Amalia Zeichnerin
In Vino Veritas
Ein viktorianischer Krimi mit
Mrs und Mr Fox
Viktorianischer Krimi
Inhaltsverzeichnis
In Vino Veritas
Kapitel 1 – Clarence
Kapitel 2 – Clarence
Kapitel 3 – Mabel
Kapitel 4 – Mabel
Kapitel 5 – Clarence
Kapitel 6 – Mabel
Kapitel 7 – Mabel
Kapitel 8 – Clarence
Kapitel 9 – Mabel
Kapitel 10 – Mabel
Kapitel 11 – Clarence
Kapitel 12 – Mabel
Kapitel 13 – Mabel
Kapitel 14 – Clarence
Kapitel 15 – Clarence
Kapitel 16 – Clarence
Impressum
Orientierungsmarken
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1 – Clarence
Montag, 7. April 1879
Clarence Fox blickte aus dem Schaufenster seines Fotoateliers. Regentropfen klopften an die Scheiben, die im schwächer werdenden Tageslicht rötlich-blau glänzten. Doch das trübe Wetter störte ihn nicht, schließlich war heute ein ganz besonderer Tag für ihn. Wohlgelaunt summte er vor sich hin. Die Dämmerung senkte sich allmählich über den Stadtteil. Zahlreiche Passanten eilten vorbei, viele davon mit einem dunklen Regenschirm. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite trat ein kleiner Junge mitten in eine Pfütze, woraufhin eine Dame mittleren Alters sich erbost zeigte und lauthals schimpfte.
Clarence sah sein eigenes Spiegelbild in der Scheibe und strich sich über den dunklen Bart, der teilweise schon grau wurde. Sein letzter Kunde war soeben gegangen. Er schloss die Eingangstür ab und blickte hinüber zu dem gepolsterten Stuhl, auf dem bereits so viele Leute Platz genommen hatten, um für eine Abbildung zu posieren. Auch die bedauernswerte Pauline Westray, die ausgerechnet auf jenem Stuhl im vergangenen Herbst ums Leben gekommen war. Einen Moment lang sah er sie wieder deutlich vor sich, hustend und mit verkrampftem, gerötetem Gesicht. Clarence schüttelte die scheußliche Erinnerung ab. Es gab keine Geister, davon war er überzeugt, auch wenn in seinen Träumen oft die Gesichter der Toten aus dem Krieg auftauchten. Aber das waren schließlich nur nächtliche Hirngespinste, nichts weiter!
Allerdings war er heilfroh, dass sich die Kunde von einem Todesfall in seinem Atelier nicht in der Nachbarschaft herumgesprochen hatte – und das, obwohl sogar ein Journalist hier aufgekreuzt war. Viele Menschen in diesem Land waren abergläubisch und es gab zahlreiche Erzählungen über angebliche Geistererscheinungen in der Stadt. Vielleicht hätte sich manch potenzieller Kunde nicht mehr hierhergewagt. Clarence fegte die unangenehmen Gedanken, die sich an manchen Tagen eben doch nicht so leicht abschütteln ließen, beiseite. Der Todesfall lag Monate zurück und gemeinsam mit Mabel, seiner geliebten Frau, hatte er die Hintergründe aufgeklärt. Das alles lag zum Glück hinter ihnen.
Außerdem hatte er heute etwas zu feiern, und das wollte er in vollen Zügen genießen! Er schloss auch die Hintertür ab, die zum Treppenhaus führte, und hinkte die Stufen hinauf. Mabel begrüßte ihn im Flur mit einem Kuss auf die Wange und einer herzlichen Umarmung. Er genoss die Berührung und tätschelte ihr den Rücken. »Meine besten Wünsche zu deinem Jubiläum, mein Liebster«, sagte sie strahlend. »Ich freue mich sehr für dich!«
Ihr Lächeln war ansteckend. »Ich danke dir. Ja, ich freue mich auch«, erwiderte Clarence. »Lass uns zur Feier des Tages den guten Wein aufmachen.« Vergessen war die traurige Erinnerung an Miss Westray. Stattdessen ergriff eine fast euphorische Hochstimmung von ihm Besitz. Vor genau zwei Jahrzehnten, am 7. April 1859, hatte Clarence begonnen, mit seinem Vater im Atelier zu arbeiten, und es nach dessen Tod einige Jahre später übernommen. In seiner Anfangszeit hatten sie noch die damals verbreitete Daguerreotypie für Abbildungen verwendet, mittlerweile hatte sich die Kollodium-Nassplatte durchgesetzt.
Seine Freude spiegelte sich in Mabels Miene wider. Sie nickte ihm zu. »Sehr gern.«
Nun kam ihm allerdings ein anderer Gedanke, der ihn ein wenig melancholisch stimmte. Er seufzte leise und folgte seiner Frau ins Wohnzimmer.
Mabel blickte ihn irritiert an. »Was ist denn?«
»Ach, ich kann einfach nicht glauben, dass es schon so lange her ist. Zwanzig Jahre! Wo ist nur die Zeit geblieben? Ich bin alt geworden.«
Mabel legte den Kopf schief und schmunzelte. »Mein lieber Fuchs, wir werden doch alle jeden Tag älter.«
»Du hast natürlich recht.« In der Tat hatte Clarence ausreichend Gelegenheit gehabt, sich an das Älterwerden zu gewöhnen. Es hatte ihm die ersten grauen Haare beschert und immer mal wieder Schmerzen in seinem versehrten Bein. Nein, das stimmte nicht ganz, mit den Schmerzen lebte er schon, seit er im Krimkrieg verwundet worden war. Clarence trat an das kleine Weinregal, das neben dem Bücherregal stand, und betrachtete die verschiedenen Etiketten. Wein tranken sie beide immer nur zu besonderen Anlässen, und Clarence war alles andere als ein Weinkenner. In der Weinhandlung jedoch, die er gelegentlich besuchte, fühlte er sich stets gut beraten. Nach einer kurzen Überlegung griff er nach einer Flasche eines roten Bordeaux.
