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Inés, eine junge Frau aus gutem faschistischen Hause, verliebt sich in Madrid in den jungen Kommunisten Pedro – im Spanien unter Franco eine unmögliche Liebe. Nun, fünf Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs, lebt sie isoliert in den Pyrenäen und wird von ihrem Bruder, einem Mitglied der Falange, bewacht. Kurz nach der Landung der Alliierten 1944 hört sie von einer bevorstehenden Invasion Spaniens durch die in Frankreich stationierten oppositionellen Gruppen. Wird sie es schaffen, die Pyrenäen zu überqueren und für ihr Gutes zu kämpfen? Anhand eines vergessenen historischen Ereignisses erzählt Almudena Grandes von Menschen, die alles aufs Spiel setzen, um ihrer Leidenschaft und ihren Idealen zu folgen.
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Seitenzahl: 1031
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Hanser E-Book
Almudena Grandes
INÉS UND DIE FREUDE
Roman
Aus dem Spanischen vonRoberto de Hollanda
Carl Hanser Verlag
Die spanische Originalausgabe erschien 2010
unter dem Titel Inés y la alegría bei Tusquets in Barcelona.
Die Übersetzung wurde in Absprache mit der Autorin leicht gekürzt.
ISBN 978-3-446-24681-2
© Almudena Grandes 2010
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Carl Hanser Verlag München 2014
© Susanne Lange 2012 für Luis Cernuda,
»Spanisches Diptychon II« (Auszug)
Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München © Ivan Giménez / Tusquets Editores, 2006
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
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INÉS UND DIE FREUDE
Für Luis.
Wieder einmal und doch nie oft genug.
Heute ist dir dein Land nicht mehr notwendig,
doch bleibt es dir in diesen Büchern lieb und nötig,
wirklicher und traumgleicher als das andere:
nicht jenes, sondern dieses ist heute dein Land,
das, welches Galdós dich kennen lehrte,
tolerant wie er selbst, loyal im Widerspruch,
weltumfassend nach dem Vorbild des Cervantes,
heldenhaft lebend, heldenhaft kämpfend
für die Zukunft, die die seine war,
nicht für das unheilvolle Gestern, dem das andere erneut verfiel.
Wirklich ist für dich nicht dieses Spanien, obszön und erdrückend,
in dem heute der Pöbel regiert,
sondern das lebendige, von jeher edle Spanien,
das Galdós in seinen Büchern schuf.
Dieses heilt und tröstet uns hinweg über das andere.
Luis Cernuda, »Spanisches Diptychon II« (Auszug),
Desolación de la Quimera (1956–1962)
Für Azucena Rodríguez,
die ebenfalls an diesem Roman schrieb,
während ich an ihrem Drehbuch
zu einem Film arbeitete, aus dem nie etwas wurde,
das uns aber zu ewigen Freundinnen machte.
Wir beide sind Inés,
denn es ist unsere Geschichte.
Und zum Gedenken an Toni López Lamadrid,
den ich sehr liebte
und in dessen ewiger Schuld ich für so vieles stehen werde,
zuletzt seine Leidenschaft für dieses Buch.
Trotz meines verlorenen besten Gefährten,
trotz meiner todtraurigen Familie, die nicht versteht,
was ich mir am meisten gewünscht hätte,
dass sie es versteht,
und trotz des Freundes, der uns verrät und verkauft;
Niebla, mein Kamerad,
du weißt es nicht, aber es bleibt uns,
mitten in diesem heldenhaften zerbombten Schmerz,
der Glaube an Freude, Freude und nochmals Freude.
Rafael Alberti, »Für Niebla, meinen Hund«
Capital de la gloria (1936–1938)
(Vorher)
I. Hier Radio Freies Spanien …
(Während)
II. Die Köchin von Bosost
(Danach)
III. Das beste spanische Restaurantin ganz Frankreich
(Das Ende dieser Geschichte ist ein Punktohne neuen Absatz)
IV. Fünf Kilo rosquillas
Die Geschichte von InésAnmerkung der Autorin
Toulouse, an einem Tag im August, vielleicht noch im Juli, vielleicht aber auch schon Anfang September 1939.
Eine junge Frau geht die Straße entlang, die Lippen zusammengepresst, in sich gekehrt, wie jemand, der es eilig hat oder eine lange Liste mit Besorgungen erledigen muss. Sie heißt Carmen. Möglicherweise ist sie an diesem Tag, dessen genaues Datum im Dunkeln bleibt, noch keine einundzwanzig. Trotzdem hat sie schon viel erlebt.
»Bonjour, monsieur.«
»Bonjour, madame!«
Der Bäcker, Fleischer oder Obsthändler, der am Türrahmen des Ladens lehnt, als Carmen vorbeikommt, grüßt zufrieden eine Kundin, die er in letzter Zeit nicht oft gesehen hat, vielleicht weil sie verreist war. 1939 fuhren die Franzosen noch in die Sommerfrische, lebten noch in einer Welt, in der es Arbeit, Urlaub und Strände mit kleinen Strandhäusern gab, in den Sand gebohrte Sonnenschirme, die sanften Wellen des Mittelmeers oder die majestätischen Fluten des Atlantiks.
Daran dachte Carmen möglicherweise, an einen Archipel voller Dachterrassen, auf denen Laken zum Trocknen hängen, oder an Weinranken, die sich unter dem Gewicht der grünen Trauben biegen, an die Sonne, die in der trägen Stille der Siesta auf die Kalkwände brennt, an eine Fliege, der vom stundenlangen Kreisen über der geheimnisvollen runden Öffnung eines Krugs schwindelig ist, oder an halb nackte Kinder. Ihr Lächeln trägt die Spuren von Feigen oder Wassermelonen, deren zuckriger Saft fröhliche Rinnsale auf ihrem Kinn hinterlässt. Das war in einer anderen Zeit, in Sommern, die noch nicht lange zurückliegen, ihr aber nun wie ewig vergangen erscheinen, in einem Land, das existiert und wieder nicht existiert. Es ist verschwunden, und doch bleiben seine Fenster weiter geschlossen und seine Rollläden heruntergelassen wie Schutzschilde gegen die Hitze. Die Straßencafés wimmeln noch immer von singenden Nachtschwärmern und Betrunkenen, die unbekümmert den neuen Tag heraufdämmern sehen. An der Küste wird es noch die Dörfer mit schwindelerregenden, steilen Straßen geben, wie Rutschbahnen aus staubigem gelbem Stein, ohne Gehsteige, an deren Ende man Flecken eines unvergleichlichen Meeres sieht, so rein, so schön, so blau, wie ein fremdes Meer niemals sein kann. Besser, nicht darum zu wissen, besser, keine Erinnerung daran zu haben. Während sie die Stimme einer unbekannten Kundin hört, die den Händler nach dem Preis für dieses oder jenes fragt, denkt Carmen an Spanien, beschleunigt ihre Schritte noch mehr und presst die Lippen noch stärker aufeinander zu einem wütenden Ausdruck von Entschlossenheit, dem einzigen Vermächtnis, das den Verzweifelten bleibt.
»Écoute, Marcel! Où vas-tu tellement …?« Der Rest der Frage geht im Quietschen der Pedale und im metallischen Kreischen der Fahrradkette unter, die sich mit voller Kraft dreht.
Aber die Antwort hört sie. »Salut!« Ein neutraler Ausdruck, den der freche, boshafte Akzent des Fahrradfahrers in einen Code verwandelt, den sie nicht zu entschlüsseln vermag.
Als sich ihre Wege kreuzen, lacht der Junge auf dem Bürgersteig immer noch, obwohl das Fahrrad seines Freundes längst in einer Seitengasse verschwunden ist. Er kann nicht wissen, dass die junge Frau, die ihm entgegenkommt, bis heute jeden Tag, meistens mit leiser Stimme, ein fast identisches Wort vor sich hin murmelt, salud!, über das allerdings niemand lacht. Doch selbst wenn er es wüsste, würde es ihn nicht interessieren, also möchte auch Carmen nicht daran denken, während sie hastig weitergeht und versucht, ihre Umgebung im Auge zu behalten, ohne den Passanten aufzufallen. Das zumindest ist dieser untersetzten Frau mit den breiten Hüften, dem sympathischen Gesicht, den kleinen lebendigen Augen und dem zarten Lächeln nie schwergefallen. Sie ist nicht hässlich, ja sogar ansehnlich, wenn man Zeit oder Lust hat, zwei Mal hinzusehen, aber vor allem ist sie innerlich wie äußerlich eine ganz normale Frau, fast gewöhnlich, eine wie unzählige andere. Das war Carmen de Pedro immer, bis man ausgerechnet ihr eine Aufgabe übertrug, die über ihren Ehrgeiz hinausging und ihre Fähigkeiten bei weitem überstieg.
Seitdem findet sie keinen Schlaf mehr. Seit diesem Tag fürchtet sie sich vor allem, am meisten vor sich selbst und dem absehbaren Scheitern einer Mission, die ihr über den Kopf gewachsen ist. Als sie in die Partei eintrat – sie war noch ein Mädchen, fast ein Kind –, hatte sie keine Ahnung von der ungeheuren Last, die eines Tages auf ihren Schultern ruhen, ihre Vorstellungskraft übersteigen und ihr Bewusstsein erschüttern würde. Diese Verantwortung spürt sie wie einen großen, scharfkantigen Stein, der sich bei jedem Schritt in ihr Fleisch bohrt und macht, dass sich jeder wache Augenblick und auch der letzte Winkel ihrer düsteren Träume mit gefährlichen Ungeheuern bevölkert.
