle. Auf gewisse Weise ist das fast schlimmer. Zu wissen, dass man langsam schlauer sein und begriffen haben müsste, wie es funktioniert.
»Wer weiß«, widerspricht mir Vinita. »Vielleicht findet er es auch toll, dich zu sehen. Und wenn wir ihn nicht finden, dann bist du wenigstens mal rausgekommen und checkst ein für alle Mal, dass es sich bei dem Mann um ein Phantom handelt. Unser Trip ist also in keinem Fall umsonst.«
Seufzend gebe ich mich geschlagen. Vinita hat recht. Es fällt nur manchmal schwer, wieder aufzustehen.
Wir fahren auf die Autobahn auf und die Hoffnung auf das, was uns am Ende unserer Route erwarten könnte, von der die A44 nur der Anfang ist, lässt entgegen meiner Vorbehalte echte Vorfreude in mir aufsteigen. Dazu einen Hauch von Abenteuerlust. Im Radio spielen sie I Love You Always Forever von Betty Who und für die Dauer des Songs wage ich es, an so etwas wie Schicksal und Happy Ends zu glauben. Dabei denke ich nicht mehr an Hannes, obwohl der mir erst kürzlich das Herz gebrochen hat. Nein, ich denke an diesen anderen Jungen zu einer anderen Zeit. Jenen Jungen, von dem ich einmal glaubte, dass er mein Seelenverwandter sein müsste.
Vinita und ich sind perfekt aufeinander eingespielt. Während sie die Snacks und Softdrinks für die Fahrt sorgfältig zusammengestellt und eingepackt hat, halte ich ihr in regelmäßigen Abständen wahlweise eine Tüte mit Studentenfutter oder eine Cola Light-Flasche samt Strohhalm hin. Dazwischen bediene ich mich an den Gummibärchen, wobei ich ihr die roten übriglasse, falls sie später noch etwas Süßes möchte. Sobald wir übereinstimmend zu dem Schluss gelangen, die Musik aus dem Radio satt zu haben, scrolle ich durch unsere gemeinsamen Playlists. Wir haben eine fürs Lernen, Kochen, Aufräumen und Entspannen. Am passendsten erscheint mir jetzt der etwas wildere, abwechslungsreiche Mix für die Hausarbeit, wobei mir auffällt, dass meine Freundin schon wieder einige neue Songs hinzugefügt hat. Ich bin gespannt! Ich mag es, in Verschiedenes reinzuhören, bloß manchmal haben wir einen sehr unterschiedlichen Geschmack. Mein Handy durfte ich während einer Pause unter dem Sitz hervorholen, nachdem ich Vinita versprochen hatte, mich zumindest von Hannes fernzuhalten. Wir scherzen über witzige Ortsnamen auf den Autobahnschildern und nehmen, als es darauf ankommt, natürlich die falsche Ausfahrt, weil wir beide keine Karten lesen können und das Navi uns im falschen Moment im Stich lässt. Die Raststätten wählen wir nach den Toiletten aus, denn in punkto Hygiene sind wir gleichermaßen pingelig. Aus diesem Grund und unseren auch in anderer Hinsicht ähnlich hohen Ansprüchen hege ich keinerlei Zweifel daran, dass Vinita uns eine fantastische Unterkunft ausgesucht hat. Wobei das großzügige Taschengeld, das sie von ihren Eltern erhält, unsere Auswahlmöglichkeiten sicher verbessert hat. Über die Finanzen soll ich mir laut meiner besten Freundin keine Gedanken machen. Selbstverständlich habe ich ihr freiwillig etwas dazugegeben.
Im Anschluss an einen etwas längeren Zwischenstopp, bei dem Vinita sich einen Kaffee genehmigt, döse ich immer wieder weg. Dabei ist es mitten am Tag und wir haben uns auf dem Parkplatz sogar ein wenig die Beine vertreten. Irgendwann gebe ich es auf und kämpfe nicht weiter gegen die Müdigkeit an. Mir fallen endgültig die Augen zu.
Plötzlich warte ich wieder am Bahnsteig und halte Ausschau nach meinem Freund, wie ich es damals in Wirklichkeit getan habe. Um mich herum sind lauter Menschen, doch ihre Gesichter und Körper wirken verschwommen.
»Ali?«, frage ich sie, einen nach dem anderen.
Nur entweder nehmen sie mich nicht wahr oder ich werde ignoriert. Ich versuche, nach ihnen zu greifen, bekomme niemanden zu fassen.
Ein Wimmern entfährt mir und – mein Kopf stößt gegen das Fenster.
Ich schrecke auf. Für einen Moment bin ich orientierungslos. Ali – er ist nicht gekommen. Mein Nacken protestiert schmerzend von der gekrümmten Haltung, in der ich mich in den Sicherheitsgurt im Auto gelehnt hatte. Ich fühle mich gerädert und mein Hals tut weh, als hätte ich nicht nur im Traum geweint.
Stöhnend reibe ich mir den Schlaf aus den Augen. Vinita begrüßt mich nach meinem Nickerchen. »Schön geträumt, Dornröschen?«
»Nicht wirklich«, murmele ich mehr zu mir selbst als zu ihr und greife nach einer Limo im Seitenfach der Beifahrertür, trinke hastig ein paar Schlucke, um den schalen Geschmack in meinem Mund loszuwerden. »Wie weit ist es noch?«
»Wir sind in fünf Minuten da.«
Mein Herz schlägt sofort schneller. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Die Hauptverkehrsstraße, auf der wir uns befinden, an der sich große Auto- neben Möbelhäuser, einen Bau- und Supermarkt, ein Zoogeschäft sowie eine Tankstelle reihen, passt nicht so recht zu meiner Vorstellung des idyllischen Örtchens, das ich auf den Fotos im Netz gesehen habe. Andererseits war auf denen vor allem die Altstadt abgebildet.
Auf einmal fürchte ich, wir könnten gleich an Pirnas Bahnhof vorbeifahren. Jenem Bahnhof, an dem Ali mich vor all dieser Zeit abholen sollte. Am Vorabend hatte er mir geschrieben, wie sehr er sich darauf freue, mich am nächsten Tag zu sehen. Das war die letzte Nachricht von ihm gewesen. Zuerst hatte ich mir nichts dabei gedacht, dass ich am Tag meiner Anreise nichts mehr von ihm gehört hatte und es auf die Uhrzeit geschoben. Er schlief für sein Leben gerne aus, ich hingegen war früh morgens in den ICE gestiegen. Meine Anrufe blieben von da an wie meine Textnachrichten unbeantwortet. Irgendwann hieß es, seine Nummer sei nicht mehr vergeben.