»Wie wäre es mit einem halbtrockenen Rotwein?«, fragte er und wandte sich zu Mabel um, die am bereits gedeckten Esstisch saß und auf ihn wartete. Aus der Küche wehte verführerischer Bratenduft herein.
»Es ist dein Jubiläum. Ich richte mich ganz nach dir«, erwiderte sie mit einem Lächeln.
Nach dem Öffnen sollte der Wein eine Weile atmen, also tranken sie ihn nicht gleich. Stattdessen schwelgte Clarence, der seiner Frau gegenüber Platz genommen hatte, in Erinnerungen über seine Anfänge im Fotoatelier. Insbesondere einige Erlebnisse aus der Anfangszeit hatten sich ihm tief eingeprägt. »Ach, ich weiß noch genau, wie aufgeregt ich war, als ich den ersten Kunden allein bedient habe. Himmel, mir haben sogar die Hände gezittert – gar nicht gut für einen Fotografen!«
»Zum Glück hat sich das ja mit der Zeit gelegt.« Mabel streichelte über den Tisch hinweg seine Hand.
»Allerdings.« Clarence nahm die Flasche zur Hand und schenkte ihnen beiden ein. Das Aroma des Weins drang ihm in die Nase und er freute sich darauf, den guten Tropfen zu kosten.
Mabel hob ihr Glas und sah ihm in die Augen. »Auf die erfolgreiche Vergangenheit – und auf viele weitere gute Jahre mit dem Atelier.«
Er nickte ihr zu. »Darauf trinke ich. Zum Wohl!«
Sie stießen an; ein feines »Ping« ertönte.
Das Geschäft mit dem Fotoatelier lief so gut wie eh und je. Natürlich war nicht jeden Tag viel zu tun, manchmal hatte Clarence nur wenige Kunden. Aber unterm Strich lohnte es sich. Schließlich gab es zahlreiche Anlässe, die die Einwohner aus dem Viertel nutzten, um sich von ihm abbilden zu lassen: Hochzeiten zum Beispiel. Familien oder Paare ließen Gruppenbilder von sich anfertigen, außerdem hatte er auch schon einige Leute abgebildet, die einander freundschaftlich verbunden waren, darunter die älteren Nachbarinnen Miss Gettis und Miss Clover, die sich eine Wohnung hier im Haus teilten. In manchen Fällen, wie jenem der bedauernswerten Pauline Westray, brauchten Leute ein Bild von sich für eine Arbeit. Dabei handelte es sich in den meisten Fällen um die darstellenden Künste – Gesang, Tanz oder Schauspiel.
Clarence nahm einen ersten Schluck. Der Mitarbeiter der Weinhandlung hatte ihn wirklich gut beraten; dieser Bordeaux hatte ein angenehm fruchtig-würziges Aroma mit einem Hauch von … war das Vanille? Jedenfalls harmonierten die Geschmacksnoten perfekt. »Köstlich, findest du nicht auch?«, fragte er seine Frau.
Mabels Lächeln vertiefte sich. »Eine gute Wahl, ja.«
Angesichts seines Jubiläums spielte er mit einer Idee. »Ich überlege gerade, ob ich zu diesem feierlichen Anlass wieder einmal eine Rabattaktion starten sollte. Das habe ich schon lange nicht mehr getan und es zieht doch jedes Mal Kunden an, die ansonsten womöglich nicht ins Atelier kommen würden.«
Mabel nippte an ihrem Wein, ehe sie ihm antwortete. »Ja, warum nicht? Aber wähle keinen so langen Zeitraum, mein lieber Fuchs, sonst zieht es dir das Geld aus der Tasche.«
»Ich dachte an zwei Wochen. Ich werde nachher ein entsprechendes Schild malen und es ins Schaufenster hängen.«
»Eine gute Idee. Ach, bevor ich es vergesse«, Mabel stellte ihr Glas vor sich ab, »du hast Post von den Holbrooks‘, mein Lieber.«
»Tatsächlich? Vielleicht eine Einladung? Lass mich doch mal bitte sehen.«
Mabel erhob sich und ging zu dem alten Sekretär hinüber, ein Erbstück seines Vaters. Anschließend überreichte sie Clarence einen versiegelten Brief. »Den hat ein Bote vorhin gebracht.« Sie nahm wieder Platz.
»Ich danke dir. Ich könnte mir vorstellen, dass es etwas mit Nellie Holbrooks und unserem Sohn zu tun hat.«
Ihr Sohn Theodor, der lange Zeit Junggeselle gewesen war, bewegte sich mittlerweile auf Freiersfüßen. Seine Herzensdame war ihnen keine Unbekannte; Nellie Holbrooks war die Tochter eines ehemaligen Lieutenant Colonel, der im Krimkrieg zu Clarences Vorgesetzten gezählt hatte. Clarence hatte ihn bei Veteranentreffen auch noch nach dem Krieg gelegentlich gesehen. Die Welt war klein; Theodor und Nellie Holbrooks hatten sich Anfang des Jahres über gemeinsame Bekannte kennengelernt und sich kürzlich verlobt. Clarence freute sich sehr für seinen Sohn, weil er nach all der Zeit eine Frau gefunden hatte, mit der er sich das Eheleben vorstellen konnte. Theodor konnte ziemlich wählerisch sein.
Mabel und Clarence hatten das Ehepaar Holbrooks aus diesem Anlass vor einiger Zeit besucht, aber der ehemalige Lieutenant Colonel hatte an jenem Abend nach dem Essen über Unwohlsein geklagt, sodass sie schon recht bald wieder aufgebrochen waren.
