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31 Silben und 5 Zeilen, die die Welt anhalten
Tanka, diese älteste Gedichtform Japans, bannt den Augenblick zu einem lyrischen Schnappschuss des Lebens. Ursprung des Haiku, schließen sich auch beim Tanka Spontanität und tiefe Allgemeingültigkeit nicht aus, wie die vorliegende Auswahl eindrücklich beweist: Sie folgt in über 250 Fünfzeilern dem japanischen Tanka-Großmeister Wakayama Bokusui, zeugt von dessen intensiven Naturbegegnungen, von gelingender und vergehender Liebe und tiefen seelischen Krisen. Radikal subjektiv, doch angenehm unpathetisch im Ton, lassen seine 100 Jahre alten Gedichte einen modernen Zeitgenossen erkennen.
«Den Fluss hinunter
geht es zum Meer: blauwogende
Wellen – die Stadt
gefärbt von aufbrechenden
Knospen der Bergkirschbäume»
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Seitenzahl: 95
Zum Buch
Im Tanka, der ältesten Gedichtform Japans und Ursprung des Haiku, verbindet sich Spontanität mit Weisheit und zeitloser Gemeingültigkeit. Tanka bannen den Augenblick, sind lyrische Momentaufnahmen des Lebens. Die vorliegende Auswahl folgt in über 250 Fünfzeilern dem japanischen Tanka-Großmeister Wakayama Bokusui, zeugt von dessen intensiven Naturbegegnungen, von gelingender und vergehender Liebe und tiefen seelischen Krisen – radikal subjektiv, doch unpathetisch im Ton.
Zu den Autoren
Wakayama Bokusui (1885–1928) wuchs in einem entlegenen Tal der japanischen Insel Kyûshû auf. Noch während seines Studiums in Tokio veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband und galt schon wenig später als eine der führenden Dichterpersönlichkeiten des Landes. Die heutige Popularität des Tanka ist in Japan untrennbar mit seinem Namen verknüpft.Eduard Klopfenstein (geb. 1938) lehrte Japanologie an der Universität Zürich. Er machte sich u.a. mit der Übersetzung klassischer Tanka sowie der Essays von Tanizaki Jun‘ichirô («Lob des Schattens» u.a.) einen Namen. Für seine vielfältigen Bemühungen um die Vermittlung der japanischen Kultur wurde er 2010 mit dem «Order of the Rising Sun» ausgezeichnet.
Wakayama Bokusui
INDERFERNEDERFUJIWOLKENLOSHEITER
Moderne Tanka
Ausgewählt, übersetzt und mit einem Nachwort von Eduard Klopfenstein
MANESSEVERLAG
I Stimme des Meeres (1908) Allein kann ich singen (1909) Abschied (1910)
Shiratori wa
kanashikarazu ya
sora no ao
umi no ao ni mo
somazu tadayou
1907
I, 13, 1 · vgl. hier
Weiße Schwäne
seid ihr nicht traurig
so zu schweben
ungefärbt vom Blau des Himmels
vom Blau des Meeres
1907
I, 13, 1
Im Dunkeln
ist es nun kühler – noch kühler
der Sand
Ich lege mich nieder am Strand
lausche den schwarzen Fluten
Sommer 1906/07
I, 14, 3
Auch heute
dichte ich Verse
weiß nicht warum
getrieben von Sehnsüchten
Traurigkeiten
1907
I, 12, 1
In der Ferne der Fuji
Im Lande Musashi
strahlender Herbstmorgen
Ein Tag zum Buchweizensäen
Hinaus ihr Enkel kommt mit!
Herbst 1904
I, 301, 3
Vogelgezwitscher
wie plätscherndes Wasser
Bergkirschen blühen
zur Mittagszeit zwischen Kiefern
in Waldestiefe
Mai 1906
I, 35, 9
Angelehnt neige ich
mein Gesicht zum Baum hin
Da pocht an die Wange
kaum spürbar der Pulsschlag
des herbstlichen Waldes
Herbst 1906
I, 23, 3
Dort wo die Berge
sich drängen im Lande Hyūga
wohnt an dem einen Berg
die Mutter nach der ich mich sehne –
strahlender Herbsttag
November 1906
I, 33, 1
Mutter voll Liebe
denk ich an dich ein Abend
an dem mir die Berge
der Heimat vor Augen stehen
in voller Blütenpracht
Februar 1907
I, 29, 3
Vater! Mutter!
