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Authentisch, aktuell und humorvoll - ein neuer Roman von Jugendliteraturpreis-Gewinnerin Marianne Kaurin Wer wird die neue Wohlfühlagentin? Inken oder Alba? Inken ist zwölfeinhalb Jahre alt und auf ihrer Prioritätenliste für das neue Schuljahr steht vor allem eins: beliebt werden. Bestimmt würde sie dann sogar mit Leo zusammenkommen, der sie neulich so süß angelächelt hat. Es ist also nur logisch, dass Inken für den Posten als Wohlfühlagentin in ihrer Klasse kandidiert. Blöd nur, dass auch die neue superengagierte Mitschülerin Alba am Wahlkampf teilnimmt. Statt die Netikette und demokratischen Regeln zu beachten, greifen beide Mädchen zu den fiesesten Mitteln - offline und online. Und dann kommt es plötzlich noch schlimmer: Alba soll bei Inken einziehen. Müssen die beiden nun doch zusammenhalten? Zwei Mädchen mit Ecken und Kanten aus dem wahren Leben - authentisch und herrlich erfrischend! Ausgewählte Pressestimmen zur Marianne Kaurins "Irgendwo ist immer Süden" (2021 ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis in der Kategorie Kinderbuch) »Marianne Kaurin legt einen vielschichtigen Kinderroman vor, der mehrere ineinander verwobene Erzählstränge aufweist. Eindrucksvoll wird das kindliche Spiel als autonomer Zwischenraum inszeniert, in dem die Kinder aktiv handelnd sich weiterentwickeln können und für die Realität gestärkt werden. Das Figurenensemble ist stimmig konzipiert, auch die Erwachsenen Randfiguren überzeugen in der fein austarierten Darstellung. Souverän gelingt es Franziska Hüther, die sensible Sprache der Autorin treffend zu übersetzen und den doppelbödigen Humor wirkungsvoll zu platzieren.« Jurybegründung der AKJ zur Verleihung des Deutschen Jugendliteraturpreises 2021 »Der norwegischen Autorin Marianne Kaurin gelingt mit ihrem Kinderroman Irgendwo ist immer Süden ein kleines Kunststück: Sie erzählt eine heitere und sonnige Sommergeschichte, deren Heldin ein Mädchen ist, das ziemlich viel Zeit im Schatten verbringt. [...] Dass die Geschichte bei aller Härte ein echtes Kinderabenteuer ist und niemals moralisch wird, kann man nicht genug loben und will Kaurins Buch jederzeit empfehlen. [...].« DIE ZEIT »Eine Geschichte über die Macht der Phantasie, sensibel und schnörkellos erzählt. Kaurin gibt Kindern Mut und eine Stimme!« Begründung der Dt. Akademie KJL zur Wahl als Kinderbuch des Monats Mai »Marianne Kaurin versteht es, auch das Nichtgesagte wirken zu lassen. (…) Jede ihrer Geschichten von Annäherung, einander verlieren und wiederfinden ist auf eigene Art rührend, und in Sprache, Ton und Gedanken passgenau zum Alter. Und jede ihrer kleinen Liebesgeschichten hat einen besonderen Charme.« Frankfurter Allgemeine Zeitung
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Seitenzahl: 217
Veröffentlichungsjahr: 2024
Marianne Kaurin
Aus dem Norwegischen von Franziska Hüther
Die Übersetzung wurde finanziell gefördert von NORLA, Norwegian Literature Abroad
Deutsche Erstausgabe
© Atrium Verlag AG, Imprint WooW Books, Zürich 2024
© Text: Marianne Kaurin
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Trivselslederen bei H. Aschehoug & Co. (W. Nygaard) AS, Oslo 2023
Published in agreement with Oslo Literary Agency
Aus dem Norwegischen von Franziska Hüther
Coverillustration: Friederike Ablang
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
ISBN978-3-03967-039-0
www.WooW-Books.de
www.instagram.com/woowbooks_verlag
Ich hab mal von einem Mann gelesen, der hat kurz vor seinem Tod etwas Merkwürdiges entdeckt. Er hatte sein Leben lang Tagebuch geschrieben und rausgefunden, dass alle großen Ereignisse an einem Donnerstag passiert waren. Er wurde an einem Donnerstag geboren, alle seine vier Kinder wurden an einem Donnerstag geboren und jetzt war er sicher, dass er an einem Donnerstag sterben würde. Jeden Mittwoch ging er voller Angst zu Bett. Und dann, eines Donnerstags, war es vorbei.
Wenn für mich dasselbe gilt, dann ist der Dienstag mein Tag. Nicht dass ich jeden Montagabend Angst hätte, schlafen zu gehen. Aber bevor Mama abgereist ist, hat sie mir ein grünes Buch geschenkt, in das schreibe ich jetzt wichtige Dinge und ich erkenne da ein Muster. Alle großen Ereignisse sind an einem Dienstag passiert. An einem Dienstag hat Mama mir von ihrer Reise erzählt. An einem Dienstag habe ich erfahren, dass Victoria nicht länger in unsere Klasse gehen wird. An einem Dienstag bin ich bei Papa eingezogen. Und die Sache mit Leo ist an einem Dienstag passiert. Um nur einige Beispiele zu nennen. Außerdem bin ich an einem Dienstag geboren. Das weiß ich von Papa.