Clarence öffnete den Brief und begann zu lesen. Er konnte nicht glauben, was darin stand; die Zeilen verschwammen einen Moment lang vor seinen Augen. Eine Welle von Übelkeit rumorte in seinem Magen. Er zwang sich, alles noch einmal zu lesen.
Mabel sah ihn besorgt an. »Was ist denn? Sind es schlechte Nachrichten?«
»Mr Holbrooks … er ist tot«, brachte Clarence mit heiserer Stimme hervor. Er war im Begriff, sich mit einer Hand über die Augen zu fahren, stieß jedoch gegen das halb volle Weinglas. Es fiel um, ehe er es fassen konnte, und der Wein ergoss sich auf die feine, weiße Tischdecke. Wie Blut. Nein, rief er sich zur Ordnung. Er war nicht mehr im Krieg. Die blutigen Zeiten lagen lange hinter ihm. »Ach, so ein Missgeschick, der gute Wein!«, rief er. »Und die Tischdecke! Mabel, es tut mir leid.«
Mabel war bereits aufgesprungen und steuerte die Küche an. »Ich hole Speisestärke!«, rief sie. »Das hilft hoffentlich gegen den Fleck.«
Das musste eines dieser Hausmittel sein, die gern in Ratgebern für Haushaltsführung genannt wurden. Die Speisestärke würde den Rotwein aus dem Stoff saugen, wenn er mit seinen Kenntnissen der Chemie richtiglag. Er starrte auf den Brief, einen Moment lang unfähig, sich zu bewegen.
Mabel kam mit der Packung Speisestärke zurück und schüttete das Pulver großzügig auf den Fleck. Wie erwartet, saugte es sich rasch voll. »Lass uns abdecken, ja?«, bat sie ihn. »Dann kann ich die Decke nachher einweichen. Vielleicht ist sie noch zu retten.«
Ihre Bedienstete Lindsey hatte an diesem Abend frei, sonst hätte sie sich darum kümmern können. Clarence erwachte aus seiner Erstarrung und legte den Brief auf den freien Stuhl neben sich. Danach stellte er das Geschirr, das Besteck, die Weinflasche und die Gläser auf den Beistelltisch, sodass Mabel die Tischdecke abziehen konnte. Der bereits genossene Wein hinterließ einen reichlich schalen Geschmack in seinem Mund; verflogen war das angenehme Aroma. Sie hatten noch nicht zu Abend gegessen, doch ihm war der Appetit gründlich vergangen. Stattdessen hatte sich ein schmerzender Knoten in seinem Magen gebildet.
Mabel räusperte sich. »Wie kann das sein? Mr Holbrooks hat sich doch bester Gesundheit erfreut, als wir ihn und seine Frau im März besucht haben.«
Clarence antwortete ihr mit tonloser Stimme; er fühlte sich wie betäubt. »Zur Ursache steht dort nichts. Das hier ist eine Einladung zur Beerdigung. Diese findet am Sonnabend, den neunzehnten April statt. Erinnerst du dich noch, wie er über Unwohlsein geklagt hat, als wir bei ihnen zu Besuch waren?«
»Ach ja, stimmt«, sagte Mabel und brachte die Tischdecke in die Küche. Als sie zurückkam, fuhr sie fort: »Nun, ich dachte mir, das sei eine Unpässlichkeit, nichts weiter. Ich habe dem keine große Bedeutung beigemessen.« Mabel sah Clarence mit großen Augen an. Dann umarmte sie ihn und tätschelte seine Schulter. »Was für traurige Nachrichten. Und das ausgerechnet heute!«
Er fuhr sich über die Stirn. »Traurige Nachrichten kommen immer ungelegen.«
»Ja, das ist allerdings wahr. Entschuldige mich, ich bin gleich wieder da. Der Braten und die Kartoffeln müssten inzwischen gar sein.«
Als sie Minuten später erneut am Esstisch saßen, nun mit einer frischen Tischdecke, war Clarences Appetit noch immer nicht zurückgekehrt. Er stocherte mit der Gabel in seinem Essen herum. »Ich begreife das nicht«, sagte er leise. »Er war doch nur rund zehn Jahre älter als ich.«
Horatio Holbrooks und er waren sich vor über sechsundzwanzig Jahren zum ersten Mal begegnet, als er im 57. Regiment gedient hatte. Holbrooks hatte in seiner Funktion als Lieutenant Colonel rund sechshundertfünfzig Mann befehligt, während Clarence – damals einundzwanzig Jahre alt – ein einfacher Soldat gewesen war. Lieutenant Colonel Holbrooks war hart, aber gerecht gewesen und hatte seinen Untergebenen keine Dummheiten durchgehen lassen. Außerdem hatte er sich dafür eingesetzt, dass die Soldaten in seinem Regiment fair behandelt und die Schwerverletzten so rasch wie möglich in Lazarette transportiert wurden. Im Grunde genommen hatte Clarence ihm sein Leben zu verdanken. Er senkte seinen Blick erneut auf den Brief. Es wollte ihm nicht in den Kopf, dass Mr Holbrooks aus dem Leben geschieden war.
»Vielleicht sollten wir seiner Frau Vivian einen Besuch abstatten«, überlegte Mabel. »Was meinst du?«
So war sie, stets pragmatisch. »Ja, das würde ich gern tun«, stimmt er ihr zu. »Sie wird jedoch alle Hände voll mit der Beerdigung zu tun haben.«
Mabel zuckte mit den Schultern. »Wir könnten ihr zumindest unsere Hilfe anbieten.«
Das war allerdings keine schlechte Idee. Das drückende Gefühl in seinem Magen nahm ein wenig ab, als er darüber nachdachte. Für gewöhnlich war es gut, in einer schwierigen Lage etwas tun zu können – und sei es nur, um sich weniger hilflos und ausgeliefert zu fühlen. »Ja, du hast recht, das sollten wir tun.«
»Gut, dann nehme ich die Einladung zur Beerdigung an und frage Mrs Holbrooks, ob sie helfende Hände gebrauchen kann.«
Dankbar nickte er ihr zu und legte das Besteck zur Seite.