Anfangs hatte ich mich gefragt, ob ihm etwas zugestoßen war und es gleichzeitig lieber nicht wissen wollen. Da ich nicht sicher war, ob Ali mit anderen Menschen aus seinem Umfeld über mich gesprochen hatte, hätte es mich eher verwundert, wenn jemand sich bei mir gemeldet hätte, um mir in so einem Fall Bescheid zu sagen. Die Vorstellung, Ali könnte in einen Unfall geraten oder Opfer eines schrecklichen Verbrechens geworden sein, überforderte mich. Da war mir sogar die Variante lieber, dass er von einer Sekunde auf die nächste nichts mehr mit mir zu tun haben wollte. Auch wenn mich die Möglichkeit, er könnte sich so unvermittelt von mir zurückgezogen haben, sehr verletzte. Vielleicht hatte ich alles falsch interpretiert und wir waren uns nie so nah gewesen, wie es sich für mich angefühlt hatte. Oder hatte ich irgendetwas getan, um ihn vor dem Treffen doch noch zu verschrecken?
Zum Glück biegt Vinita im nächsten Moment in eine Wohnsiedlung ein und kurze Zeit später auf einen Hinterhof ab. Die Ablenkung begrüßend nehme ich unsere Umgebung in mich auf. Die Häuser mit den roten Dächern und Fassaden in unterschiedlichen Farben, die um den Hof herum aufragen, entsprechen meiner Vorstellung der Stadt Pirna deutlich mehr. Das gelbe Haus ist dazu von grünen Weinreben bewachsen und in der Mitte des Hofes befindet sich ein Brunnen, der auch aus dem Mittelalter stammen könnte.
Jetzt sind wir wirklich hier.
Bei dieser Erkenntnis schreit plötzlich alles in mir: Hilfe, ich will wieder weg! Für eine Konfrontation mit der Vergangenheit bin ich definitiv nicht bereit. Ich ringe mit der aufsteigenden Panik, die mir die Luft abschnüren möchte. Was habe ich mir dabei gedacht, hierherzukommen? Ich hätte nicht geglaubt, dass mir die Erinnerung so unter die Haut gehen würde. In einer Sache hat Vinita den Nagel auf den Kopf getroffen: Ich bin nicht über Ali hinweg. Nun frage ich mich, ob ich das jemals sein werde, denn es fühlt sich momentan wie das Stochern in nie gänzlich verheilten Wunden an. Dass er mir viel bedeutet hat, ist nicht von der Hand zu weisen.
Der Kies knirscht unter den Autorädern beim Rangieren und reißt mich aus meinen Gedanken. Wir parken neben einem silbernen Citroën. Sobald wir stehen, fährt Vinita die Fenster hoch. Keine Ahnung, wann sie sie heruntergelassen und die Klimaanlage dafür ausgeschaltet hat. Vermutlich irgendwann, während ich geschlafen habe. Ohne Fahrtwind wird es schnell warm im Inneren des Wagens und das ist nur ein Vorgeschmack auf das, was uns außerhalb des Autos erwartet.
Sie schnallt sich ab und wischt kurz mit einem Taschentuch über die Gläser ihrer Brille. »Da wären wir.«
Ich schlucke. »Ja«, ist alles, was ich gegenwärtig hervorbringe.
»Wollen wir?« Sie setzt sich das goldene Gestell wieder auf die Nase.
Obwohl ich sie am liebsten darum gebeten hätte, auf der Stelle umzukehren und wieder heimzufahren, nicke ich. Alles hier macht einen freundlichen ersten Eindruck, der zum Verweilen einlädt und Erholung verspricht. Ein netter Kontrast zu der grauen rauen Ruhrgebiets-Romantik mit ihrer Industrie und den Zechen, die ich gewohnt bin.
»Gut!« Voller Tatendrang öffnet Vinita die Autotür und springt aus dem Wagen. Wie ist es möglich, dass sie nach dieser Fahrt so viel Energie übrighat?
Deutlich zögerlicher tue ich es ihr nach, schwinge erst ein Bein, dann das andere hinaus, lasse mir Zeit dabei, mich zu strecken und meine Jogginghose und das zerknitterte T-Shirt zurechtzuziehen. Bis ich das Auto umrundet habe, ist meine beste Freundin nicht mehr allein.
»Hi!« Plötzlich steht da ein Typ mit blasslila Haaren und streckt ihr seine Hand entgegen. Vermutlich handelt es sich bei ihm um unser Empfangskomitee.
Sein Auftauchen wirft mich noch mehr aus der Bahn. Unschlüssig bleibe ich stehen, mein Magen rumort. Jetzt müssen wir erst mal einchecken. Ein sofortiger Rückzieher ist damit ausgeschlossen. Jedenfalls, wenn ich vor dem Kerl nicht wie ein Volltrottel rüberkommen möchte.
Dass er in etwa unser Alter hat, verstärkt mein Unwohlsein, und ich kann nicht verhindern, mich mit ihm zu vergleichen. Zu lange habe ich mich angestrengt, eine maskuline Wirkung zu erzielen, um von meiner Außenwelt nicht mehr als Mädchen wahrgenommen zu werden. Um meinen männlichen Mitmenschen möglichst gekonnt nachzueifern, war eine Analyse ihres Auftretens und Verhaltens unerlässlich. Dabei ist, was wir als maskulin und feminin verstehen, letztendlich nur eine soziale Konstruktion.
»Ich bin Timon«, stellt mein aktuelles Studienobjekt, als das ich ihn gar nicht betrachten möchte, sich vor. Er hat eine angenehme Stimme, eine Nuance höher als meine. »Du bist sicher Vinita? Wir haben miteinander geschrieben.«
»Die bin ich.« Vinita strahlt ihn an, und nimmt beim Händeschütteln seine Hand in ihre beiden. Geschickt befreit sie die Situation dadurch direkt von jeder Förmlichkeit.
Ich wette darauf, dass Timon ihr gerade verfallen ist, so niedlich, wie er sich daraufhin durch den bunten Haarschopf fährt. Ich betrachte ihn genauer. Das glatte Haar reicht ihm bis knapp über die Ohren, hinten ist es etwas kürzer. Messy ist ein passender Ausdruck für seine Frisur. Allgemein sieht sein Aufzug nicht aus, als würde er damit bei konservativeren Menschen punkten. Seine Skinny Jeans ist schwarz und hat zerrissene Knie. Über einem ebenso schwarzen Shirt trägt er ein aufgeknöpftes Hemd mit schwarz-gelben Karos.