Das also sieht sie, während sie in Toulouse durch die Rue des Jacobins, die rue Mirepoix oder die Rue Léon Gambetta geht, schmale Gassen mit Steinhäusern, ohne einen Flecken Strand am Ende. Dieses brave Ding, das nie vorgab, etwas anderes zu sein als brav, eine ehemalige Schreibkraft des Madrider Zentralkomitees, die fast sämtliche Führer der PCE, der Kommunistischen Partei Spaniens, persönlich kannte, allerdings nur, weil sie ihre Reden abtippte und ihre Briefe ins Reine schrieb, die sie anschließend unterzeichneten. Sie öffnete ihnen die Tür, wenn sie kamen, und schloss sie wieder, wenn sie gingen, mit immer demselben Lächeln auf den Lippen. Das kann sie, das war stets ihre Aufgabe, nach einer anderen hatte sie nie verlangt. Während Toulouse einen angenehm warmen Tag im langweiligen Leben eines Frankreichs genießt, das von nichts etwas wissen will, weder, wo es steht, noch in welcher Zeit es existiert, weder, wer seine Nachbarn sind, noch was sie treiben oder planen, geht Carmen de Pedro durch seine Straßen, mit einer Hölle auf den Schultern, einer beweglichen Qual, einem weiteren verfluchten spanischen Segen.
»À tout à l’heure, madame!«
»Au revoir, Marie, à dimanche!«
Die Glocke über der Tür schrillt wie eine wild gewordene, exotische Klapperschlange, ein akustisches Wunderding, passend zur Gestalt der elegant gekleideten, tadellos frisierten und mit Schmuck behängten alten Dame, die so aussieht, als wäre sie ihr ganzes Leben lang reich gewesen, und nun mit einer Schachtel Gebäck durch die Tür tritt, die ihr ein etwa zehnjähriges, hochgewachsenes Mädchen aufhält.
»Au revoir, Nicole!« Die Kleine lächelt mit zuckerverschmiertem Mund. In der rechten Hand hält sie das angebissene Gebäck, das sie sich von der Schule kommend aus der Auslage genommen hat.
»Au revoir, madame!«
Ihre Mutter, die eine makellose weiße Schürze trägt, auf der in Blau schnörkelig der Name des Ladens, Pâtisserie du Capitole, eingestickt ist, wartet hinter dem Tresen, bis die Kundin gegangen ist, und weist dann ihre Tochter an, augenblicklich nach oben zu gehen und ihre Hausaufgaben zu machen. Die Rue Gambetta verbreitert sich unmerklich auf den letzten Metern, bevor sie in die Place du Capitole mündet, die so weit und einladend daliegt wie das Meer, das Toulouse nie erreicht. Dort wartet er unter den Kolonnaden, halb in einem Ladeneingang versteckt, und tut so, als studiere er die Schaufenster mit der reichen Auswahl an Regenschirmen, Käsesorten oder Büchern, obwohl er sich nicht im Geringsten dafür interessiert.
Seit Tagen folgt er ihr heimlich in sicherem Abstand. Er weiß, wo sie wohnt, mit wem sie befreundet ist, wann sie gewöhnlich das Haus verlässt, welchen Weg sie nimmt, wo sie isst, mit wem sie isst, wann sie zurückkehrt und dass sie allein zurückkehrt. Er hätte sie am Tag zuvor oder an dem danach ansprechen können, mit derselben Selbstsicherheit und derselben erstaunlichen Unbefangenheit, mit der er es heute tut. Er wirft einen Blick auf sein Spiegelbild im Schaufenster und drückt sich den Hut etwas schräger in die Stirn. Dann steckt er die Hände in die Taschen, dreht sich hastig um und überquert den Platz. Mit gesenktem Blick und gespielter Eile steuert er geradewegs auf die Frau zu, bis er fast mit ihr zusammenstößt.
»Excusez-moi.« Erst als er unmittelbar vor ihr steht, hebt er den Kopf und starrt sie mit offenem Mund an, als wäre er überrascht. »Carmen!«
Sie braucht einen Moment, bis sie ihn erkennt. »Jesús …« Sie blickt nach links und rechts und hinter ihn, bis sie sich vergewissert hat, dass er allein ist. Erst dann sieht sie ihm in die Augen und erwidert sein Lächeln.
»Was für eine Überraschung, Carmen!« Er streckt die Hände aus, ergreift die ihren und küsst sie womöglich auf die Wange. »Wie geht es dir?«
Es ist nicht leicht, diesen Mann zu beschreiben oder ihn mit seinen Landsleuten oder Zeitgenossen zu vergleichen. Leicht zu lieben und schwer zu vergessen, innerlich wie äußerlich. Er ist groß, kräftig, mit breiten Schultern und großen Händen, möglicherweise Vorzeichen einer späteren Fettleibigkeit, die uns aber im Augenblick nicht interessieren muss, weil sie nicht zum Status eines politischen Flüchtlings in Frankreich passt, in diesem August, vielleicht Juli oder Anfang September des Jahres 1939. In diesem Augenblick ist Jesús Monzón Reparaz vor allem ein liebenswürdiger und sehr stattlicher Mann. Nicht unbedingt attraktiv, denn sein Kopf scheint direkt auf dem Rumpf zu sitzen, und man ahnt bereits seine späteren Geheimratsecken. Trotzdem, manchmal, wenn er verhalten lächelt, tragen seine Augen denselben schrägen Zug wie sein Mund. Dann erhebt ihn seine überragende Intelligenz, gepaart mit ebensolcher Niedertracht, auf eine viel höhere Ebene als die, wo die nichtssagende, oftmals jungenhafte Attraktivität der meisten Männer endet. Dann ist er mehr als nur ein gut aussehender Mann, dann kann er unwiderstehlich sein, und das weiß er.
So war es, oder so könnte es zumindest gewesen sein. Sicher ist nur, dass Carmen de Pedro und Jesús Monzón, die sich bis zu diesem Augenblick nur flüchtig kennen, in Frankreich begegnen, wahrscheinlich in Toulouse, und anscheinend rein zufällig, an einem Sommertag im August oder Juli, vielleicht auch Anfang September 1939. Einzelheiten sind nicht bekannt, denn er hat mit Sicherheit dafür gesorgt, dass niemand Zeuge einer Begegnung wurde, die vieles und um ein Haar alles verändert hätte.
Zu dieser Zeit ist Jesús Monzón noch keine dreißig, wirkt aber um zehn Jahre älter. Sein reifes, ernstes Äußeres ist ihm eher nützlich als schädlich, vor allem in schwierigen oder gefährlichen Zeiten, wenn keiner dem anderen über den Weg traut und zahllose Minister, Abgeordnete und Vertreter der spanischen Republik sich entweder wie aufgescheuchte, zu Tode erschrockene Hühner oder wie grausame Hyänen verhalten, die über die Leiche ihrer Mutter gehen würden, nur um einen Platz auf einem mexikanischen Schiff zu ergattern. In diesem Augenblick machen Jesús Monzón der tadellose Hut, der makellose Schnitt seines englischen Mantels, die Selbstsicherheit, die ihm in einer der vornehmsten Familien von Pamplona sozusagen in die Wiege gelegt wurde, und jene, die er später während des Krieges in den Büros der Zivilregierung von Alicante und Cuenca erworben hat, zu einem äußerst wertvollen Mann, der Vertrauen einflößt und in der Lage ist, mit jeder heiklen Situation fertig zu werden. Monzón wirkt nicht nur so, er ist tatsächlich ein äußerst wertvoller Mann, obgleich die Führer seiner Partei ihm noch nie vertraut haben.
Kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs gründet Monzón die Organisation der Kommunistischen Partei Spaniens in Navarra und hält sich als ihr Generalsekretär im Amt, bis zum Staatsstreich vom 18. Juli 1936 in Pamplona, wo General Emilio Mola die Rebellen befehligt und der ohne Gegenwehr verläuft. Monzón gelingt die Flucht, höchstwahrscheinlich mit Unterstützung eines Familienmitglieds. Seine Brüder, Cousins, Eltern, Großeltern, Urgroßeltern sind alle Karlisten, für Gott, Vaterland und König. Trotzdem hilft ihm irgendein Rekrut, die Frontlinie zu überqueren. Doch als er in Bilbao ankommt, der ersten Etappe seiner Rückkehr in die republikanische Zone, erntet er für seine Heldentat mehr Argwohn als Lob.