Auch den Rest des Abends fühlte sich Clarence noch immer ein wenig betäubt. Mr Holbrooks war kein enger Freund gewesen, aber immerhin der Vater seiner zukünftigen Schwiegertochter. Auch wenn sich die Übelkeit inzwischen gelegt hatte, wühlte die Nachricht über diesen plötzlichen Tod Clarence mehr auf, als ihm lieb war. Ein Teil von ihm wollte es nicht wahrhaben – noch nicht. Womöglich würde sich die Gewissheit erst während der Beerdigung einstellen.
Ihm fiel ein, dass er beschlossen hatte, ein Schild zu malen, das die Rabattaktion in seinem Fotoatelier anpries. Aber ihm war nicht danach, nicht an diesem Abend! Das Vorhaben würde er am nächsten Tag in Angriff nehmen.
Noch eine Weile saßen sie gemeinsam im Wohnzimmer. Während Mabel in einem alten Roman las, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte, versuchte Clarence sich auf die Abendzeitung zu konzentrieren. Doch seine Gedanken kehrten immer wieder zu dem Verstorbenen zurück. »Mir geht das mit Mr Holbrooks nicht aus dem Kopf«, sinnierte er. »Woran ist er nur gestorben? Ob eine Krankheit schuld an seinem Tod ist, die sich möglicherweise schon im März bei unserem Besuch angekündigt hat?«
Mabel sah von ihrem Roman auf und schenkte ihm ein trauriges Lächeln. »Näheres werden wir wohl auf der Beerdigung erfahren.«
Später, als es Zeit war, schlafen zu gehen, wünschte Mabel ihm eine gute Nacht. »Ich hoffe, du kannst trotz dieser schlechten Nachricht erholsam schlafen.«
»Das hoffe ich auch«, erwiderte Clarence, obwohl er ahnte, dass dem nicht so war. Schlechte Nachrichten und das Bewältigen von Problemen raubten ihm oft den Schlaf. Er gab Mabel einen Gutenachtkuss, wie es ihre Gewohnheit war. »Schlaf du auch schön.«
Sie lächelte. »Ich danke dir, mein Lieber.«
Tatsächlich war es nicht weit her mit seiner Nachtruhe, stattdessen wälzte er sich in seinem Schlafzimmer im Bett herum und grübelte. Woran war Mr Holbrooks nur gestorben? Als er endlich einschlief, geisterte Schlachtenlärm durch seine Träume, das Peitschen von Schüssen und das Donnern von Explosionen auf einem vom nebligen Dunst verhangenen Berg. Um ihn herum schemenhafte Gestalten und dann plötzlich das Gesicht eines Freundes, von Blut und Schlamm bedeckt …
Clarence schrak hoch und starrte in die Dunkelheit. Ein unkontrollierbares Zittern lief durch seinen Körper. Martin war ein Freund gewesen, der den Krimkrieg nicht überlebt hatte. Dessen Gesicht würde er nie vergessen, immer wieder hatte er es über die Jahre in diesen nächtlichen Hirngespinsten gesehen, die ihn glauben machten, er sei wieder im Krieg. Sein Pyjama fühlte sich klamm an, kalter Schweiß hing darin. Sein Herz raste. Er entsann sich des Ratschlags von Doktor Tyner für solche Fälle. Tief durchatmen! Also zwang er sich zu langen Atemzügen, um sich zu beruhigen. Ein … und aus. Es war nur ein Albtraum, redete er sich selbst Mut zu. Aber sein Herz raste noch immer und es dauerte eine Weile, bis es endlich wieder langsamer schlug. Ach, diese verdammten Ausgeburten der Nacht, die nicht aufhörten, ihn zu verfolgen! Dabei war der Krieg schon so lange her. Würde das denn nie aufhören?
*
Sonnabend, 19. April 1879
Zwölf Tage waren vergangen, seit sie die traurige Nachricht von Horatio Holbrooks’ Tod erhalten hatten. Währenddessen hatte Clarence wie gewohnt im Atelier gearbeitet, war jedoch häufig nicht bei der Sache gewesen, weil er immer wieder ins Grübeln geriet. In einem Fall war ihm, weil die Gedanken nicht aufhören wollten zu kreisen, ein Fehler bei der Belichtung unterlaufen, woraufhin er – sehr zum Ärger seiner Kundin – das gesamte Prozedere hatte wiederholen müssen.
Vivian Holbrooks hatte Mabel vor rund einer Woche auf deren Brief geantwortet, dass sie sich sehr über das Hilfsangebot freue, jedoch fürs Erste keine Hilfe benötige, da Verwandte und Freunde sie unterstützten.
Nun war der Tag der Beerdigung des ehemaligen Lieutenant Colonel gekommen: Sie fand auf dem Brompton-Friedhof im Bezirk Kensington und Chelsea statt, der rund sechzehn Hektar Land umfasste – zumindest hatte Clarence ihn bei einer Betrachtung der Stadtkarte so eingeschätzt. Mabel und er trugen dem Anlass entsprechend Schwarz. Mabel hatte auch im vergangenen Jahr eine Zeit lang Trauer getragen, um die verstorbene Pauline Westray zu ehren. Das war zwar nicht üblich, schließlich war Miss Westray lediglich eine Bekannte gewesen, aber Mabel hatte ihrer Trauer einen sichtbaren Ausdruck verleihen wollen.