»Freut mich, dich persönlich kennenzulernen«, fügt Vinita hinzu.
»Dito.« Unvermittelt wendet Timon sich mir zu, dabei war ich sicher, dass er mich gar nicht bemerkt hat.
Hui, er hat echt große und tolle Augen! Ein wohliger Schauder durchläuft mich.
»Phil«, sage ich schnell und klopfe mir dabei auf die Brust, als ob das nicht offensichtlich wäre, spüre, wie meine Wangen heiß werden. »Ich meine, Philipp.«
Timon überrascht mich ein weiteres Mal innerhalb von wenigen Sekunden, indem er einen Schritt auf mich zumacht. Kurz bevor er mich ohne jede Scheu in eine halbseitige Umarmung zieht, erkenne ich noch, dass seine Iris braun ist. »Hey, Philipp.«
Zuerst versteife ich mich, weil ich damit nicht gerechnet habe. So unter Jungs hätte ich erfahrungsgemäß einen Handschlag für angemessener befunden. Ich dachte nicht, dass wir schon beim Bro-Hug angelangt wären, wobei das hier intimer ist als ein freundschaftlicher Klopfer auf den Rücken. Nicht nur spüre ich für einen Moment Timons Körperwärme, sondern werde auch in eine Duftwolke seines herben Deos gehüllt. Darunter mischt sich etwas, das ich mit See und Sonnenschein assoziiere. Es erinnert mich daran, wie schön Zuneigungsbekundungen und Berührungen sind. Nett ist außerdem, dass er kaum größer ist als ich. Die meisten Leute – einschließlich Vinita – überragen mich deutlich.
»Hattet ihr eine angenehme Fahrt?«, erkundigt Timon sich und lässt mich wieder los.
Einen Augenblick blinzele ich ihn nur an, bin nicht imstande, ihm eine Antwort zu geben. Sollte ihm aufgefallen sein, was er in mir ausgelöst hat, so merkt man ihm nichts an.
»Habt ihr problemlos hergefunden?«, schiebt er hinterher.
»Da fragst du den Richtigen«, sagt meine Freundin jetzt und lacht. »Philipp hat die letzten anderthalb Stunden verpennt.« Wie üblich klinkt sie sich mit Leichtigkeit wieder ins Gespräch ein. Ich will nicht sagen, sie reißt es an sich, aber einen Augenblick fühlt es sich so an. »Ich habe die komplette Strecke allein bewältigt.«
»Ich fahre nicht gern«, ergänze ich als Erklärung und erdolche meine beste Freundin mit Blicken. Muss sie mich so in die Pfanne hauen? Eine leichte Falte bildet sich zwischen ihren Brauen und ihr Blick scheint mir still ein Was denn? zu bedeuten.
Timon nickt. »Geht mir ähnlich. Jedes Mal, wenn jemand mit mir im Auto sitzt, gibt’s erst mal einen Disclaimer. So kann nachher niemand behaupten, er oder sie wäre nicht gewarnt worden: Ja, ich habe einen Führerschein. Das merkt man nur nicht. Nur damit du dir meinen Fahrstil vorstellen kannst.«
»Haha«, mache ich. »Oh Mann.«
Ja, das trifft es. Warum fällt mir keine lustigere Erwiderung ein?
»Auf jeden Fall cool, dass ihr jetzt hier seid«, findet Timon. »Wollt ihr dann einchecken und ich zeig euch eben die Wohnung?«
»Unbedingt!«, bekräftigt Vinita und dreht sich im Kreis, wie um die Umgebung noch einmal in ihrer Gänze und Idylle zu erfassen. Spätestens jetzt macht sich bezahlbar, dass sie sich heute Morgen im Gegensatz zu mir vernünftig zurechtgemacht hat. Ihre Euphorie ist dazu charmant und einnehmend. »Ist es das gelbe Haus?«, fragt sie Timon. »Sag, dass wir im gelben Haus einquartiert sind! Das sieht so hübsch aus mit den Weinreben.«
Timons Augenbrauen wandern in die Höhe. Er wirkt amüsiert. »Es ist das gelbe Haus.«
Meine beste Freundin jubiliert und geht ihm rückwärts voraus, wobei sie ihn keine Sekunde aus ihrem Bann entlässt. Würde ich sie nicht kennen, hätte ich vermutlich angenommen, dass sie mit ihm flirtet, aber so ist sie zu jedem Menschen, der ihren Weg kreuzt. Ich laufe den beiden hinterher auf das gelbe Haus zu.
Nach ihnen trete ich ein. Im Hausflur empfangen uns schwarzweiße Fliesen. Als Vinita Timon auf seinen »Rockstar-Look« anspricht, horche ich auf.
Flirtet sie nun doch mit ihm?
Wir steigen die knarzende Holztreppe hinauf und meine Augen wandern, ohne dass ich etwas dagegen tun kann, erneut zu ihm, der wiederum Vinita unverwandt anschaut. Bei Timons Kleidungsstil kann ich verstehen, wie sie auf diese Verbindung kommt, nur versprüht er auf mich sonst eher süße, etwas emo-hafte Vibes statt rockige.
Sein Hüsteln bestätigt mich in diesem Eindruck. »Diesmal muss ich dich leider enttäuschen. Ich spiele nicht mal Gitarre und singen kann ich überhaupt nicht.«
Vinita gibt sich betrübt. »Zu schade.«
Nun gut.
»Ohne Musikhören könnte ich mir mein Leben aber nicht vorstellen«, denkt Timon laut nach. »Da mag ich ganz gern mal härteres Zeug.«
»Heißt das, keine kitschigen Liebeslieder?«
Meine Hände ballen sich zu Fäusten. Zwar gönne ich ihr den Spaß, nur muss das ausgerechnet jetzt sein? Schließlich habe ich Herzschmerz zu verkraften. Dabei ist es unsinnig, eifersüchtig auf Vinita zu sein, weil Timon wahrscheinlich eh nicht auf Männer – und somit mich – steht. Zumal ich mich besser im Griff haben sollte, als gleich den Nächstbesten anzuschmachten und schon wieder nach Bestätigung von außen zu lechzen.
»Eher selten.« Timon macht eine abwägende Handbewegung. »Ab und zu geht’s.«
Ich bleibe weiter dabei, ihnen stumm zuzuhören und mich im Hintergrund zu halten.