Er ist kein Einzelfall. Beide Bürgerkriegsparteien misstrauen ihren verlorenen Söhnen gleichermaßen, oft wandern diese vom Verhör direkt ins Gefängnis. Jesús wird zwar zu keiner Zeit behelligt oder festgenommen, aber auch nicht befördert oder mit einem Posten in der Organisation belohnt, während andere Kommunisten, die aus ebenso angesehenen Familien stammen wie er, allen voran Ignacio Hidalgo de Cisneros und Constancia de la Mora, eine blendende Karriere in der Partei machen, ohne dass man an ihrer aristokratischen Herkunft Anstoß nimmt. Monzóns spätere Ernennung zum Zivilgouverneur von Alicante und Cuenca durch Premierminister Juan Negrín vollzieht sich auf Regierungsebene, fern der Entscheidungszentren seiner Partei. Wenige Tage ehe Coronel Casado den Krieg auf gleiche Art und Weise beendet, wie er begonnen hatte, nämlich mit einem Staatsstreich, ernennt Negrín, der viel zu schlau ist, um sich nicht bis zum Schluss die Dienste eines solchen Mannes zu sichern, Monzón zum Generalsekretär des Verteidigungsministeriums, ein äußerst wichtiger Posten unter damaligen Umständen, den er allerdings nicht mehr antreten kann. In den Führungsrängen der Kommunistischen Partei Spaniens spielt er jedoch noch immer keine bedeutende Rolle, sodass Dolores Ibárruri ihn kurz nach seinem Eintreffen in Frankreich nur zur Hilfskraft ihrer Sekretärin Irene Falcón macht. Zu dem Zeitpunkt ist diese gerade dabei, eine Liste mit spanischen Parteiführern zusammenzustellen, die in die Sowjetunion eingeladen werden sollen. Der ehemalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei von Navarra ist nicht darunter. Man kann sich leicht vorstellen, wie verbittert ein Mann mit Monzóns Selbstbewusstsein, seinen Fähigkeiten und seinem Hochmut angesichts seiner neuen Stellung gewesen sein muss. Bislang war er es gewohnt, selbst Befehle zu erteilen. Nun sind seine Aufgaben so belanglos, dass ihn Georgi Dimitrow, der Generalsekretär der Komintern, der ihn in dieser Zeit kennenlernt, für Pasionarias Sekretär hält. Nachdem er sich die Zeit damit vertrieben hat, in seinem Tagebuch die Tugenden – und Fehler – mittelmäßiger Führer wie Mije, Checa oder Delicado festzuhalten, kommt er zu dem Schluss, Monzón sei ein Taugenichts, obwohl er während der Republik Zivilgouverneur gewesen war.
Jeder erwischt mal einen schlechten Tag, auch ein Mann wie Dimitrow, aber vielleicht hat einer seiner spanischen Genossen bereits bemerkt, dass ihnen von Monzóns Tugenden mehr Gefahr droht als von seinen Fehlern. Wer so denkt, liegt nicht falsch, und trotzdem begeht Dolores Ibárruri einen verhängnisvollen Fehler, indem sie Jesús Monzón unterschätzt. Zu ihrer Ehrenrettung sei gesagt, dass sie damals nur eines im Kopf hatte.
Die unsterbliche Geschichte stellt verrückte Dinge an, wenn sie auf die Liebe Sterblicher trifft. Vielleicht ist es aber auch nur so, dass die körperliche Liebe in der offiziellen Version der Geschichte nicht vorkommt, obwohl sie sie letztendlich bestimmt. Stattdessen lässt diese sich höchstens dazu herab, die geistige Liebe zu betrachten, die zwar erhabener ist, aber auch blasser und daher weniger entscheidend. Lippenstifte tauchen in den Büchern nicht auf. Professoren beachten sie nicht, wenn sie ökonomische, ideologische und soziale Faktoren miteinander kombinieren, um exakte interdisziplinäre Rahmen abzustecken. Hier gibt es keine Kästchen, um ein Erschaudern, eine Vorahnung, den stummen Ruf zweier Blicke, die sich begegnen, die Gänsehaut oder eine unerklärliche Begegnung einzuordnen, die scheinbar zufällig zustande kommt, obwohl sie in einer oder vielen schlaflosen Nächten minutiös geplant wurde. In Geschichtsbüchern ist kein Platz für Augen, die ins Dunkel starren, auf einen Himmel, der von den vier Ecken der Schlafzimmerdecke begrenzt ist, auch nicht für die Begierde, die immer heißer wird und die Grenzen einer angenehmen Phantasie, eines harmlosen Streichs, einer vergnüglichen Unschicklichkeit sprengt, bis sie den Mund austrocknet und den Hals verbrennt, den Magen zusammenzieht und schließlich die Flammen ihrer Herrschaft ausdehnt, um die Glut bis in die letzten Zellen des ahnungslosen sterblichen Körpers zu tragen. Die Liebe des Geistes ist erhabener, aber diese Spannung kann sie nicht aushalten. Niemand hält sie aus. Nicht einmal sie, weil sie bereits unsterblich war, aber noch lebte.
»No pasarán!«
Die Madrilenen auf den Parkettsitzen, in den Gängen, auf den Treppen und im Foyer des Monumental Cinema an der Plaza Antón Martín erkennen nicht den kleinsten Hinweis auf das, was passiert, vielleicht schon passiert ist oder in Kürze passieren wird. In den Zeitungen, die über das Ereignis berichten, bei dem sie zum ersten Mal als Gleichberechtigte zusammen in der Öffentlichkeit auftreten, werden nur ihre Namen erwähnt, ihre Reden zusammengefasst und mit Fotos bebildert, die mit denen eines anderen Szenarios, einer anderen Veranstaltung in einem anderen Theater austauschbar wären. Trotzdem ist heute kein Tag wie jeder andere.
»No pasarán!«
Die Uhren sind am 23. März 1937 stehengeblieben, und das Monumental Cinema platzt vor euphorischen Zuhörern aus allen Nähten. Sie sind noch ungläubig, aber deshalb umso glücklicher, und versinken in einer flammenden, allumfassenden Freude, die ihnen eigentlich fremd ist. Heute haben sie endlich etwas zu feiern, denn vor achtundvierzig Stunden haben sie erlebt, was bislang nur dem Feind vergönnt war. Die Armee der Republik, nicht länger ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Freiwilligenbataillonen ohne Erfahrung, ohne Disziplin und ohne Offiziere, wie diejenige, die im November 1936 Madrid verteidigte, sondern eine richtige Armee, hat einen kolossalen Sieg errungen und Mussolinis Truppen zutiefst gedemütigt. Goliath ist zu Boden gegangen, nachdem er von einem Stein an der Stirn getroffen wurde. David kann es selbst kaum fassen.
»No pasarán!«
Das schrie sie, bis sie heiser war, sie werden nicht durchkommen, und sie sind nicht durchgekommen, weder durch die Sierra noch durch Moncloa, durch die Straße nach La Coruña nicht, und noch weniger durch Guadalajara, niemals durch Guadalajara, und durch Jarama auch nicht. Madrid ist lebendiger und aufrechter als je zuvor, dank Guadalajara, und der erste Redner bestätigt dies mit Nachdruck, während die Frauen unter den Zuhörern fasziniert Beifall klatschen und ihn mehr feiern als den Sieg. Denn Francisco Antón ist ein hübscher Kerl. Ein sehr hübscher Kerl. Achtundzwanzig Jahre, stolz, aber vor allem hübsch, ein beeindruckendes Gesicht, in dem sich der jugendliche Schwung der Wangenknochen, eine elegante Nase und sinnliche Lippen mit tiefschwarzen Augen und dichten Brauen verbinden. Von vorne beeindruckt er, im Profil sieht er aus wie ein Schauspieler, und in der perspektivischen Verkürzung gleicht er einer Gestalt aus einem Fresko von Michelangelo. Dabei ist er nur ein Junge von nebenan in der Uniform eines Kommissars des Ejército del Centro.
»No pasarán!«
Sie ist bereits unsterblich, obwohl sie noch lebt. Heute ist auch sie anwesend, auf der Bühne des Monumental, so euphorisch, so glücklich und enthusiastisch wie die anderen, und doch nicht mehr als an jedem anderen Tag, denn genau diese Leidenschaft verkörpert sie. Sämtliche Fassaden sind mit ihrem Gesicht beklebt, ihre Reden werden auf Flugblättern verbreitet, ihre Stimme ist in allen Radiosendungen zu hören. Die Energie ihrer Gebärden ist die Kraft, welche die ihren zu verlieren fürchten, der Seufzer, der ihnen durch die zusammengebissenen Zähne zu entweichen, der Glaube, der sie zu verlassen droht. Auf dieser Versammlung ist sie ganz sie selbst, ähnelt so sehr ihrer Legende, dass niemand einen Unterschied zu anderen Nachmittagen und anderen Versammlungen erkennen kann, und doch ist sie bereits eine andere, muss sie eine andere sein.
Viele Jahre später werden jene, die die Wahrheit kennen, versuchen, sich an diesen Nachmittag zu erinnern, sie wieder auf der Bühne des Saals zu sehen und einzelne Bilder wiederfinden: das Lächeln, das zu breit für ihren Mund war, die Art, wie sie die Genossen umarmte, die mit ihr da oben standen, wie sie sie an den Unterarmen fasste und ihnen in die Augen sah, nichts weiter, denn sie behandelte Antón nicht anders als die anderen. Sie war so wie immer, derselbe Haarknoten, dieselbe weite Bluse, derselbe unförmige Rock, ihr ewiges imaginäres Trauerkleid, reine Propaganda, die nichts mehr mit der schmerzhaften Abwesenheit ihrer vier Kinder zu tun hatte, die starben, ohne zu erfahren, wer ihre Mutter war.
Arme Dolores! Diese Art von Mitleid hätte sie nie gewollt, doch es ist schwer, es nicht zu denken, es nicht auszusprechen. Arme Dolores, die sich nie ein eng anliegendes, buntes Kleid kaufen konnte oder Schuhe mit hohen Absätzen, die das Haar weder lose tragen noch sich die wenigen grauen Haare an den Schläfen färben durfte. Arme Dolores, arme einzigartige Frau, universelles Symbol und Idol der Unglücklichen dieser Erde. Sie war arm und doch immer sie selbst, mächtig, ehrgeizig, hartnäckig, genial, verehrt wie Gott und ebenso grausam, als der Verlust der Liebe sie verbitterte. Arme Dolores, arm im Winter, im Frühjahr 1937, als sie sich nur für ihn die Lippen schminkt und sich gegen die erdrückende Perfektion einer Persönlichkeit auflehnt, die sie selbst erfunden hat, ohne zu wissen, wie sehr sie dies einmal bereuen würde.