Wie ehrwürdige Göttergestalten
habt ihr gelebt
getragen von Erinnerungen
unter Bergkirschblüten
Februar 1907
I, 29, 5
Den Fluss hinunter
geht es zum Meer: blau wogende
Wellen – die Stadt
gefärbt von aufbrechenden
Knospen der Bergkirschbäume
Februar 1907
I, 37, 5
Zwei Wolken
streben aufeinander zu
trennen sich wieder
schwinden dahin in die blaue Weite
des Frühlingshimmels
Februar 1907
I, 39, 2
Sie stampfen die Erde
und bleiben doch ohne Laut
meine Strohsandalen
Kurz vor dem Aufblühn: wilde Kirschen
Bergesstille
Frühling 1907
I, 44, 3
Auch heute wieder
geh ich weiter sehnsuchtsvoll
lasse mein Herz
das Pilgerglöcklein
klingen klingen
Juni 1907
I, 45, 1
Wenn viele Berge
Flüsse überschritten sind
kommt wohl ein Land
wo Einsamkeit ein Ende hat
Auch heute geht die Reise weiter
Juni 1907
I, 45, 3
Sehnsüchtige Liebe –
einfach nur dies von Groll oder Zorn
nicht die leiseste Spur
jetzt in der Dämmerung da ich mich
an die Brüstung der Herberge lehne
Juli 1907
I, 46, 3
Stell dir vor: Eine
mächtige alte Schirmpalme –
und auch den Mann
der im Palmwedelschatten
wie versteinert aufs Meer blickt
Juli 1907
I, 46, 7
Im Lande Hyūga
wo das Kap von Toi
sich vorschiebt
in die blaue Flut – dort an der Spitze
lausche ich allein dem Meer
Juli 1907
I, 47, 2
Kläglich tönt’s
als kaum hörbare
Stimme
aus der angeschwemmten Kokosnuss –
bläst man in die hohle Schale
Juli 1907
I, 47, 1
Das Schiff legt an
Ein sternenübersäter Himmel
spannt sich übers Land
und mittendrin erhebt sich
wundersam der Berg
August 1907
I, 47, 6
Wenn es Abend wird
senken sich irgendwann
die Wolken herab
lagern sich zum Schlaf auf die Gipfel
dieses gebirgigen Landes
August 1907
I, 49, 3
Sieh nur wie unter
herbstlicher Sonne Gräser und Bäume
verstummen
wie sie sich bald mit dem Gelb
des Verblühns und Verwelkens färben
Herbst 1907
I, 33, 6
Kokawa-Tempel –
Höre wie Scharen von Pilgern
mit ihren Glöckchen
vorüberbimmeln
zwischen herbstlichen Bäumen
Herbst 1907
I, 53, 5
Stielblütengräser
Rote Pimpernelle Binsenhalme –
Herbstgräser
als Zeichen tiefer Einsamkeit
will ich dir schicken
Herbst 1907 (?)
I, 144, 3
Ich irre umher
zwischen dem sonnengleißenden Meer
dem Himmel
und deiner Brust
wo mein Herz ruht
Neujahr 1908
I, 16, 1
Ah unsere Küsse –
Das Meer bewege sich nicht!
Die Sonne stehe still!
Und der Vogel sterbe dahin
im Fluge hier und jetzt!
Neujahr 1908
I, 16, 3
Wir küssen –
vor uns ausgebreitet
endlos
die Weite des Meeres
Gott wo verweilst du …
Neujahr 1908
I, 16, 4
Sieh die Berge
die Berge im Glanz der Sonne
Sieh das Meer
das Meer im Glanz der Sonne
Und nun deine Lippen Geliebte …
Neujahr 1908
I, 16, 5
Mitten am Tag –
tot liegt die blaue Meeresfläche da
Im Schatten der Felsen
wuseln winzige Muscheln
auf der Suche nach einer Gefährtin
Neujahr 1908
I, 17, 8
Die Berge schlafen
und am Fuß der Berge
ruht das Meer –
Ich ziehe durch ein Land
voll Frühlingssehnen
Frühlingsanfang 1908
I, 165, 2
Auch nur
rote Marken auf diesen Brief
zu kleben
bringt mein Herz in Aufruhr –
Abend voll Sehnsucht …
Februar 1908
I, 179, 6
Los! Brechen wir auf!