Im zweiten Stock steuern wir auf eine Wohnungstür zu, an der ein kleiner Kranz aus getrockneten Wildblumen hängt. Timon schließt sie auf und vor meinem inneren Auge sehe ich, wie er auf Vinitas Avancen eingeht und diese Vorlage nutzt, um ihr mit einem »Ladies first« den Vortritt zu lassen. Das fehlt mir noch. Tatsächlich geht er voran und warnt uns über die Schulter mit einem »Vorsicht, Stufe!«, was ich angesichts meines Kopfkinos unnormal komisch finde.
Ohne es zu wollen, fällt mir die Handlung von Naomi and Ely’s No Kiss List ein, einer RomCom, in der sich Naomi und Ely um denselben Typen streiten, obwohl sie so gut befreundet sind. Ja, so kann’s gehen, wenn man eine beste Freundin hat, die hetero ist. Sollten wir auch über eine No Kiss-List nachdenken?
Vinita, der mein schlecht unterdrücktes Auflachen nicht entgeht, mustert mich irritiert. Timon ist es Gott sei Dank entgangen. Eilig folge ich ihr über die Türschwelle in den hellen Raum, wo wir von einem Essbereich mit einem Tisch und drei zusammengewürfelten Stühlen willkommen geheißen werden. Rechterhand befindet sich eine kleine Küchenzeile, dazwischen ein Durchgang ins Schlafzimmer.
Ich bemühe mich darum, mich auf das Appartement zu konzentrieren, statt auf die Interaktion zwischen Vinita und Timon.
Er öffnet ein paar Schränke, um uns die Ausstattung zu zeigen, lässt uns einen Blick ins Bad erhaschen und präsentiert uns selbstzufrieden den Fernseher, den er erst kürzlich über den zwei Einzelbetten angebracht hat. Dass wir diese Variante gewählt haben, dürfte ihm schon vor unserem Kommen verraten haben, dass Vinita und ich lediglich befreundet sind und demnach kein Grund besteht, sich in Zurückhaltung zu üben, sollte er ihr Interesse erwidern. Erwidert er es? Auf der Kommode unter dem Fernseher steht eine abstrakte Skulptur. Durch das Fenster schauen wir auf eine Wiese hinter dem Haus, mit Apfelbaum, an dessen einem Ast eine Schaukel hängt.
»Also.« Zurück im Eingangsbereich stützt unser Gastgeber die Hände in die Hüften. »Hausregeln, WLAN-Passwort, Bedienungsanleitung der Waschmaschine, ein paar Sightseeing-Tipps und der übliche Kram steht alles in dem Hefter.« Er deutet zum Tisch, wo dieser gut sichtbar platziert wurde. »Ist noch irgendetwas unklar?«
»Vorerst nicht«, antwortet Vinita, was mich verwundert. Nach ihrem bisherigen Verhalten hätte ich damit gerechnet, dass sie jede Gelegenheit, weiter mit Timon zu reden, ergreifen würde.
»Super.« Er blickt zwischen uns hin und her. »Ansonsten gern anrufen oder bei Eichert klingeln. Meine Familie und ich wohnen in dem rosa Haus. Ach, und«, er seufzt voller Bedauern, »einen Swimmingpool gibt es leider nicht. Seit Jahren gebe ich mein Bestes, Oma und Opa zu bequatschen. Keine Chance. Dafür könnt ihr den Gemeinschaftsgarten benutzen.«
»Der sieht so oder so verlockend aus.« Vinita unterzeichnet ein paar Dokumente, ehe sie die Schlüssel entgegennimmt. »Danke!« Ein letzter langer Augenaufschlag von ihrer Seite. »Die Telefonnummern sind auch im Hefter vermerkt?«
»Ich kann dir meine noch mal aufschreiben«, schlägt Timon mit einem Grinsen vor. Aha! Jetzt kommt er also in die Gänge. Und verdammt, wieso störe ich mich so daran? »Ich bin hier sowieso der Junge für alles.« Er zieht einen Block aus seiner hinteren Hosentasche und reißt das Blatt mit der dahingekritzelten Zahlenfolge anschließend heraus.
Es macht mich sprachlos, wie Vinita das hingekriegt hat. Schließlich verabschiedet Timon sich mit einer zum Gruß erhobenen Hand. »Wir sehen uns bestimmt die Tage wieder.«
»Joh«, brumme ich. Nicht als neuen Versuch, etwas zur Unterhaltung beizutragen, sondern mehr, um seinen Abgang zu beschleunigen.
Als sein Blick flüchtig auf meinen trifft, hätte ich mich am liebsten in Luft aufgelöst, weil in seinem nicht mal ein Anflug von Unsicherheit zu erkennen ist. »Mit dem Gepäck kommt ihr zurecht?«
»Jap«, schlage ich seine Hilfe viel defensiver aus als beabsichtigt. Zwar bin ich alles andere als ein Hulk, aber unter seinem Hemd verbergen sich bestimmt auch keine Muskelberge. Was mag sich darunter verbergen? Ich verpasse mir einen gedanklichen Rüffel und erinnere mich an unsere Koffer und Taschen. Wenn Vinita und ich mehrmals gehen, sollten wir das locker schaffen. So viel haben wir gar nicht dabei.
»Alles klar.« Ich kann nicht sagen, ob Timon die Zurückweisung stört. Vielleicht wollte er nur höflich sein, statt sich nach der vertanen Chance, ihr die Tür aufzuhalten, zum Abschluss doch noch ein bisschen vor meiner besten Freundin aufzuplustern.
Kaum sind wir unter uns und seine Schritte im Treppenhaus verklungen, nimmt Vinita mich ins Visier.
»Was war das denn?«, verlangt sie zu erfahren.
»Was meinst du?«, gebe ich verwirrt zurück. Immerhin habe ich kaum etwas gesagt, geschweige denn gemacht.
»Gefällt er dir?«, bringt sie ihre Vermutung auf den Punkt.
Ich spüre, wie ich rot werde. Wie hat sie das bemerkt? Für einen Moment schaue ich zu Boden. »Sollte ich das nicht eher dich fragen?«
»Timon ist süß«, räumt sie ein, zuckt mit den Schultern. Dabei mustert sie mich aufmerksam, wie um nichts von meiner Reaktion zu verpassen.
Das kann ich nicht abstreiten.
»Ja. Du könntest recht haben.« Ich setze eine leidende Miene auf. »Wie hast du mich durchschaut?«
»Na ja«, erläutert Vinita und bedenkt mich mit einem Zwinkern. »Du hast mal wieder den Unnahbaren raushängen lassen. Wie immer, wenn da ein Typ auftaucht, den du wirklich mögen könntest. Bei den Arschlöchern stellst du dich dagegen nur halb so unbeholfen an.«
Mir klappt der Mund auf.
Ist das wahr? Wieso bin ich so? Ahhh!