Und trotzdem schläft sie bereits mit ihm. In aller Heimlichkeit und Stille, auch wenn niemand sieht, wie sie gemeinsam aus einem Zimmer kommen, jeden Abend ein anderer Code, ein flüchtiges Protokoll von Zeichen und geschlossenen Türen. Francisco Antón und Dolores Ibárruri schlafen miteinander, und sie muss auch noch denen dankbar sein, die sie nicht daran hindern. Pasionaria ist nicht wie andere Frauen, sie darf es nicht sein, weil sie viel mehr ist als eine Frau, sie ist eine Ikone, ein Symbol, ein Heiligenbild, geschlechtslos wie ein Engel. Dolores ist Mutter, ja, aber die Mutter aller, die Jungfrau Maria des internationalen Proletariats, unbefleckt empfangen und imstande, unbefleckt die Kinder eines kommunistischen Führers zu empfangen. Er ist ein ernster und aufrichtiger Mann, ja, aber mittelmäßig und um vieles ungeschickter als sie, ein unbedeutender Schatten, den niemand zur Kenntnis nimmt. Kein Mensch beachtete Julián Ruiz, bis die Naturgewalt Dolores ihrem Temperament folgte und sie sich verliebte, wie sie war: ein Wirbelwind, ein Seebeben, ein zerstörerischer Tropensturm, Geliebte eines sehr hübschen und sehr jungen Mannes, der ihr überaus guttat, nicht aber ihrer Karriere.
Sie ist zweiundvierzig, ihr Liebhaber vierzehn Jahre jünger, doch im ersten Frühling des Bürgerkriegs schlafen sie miteinander, und wenn sie morgens aus dem Bett steigen, sind sie gleich alt. So scheint es, so denken die ihren, die sie lieben, die sie brauchen, die bei ihrem Namen schwören, wenn sie sie am selben Tag an verschiedenen Orten sehen. Es sind lange, anstrengende Tage, an denen sie es mit allen aufnehmen kann, aber niemand mit ihr. Ein unermüdliches Lächeln auf den Lippen und so viel Kraft, Energie, Wärme. Von der Front zu einem Komitee, nach dem Fototermin zurück an die Front und anschließend zu Festakten, Gedenkfeiern, Versammlungen, täglichen Zusammenkünften, fast jeden Abend ihre Stimme im Radio. Woher nimmt diese Frau all die Kraft, fragen sie sich, sie wird erschöpft ins Bett fallen … Und ja, sie fällt erschöpft ins Bett, aber nicht, um zu schlafen. Sie kann keine Zeit mit Schlafen verlieren, trotzdem wird nie jemand hinter den Grund ihres legendären Durchhaltevermögens kommen.
Es gibt kein größeres Glück im Leben, als glücklich verliebt zu sein, deshalb ist es so selten. Was zuerst »La Pasionaria« Dolores Ibárruri und später Carmen de Pedro widerfuhr, ist schlimmer, kommt aber auch viel häufiger vor. Beide verliebten sich weder glücklich noch unglücklich, sondern mutig in Männer, die sehr unterschiedlich, aber gleichermaßen gefährlich waren, jeder auf seine Art und aus verschiedenen Gründen. Die unsterbliche Geschichte stellt verrückte Dinge an, wenn sie auf die Liebe zweier verletzlicher Sterblicher trifft, die nicht in der Lage sind, über das Objekt ihrer Begierde hinauszublicken und sich hoffnungslos jener gestaltlosen Macht ergeben, die ihr unverwüstliches Verlangen beherrscht. Die unsterbliche Geschichte ist oft eine Geschichte der Liebe, und unsere ist die von zwei Frauen, die nicht denselben Mann über viele Jahre hinweg lieben durften, die keine Zeit hatten, sich an seinem Schnarchen sattzuhören oder immer wieder dieselben unnützen Fragen zu stellen. Frauen, die weder fluchten noch drohten, nicht mitten in einem Streit aufgaben, der genauso langweilig war wie unzählige andere davor, und nicht erlebten, wie ihre Männer alt wurden. Sie hatten keine Zeit, die seltsame Zärtlichkeit des vertrauten Körpers zu erleben, der im selben Rhythmus altert wie der eigene, eines Körpers, der stets derselbe zu sein scheint, wenn man ihn des Nachts im Bett umarmt, und es trotzdem nicht ist, weil er sich verändert hat.
Keine der beiden kommt so weit, doch das hindert sie nicht daran, für eine Weile überglücklich zu sein. So ist die Liebe, und das unterschiedliche und doch ähnliche Geheimnis, das ihrer beider Geschichte umgibt, wird eher süß als bitter gewesen sein, zumindest am Anfang. Es bindet Dolores, die als Mädchen so gläubig war, noch stärker an den verbotenen Mann. Er hat in ihr eine Leidenschaft geweckt, die eingeschlafen war seit den Tagen der Fastenzeit, der Opfer und Kasteiungen, mit denen sie sich dem Heiligsten Herz Jesu verschrieben hatte, während sie gleichzeitig nach Gründen suchte, das Göttliche für eine universelle humanistische Sache aufzugeben. Viele Jahre später durchlebt sie nun diese Leidenschaft auf ähnliche Weise neu, aber ohne den Schmerz, ohne Schuldgefühle. Sie ist zu intelligent, ihr Leben zu einzigartig, um sich den Vorurteilen zu unterwerfen, die andere in ihrer Umgebung immer noch beherrschen. Und trotzdem erlebt sie in Antóns Armen noch einmal den Schwindel der Versuchung, die Süße der Sünde, den lustvollen Schmerz des Sichverlierens und auch den verblüffenden Verzicht auf eine Hingabe, von der es kein Zurück gäbe.
Ihre steifen, verantwortungsbewussten Genossen, Männer, die sich unter ihrer Führung die Macht in der Partei teilen, werden nie verstehen, wie eine so große Persönlichkeit sehenden Auges in eine so erbärmliche Falle stolpern kann. Die Haltung der Frauen ist noch kompromissloser, vielleicht weil sie es besser verstehen, doch alle tolerieren es, zähneknirschend, mit eiserner Disziplin, widerwillig. Niemand wagt es, sich Dolores entgegenzustellen, und wenn einer es täte, gingen alle das Risiko ein, diese wirklich ernste Angelegenheit ans Licht zu zerren. Es ist eine tödliche Bombe, die man nur mit Samthandschuhen oder spitzen Fingern anfasst. Die Medizin wäre schlimmer als die Krankheit; besser, man schweigt.
So verwandelt sich Dolores’ Liebe in ein Geheimnis, das man nicht erwähnt, über das man weder spricht noch flüstert, nicht einmal, wenn man weiß, dass der Gesprächspartner eingeweiht ist. Niemand muss es dem anderen erklären. Niemand muss irgendwen ermahnen, die Stimme zu senken, wenn man über Pasionarias Liebe redet, von der jeder weiß, dass sie verboten ist. Nicht dass jemand sie ausdrücklich verboten hätte; es versteht sich einfach von selbst. Alle ihre Genossen und Genossinnen verbieten es sich, weil eine so alte Frau, eine verheiratete Frau mit Kindern, eine so bedeutende Führerin mit einem so jungen Mann … Das ist nicht schön, das ist schmutzige Wäsche, mit der man sich nur zu Hause beschäftigen darf, hinter verschlossenen Türen, heruntergelassenen Rollläden, in der Waschküche des eigenen Gewissens. Die Formel, auf die sie zurückgreifen, um das zu bewerkstelligen, ist schäbig, aber wirksam. Sie verdeckt die Verletzung ihrer Moral und den Saldo ihrer puritanischen Vorurteile, denn sie wissen genau, dass diese mit den Zielen, die sie vertreten, nicht vereinbar sind, und verstecken sie deshalb hinter falschen, fadenscheinigen Argumenten.
Und doch wird Antón nie ihr Lebensgefährte sein. Er ist ihr Liebhaber, ihr Geliebter, ihr wunder Punkt. Aber nicht ihr Lebensgefährte. Deshalb kann sie ihn trotz ihrer Macht nicht retten, an ihrer Seite behalten oder mit nach Moskau nehmen, als alles zu Ende geht. Er landet in einem entsetzlichen französischen Lager, so wie die anderen, und sie bricht allein auf, umgeben von Menschen, doch allein.
Seit dem Frühjahr 1939 ist sie in Moskau in Sicherheit. Sie lebt in einem beheizten, komfortablen Haus, wo sie die Reden schreibt, die sie am Tag darauf halten wird, lächelt unter dem Beifall der Menschenmassen, nimmt Blumensträuße entgegen und auch die Küsse der kleinen Pioniere. Hier empfängt sie jeden Tag Delegationen, die ihre Bewunderung für sie, und ihre Solidarität mit dem spanischen Volk bekunden, hier schläft sie allein in einem weichen Bett, das ihr so groß wie eine karge Eiswüste erscheint, weil sie vor dem Einschlafen, der einzigen Zeit, in der sie mit ihrer Einsamkeit allein ist, noch mehr an ihn denken muss. Antón befindet sich in Le Vernet, einem berüchtigten französischen Strafgefangenenlager für spanische Republikaner, die aufgrund ihrer revolutionären Vergangenheit als gefährlich eingestuft wurden – kein Wunder bei einem Führer der Kommunistischen Partei. Die französischen Behörden wissen nichts von der Beziehung zwischen Francisco Antón und Pasionaria, und das rettet ihm möglicherweise das Leben. Doch wie alle Gefangenen in diesem fürchterlichen Straflager bekommt er nur halb so viel zu essen und zu trinken wie andere Häftlinge in anderen Lagern, und manchmal auch gar nichts: am »Pranger«, wo er vierundzwanzig Stunden stehen muss, mit an einen Pfahl gefesselten Hand- und Fußgelenken.