Das Wetter war an diesem Tag wechselhaft – Wolken zogen rasch über den Himmel, dazwischen ließ sich die Sonne sehen. Typisch für den April! Ein Gebäude mit einem Säulenportikus bildete den Eingang des Friedhofs, dieser verfügte über ein hohes Bogentor. Wie auf der Stadtkarte angedeutet, war der Totenacker symmetrisch angelegt. Eine lange Hauptstraße führte vom Eingang bis zu einer großen Kapelle mit einem Kuppeldach. Direkt davor gab es einen runden Platz, der von Hecken umgeben war. Ein kühler Wind strich über die Gräber, aber immerhin war er nicht stark genug, als dass Clarence seinen Zylinder hätte festhalten müssen. In seinen Gedanken war er bei der letzten Beerdigung, die sie besucht hatten: Pauline Westray. Das war ein trauriger Anlass gewesen, allerdings hatte er der jungen Frau nicht so nahegestanden wie jetzt Horatio Holbrooks, der schließlich der Vater seiner zukünftigen Schwiegertochter war. Gewesen war, verbesserte er sich im Geiste. In den Bäumen ringsum krächzten einige Raben.
Mabel, Theodor und er gingen ein Stück, bis sie die Trauergemeinde an dem offenen Grab fanden, das im nordöstlichen Teil des Friedhofs gelegen war. Clarence musterte die Anwesenden verstohlen; mehrere von ihnen trugen Uniformen, die angesichts der schwarzen Kleidung der anderen Gäste für einige Farbtupfer sorgten. Ein, zwei Gesichter erkannte Clarence wieder und er begrüßte die Herren, die er während des Krimkrieges flüchtig kennengelernt hatte, darunter den Offizier Thomas Wheeler. Dieser hatte mit den Jahren an Gewicht zugelegt, er war sichtlich in die Breite gegangen. Während der Britischen Äthiopienexpedition, die elf Jahre zurücklag, hatte er bei einer Explosion ein Auge verloren, weshalb er eine Augenklappe trug, die ihm ein leicht verwegenes Aussehen bescherte. Von dem Vorfall hatte er Clarence anlässlich eines Veteranentreffens vor einigen Jahren erzählt.
»Schrecklich, nicht wahr?«, fragte der Offizier, nachdem er sie alle drei höflich begrüßt hatte. »Der gute Horatio war erst fünfundfünfzig. Wissen Sie, woran er gestorben ist, Mr Fox?«
Clarence verneinte. Wie sehr hatte er sich deshalb in den vergangenen Tagen den Kopf zerbrochen! »Das ist mir ein Rätsel. Sicher kann uns seine Witwe mehr darüber erzählen.«
Clarence trat zu Vivian Holbrooks. Sie hatte eine rundliche Figur und helle, wasserblaue Augen, dazu grau meliertes, dunkles Haar. Zuletzt hatten Mabel und er die Familie vor einigen Wochen besucht, gemeinsam mit Theodor, der seiner Nellie während des Abendessens schöne Augen gemacht hatte. Das durfte er natürlich, schließlich waren die beiden verlobt. Zu dem Zeitpunkt war noch alles in bester Ordnung gewesen, zumindest hatte es den Anschein erweckt. Nein, nicht ganz, Mr Holbrooks hatte an jenem Abend über Unwohlsein geklagt.
Das Gesicht der Witwe war aschfahl. Sie betupfte ihre vom Weinen geröteten Augen mit einem Spitzentaschentuch.
»Mein Beileid, von Herzen, Mrs Holbrooks«, sagte Clarence mitfühlend.
Mabel und Theodor kondolierten ihr ebenfalls.
Als sich Vivian Holbrooks gefasst hatte, atmete sie hörbar aus. »Ich danke Ihnen. Horatios Tod kam so plötzlich, ich bin immer noch fassungslos.« Für ein längeres Gespräch bot sich keine Gelegenheit, da Mrs Holbrooks von weiteren Trauergästen umringt war, die ihr ebenfalls ihr Beileid aussprechen wollten. Unter ihnen war ein älterer Mann in einem schwarzen Anzug, der Clarence bekannt vorkam.
»Liebe Mrs Holbrooks«, sagte der Mann, »mein herzlichstes Beileid. Ihr Gatte war einer der Besten aus unseren Reihen und es betrübt mich sehr, dass er so früh von uns gegangen ist.«
Clarence musterte ihn und grübelte. Woher kannte er den Mann?
Vivian Holbrooks senkte den Blick. »Major General Jowett, ich danke Ihnen.«
Der Angesprochene machte eine wegwerfende Handbewegung. »Lassen Sie meinen Titel ruhig weg, meine Liebe, ich bin ja schon seit Jahren außer Dienst.«
Aber natürlich! Nun fiel es Clarence wieder ein: Der Major General hatte die Division befehligt, in der er selbst im 57. Regiment gedient hatte. Das Alter war nicht gnädig mit Jowett gewesen – tiefe Falten hatten sich in sein Gesicht gegraben, der Teint eine Mischung aus Rosa, rötlichen Flecken und ungesundem Grau. Das Weiß in seinen Augen war von roten Äderchen durchzogen. Ein starker Geruch nach Tabak ging von dem Mann aus.
Clarence überlegte. Sollte er bei einer Vorstellung sein ehemaliges Regiment nennen? Nein, dies war nicht der Ort und vor allem nicht der Anlass für Erinnerungen an den Krieg.
Die Witwe machte sie miteinander bekannt und sein Gegenüber schüttelte ihm überraschend kräftig die Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mister Fox. Ich wünschte, es wäre unter angenehmeren Umständen geschehen.«
Clarence nickte ihm zu. »So geht es mir auch.« Vielleicht hatten sie später noch Gelegenheit für ein Gespräch.
Ein Geistlicher hieß nun die Trauergemeinde willkommen und hielt eine Rede auf den Verstorbenen, angereichert mit Zitaten aus der Bibel: »In Römer 6,23 heißt es: Denn der Tod ist der Sünde Sold; aber die Gabe Gottes ist das ewige Leben in Christo Jesu, unserm Herrn.« Als er mit einigen tröstlichen Worten über die Herrlichkeit des Reiches Gottes fortfuhr, ertappte sich Clarence dabei, dass er sich nur schwer auf das Gesagte konzentrieren konnte.