Bevor ich über mein nicht vorhandenes Flirttalent verzweifeln kann, wird Vinita gleich wieder ernst. »Okay, du weißt, wie unser Vorhaben lautet. Vergiss nicht, du sollst dich mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Aber ich möchte dich von nichts abhalten oder behaupten, du wärst nicht multitaskingfähig.«
Vor Verlegenheit und Empörung verschlucke ich mich. Abwehrend hebe ich die Hände. »Oha! Nicht so hastig.«
Meine beste Freundin schnalzt mit der Zunge. »Philipp. Ich kenne dich. Du bist im Kopf immer schon fünf Schritte weiter und dezent romantisch veranlagt.«
»Gar nicht wahr!«, behaupte ich.
Vinita drückt mir den Zettel mit Timons Nummer in die Hand. In meiner Überraschung nehme ich ihn automatisch an mich. »Vielleicht mag er dich ja auch. Am Anfang hat er dich sogar umarmt und immer wieder versucht, dich in Gespräche miteinzubeziehen, obwohl ich ihm schöne Augen gemacht habe.«
»Danke«, stottere ich. Mir wird warm, als ich die Situation aus dieser Perspektive betrachte.
»Jaja.« Vinita verdreht die Augen. »Dafür bestehe ich darauf, dass ich nachher das Restaurant aussuchen darf.«
Da habe ich nichts dagegen, lasse es mir aber nicht nehmen, es zumindest mal mit einem neutraleren Blick zu probieren. »Ich denke nur, letztendlich war Timon nett zu uns beiden.«
Und ich nicht gerade ein Sonnenschein.
»Was für ihn spricht, oder?«, befindet Vinita.
Ich nicke.
Wäre ich freundlicher gewesen und hätte ich so etwas wie queere Schwingungen versprüht, hätte er dann mit mir geflirtet? Leider strenge ich mich offline meist an, diesbezüglich unter dem Radar zu bleiben. Das tue ich, weil es mir den Alltag erleichtert und Anfeindungen reduziert. Mal abgesehen davon, kann man niemandem sicher die sexuelle Orientierung von der Nasenspitze ablesen. Letztendlich basieren solche Annahmen auf Klischees.
Ich falte den Zettel mit Timons Handynummer zusammen und verstaue ihn in meinem Portmonee. Vinita beobachtet mich dabei.
Im Grunde spielt es keine Rolle. Timon hat seine Nummer meiner besten Freundin überlassen, nicht mir. Und abgesehen davon sind wir – wie sie gesagt hat – hier, um Ali zu suchen. Nicht damit ich mich nach Hannes gleich ins nächste Liebesdrama stürze.
»Und jetzt? Trägst du unser Zeug nach oben?«, will Vinita da wissen. »Immerhin hast du den Zimmerservice ausgeschlagen.«
Nie hätte ich nach Alis Kontaktabbruch erwartet, eines Tages jenen Ort zu durchstreifen, welchen er in der Vergangenheit in seinen unzähligen Textnachrichten an mich zum Leben erweckt hat. Die kopfsteingepflasterten Gassen mit den Fachwerkhäusern geben mir das Gefühl, direkt in einer von seinen Erzählungen gelandet zu sein.
Ali fand, er könne nicht gut mit Worten umgehen, sei eher der tatkräftige Typ. Sein Innerstes gab er nur widerwillig preis. Trotzdem weiß ich, dass er sich bei seinen Eltern in der Großstadt nie besonders wohlgefühlt hatte, in Pirna dafür stets aufatmen konnte. Auf einmal fühle ich mich ihm merkwürdig nahe. So nah, wie man sich jemandem eben fühlen kann, den man noch nie gesehen und von dem man jahrelang kein Lebenszeichen erhalten hat. Wie wäre es, ihn anstelle von Vinita an meiner Seite zu haben? Je mehr ich darüber nachdenke, desto stärker werden meine Kopfschmerzen.
Vinita drückt sich an jedem Schaufenster die Nase platt und auch auf mich wirken die kleinen Krimskrams- und Klamottenläden und schnuckeligen Cafés an jeder Ecke richtig heimelig. Wären wir nicht auf der Suche nach einem Lokal fürs Abendessen und ich inzwischen halb verhungert, hätte ich gern das eine oder andere Geschäft betreten. Vor allem die Eisdiele zieht mich magnetisch an. Vor unserem Fußmarsch in die Altstadt auf leeren Magen in den Supermarkt zu gehen, war bereits eine echte Herausforderung. Dafür sind wir jetzt für die nächsten Tage mit Lebensmitteln versorgt.
Jedes Mal, wenn Vinita mich an einem Restaurant vorbeizieht, statt es zu unserem Ziel zu ernennen, appelliert sie angesichts meiner zunehmenden Frustration an meine Vernunft. Dabei lässt sie sich selbst von einem diffusen Gefühl leiten, welches sie mir nicht mal näher erläutern kann – außer mit: »Ein Start mit schlechtem Essen hieße, dass unsere Zeit hier unter keinem guten Stern stünde. Wir müssen eine wohlbedachte Wahl treffen.«
»Mhm.« Ich spähe über den Rand meiner Sonnenbrille in ihre Richtung, um meinen nächsten Worten Nachdruck zu verleihen. »Was sind das denn für esoterische Anwandlungen?«
»Komm mir nicht mit so was! Ich bin Wissenschaftlerin.«
»Du hast damit angefangen«, bemerke ich unschuldig. »Was sonst habe ich da bezeugen dürfen? Dass du einen sechsten Sinn entwickelt hast?«
Dafür kassiere ich ein Schnauben. »Ich weiß schon, wieso ich Geologin werde. Steine geben weit weniger dummes Zeug von sich als Menschen.«
Obwohl wir gerade nur scherzen, ist da eine gehörige Portion Wahrheit in ihren Worten, deswegen entgegne ich nichts.
Wobei ich nicht verstehe, wieso es ihr immer so wichtig ist, auf ihren akademischen Background zu pochen.
Am historischen Marktplatz finden wir endlich eine Tapas Bar, die Vinita zusagt und ihren Ansprüchen genügt, um unseren »Urlaub« offiziell einzuläuten. Wir setzen uns an einen Tisch mit Sicht auf den Glockenturm, dessen Zeiger in diesem Moment die volle Stunde anzeigen und ein wunderschönes Glockenspiel einläuten. Hinter den Hausdächern ragt nicht weit entfernt ein Schloss auf einem Hügel in den Himmel. Mittlerweile hat sich die Hitze etwas abgekühlt, wodurch es draußen wieder angenehmer ist und es nichts ausmacht, dass wir keinen Platz mehr unter der Markise ergattern.