Dolores denkt jeden Tag, jede Nacht, jede Stunde an ihn, und sie trägt immer sein Foto bei sich. Allerdings unterscheiden sich ihre Fotos deutlich von denen, die andere Menschen in derselben Situation in der Brieftasche mit sich führen. Auf allen sieht man ein Podest, einen Tisch, Mikrofone, ein Porträt von Marx oder Lenin und viele Menschen um ihn herum. Vielleicht hat sie nicht einmal ein Foto von ihm allein, das niemand kennt, entspannt, an einem Esstisch, vor einem Erkerfenster, oder ein billiges Panoramafoto, das Liebespaare vor der Balustrade einer Brücke oder der Silhouette eines Berges von sich machen lassen, sein Arm um ihre Schultern gelegt, zwei identische Lächeln und nichts weiter, ein Foto, wie alle Welt es hat. Möglich, dass sie so eines besitzt, vielleicht aber nicht einmal das, und sie kann nur ihre von Mal zu Mal blasseren Erinnerungen betrachten, die erstarrten Bilder einer Liebe, die unter den Bomben aufblühte und vom Spiegel ihrer eigenen Unrast zurückgeworfen wird.
Es ist nicht nur die stete Sorge um das Wohl des Gefangenen, Hunger, Durst, Leid, Strafen, die Tag um Tag jenen geliebten Körper erniedrigen, den sie unter allen anderen erwählt hat, um die ungewisse Zukunft eines Mannes, dem in diesem Augenblick die kleinste Laune des Schicksals das Leben kosten kann. In Le Vernet ist schon die winzigste Krankheit der erste Schritt in den Tod, und irgendwann zwischen Ende 1939 und Anfang 1940 erkrankt auch Francisco Antón. Dolores erfährt am anderen Ende Europas davon und ist zutiefst beunruhigt. Die Nachrichten, die sie erhält, verschlechtern sich ebenso wie der Zustand des Gefangenen. Das wäre das Schlimmste, das Härteste, das Schmerzhafteste, doch sie hat mehr als nur einen Feind, und die Zeit gehört dazu. In Moskau, in Sicherheit, allein unter so vielen Menschen, wird sie sich bewusst, wie rasch ihr Körper altert. Der Rhythmus ist anders als bei ihm, dem man das Vergehen von Tagen und Nächten weniger ansieht, obwohl er im Gefängnis und krank ist. Dolores hat keine Zeit. Sie ist schön, mit vierundvierzig Jahren und auch mit fünfundvierzig, nach mehreren Geburten und bevor sie beginnt, mehr zu sein als eine Frau: eine Ikone, ein Idol, die Göttin der Atheisten. Aber noch ist sie vierundvierzig, dann fünfundvierzig, hat vier Schwangerschaften hinter sich, und das kann keine Heiligsprechung wieder richten.
Rückblickend und mit etwas Abstand zur Historie, die auf ihre Liebe keine Rücksicht nehmen wollte, hat ihre moskowitische Bitterkeit etwas zutiefst Anrührendes. Sie, die der katholischen Kultur das heilige Ansehen der Mutterschaft entreißen konnte, um sie in den Dienst des Antifaschismus zu stellen, hätte es nicht gern gehört, aber ihre Einsamkeit, ihre Unsicherheit, ihr Scheitern als erwachsene Frau, ihr Ehebruch und die hoffnungslose Abhängigkeit von der unbarmherzigen Jugend eines schönen Körpers sind viel bewegender als die gespielte weibliche Fürsorge, die sie mit so viel Klugheit zu dosieren und zu vermitteln wusste und die sie zu einem wesentlichen Bestandteil des revolutionären Kampfes in der ganzen Welt machte. Jenseits von Zeit und Geschichte sind ihre Zerbrechlichkeit und Wut bewegend, dieser stumme Zorn, den sie nicht wagt hinauszuschreien, weil sie Gott ist, aber kein Mann. Sie ist Gott, aber eine Frau, und deshalb nützt ihr das Gottsein gar nichts. Gott und Jungfrau zugleich, Gott und Mutter, Gott und Schwester, Gott und vorbildliche Ehefrau, Gott und der Spiegel ihrer Genossinnen, Gott und selbstlose Arbeiterin, Gott und unbeugsame Revolutionärin, Gott und Hohepriesterin der internationalen Arbeiterklasse … Deren Vertreter hätten sich gegenseitig in die Rippen gestoßen, nachsichtig und verschwörerisch gegrinst, wenn sich ein vierundvierzigjähriger Mann mit einer hübschen siebenundzwanzigjährigen Frau ins Exil abgesetzt hätte. Viele haben es getan, und es ist nichts passiert. Der Krieg, sagen sie, das Durcheinander nach der Niederlage, es waren schwere Zeiten … Stimmt, es waren schwere Zeiten, manche haben dieselbe Situation genutzt, um eine Frau in Spanien zu vergessen, mit der sie nicht mehr zusammenbleiben wollten, doch viele andere, glücklichere Paare haben sich schon bald auf der anderen Seite der Pyrenäen oder des Atlantiks wieder vereint.
Dolores muss warten. Sie, die wie ein Mann Risiken eingeht, wie ein Mann entscheidet, wie ein Mann befiehlt, muss als Frau ins Exil, das heißt, mit ihrem Ehemann. Vielleicht sieht sie ihn gar nicht. Vielleicht begegnen sie sich nicht einmal im Flugzeug oder später. Doch das spielt keine Rolle. Wichtig ist allein, dass auf der Liste der kommunistischen Führer Spaniens, die von der Sowjetunion aufgenommen werden sollen, beide Namen erscheinen, ihrer ganz oben, seiner weit unten. Auch wenn sie sich nicht sehen, nicht sprechen, nicht im selben Haus wohnen, nicht im selben Bett schlafen, gelten sie weiterhin als Mann und Frau gemäß dem Gesetz des Gottes ihrer Feinde, eines Gottes, der noch immer in den Köpfen und im Bewusstsein derer verwurzelt ist, die ihn am meisten verabscheuen.
Im Frühjahr 1939, bevor sie nach Moskau aufbricht, wo sich bereits José Díaz befindet, den sie 1942 als Generalsekretärin der Partei beerben wird, legt Dolores Ibárruri, ranghöchste Autorität der PCE außerhalb der Sowjetunion, das Schicksal der Partei und Zehntausender spanischer Kommunisten, die in Frankreich dahinvegetieren, in die Hände einer anderen Frau, die zu dieser Zeit, kurz nach der deprimierenden Niederlage, noch nicht verliebt ist. Es ist eine mehr als schlechte Entscheidung, aber im Moment hat Dolores nur eines im Kopf.
»Sie soll sich um Antón kümmern«, erklärt sie Luis Delage, der ihr die Machtbefugnisse übertragen soll. »Sie soll versuchen, ihm Essenspakete und Nachrichten zu schicken, damit er weiß, dass er nicht allein ist, dass wir ständig an ihn denken, auch wenn wir jetzt aufbrechen müssen …«
Der Posten, den Francisco Antón im Politbüro bekleidet, erlaubt ihr, in der ersten Person Plural zu sprechen, im Namen der Partei, nicht ihrem eigenen, aber es ist nicht schwer, sich die Panik vorzustellen, die diese Aufgabe in Carmen de Pedro auslöst, einer schreckhaften, verwirrten jungen Frau, die von der ungeheuerlichen, viel zu großen und gefährlichen Aufgabe, die auf ihren Schultern lastet, erdrückt wird. Sie weiß nur zu gut, dass man für die Gefangenen von Le Vernet nichts tun kann außer beten, und für Kommunisten nicht einmal das. Sie wird als Erste verstehen, dass Dolores eine seltsame Wahl getroffen hat, obwohl sie doch von nicht unbedingt brillanten, aber durchaus fähigen Mitarbeitern umgeben ist, die jeden ihrer Befehle widerspruchslos befolgt hätten. Aber auch Dolores erhält Befehle, und die der Komintern sind unmissverständlich. Bevor der Nichtangriffspakt zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion unterschrieben wird, müssen alle Führer der Kommunistischen Partei Spaniens Frankreich verlassen haben. Es wird sich bald herausstellen, dass unter denen, die nicht in die Sowjetunion eingeladen wurden, viele sind, die weitaus fähiger wären, Verantwortung zu übernehmen.
Dolores übergeht sie zugunsten einer unbedeutenden Frau, einer Mischung aus grauer Maus und treuem Hund, einer unerfahrenen jungen Frau, die weder eine politische Ausbildung noch Visionen, Ehrgeiz oder gar eigene Ideen besitzt. Und sie täuscht sich. Sie glaubt, dass die Möglichkeiten der Partei, in einem fremden Land zu agieren, das bald Teil des Dritten Reiches sein wird, vernachlässigt werden können, und täuscht sich. Sie glaubt, das Politbüro der PCE könne in Moskau sein, das Zentralkomitee in Buenos Aires, seine wichtigste Delegation in Havanna und der größte Teil der Parteimitglieder auf Frankreich und Spanien verteilt, ohne dass der Zusammenhalt der Partei darunter leidet, und wieder täuscht sie sich. Sie glaubt, es sei wichtiger, einem Machtwechsel in der Partei vorzubeugen, als ihn zu unterstützen, und täuscht sich auch hier. Sie glaubt, dass sie die Situation unter Kontrolle hat, indem sie Tausende von Kilometern entfernt Carmen de Pedro bevollmächtigt, auch das ein Irrtum, einer, der das Ende ihrer politischen Karriere bedeuten kann.