Beim Himmel, wie war es nur so weit mit Horatio Holbrooks gekommen? Er grübelte weiter, während der Geistliche von der Vergänglichkeit sprach und dazu Psalm 103 zitierte: »Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Feld; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennt sie nicht mehr …«
Vivian Holbrooks schluchzte angesichts dieser traurigen Worte und Clarence konnte es ihr nachfühlen.
Schließlich wurde der Sarg in das Grab hinabgelassen und die Gäste warfen Erde oder Blumen darauf. Auch Clarence ließ eine Handvoll Erde auf den Sarg rieseln. Mabel folgte seinem Beispiel. Anschließend wischte sie sich verstohlen die Hand an ihrem Mantel ab. Als Nellie Holbrooks ebenfalls zu schluchzen begann, legte Theodor tröstend einen Arm um sie.
Später verließ Clarence mit seiner Familie den Friedhof, ohne dass sie ein Gespräch begannen. Ihm war nicht danach zumute und er war dankbar für das einvernehmliche Schweigen.
Die Trauerfeier fand direkt im Anschluss bei den Holbrooks‘ zu Hause statt. Ihr Haus in Kensington war nicht weit vom Friedhof entfernt, sodass die Strecke zu Fuß zu bewältigen war. Wie immer, wenn er draußen unterwegs war, stützte sich Clarence auf seinen Gehstock. Über ihnen riss die Wolkendecke auf und ließ stellenweise blauen Himmel sehen.
Das hellgraue Haus der Holbrooks‘ war stattlich und vermutlich schon lange im Familienbesitz. Clarence klopfte seine Schuhe auf der Fußmatte ab, nachdem der Butler sie hatte eintreten lassen. Mabel nieste hinter vorgehaltener Hand, als er ihr aus dem Mantel half. Dunkle, gedeckte Töne bestimmten die Einrichtung des Hauses, darunter eine blaugrüne Tapete mit einem zartglänzenden geometrischen Muster sowie alte Möbel aus dunklem Holz, die noch aus der Regency-Ära stammen mochten. Einige Landschaftsgemälde und Porträts zierten die Wände. Den hellen Perücken und der Mode nach zu urteilen, stammten mehrere davon aus dem vorherigen Jahrhundert. Ein Haus mit einer langen Tradition, so viel war gewiss.
Während der nun stattfindenden Trauerfeier wanderten die Gäste durch die verschiedenen Zimmer und plauderten leise miteinander. Zwei Bedienstete sorgten für Speis und Trank – Tee, Sandwiches und verschiedene Kuchen.
Sämtliche Spiegel in den Räumen waren mit schwarzen Tüchern verhängt. Clarence hielt das für Aberglauben, doch viele seiner Zeitgenossen waren von zweierlei überzeugt: Verstarb ein Angehöriger im Haus, könnte dessen Abbild – oder gar sein Geist – in einem Spiegel gefangen werden und darin zu sehen sein. Und wer sein eigenes Spiegelbild oder jenes geisterhafte Abbild eines Verstorbenen in dessen Haus erblickte, der würde selbst bald vom Tod heimgesucht werden. Kein Wunder also, dass die Menschen diesem irrationalen Brauch folgten, die Spiegel zu verhängen.
Clarence war nicht nach Essen zumute, jedoch trank er Tee aus einer Tasse mit verschnörkeltem Goldrand. Während Theodor mit Nellie redete, biss Mabel in ein Sandwich.
Ein feines »Ping« – ein Löffel, der an ein Glas geschlagen wurde – ließ die leise geführten Gespräche um sie herum verstummen. Major General a. D. Jowett räusperte sich. »Meine Damen und Herren, liebe Freunde, lassen Sie mich einige Worte über Horatio verlieren – Gott sei seiner Seele gnädig. Ich möchte seiner gedenken.«
Clarence spitzte die Ohren, das versprach interessant zu werden.
»Der gute Horatio und ich haben uns im Krimkrieg kennengelernt, das war vor sechsundzwanzig Jahren. Ich war zu jener Zeit sein Vorgesetzter und uns trennten nur fünf Lebensjahre. Ich hatte schon bald einen guten Eindruck von ihm. Er war ein überaus gottesfürchtiger Mensch und sprach oft von seinem Glauben, der ihm in jenen Kriegszeiten weitergeholfen habe, und so ging es mir auch. Er hoffte darauf, dass Gott uns allen beistehen würde. Zugleich stand Horatio stets für seine Männer ein, all die Soldaten unter seinem Kommando. Er hat sich um sie gekümmert wie um Brüder.«
Diesen Eindruck hatte Clarence ebenfalls gehabt. »Niemand wird zurückgelassen« – nach dieser Devise hatte Horatio Holbrooks stets gehandelt, wie er unter anderem bei der Schlacht von Alma unter Beweis gestellt hatte. Diese Art zu agieren hatte Clarence wohl letztendlich das Leben gerettet. Denn es war Holbrooks gewesen, der veranlasst hatte, dass Clarence zu jenem Lazarett in der Selimiye-Kaserne verschifft wurde, in dem sich Mabel aufopferungsvoll um ihn gekümmert hatte, während er zwischen Leben und Tod schwebte.