Nachdem wir unsere Bestellung aufgegeben haben, strecke ich die Beine nach der langen Fahrt von mir und entspanne mich zum ersten Mal seit unserer Ankunft deutlich. Während ich die Menschen um mich herum betrachte, wird mir bewusst, wie unwahrscheinlich es ist, Ali hier irgendwo über den Weg zu laufen. Erkennen würde ich ihn ohnehin nicht. Und er mich ebenso wenig. Fotos haben wir nie ausgetauscht. Sogar vor unserem geplanten Treffen hatten wir uns lediglich gegenseitig unsere Handynummern gegeben und unsere Klamotten und Frisuren beschrieben, um einander am Bahnhof zu identifizieren.
Rückblickend finde ich es ziemlich naiv von mir, vor dem geplanten Treffen nicht wenigstens mal mit ihm telefoniert zu haben. Im Grunde hätte jeder und jede sich als Ali ausgeben können. Die Gefahren, die mit dieser Situation einhergegangen sind, scheinen mir damals nicht bewusst oder schlicht egal gewesen zu sein, jung und verliebt, wie ich war. Und ja, okay, ich gebe es zu. Zumindest von meiner Seite aus waren da romantische Gefühle im Spiel.
Jetzt packen mich Aufregung und Entschlossenheit. Mein Puls beschleunigt sich und ich balle die Hände zu Fäusten.
Sollten wir einander jemals gegenüberstehen, dann weil Vinita und ich es geschafft haben werden, Ali allen Ernstes aufzuspüren. Was, wenn ich nach all den Jahren, nach allem, was war, doch noch ein Bild von ihm bekäme? Zwar habe ich Angst und er hat mich zu der Zeit wie mein komplettes Umfeld – einschließlich mir selbst – noch für ein Mädchen gehalten. Das ändert nur nichts daran, dass ich ihn finden will. Letzteres könnte es zuerst etwas seltsam machen, aber an sich bin ich davon überzeugt, dass er kein Problem mit meiner Transidentität haben würde. Ich muss zumindest versuchen, Ali ausfindig zu machen. Das wird mir unumstößlich klar.
»Woran denkst du?«, möchte Vinita erfahren und tippt mich unter dem Tisch mit ihrem Fuß an. Sie lässt ihr Handy in ihrer Handtasche verschwinden, und ich muss grinsen wegen dieses Rollentauschs. Normalerweise wäre ich es, der mit dem Smartphone in der Hand dasitzt und auf Insta rumhängt. Sie diejenige, die vollkommen da, in der Gegenwart lebt. Ich sollte gleich eine Story vom Essen posten. Heute habe ich mich dort bisher gar nicht gezeigt.
»Ich hab daran gedacht, wie das mit Ali und mir angefangen hat.«
Vinita schneidet eine Grimasse. »Ich werde nie darüber hinwegkommen, dass du ihn mir so lange verheimlicht hast. Das hat mich in meinem Status als BFF mächtig gekränkt.«
Ganz unüblich hatte ich sie nicht sofort eingeweiht. Möglicherweise war mir das Drumherum peinlich. Wie zahlreiche vierzehn- bis sechzehnjährigen Teenager hatten Ali und ich damals die Mystery-Serie Dark Whisper durchgesuchtet und uns online in ein Fan-Forum verirrt, wo wir zwei der Figuren miteinander shippten. Unser One True Pairing bestand aus Alistair und Lennox. Ohne Zweifel flogen Funken zwischen dem verschlossenen, pflichtbewussten Krieger und dem tollpatschigen, lustigen Halbhexer, der von Regisseurin und Regisseur leider nur als dessen Sidekick auserwählt worden war. Auf der Leinwand blieb Alistair bis zum Schluss mit der Feenprinzessin Ava zusammen. Für uns würden es dagegen immer er und Lennox sein. Bis dahin hatte ich nie jemanden so selbstverständlich über die Liebe zwischen zwei Jungen oder zwei Mädchen reden hören. Es war eine Offenbarung. Zu schade, dass das Forum und somit unser Nachrichtenaustausch heute nicht mehr existiert.
Ich zucke mit den Schultern. »Ich wollte ihn eben für mich.«
Was ich verschweige: dass ich mich vor Vinitas Reaktion auf das Thema Queerness gefürchtet habe. Bestimmt erinnert sie sich nicht mehr daran, wie sie mal mit einer unserer Mitschülerinnen nach dem Matheunterricht über einen Promi getuschelt hat, nachdem dieser sich als bi geoutet hatte. Zwar wusste ich da noch nicht genau, was das bedeutet, und auch nicht, dass ich selbst nicht hetero bin. Vinitas eher abfällige Äußerung hatte sich mir als Jugendlicher trotzdem eingebrannt. Aus diesem Grund hatte ich auch mein Outing ihr gegenüber hinausgezögert. Als ich es hinter mich gebracht hatte, verwunderte sie mich mit ihrer Bestürzung, ob es mir wegen ihres Glaubens so schwer gefallen sei, ihr anzuvertrauen, dass ich trans* sei. So etwas hätte ich niemals über sie gedacht. Auf einmal wurde mir bewusst, dass wir uns in dieser Hinsicht ähneln. Vinita wird für ihre Religion vorverurteilt und ich für meine von meinem Geburtsgeschlecht abweichende Genderidentität und in wen ich mich verliebe.
Wobei mir mein Coming-out mit neunzehn – egal bei wem –, nicht leichtgefallen ist. Ich hatte nur endlich die Gewissheit, was mich ungemein bestärkte, und Worte für etwas, das ich früher nicht einordnen konnte.
Vinita zieht die Augenbrauen hoch. »Und ich dachte, ihr wäret nur befreundet gewesen?«
Bevor ich zu einem Gegenschlag ausholen kann, kommt die Kellnerin und serviert uns unsere Auswahl an vegetarischen Tapas. Frittierte Oliven mit Aioli, Datteln mit einer Ziegenkäse-Walnuss-Füllung im Zucchinimantel, Bratkartoffeln mit Guacamole, eine weitere Kartoffel-Variante und grüne, in Öl eingelegte, Paprika.
»Halt!«, stoppe ich meine beste Freundin und springe auf, bevor sie das Essen anrühren kann. Dabei läuft mir schon das Wasser im Munde zusammen. »Ich muss erst ein Foto machen.«
»Hast du sonst keine Hobbys?«, beschwert sie sich, wartet aber. Dass das irgendwie stimmt, schiebe ich gleich wieder von mir.