»Wie kommt es, dass du noch hier bist?« Der großgewachsene, kräftige Mann, der an einem Tag im August, vielleicht noch im Juli, vielleicht aber auch erst Anfang September, die zufällige Begegnung mit Carmen de Pedro einfädelte, hat sämtliche Konsequenzen dieses Irrtums bereits einkalkuliert. »Ich hätte dich in Moskau oder Amerika vermutet.«
»Nun, die meisten sind fort, das weißt du doch, oder?« Er nickt, weil er es weiß, natürlich weiß er es. »Aber mich haben sie hiergelassen, damit ich mich um alles kümmere.«
»Ich beneide dich nicht, das ist eine ungeheure Verantwortung.«
»Wem sagst du das!«
Und in diesem Augenblick, als Jesús den Moment gekommen sieht, so zu lächeln, wie nur er es kann, hat Carmen möglicherweise das Gefühl, dass ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wird.
Die unsterbliche Geschichte stellt verrückte Dinge an, wenn sie auf die Liebe Sterblicher trifft. Das Seltsame dieser Epoche überschneidet sich in der Liebe der großen Pasionaria und der der kleinen Carmen de Pedro. Als Stalin 1939 durch den Pakt mit Hitler seine Ideale und die von Millionen Menschen, die sie in aller Welt vertreten, verrät, weil er meint, es brächte ihm Vorteile, lebt Dolores seit kurzem in Moskau. Zu dieser Zeit hat Carmen den Mann ihres Lebens wahrscheinlich bereits getroffen, jenen großen Verführer, der sich vorerst damit begnügen wird, ihr allmächtiger Schatten zu sein, bis die Zeit kommt, um selbst ans Licht zu treten. Während die spanische Frau in Frankreich spürt, dass dieser Mann für sie allmählich wichtiger wird als die Partei, als ihre Aufgabe, als sie selbst, bemüht sich die andere in der Sowjetunion, das Unerklärliche zu erklären. Sie erfindet trügerische Theorien, je trügerischer, umso ausgeklügelter, unterscheidet zwischen Taktik und Strategie, verschleiert den pragmatischen Verrat, indem sie die Lüge pflegt, sie auf Adjektive anwendet, darauf beharrt, dass der imperialistische Krieg der internationalen Arbeiterklasse nicht schadet. Und Carmen verbreitet diese Losung unter den Gefangenen in den französischen Lagern, versucht, sie zu überzeugen, sie zu besänftigen, sie in der Partei zu halten, ohne großen Erfolg. Trotzdem hindert der moralische Sündenfall sie nicht daran, sich in ihrer Freizeit weit angenehmeren Aufgaben zu widmen.
Jesús ist ein Magier, ein wunderbarer Mensch, der es versteht, das Leben einer Frau in eine Achterbahn zu verwandeln, es mit Aufregung, Lachen und Schwindel zu erfüllen. Sie ist ein junges Ding von nebenan, so wie Francisco Antón, vom Charakter her aber ganz anders. Dolores erkennt nicht rechtzeitig, dass Carmen kein Interesse an der Macht hat und auch nie gehabt hat. Und dass die Macht sie noch weniger interessieren wird, wenn er ihr die Augen verbindet, damit sie die Weine, die sie trinken, zu schmecken lernt, wenn er ihr beibringt, wie man in einem Luxusrestaurant foie isst, wenn er abgelegene Villen mit Garten mietet, in denen die Sonne ihr Schlafzimmer durchflutet. Der Preis für so viel Glück ist die Macht, und sie überlässt sie ihm mit derselben Inbrunst, mit der er offenbar bereit ist, ihr in allem gefällig zu sein. Ohne es zu merken, wird sie, sie allein, ausschließlich dafür leben, ihm in jeder Hinsicht gefällig zu sein. Und doch war die Partie so lange ausgeglichen, bis Deutschland Frankreich besetzte und die Welt erzitterte.
Am 22. Juni 1940 unterzeichnet Marschall Pétain in Vichy einen Waffenstillstand mit den deutschen Besatzern. An diesem Tag erzittert am anderen Ende des Kontinents eine mächtige und ehrgeizige Frau. Sie ist eine Legende, aber sie ist vor allem verliebt und deshalb unvorsichtig und verletzlich. Seit langem wartet sie auf diesen Augenblick, und sie hat keine Sekunde zu verlieren, obwohl sie sich vielleicht doch die Zeit nimmt, um vor dem Spiegel sorgfältig die Lippen nachzuziehen. Am Tag, an dem der Waffenstillstand von Vichy unterzeichnet wird, fühlt sich Dolores Ibárruri wieder stark, wieder jung, ist sich ihres Körpers bewusster als ihres Alters, und ihre Stimme zittert nicht, als sie im Kreml anruft und um eine Privataudienz bittet. Die unsterbliche Geschichte stellt verrückte Dinge an, wenn sie auf die Liebe Sterblicher trifft, und Pasionaria war noch nie so sterblich wie in dem Augenblick, als sie Stalins Arbeitszimmer durchquert und ihm in die Augen blickt.
»Genosse, du musst mir einen Gefallen tun.«
Laut Enrique Líster soll Stalin an diesem Tag in einem verächtlichen Ton, wie geschaffen dafür, die kleinbürgerliche Leidenschaft der Schwachen im Geiste zu verspotten, zu seinen engsten Vertrauten gesagt haben, wenn Julia ohne ihren Romeo nicht leben könne, müsse man ihren Romeo eben herbeischaffen. Es gibt keinen Grund, an seinem Bericht zu zweifeln, auch wenn die Anspielung auf Shakespeare befremdlich wirkt. Den schlichten, monotonen Berichten nach zu urteilen, die Stalin vom NKWD erhält, ist er nicht besonders belesen. Eine einfache Rechenaufgabe ist aussagekräftiger. Der sowjetische Führer kann Dolores die Bitte nicht abschlagen. Er will diese Frau bei Laune halten, obwohl ihm der kleine Mann in Le Vernet vollkommen egal ist. Diese Spanier sind wirklich komisch, murmelt er, während er zum Hörer greift, um Molotow anzurufen. Der wiederum hat keine Skrupel, seinen Freund Ribbentrop zu kontaktieren. Ribbentrop glaubt vielleicht sogar, dass Molotow ihm einen Gefallen erweist, denn je eher die Franzosen begreifen, wer im Freien Frankreich das Sagen hat, desto besser für alle. In Vichy muckt niemand auf. Es genügt, dass ein Untergebener Ribbentrops eine Anweisung erteilt, um einen Untergebenen Pétains dazu zu bringen, diese sofort nach Le Vernet weiterzuleiten. Fünf Minuten später ist Francisco Antón frei. Die Vichy-Behörden händigen ihm den sowjetischen Pass aus, damit er mit dem Zug durch ein im Krieg befindliches Europa bis nach Moskau fahren kann.
Als Dolores mit sorgfältig geschminkten Lippen ihren Geliebten ankommen sieht, abgemagert, blass, verletzt, von Hunger und Krankheit gezeichnet, ist sie möglicherweise so bewegt, dass sie alles andere vergisst. Der Mann, der da gerade aus dem Zug steigt, ist mehr als nur der Mann, in den sie sich verliebt hat. Er war auch das letzte Führungsmitglied der spanischen Kommunisten in Westeuropa. Jetzt aber ist er in Moskau bei ihr. Während sie ihn umarmt, ihn mit Tränen in den Augen küsst, ihn bittet, Mut zu fassen, weil nun ihre gemeinsame Qual endlich ein Ende hat, ist sie so aufgewühlt, so glücklich, ihn umarmen zu können, so traurig, ihn schwach und krank zu sehen, dass sie keinen Gedanken an die Folgen verschwendet, die diese Reise in Frankreich haben wird. Dort hakt zur selben Zeit eine ehemalige graue Maus, deren Lippen ebenfalls sorgfältig nachgezogen sind, Namen auf einer Liste ab.
»Jesús und ich wollen eine Versammlung einberufen.« »Was für ein Jesús?«, werden sich die Delegierten einer nach dem anderen gefragt haben. »In Marseille.« »In Marseille? Warum in Marseille? Wir sind doch alle hier in Toulouse.« »Weil wir meinen, dass der Augenblick gekommen ist, zu handeln.« »Jetzt? Ausgerechnet jetzt, wo die Nazis Frankreich besetzt haben, sollen wir handeln?« »Ach, übrigens … Ich habe eine gute Nachricht. Francisco Antón befindet sich bereits in Moskau.«
Arme Carmen! Als sie Monzón begegnet, ist sie zweiundzwanzig, es geht ihr schlecht, und sie kann sich an niemanden wenden, sie besitzt weder das theoretische noch das praktische Wissen, um die Aufgabe zu meistern, die man ihr übertragen hat. Sie fühlt sich allein, im Stich gelassen, ohnmächtig. Arme kleine Carmen, da läuft ihr dieser große Mann mit den guten Manieren und dem sicheren Auftreten eines feinen Herrn über den Weg und tippt sich an den Hut, ein Mann, der weiß, wie man sich in einem Restaurant benimmt, wie man den Kellner ruft, die besten Speisen bestellt, die edelsten Weine aussucht und die richtige Menge an Trinkgeld gibt, um unter Verbeugungen hinausgeleitet zu werden. Arme Carmen, für sie ist er ein Geschenk des Himmels, die Antwort auf all ihre Bitten, die Lösung all ihrer Probleme. Arme Carmen, nicht einmal fünf Minuten kann sie ihm widerstehen, denn sie ist keine echte Gegnerin für Jesús Monzón und auch nicht besonders schlau, aber schlau genug, um zu ahnen, dass sich ihr Leben ändern wird.