Jowett fuhr mit seiner Rede fort. »Horatio und ich, wir waren nicht immer einer Meinung, damals in jenen abscheulichen Tagen auf den Schlachtfeldern an der Alma und am Berg Inkerman. Aber ich habe selten einen so fähigen Lieutenant Colonel gesehen.« Er hielt kurz inne und räusperte sich abermals. »Nach dem Krieg haben wir uns nicht aus den Augen verloren, und so habe ich auch andere Seiten von ihm kennengelernt, die privaterer Natur waren. Er mochte das Theater und liebte seine Pflanzen, sodass ich ihn gern scherzhaft als ›Botaniker‹ bezeichnete. Er war außerdem ein passionierter Schachspieler, der mich so manches Mal geschlagen hat. Außerdem war er einem guten Glas Wein nie abgeneigt. Wir haben manch gemeinsame Stunde in meinem Gentlemen’s Club verbracht und dort über Gott und die Welt gesprochen. Ich möchte sagen, dass er mir in all den Jahren ein guter Freund geworden ist.« Für einen kurzen Moment senkte er den Blick, dann schaute er wieder in die Runde. »Liebe Gäste, ein großer Mann ist von uns gegangen und es ist mir eine Ehre, ihn gekannt zu haben. Trauer ist mir nicht fremd. Ich habe nicht nur bei Einsätzen im Krieg viele gute Männer verloren, sondern auch vor mehreren Jahren meine geliebte Frau. Mein herzliches Beileid der Familie Holbrooks.«
Die Witwe nickte ihm dankbar zu.
»Das war eine schöne Rede«, sagte Mabel leise zu Clarence. »Die beiden müssen wirklich gute Freunde gewesen sein.«
Er nickte nachdenklich. »Ja, den Eindruck habe ich auch.«
Einige Minuten später machte Vivian Holbrooks sie beide mit ihrer zweiten Tochter, Nellies Schwester, bekannt. Diese war ein wenig rundlich wie die Mutter und hatte bräunlich-rotes Haar, das sich in Wellen an ihren Kopf schmiegte. »Das ist Elizabeth – sie lebt mit ihrem Gatten in Canterbury.«
»Sehr erfreut, die Dame«, begrüßte Clarence die junge Frau.
Elizabeth knickste. »Ich wünschte, ich hätte Sie alle unter angenehmeren Umständen kennengelernt.« Mit einer Hand wischte sie sich über die von Tränen geröteten Augen und Clarence sprach ihr sein Beileid aus.
»Und das hier ist Gilbert, mein Sohn.« Mrs Holbrooks deutete auf einen hochgewachsenen Mann von etwa Ende zwanzig, der dasselbe längliche Gesicht mit schmalen Lippen und hohen Wangenknochen hatte wie sein Vater. Die Töchter kamen eher nach der Mutter, so machte es zumindest den Eindruck. Holbrooks’ Sohn hatte einen verkniffenen Gesichtsausdruck, doch das mochte an der Trauer liegen. Bisher hatte Clarence nur von ihm gehört, er war ihm noch nie persönlich begegnet. Sie reichten einander die Hand, und ehe Clarence dem jungen Mann sein Beileid aussprechen konnte, entschuldigte sich dieser, um seine Aufmerksamkeit einem anderen Gast zu widmen.
Clarence schüttelte irritiert den Kopf. Dann sah er sich um. Überall standen Damen und Herren in kleinen Grüppchen zusammen, tranken Tee oder aßen etwas und unterhielten sich leise. Aufgrund der vielen Gespräche war es jedoch recht laut im Raum. Vivian Holbrooks wurde im weiteren Verlauf der Trauerfeier von ihren Gästen so sehr in Beschlag genommen, dass Clarence keine Gelegenheit fand, mit ihr über die Ursache zu sprechen, die zum Tod ihres Gatten geführt hatte.
Stattdessen wandte er sich Nellie, die, ähnlich wie Elizabeth, rötlich-braunes Haar hatte und dazu glänzende haselnussfarbene Augen. »Miss Holbrooks, können Sie mir sagen, woran Ihr Vater gestorben ist?«
Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, dass der ehemalige Major General sie beide beobachtete. Vielleicht wollte er ebenfalls mehr über die Todesursache wissen. Clarence drehte sich halb in dessen Richtung und sah ihn direkt an. »Möchten Sie das auch erfahren, Mr Jowett?«
Dieser trug eine bekümmerte Miene zur Schau und ließ die Schultern hängen. »Nun, verzeihen Sie, ich wollte nicht lauschen, aber ich muss gestehen, dass mich die Frage ebenfalls beschäftigt. Schließlich war ich mit dem armen Horatio befreundet und sein plötzlicher Tod betrübt mich sehr.«
Nellie Holbrooks sah zwischen ihnen hin und her und wirkte unentschlossen.
Theodor stand noch immer neben ihr. »Ich würde das auch gern wissen, meine Liebe«, sagte er leise.
Einen Moment lang zögerte die Tochter des Verstorbenen und strich sich mit einer fahrigen Geste über den schwarzen Kragen. »Nun, ich sehe keinen Grund, weshalb ich noch länger darüber schweigen sollte«, sagte sie schließlich. Sie holte tief Luft, ehe sie wieder zu sprechen begann. »Es war so: Mein Vater litt an Krebs. Er wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, vielleicht nur noch wenige Monate, vielleicht ein halbes Jahr.«
Das musste Clarence erst einmal verdauen. Damit hatte er nicht gerechnet. Das erklärte natürlich Mr Holbrooks’ Unwohlsein bei ihrem letzten Besuch.
»Er hat mit seiner Erkrankung gegenüber Bekannten, Freunden und der Verwandtschaft hinter dem Berg gehalten«, fuhr Nellie mit einem leichten Zittern in ihrer Stimme fort. Es fiel ihr sichtlich schwer, weiterzusprechen, aber sie kämpfte sich tapfer durch die Worte. »Nur die engsten Angehörigen wussten Bescheid. Mein Vater wollte nicht bemitleidet werden, verstehen Sie? Wir haben darüber also konsequent geschwiegen und in den vergangenen Monaten recht zurückgezogen gelebt.« Sie zögerte ein weiteres Mal, sah Theodor an und zuckte mit den Schultern. »Allerdings sind die Umstände seines Todes rätselhaft.«
Mabel blickte ihre zukünftige Schwiegertochter direkt an. »Wie meinen Sie das, Nellie?«
In Nellies Miene spiegelte sich tiefer Kummer wider. »Er hat …« Sie schluchzte auf. »Er hat vergifteten Wein getrunken. Keiner von uns war zu Hause und den Bediensteten hatte er an jenem Abend freigegeben.«
Clarence wechselte einen überraschten Blick mit seiner Frau. Eben hatte er noch gedacht, Mr Holbrooks wäre an der Erkrankung gestorben.