Noch nie gesehene Berge
lass uns wandernd schauen
Diese Einsamkeiten –
wirst du sie ertragen?
April 1908
I, 72, 1
Auf! Gehn wir!
Ohne zu wissen wohin –
Bleiben wir stehen
überkommt uns Trauer
Auf also! Du! Mach schnell!
April 1908
I, 72, 5
Pflücken und streuen …
Wir pflückten Feldblumen am Weg
und streuten sie aus
bis sie sich hinter uns
ins Weite zogen
25. April 1908
I, 73, 8
Mitten im Hain
eines alten Tempels
in einem Häuschen
wohnte ich – wartete
Abend für Abend auf dich
Sommer 1908
I, 75, 1
Zwischen Bäumen weiße Wolken
Mitten in der Regenzeit
hellt es auf
Im sonnigen Garten meine Gefährtin
die Blumen pflanzt
Sommer 1908
I, 75, 5
Meine Gefährtin
hüllte sich ganz in Weiß
als mit einem Mal
der heitere Sommer da war:
eine schlankere Gestalt
Sommer 1908
I, 75, 7
Nachts scheint es
als rage er hoch empor
bedecke den Himmel
Über Tag sieht er niedrig aus:
der rauchspeiende Berg
August 1908
I, 78, 3
Den Blick auf die Rauchsäule
des Feuerbergs weit drüben
gerichtet
blieb ich auch heute einsam
den ganzen Tag lang
Januar 1909
I, 97, 1
Mit Wehmut denke ich
zurück an meine Gedichte
Jedes einzelne
ein Fußabdruck den ich
auf dieser Erde hinterlasse
Januar 1909
I, 98, 8
Der Fuji-Gipfel
trat hervor jenseits des Meeres
In Frühlingstagen
standen wir in Awa
an der Küste
Februar 1909
I, 114, 3
Frühlingsdunst –
verschleierte Mondnacht –
Wir auch
wandelten dahin gleich Schatten
abgefallener Blätter
Februar 1909
I, 114, 4
Hellweißer
Frühlingsmittag – fern ein Schiff
das diesen Hafen meidet
es gleitet hin entschwindet
hinter dem Vorgebirge …
Januar 1910
I, 254, 7
II Auf dem Weg (1911) Tod oder Kunst (1912)
Shiratama no
ha ni shimitōru
aki no yo no
sake wa shizuka ni
nomubekarikere
Herbst 1910
II, 29, 6 · vgl. hier
In Meerestiefen
wohnen Fische ohne Augen
so heißt es –
Fisch ohne Augen
wie gern wär ich das!