Er dagegen ist schlau wie ein Fuchs. Ein ganzes Jahr beschränkt er sich darauf, ihre verantwortungsvolle Politik zu loben, ihr zu schmeicheln, sie zu verwöhnen, unvorstellbare Dinge mit ihrem Körper anzustellen und ihr ins Ohr zu flüstern, was sie am besten sagen, machen, bewilligen oder ablehnen soll. Immer im Flüsterton, niemand soll wissen, dass sie miteinander ins Bett gehen, niemand soll auf dumme Gedanken kommen, zum Beispiel, dass er nur deshalb mit ihr angebändelt hat, um sie zu manipulieren und auf ihre Kosten die Karriereleiter hinaufzusteigen. Arme Carmen! Sie ist nicht besonders schlau und versteht nicht diese Heimlichtuerei zweier Liebender innerhalb der politischen Heimlichtuerei, wenn sie doch beide frei sind und niemandem schaden. Sie ist ledig und er einer von denen, die, offiziell zumindest, eine Frau unterwegs verloren haben, der Krieg, du weißt schon, das Durcheinander nach der Niederlage, alles war so schwierig …
In diesem Jahr haben Moskau, Buenos Aires und Havanna nur Lob für Carmen de Pedro übrig, für die hervorragende Arbeit, die sie unter schwierigsten Bedingungen leistet, für die ebenso mutigen wie angebrachten Maßnahmen, welche die Genossen in den verschiedenen Lagern allmählich zusammenführen und die Zusammenarbeit zwischen den spanischen und französischen Kommunisten fördern. Carmen erhält ihre Anweisungen mit Küssen garniert, in den Kissen versunken, vollkommen befriedigt. Jesús erklärt ihr mit leiser, zärtlicher Stimme ganz genau, was sie zu tun hat, wie sie es zu tun hat, welche Worte sie verwenden soll, um es zu erreichen. Es ist wie die Fortsetzung des Liebesspiels, eine weitere Zärtlichkeit, ein neuer Beweis für die unglaubliche Größe dieses Mannes, der nur auf der Welt ist, um sie glücklich zu machen. Sie ist noch nie so glücklich gewesen, und deshalb benimmt sie sich wie eine andere, wenn sie das Bett verlässt: Als hätte er ihr einen Teil seiner Kraft übertragen, seines Charakters, seiner Intelligenz. Seine wahren Absichten aber bleiben hinter der Maske des vollkommenen Liebhabers verborgen.
Jesús Monzón ist so schlau, dass er in der Öffentlichkeit niemals über Parteiangelegenheiten spricht, solange Francisco Antón in Le Vernet eingekerkert ist. Er, der so viel über Musik, Film, Kunst, Literatur, Gastronomie, politische Theorie und die Welt im Allgemeinen weiß und es genießt, die Konversation zu beherrschen, verstummt, sobald das Gespräch sich ungelösten Fragen oder gefährlichen Themen zuwendet. Dann lässt er Carmen reden und hört ihr sogar aufmerksam zu, voller Bewunderung, als frage er sich wie die anderen auch, woher diese Frau bloß so gute Ideen hat. Nicht das kleinste Risiko geht er ein, nicht solange er sich in seinem eigenen Netz verstricken oder jemand Verdacht schöpfen könnte, solange die Möglichkeit besteht, egal wie klein sie erscheinen mag, dass irgendeine Bemerkung durch den Stacheldraht von Le Vernet schlüpft und Dolores’ Partner erfährt, was in der Partei tatsächlich vorgeht, während sie glaubt, sie von Moskau aus so gut unter Kontrolle zu haben. Noch hat er es nicht eilig, also lässt er sich Zeit, bis Deutschland Frankreich besetzt. Dieses Ereignis, das den spanischen Exilanten jeden Rest von Mut raubt, weil sie damit vom Regen in die Traufe geraten, hat für zwei von ihnen die Lage ganz außerordentlich verbessert. Sie wissen, wie man in einer Frau bedingungslose Liebe erweckt. Der eine ist Francisco Antón, der andere Jesús Monzón.
Die Nachricht, die Carmen de Pedro den in Marseille Versammelten überbringt, scheint tatsächlich in mancher Hinsicht besser zu sein, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Zum einen beendet sie bis zu einem gewissen Punkt das große Geheimnis um Dolores Ibárruri. Moskau ist nicht Frankreich und noch viel weniger Spanien. In dieser Stadt, wo nur wenige sie kennen, Antón fast niemand und Julián Ruiz tatsächlich kein Mensch, müssen sie sich nicht länger verstecken. In Marseille ist es ähnlich. In einer komfortablen, diskreten Villa mit Garten, ganz nach seinem Geschmack, vor zwanzig Delegierten, die von überall aus dem besetzten Frankreich erschienen sind, und einigen einfachen aktiven Parteimitgliedern, die allein wegen des Vertrauens ausgewählt wurden, das sie ausstrahlen, benehmen sich Jesús Monzón und Carmen de Pedro zum ersten Mal in der Öffentlichkeit wie ein Paar, und er gewinnt seine Sprache wieder, die er im März 1939 verloren zu haben schien.
Noch ist es Carmen, die die Genossen bei ihrer Ankunft begrüßt, ihnen einen Platz zuweist, Aschenbecher und etwas zu trinken anbietet. Möglicherweise sagt sie einige Sätze zur Begrüßung, die dazu dienen, den Mann an ihrer Seite vorzustellen, doch jetzt ist er derjenige, der spricht.
»Genossen! Carmen und ich«, noch erwähnt er sie zuerst, doch das ist allein den Regeln der Höflichkeit geschuldet, »sind der Meinung, dass wir in schwierigen Zeiten, wie wir sie jetzt erleben, ein gewisses Maß an Organisation wiedergewinnen müssen, damit sich unsere Leute nicht verlassen fühlen, die Moral verlieren und dem Glauben erliegen, nun hätte es keinen Sinn mehr, wir hätten zum zweiten Mal und diesmal endgültig alles verloren …«
Er hat recht. Es ist so einleuchtend, dass nicht nur niemand widerspricht, sondern auch niemand auf die Idee kommt, einen Zusammenhang zwischen der guten Nachricht von Antóns Flucht und der Einberufung der Versammlung herzustellen, in der Jesús Monzón zum ersten Mal als Führer der Kommunistischen Partei Spaniens in Frankreich auftritt. Von jetzt an hört er nicht mehr auf, alles Mögliche zu tun, obwohl ihn niemand darum gebeten hat, aber er macht seine Sache gut.
Er ist ungemein intelligent, ungemein ehrgeizig, Kommunist, mutig, attraktiv, überheblich, egozentrisch, brillant, ein Hitzkopf, Abenteurer, erfindungsreich und selbstsicher, ein großzügiger, sympathischer Weiberheld, elegant, verständnisvoll, schlau, höflich, fordernd, zynisch, wählerisch, ein kultivierter Polyglott, ein freundlicher Intrigant, ein Lebemann, kompliziert, sinnlich, gefährlich, dominant, pervers, ein guter Unterhalter, ein besserer Schriftsteller, ein ausgezeichneter Organisator, viel zu einzigartig, als dass man ihm das Etikett eines einfachen Bourgeois verpassen könnte, Experte für erlesene Genüsse und einiges mehr, mit einer soliden theoretischen Ausbildung, außergewöhnlichen Führungsqualitäten, einer angeborenen Fähigkeit, Frauen zu erobern, einem Charisma, wie es nur wenige haben, und genau dem richtigen Maß an Skrupeln, keinen Deut zu viel.
So ist dieser Mann, der sich im Frühjahr 1939 ganz allein in Frankreich wiederfindet, gering geschätzt von seinen Vorgesetzten, die nicht auf ihn hatten bauen wollen, und abgeschnitten von seinesgleichen, die nicht in Ungnade gefallen sind wie er, vor allem aber ist er frei. So ist es, wenn er seine Umgebung betrachtet, die Situation analysiert, die Konsequenzen seiner Analyse abwägt und zwei und zwei zusammenzählt. Diejenigen, die ihn ab jetzt kennenlernen, unterwerfen sich widerstandslos dem Zauber eines Mannes, der leicht zu lieben und schwer zu vergessen ist.
»Du, mach dich hübsch, mein Engel, und kümmere dich um nichts, dafür bin ich da …«
Zwischen dem Sommer 1940 und dem Winter 1943 lernt die unbedeutende ehemalige Schreibkraft des Zentralkomitees von Madrid, dass sie viel glücklicher ist, wenn sie sich von einem allmächtigen Mann verhätscheln lässt, als wenn sie jene Macht ausübt, die ihn so glücklich macht. Deshalb widmet sie sich dem Glücklichsein.
Jesús beschließt, sich nicht um den Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakt zu scheren, befiehlt, um jeden Preis die Integration spanischer Republikaner in die Arbeiterbrigaden der Organisation Todt zu sabotieren, und Carmen ist glücklich.
Jesús dehnt den Aufbau der Partei auf alle Felder aus, auch auf die Gefängnisse und die Arbeiterbrigaden zu beiden Seiten der Demarkationslinie, die das freie Frankreich vom besetzten Frankreich trennt, und Carmen ist glücklich.