Mabel hob die Augenbrauen. »Hat die Polizei das untersucht?«, fragte sie.
Theodor nahm die noch immer schluchzende Nellie in den Arm. »Selbstredend!«, stieß sie hervor, als sie sich wieder von ihm löste. »Sie haben herausgefunden, dass der Wein vergiftet war. Und nun gehen sie davon aus, dass mein Vater …«
Vivian Holbrooks gesellte sich zu ihnen und sah Nellie betrübt an. Diese räusperte sich. »Sie glauben, dass mein Vater sich umgebracht hat. Wegen der Erkrankung. Er hatte starke Schmerzen.«
»Mit einem Glas vergifteten Weins«, folgerte Mabel mit nachdenklicher Miene. »Ach, meine liebe Miss Holbrooks, das tut mir sehr leid zu hören.«
Theodor reichte seiner Verlobten ein Taschentuch und sie trocknete sich das tränennasse Gesicht.
Clarence ließ sich das Gesagte durch den Kopf gehen. Mit einem Mal hatte er Bauchweh. Das bekam er gelegentlich, wenn er einen kräftigen Tee auf nüchternen Magen trank; die Gerbsäure darin tat ihm dann nicht gut. Diesmal war nicht der Tee schuld. Die Umstände von Mr Holbrooks Tod …
»Das ist alles höchst bedauerlich«, unterbrach der ehemalige Major General Clarences Gedankenfluss. »Nun sorgen Sie sich gewiss um seine Seele. Es ist eine Sünde, sich das Leben zu nehmen … möge der Herrgott ihm verzeihen.«
»Ich kann das nicht glauben«, sagte die Witwe mit zitternder Stimme. »Das habe ich auch dem zuständigen Pastor erklärt. Bei einem …« Sie stockte. »Bei einem Freitod hätte die Kirche einem kirchlichen Begräbnis ja niemals zugestimmt. Aber sehen Sie, es ist so: Mein Mann verfügte über eine gefestigte Persönlichkeit und war seinen Prinzipien stets treu. An dem Abend, als er …« Sie brach ab. Es fiel ihr sichtlich schwer, das Geschehene wiederzugeben. »Also …«, setzte sie schließlich neu an. »Während er starb, war ich zu Besuch bei einer Bekannten in Mayfair. Ich fand ihn, als ich heimkehrte. Zuerst dachte ich, er sei im Sessel eingeschlafen, und wunderte mich über den Wein. Auf Anraten seines Arztes hatte er nämlich seit seiner Erkrankung keinen Alkohol mehr angerührt.«
»Vielleicht wollte er noch ein letztes Mal ein Glas Wein genießen, bevor er …« Mr Jowett sprach nicht weiter, doch die Andeutung, die er machte, hing bleischwer im Raum.
Mrs Holbrooks schüttelte vehement den Kopf. »Wie gesagt, ich kann das nicht glauben!«
»Hat Ihr Gatte denn einen Brief hinterlassen?«, fragte Mabel.
»Nein.« Die Stimme der Witwe klang nun wieder etwas fester, das Zittern hatte sich gelegt. »Ich habe nichts Entsprechendes gefunden. Auch das lässt mich an einem Selbstmord zweifeln.«
Einen Moment lang schwiegen sie alle. Clarence dachte über ihre Worte nach. Er hatte Mr Holbrooks nicht besonders gut gekannt und war sich unsicher, ob dieser angesichts starker Schmerzen einen Freitod gewählt hätte oder eher nicht. Seine Frau konnte ihn aber diesbezüglich sicher sehr gut einschätzen.
Der ehemalige Major General Jowett ergriff das Wort. »Vielleicht war seine Scham zu groß und der Ärmste wollte Ihnen nicht noch mehr Kummer bereiten.«
Nellies Augen weiteten sich. »Nein, ganz gewiss nicht!«, widersprach sie. »Mein Vater wäre nicht einfach so von uns gegangen. Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.«
Mr Jowett nickte ihr zu und hob entschuldigend die Hand. »Es sind ja auch nur Vermutungen meinerseits«, räumte er ein.
Später suchte Clarence das Gespräch mit Thomas Wheeler. »Hatten Sie in letzter Zeit noch Kontakt mit Horatio Holbrooks?«
Wheeler verneinte. »Das letzte Mal habe ich ihn vor rund anderthalb Jahren gesehen, da war ich zu Gast in seinem Gentlemen’s Club. Ein Bekannter hatte mich eingeladen. Wir haben uns nur kurz unterhalten. Damals schien er guter Dinge, wenn ich das richtig in Erinnerung habe.«
Clarence nickte kurz und fuhr dann fort: »Einige meiner Bekannten haben ein kleines Treffen ehemaliger Soldaten aus dem Krimkrieg geplant. Auch Mr Holbrooks sollte eine Einladung erhalten. Mögen Sie sich uns vielleicht anschließen?«
Thomas Wheeler lächelte. »Ich wurde bereits deswegen angeschrieben. Bisher habe ich nicht geantwortet, aber ich komme sehr gern zu dem Treffen. Ich werde noch heute Abend eine Zusage formulieren.« Er sah kurz in Jowetts Richtung. »Wurde der Major General a. D. ebenfalls eingeladen?«
»Ich bin mir nicht sicher. Da müsste ich nachfragen. Aber eigentlich wollten meine Bekannten das Treffen relativ klein halten, und Mr Jowett stand ja in der Hierarchie recht weit über uns.«