Januar 1910
II, 12, 1
Ein Leben
ohne Licht das gibt es –
In einer solchen
Welt sein Dasein fristen …
Welche Einsamkeit
Januar 1910
II, 13, 1
Schwapp schwapp schwapp
Sake planscht im vollen Fass
armes Herz
allein
schwankt im selben Takt
Januar 1910
II, 13, 3
Meine Heimat
war ein Berg tief hinter Bergen
Dort klammerte ich mich
an die Brust
meiner blutjungen Mutter
Frühling 1910
II, 17, 8
Die Gedanken schweifen
in jenes hellgrüne Tal
zwischen den Bergen
zu jener Morgeneinsamkeit
als ich zur Welt kam …
Frühling 1910
II, 18, 1
Vom Kräuterpflücken
haftet noch der Geruch
an den Fingerspitzen
Unversehens beim Waschen
erhebt sich der Mond übers Feld
Frühling 1910
II, 21, 9
Wo Berg an Berg steht
zwängt sich ein Wasserlauf
durch die Enge
Von Einsamkeit umgeben
dieses Fließen
Juni 1910
II, 23, 5
An meiner Seite
sprechen die Herbstgrasblüten:
Alles
was vorbei verloren ist
weckt Sehnsucht
Herbst 1910
II, 29, 5
Durch perlenweiße
Zähne dringt der Reiswein
abends im Herbst
du sollst ihn mit Bedacht
in aller Ruhe trinken
Herbst 1910
II, 29, 6
Beim Sake-Duft
entschwebt mein Geist
geradewegs
in einen Dunst
zartblauer Trauer
Herbst 1910
II, 33, 7
Vom Herbstwind
strahlend blauer Himmel –
Mit Vergnügen
weile ich am weißen Ufersaum
des Flusses Chikuma
Oktober 1910
II, 30, 3
Ich kehre heim
und klopfe an der hinteren Pforte
die Lärchennadeln
von den Ärmeln –
Abenddämmerung
Herbst 1910
II, 31, 6
Nimm Abschied! Weiter
weiter musst du eilen
Wanderer
Das Herbstgras an den Hängen
ist verdorrt …
Herbst 1910
II, 34, 1
Von aller Welt vergessen
schattenhaft allein
ist da ein Mensch
der weiter weiter treibt
auf seiner Reise
Herbst 1910
II, 35, 8
Als ich am Feuerberg
auf den stählernen Stamm
der alten Fichte schlug
da überschüttete mich
ein Geriesel von Nadeln
Herbst 1910
II, 34, 5
Am heißen Quell
im Schatten des Rauchs
vom Feuerberg
schlief er für eine Nacht
dann zog er seines Weges – der Wanderer
Herbst 1910
II, 37, 8
[Anarchisten-Prozess, Urteilsvollstreckung am 24.1.1911]
Zum Tod verurteilt
las – so höre ich – ein Angeklagter
von der Partei der Anarchisten
am Tag der Hinrichtung
in meiner Tanka-Sammlung «Abschied»
Januar 1911
II, 47, 4
Ein seichtes Rinnsal
ein verblasstes Indigo –
so zog
der Tama-Fluss vorüber
Trüb ist dieser Februar!
Februar 1911
Fujioka S. 160
Schöpfte Wasser
mit Händen warf wild
mit Steinen
spielte allein mit dem Fluss –
kehrte weinend zurück
Februar 1911
II, 49, 3
Wenn am Tama-Fluss
im Ufersand der Löwenzahn
hervorsprießt
wird es Zeit dass auch für mich
eine neue Liebe blüht
Februar 1911
II, 48, 3
Ich liege
im dürren Gras mein Hund
kommt näher
möchte spielen guckt mir ins Gesicht
guckt mir in die Augen
Februar 1911
II, 53, 4
Deine Haare
sind Wörter wenn sie
meine Finger streifen
Auch du allein mein Hund –
Trübseliger Abend!
Februar 1911
II, 54, 1
Über fünf Jahre
waren wir in Gesprächen
miteinander verbunden –
Wie viele Tage davon
waren mit Freude erfüllt?
März 1911
II, 54, 8
Rückhaltlos
mit Schmerzen hab ich
meine jungen Tage
für diese unbedingte
Liebe eingesetzt
März 1911
II, 54, 4
Weder konnten wir
in einem Haus zusammenwohnen
– sei’s auch nur für einen Tag –
noch konnte ich vergessen
So verkümmerte mein Herz
März 1911
II, 54, 9
Weit oben
am Fluss am Mimitsu-gawa
in meiner Heimat
wartet nun wohl die kranke Mutter
sehnlichst auf mich
März 1911
II, 58, 8
Hinein ins Dickicht
der Kiefernnadeln scheint rot
die Abendsonne
Drin wie ein Kiefernzapfen
sitzt eine Meise und singt
Sommer 1911
II, 63, 5
Im Kiefernwald
legte ich mich zur Ruhe
Da flatterte
zwitscherte es über mir …
eine Schwalbe flog tanzend vorüber
Sommer 1911
II, 64, 2
Des Kiefernharzes
frischer bläulicher Geruch
wandelt sich zu Blut
das in meinem Körper kreist
Nachmittag im tiefen Wald
Sommer 1911
II, 64, 4
Kreidebleich