Jesús trifft sich mit den Führern der Kommunistischen Partei Frankreichs in einer außergewöhnlichen Position der Überlegenheit, weil er als Spanier über mehr Mitglieder, mehr Kader, mehr Verbindungen und eine effektivere Organisation verfügt als sie, und Carmen ist glücklich.
Jesús erklärt, dass die Zeit für den bewaffneten Kampf gekommen sei, sucht sich seinen eigenen Generalstab unter Männern aus, die eine militärische Ausbildung haben und sein Vertrauen genießen, regt die Rekrutierung von Widerstandskämpfern an, gibt Stärke, Struktur und Hierarchie der eigenen Brigaden vor, entwirft Aktionspläne, integriert sie in die entstehende französische Résistance, sorgt dafür, dass in vielen Zonen Südfrankreichs der Widerstand von seinen Leuten angeführt wird, und Carmen ist glücklich.
Jesús macht aus der Kommunistischen Partei die unangefochtene hegemoniale Kraft der spanischen Exilrepublikaner in Frankreich, merkt, dass man sich damit noch nicht begnügen kann, und Carmen ist glücklich.
Jesús denkt an Moskau, an Buenos Aires und Havanna und an die Entwicklung des Krieges. Er analysiert die Situation so frei wie nie zuvor und projiziert sie auf die unmittelbare Zukunft, zählt zwei und zwei zusammen, bei ihm ergibt es immer vier, und Carmen ist immer noch glücklich.
Jesús mietet weiterhin abgelegene Villen mit Garten und Personal, behandelt Carmen wie eine Göttin, führt sie in die besten Restaurants, sucht die erlesensten Weine aus und macht ihr das Leben so angenehm, wie sie es niemals zu träumen gewagt hätte. Da hat er bereits beschlossen, nach Spanien zurückzukehren, doch davon weiß Carmen nichts, und sie war noch nie so glücklich.
Carmen glaubt, sie wären ein Team, in dem er das Sagen hat und sie sich nur hübsch machen und sich um nichts zu kümmern braucht, doch irgendwann explodieren hitzköpfige Männer nun mal, das liegt in ihrer Natur, an ihrem Temperament.
Anfang 1943 kommt Jesús auf eine neue Idee, die so gut, so brillant und visionär ist wie all seine früheren Ideen. Er weiß nicht, dass seine Genossen im Politbüro bereits vor ihm darauf gekommen sind, aber es sitzt ihm auch kein Stalin im Nacken, der ihn daran hindert, sie in die Tat umzusetzen. Die Unión Nacional Española, die als Plattform für ein moderates demokratisches Programm konzipiert ist und von der PCE, besser gesagt von Jesús Monzón angeführt wird, der sie zu diesem Zweck ins Leben gerufen hat, vereint alle Organisationen, die sich der Diktatur Francisco Francos widersetzen. Sie wird der ideale Gesprächspartner für die Alliierten sein, wenn diese die Achsenmächte besiegt haben und sich dem spanischen Problem zuwenden.
Anfang 1943 ist Jesús Monzón überzeugt, dass Hitler den Krieg verlieren wird und dass die Unión Nacional Española, selbst wenn sich der Konflikt durch unvorhersehbare Ereignisse in die Länge ziehen sollte, eine exzellente Idee ist. Mehr als zwanzig Jahre später beweisen sämtliche demokratischen Kräfte Spaniens mit der Gründung ähnlicher Plattformen, wie recht er hatte.
Er hat alles bedacht. Auf der einen Seite hat er mit Juan Negrín und General Riquelme und auf der anderen mit Vertretern der Spanischen Sozialistischen Arbeiterpartei, PSOE, den Gewerkschaften CNT und UGT sowie der Izquierda Republicana in Frankreich gesprochen. Die restlichen Mitglieder der Volksfront, die im Februar 1936 die Wahlen gewann und zu denen er Kontakt hält, gehören zwar nicht zu der politischen Führungsriege ihrer jeweiligen Parteien, doch er hat keine Wahl. In den Vierzigerjahren befindet sich verständlicherweise keine einzige Führungskraft der Sozialisten oder Republikaner mehr in Frankreich, und die CNT ist fünf Jahre nach der Niederlage so gut wie zerschlagen. Doch damit niemand erschrickt und die demokratischen Kräfte, die die Republik schon einmal verraten haben, sich nicht erneut die Hände in Unschuld waschen können, indem sie sich hinter der Propaganda gegen die marxistischen Horden verschanzen, die Franco in den Palast El Pardo gebracht hat, trifft er sich in Madrid auch mit Monarchisten, Karlisten, rebellischen Falangisten und Unzufriedenen.
»Oh, dann kehren wir also nach Madrid zurück!«, ruft die arme Carmen aus, als sie davon erfährt. »Wie schön!«
»Nein, Schätzchen.« Er versucht, ihr die Enttäuschung schonend beizubringen. »Ich kehre nach Madrid zurück. Aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass du am besten mit Manolito Azcárate in die Schweiz gehst.«
Anschließend erklärt er ihr, dass er Verbindung mit einem Amerikaner namens Noel Field aufgenommen hat, der der Delegation der Vereinigten Staaten im Völkerbund in Genf angehört und seit 1941 auch für den Unitarian Service arbeitet, eine Wohltätigkeitsvereinigung zur Unterstützung von Flüchtlingen, über die die Aktivitäten europäischer Antifaschisten finanziert werden. Field, der seinerseits von Allen Dulles angeworben wurde – während des Zweiten Weltkriegs, ehe er Direktor des CIA wurde, war er Leiter der Delegation der amerikanischen Geheimdienste in der Schweiz –, steht im ständigen Kontakt mit der untergetauchten Führung der deutschen Kommunisten. Vielleicht hat Monzón über diesen Draht von der geheimnisvollen Existenz des mysteriösen Philanthropen erfahren.
Pablo Azcárate, der durch seinen Posten als Botschafter der spanischen Republik in London während des Bürgerkriegs unter Negríns Regierung zu einer Art Minister für auswärtige Angelegenheiten vor dem Nichteinmischungskomitee avancierte, freundete sich mit Field an, der sich damals im Verlauf der andauernden Konflikte immer wieder im Vereinigten Königreich aufhielt. Der Amerikaner war stets ein überzeugter Antifaschist und Freund der spanischen Republik, erinnert sich Pablos Sohn Manolo Azcárate, ein Kamerad und Freund von Jesús Monzón. Deshalb sagt Carmen nein, das komme nicht in Frage. Sie denke gar nicht daran, in die Schweiz zu fahren, warum auch, sie wird mit ihm – Jesús – nach Madrid gehen, Azcárate solle allein nach Genf, schließlich sei sein Vater ein guter Freund dieses Amerikaners, doch Jesús bleibt hart.
»Du hast hier das Sagen, Carmen« – arme Carmen –, »du bist die Delegierte des Politbüros, nicht ich. Also wirst du in die Schweiz reisen, diesem Kerl so viel Geld aus der Tasche ziehen wie möglich und nach Frankreich zurückkehren. Auf keinen Fall dürfen wir die Partei in Frankreich im Stich lassen.«
Arme Carmen! Sie ist nicht besonders schlau, aber auch nicht so dumm, um nicht zu merken, dass dieser Magier, der alles Mögliche aus seinem Hut zaubern kann, bestenfalls die Nase voll von ihr hat und sie schlimmstenfalls bereits ausgequetscht hat wie eine Zitrone. In beiden Fällen wird er sie abservieren. Jesús, der viel zu schlau ist, um sein Geheimnis vorschnell zu lüften, tut alles, um diesen Eindruck zu entkräften. Am Ende gelingt es ihm, Carmen so weit einzuwickeln, dass sie einigermaßen gut gelaunt nach Genf fährt. Sie hat versprochen, für ihn zu arbeiten, für die Kommunistische Partei Spaniens, die für sie nur noch er ist.
Sie tut ihre Pflicht, und das macht sie so gut wie eine Schülerin, die sich ihres Meisters als würdig erweist. Nach mehreren Treffen knöpft sie Field mehr als eine halbe Million Peseten ab, ein Vermögen im Jahr 1943, das nach Madrid wandert, in eine bequeme und diskrete Villa, natürlich mit Garten, in ein Haus in Ciudad Lineal, von dem aus Jesús Monzón genauso zaubert, herrscht, verführt, überzeugt, organisiert und befiehlt wie von der anderen Seite der Grenze aus. Es ist das Haus, in dem er seine Zusammenkünfte mit einer kleinen und ausgewählten Gruppe von abtrünnigen Faschisten einfädelt. Das Haus, von wo er Unzufriedene aus den verschiedensten politischen Richtungen rekrutiert und den Keim für eine Organisation setzt, die genauso bewundert wird wie die PCE im französischen Exil. Das Haus, in dem er auf die Unterstützung einer hübschen Assistentin zählen kann, die nach spätestens anderthalb Monaten nicht mehr nur so aussieht wie seine Geliebte, sondern dies tatsächlich ist.
Es ist Jesús Monzóns Haus der Illusionen, das Haus der Sinnestäuschungen. So nah an der Puerta del Sol, so fern von Moskau, Buenos Aires und Havanna und nur einen Steinwurf von Toulouse entfernt. Und während alles viel besser läuft, als er erwartet hatte, und viele historische Führer der spanischen Rechten ihn siezen, berauscht sich Monzón an der Macht, glaubt, er sei unsterblich, unbesiegbar, allmächtig, und beginnt sich zu täuschen.