Fix wähle ich einen Filter, schieße ein Bild von den hübsch angerichteten Speisen, füge ein paar Herzchen in Regenbogenfarben und eine Uhrzeit hinzu. Danach lade ich die Story hoch und halte Vinita mein Handy hin, das sie wortlos nimmt, um weitere Schnappschüsse – nun von mir – für meinen Instagram-Feed zu machen. Ich weiß, wie ich am besten pose, um den gewünschten Effekt zu erzielen, und sie, worauf ich Wert lege und welche Perspektiven ich mag. Was mich anfangs jedes Mal Überwindung gekostet hat, ist mit der Zeit zur Routine geworden.
Rasch scrolle ich anschließend durch die Aufnahmen, um sie auf Tauglichkeit zu überprüfen. Dabei ertappe ich mich bei der Frage, ob wir Timon nachher wohl noch mal zufällig begegnen werden. Denn abgesehen davon, dass meine Haut mangels Sonneneinstrahlung in den letzten Wochen nahezu bettlakenweiß ist, gefalle ich mir in dem kurzärmeligen Hemd mit den senkrechten dreifarbigen Streifen. Der Schnitt ist typisch 90er. Sogar meine hellbraunen Locken liegen und gebärden sich ausnahmsweise friedfertig. Allein für solche Momente, in denen ich derart im Reinen mit mir bin, hat sich das, was ich durchgestanden habe, mehr als ausgezahlt.
»Vielen Dank«, sage ich zu Vinita, um das Essen zu eröffnen, nur hat sie in der Zwischenzeit ohnehin damit begonnen, sich den Teller vollzuladen.
»Sorry«, nuschelt sie und steckt sich eine Olive in den Mund. »Ich hatte Hunger.«
Kurzerhand tue ich es ihr nach. Sie hat das perfekte Restaurant für den Auftakt unserer Reise ausgewählt. Das Essen ist köstlich, die Datteln schmecken mir am besten. In dieser Bar mit ihrem südländischen Flair fühle ich mich wohl, bin auf wundervolle Weise satt und erfüllt und glücklich.
Bei unserer Rückkehr in die Ferienwohnung treffen wir Timon leider nicht erneut an, aber meine Enttäuschung hält sich in Grenzen. Der Tagesausklang war unabhängig davon denkwürdig. Im Bett lade ich noch eines der Bilder hoch, die Vinita von mir gemacht hat. Als Bildunterschrift verwende ich #lifeisgood. Dazu ist es cool, dass wir uns für die Urlaubswoche ein Zimmer teilen werden, was mir jetzt erst so richtig bewusst wird. Wie in unseren Schulzeiten, als wir uns bis spät in die Nacht hinein in der Dunkelheit Geheimnisse anvertrauten und miteinander über Gott und die Welt flüsterten. Mal ging es darum, wie inbrünstig wir den Sportunterricht hassten und den Ausdauerlauf schwänzen wollten. Dann um den Chorauftritt, bei dem Vinita ein Solo singen würde und mächtig Lampenfieber hatte. Stundenlang redete ich ihr gut zu und letztendlich lief alles glatt. Lebhaft erinnere ich mich auch daran, wie wir planten, meinem ersten Schwarm einen Zettel zuzustecken, auf dem stand, dass ich ihn mochte. Daraufhin waren wir ungefähr drei Tage zusammen.
Mit diesen Gedanken im Kopf und einem Grinsen im Gesicht schlafe ich ein, sobald ich unter die blumig duftende Decke geschlüpft bin. Heute gibt es kein nächtliches Gespräch mehr. Wie meine beste Freundin nach ihren Gebeten zu mir ins Zimmer kommt, kriege ich gar nicht mehr mit.
Nachdem das Fenster im zweiten Stock des gelben Hauses dunkel geworden ist, sind die Sterne die einzige Lichtquelle im Garten. Ich schwinge mit den Beinen vor und zurück, um die Schaukel am Ast des Apfelbaumes in Bewegung zu versetzen. Je höher ich schaukele, desto weniger abwegig erscheint es mir, dass ich einfach davonfliegen oder abhauen könnte, wenn ich denn will. Sogar ohne Flügel oder Schiff, mit dem ich aufs Meer hinausfahren würde, bis der Himmel ohne jegliche Grenzen wäre. In meinen Ohren dröhnt ein Song von Simple Plan. Lucky One. Die Häuser und die Stadt blende ich aus, so gut es geht. Denn auch hier spannt sich das Firmament schier endlos über meinem Kopf und unzählige Möglichkeiten spiegeln sich in ihm. Was könnte die Welt nicht alles für mich bereithalten, wenn ich nur zulange?
Ein Ziehen entsteht in meiner Brust.
Der Anblick des jetzt dunklen Fensters, das zu einer unserer Ferienwohnungen gehört, erinnert mich daran, dass der Empfang der neuen Gäste heute für mich mit das Spannendste war, das in letzter Zeit geschehen ist. Und damit meine ich konkret etwas Schönes. Etwas, das eine positive Veränderung verheißt und mich davor bewahren könnte, morgen denselben öden Trott wie immer durchzuspielen.
Unwillkürlich lächele ich und lockere den Griff meiner Finger um die Seile der Schaukel. Das ist eine weitaus hoffnungsvollere Zukunftsprognose als die, an die ich gestern noch geglaubt habe. Ich bin den immer gleichen Abläufen, den immer gleichen Orten, den immer gleichen Menschen so überdrüssig.
Bei dem Gedanken an Vinita und Philipp schnellt mein Puls in die Höhe und ich gebe mehr Schwung. Letzterer schien leider nicht allzu angetan von mir zu sein. Meine Begeisterung für ihn schmälert das nicht im Geringsten. Er hatte irgendetwas an sich, das mich gleich eingenommen hat. Ich mag es, den Leuten auf den Zahn zu fühlen und bin sicher, dass ich einiges aus ihm herauskitzeln kann. Obwohl er so steif rübergekommen ist. Das ist eine Challenge nach meinem Geschmack. Das Herumgeplänkel mit Vinita hat mir ebenfalls Spaß gemacht. Nur verliere ich schnell das Interesse, wenn mich jemand nicht tiefer bewegt und mehr als alles andere frage ich mich, getreu dem Motto Stille Wasser sind tief, was sich hinter Philipps hübscher Fassade verbergen mag.
Ich kann es nicht erwarten, das herauszufinden.
Vorfreude packt mich und meine Haut prickelt.
Vorausgesetzt, die beiden sind nicht doch ein Paar und Philipp ganz und gar hetero. Wie langweilig wäre das?
Ich verziehe das Gesicht, höre auf, weiter Schwung zu geben und nehme die Kopfhörer ab, so dass sie mir um den Hals hängen.
Nur weil mir das Geschlecht beim Verlieben egal ist, fahre ich nicht auf jede*n ab. Das hier passiert selten, was es umso aufregender macht. Sowohl Gender als auch Genitalien haben für mich keine Bedeutung, was mich dagegen packt und ausschlaggebend ist, sind der Vibe und die Persönlichkeit eines Menschen. Deshalb labele ich mich als pan statt als bi. Das heißt allerdings nicht, dass ich körperlichen Reizen gegenüber unempfänglich wäre, wenn ich erst einmal auf dieser anderen Ebene gecatcht wurde.
Als die Schaukel das nächste Mal nach vorne schwingt, lasse ich die Seile los und lande im Gras.
Von einer plötzlichen Müdigkeit befallen, betrete ich unser Haus durch den Hintereingang und schleppe mich in den ersten Stock, in der Hoffnung, dass Opa noch wach sein möge. War ich eben froh darüber, für mich zu sein, kann ich es allein auf einmal schwer aushalten. Ich will nicht in meine eigenen vier Wände. Mama möchte ich trotzdem nicht begegnen, weshalb ich die Zeit im Flur auf ein Minimum zu reduzieren versuche.
Nach einem Blick nach links und rechts betätige ich den Türklopfer an der Tür vor der Wohnung meiner Großeltern. Dadurch weiß Opa gleich, dass ich es bin, und ich reiße ihn nicht allzu unsanft aus dem Schlaf, falls er schon zu Bett gegangen sein sollte.
Meine kleine Einzimmerwohnung liegt im dritten Stock direkt unter dem Dach. Meine Mutter wohnt in der Wohnung unter meiner, in die wir nach ihrer Trennung von Papa zuerst gemeinsam gezogen waren. Hoffentlich nimmt Mama es mir nicht übel, dass ich heute Abend nicht noch mal bei ihr vorbeischaue. Das kann ich gerade nicht, weil sich von ihr loszueisen immer schwierig ist. Und das ist mein Leben ohnehin schon.
Jetzt verdrehe ich von mir selbst genervt die Augen. Lächerliche Anstellerei. Schließlich geht es mir und uns viel besser, als es lange Zeit der Fall war.
Ich lausche. War das ein Schlurfen von Pantoffeln hinter der Tür? Sobald Opa die Wohnung öffnet, fällt mir ein Stein vom Herzen. Unter dem Alt-Herren-Bademantel schaut seine Schlafanzughose hervor und der Anblick ist mir so vertraut, dass alles wieder etwas heller wird. Meinen Großvater in diesem Aufzug verbinde ich nur mit guten Erinnerungen. Verregnete Spielenachmittage mit heißem Kakao und Kastanientiere bauen, Malbücher füllen und das erste Mal Der Herr der Ringe schauen.
»Huch, Junge.« Opa reibt sich die Augen. Das schwarze Brillengestell sitzt ihm schief auf der Adlernase. »Was machst du so spät hier?«
»Kann nicht schlafen«, sage ich, obwohl ich es nicht mal probiert habe. »Tut mir leid. Habe ich dich geweckt?«
Opa macht eine beschwichtigende Handbewegung. »Nein, nein. Komm rein.«
Anders als bei mir unter dem Dach ist es bei meinen Großeltern nicht brüllend heiß.
Es gäbe vieles, das ich sagen könnte. Trotz der unleugbaren Verbundenheit zwischen Opa und mir schweige ich. Unsere Kommunikation beschränkt sich meist eher auf wenige Worte. Wenn wir Zeit zusammen verbringen – ob bei der Arbeit oder in der Freizeit – sind wir in der Regel mit irgendetwas beschäftigt oder wir suchen uns etwas zu tun. Die ausführlichsten Gespräche, die wir je geführt haben, waren jene, als ich mich vor ihm und meiner Großmutter geoutet habe. Zuerst als lesbisch, später als trans* Junge und dann noch mal als pansexuell. Wenn ich bei einem das große Los gezogen habe, dann mit meinen Großeltern. Sie sind verständnisvoll und tolerant. Und sie lieben mich.
Mein Blick wandert durch die urige Küche und bleibt am Kühlschrank hängen. Neben einem Einkaufszettel, der von meiner Oma in ihrer winzigen Handschrift verfasst wurde, klebt ein buntes Origamipapierboot, das vermutlich aus meiner Kindergartenzeit stammt. Dazu ein Foto von Fasching, auf dem mein Bruder André und ich als Asterix und Obelix verkleidet sind und mit Zahnlücken in die Kamera grinsen. Weil mich der Anblick angesichts dessen, was später passiert ist, schmerzt, versuche ich, unsere Gesichter auszublenden.
»Für dich auch ein Radeberger?«, erkundige ich mich bei meinem Großvater.
Opa winkt abermals ab. »Na, ich werde leider nicht jünger.«
Also hole ich nur eine Bierflasche für mich aus dem Kühlschrank, versuche, mir bei solchen Bemerkungen nicht gleich in die Hose zu machen. Es ist keine Woche her, dass wir gemeinsam die ausrangierten Möbel aus einer der Ferienwohnungen die Treppe runter und zur Straße für den Sperrmüll getragen haben. Für seine achtundsechzig Jahre ist mein Großvater fit wie ein Turnschuh.
»Spielen wir Mau-Mau?«
Mir ist nicht danach zu quatschen, ich muss aktiv, im Handlungsmodus bleiben. Ich bin mir darüber im Klaren, dass Opa mir zuhören würde, nur kann ich mich in dieser Sache niemandem anvertrauen. Ihm oder Oma zu sagen, was mich belastet, hieße, sie alle zu verletzen, und ich habe es ihnen schon schwer genug gemacht. Mir wird ein bisschen übel. Es erscheint mir wie das Mindeste, bei meiner Familie in Pirna zu bleiben, um die Schuld, die ich auf mich geladen habe, abzutragen. Außerdem schätzen meine Großeltern meine Hilfe in der Pension und Mama würde es das Herz brechen, wenn ich sie verlasse. Ich werde hier gebraucht.
Auf meinen Vorschlag mit dem Spiel steigt Opa zu meiner Erleichterung gleich ein und holt die Karten aus der Schublade. Im Schneidersitz lasse ich mich auf einem der Küchenstühle nieder, öffne die Bierflasche an der Tischkante und nehme den ersten wohltuenden Schluck, während ich ihm dabei zuschaue, wie er die Karten mischt und schließlich austeilt.