Heute ist Montag und der letzte Tag der viel zu langen und öden Sommerferien. Jasmin war die ganze Zeit im Urlaub und hatte schlechten Empfang, deshalb haben wir kaum voneinander gehört, dabei sind wir beste Freundinnen. Jasmin und ich sind wie Schwestern, das haben wir so ausgemacht. Vielleicht, weil wir uns beide heimlich eine Schwester wünschen. Ich habe keine Geschwister und Jasmin hat drei Brüder, deshalb passt es perfekt, dass wir Quasi-Schwestern sein können.
Bevor Mama weg ist, hat sie immer vor ihrem Computer gehockt und behauptet, sie wäre gleich fertig. Oder sie hat von ihrem Job geredet, was meistens so langweilig ist, dass ich auf Durchzug stelle und nur »ja »und »mhm« antworte, während ich irgendetwas anderes auf meinem Handy mache. Videos von Cora & Caitlin gucken, zum Beispiel. Die beiden sind Schwestern und beste Freundinnen und krass gut im Schminken. Das kann ich mir stundenlang ansehen.
Bei schönem Wetter bin ich in den Ferien mit dem Fahrrad zum Strand gefahren. Und da ist die Sache mit Leopassiert. So hab ich es in meinem grünen Buch genannt. In letzter Zeit denke ich immer an Leo, wenn ich an etwas Schönes denken will. Früher habe ich an Waffeleis, Schnee und Barbiezubehör gedacht, aber jetzt denke ich an Leo. Leo ist der beliebteste Junge in unserer Klasse. Letztes Jahr war er mit Victoria zusammen und dadurch ist er noch beliebter geworden. Das ist ein bisschen wie bei Stars. Wenn ein Star mit einem anderen zusammenkommt, werden beide sozusagen doppelt so beliebt wie vorher. Aber dann hat Victoria eines Tages in den Sommerferien, es war ein Dienstag, in die Klassengruppe geschrieben, dass sie mit ihrer Familie für ein Jahr nach Frankreich zieht. Alle nur so »Oh nein, voll blöd« oder »Du wirst uns fehlen«. Ich hab dasselbe geschrieben, aber in mein grünes Buch hab ich ein dickes, fettes HURRAAAAA über die ganze Seite gemalt. Sich freuen, weil jemand wegzieht, ist ziemlich mies und so bin ich eigentlich gar nicht. Aber wenn Victoria weg ist, besteht eine größere Chance, dass Leo auf mich aufmerksam wird. Zumindest, wenn ich die Ratschläge von Cora & Caitlin befolge und dafür sorge, dass ich beliebt werde. Was mein fester Plan ist, sobald ich morgen in der Siebten beginne.
An einem Dienstag in den Sommerferien bin ich vom Strand nach Hause gefahren und wollte eigentlich den restlichen Tag mit Cora & Caitlin verbringen, aber dieser Tag war einer der wichtigen Dienstage. Zu Hause habe ich direkt gemerkt, dass irgendwas los ist. Schon im Flur hat es nach Zimtschnecken geduftet, was allein schon merkwürdig war, weil Mama sonst immer nur pappiges Vollkornbrot backt. Mama hat mich empfangen wie eine Prinzessin, dabei war ich doch nur am Strand.
»Super, da bist du ja, Inger Karin«, sagte sie feierlich. »Ich muss etwas mit dir besprechen.«
Mama ist die Einzige auf der Welt, die mich bei meinem richtigen Namen nennt. Nur alte Omas heißen Inger und Karin, und wenn du den Doppelnamen Inger Karin hast, musst du mindestens Uroma sein. Mama und Papa wollten mich unbedingt nach irgendeinem Verwandten benennen, und da sie nicht mehr die Jüngsten waren, als ich kam, haben sie mich vorsichtshalber gleich nach beiden Omas benannt. Die waren natürlich megahappy, aber dann sind beide gestorben, bevor ich drei war, sonderlich viel haben sie also nicht davon gehabt. Das heißt, meine Eltern hätten mich auch Iselin oder Victoria nennen können oder irgendetwas anderes, was mir gefällt. Als ich klein war, konnte ich Inger Karin nicht aussprechen, deshalb wurde Inken daraus. So nennen mich alle, außer Mama, besonders, wenn sie sauer ist oder mir irgendwas Wichtiges zu sagen hat.
»Was ist los?«, fragte ich, ohne mich hinzusetzen. Eine ganze Menge, schwante mir. Der Tisch war mit zwei Tellern, einer Cola Light und gelben, hübsch gefalteten Servietten mit Erdbeermotiv gedeckt. Auf der Küchenkonsole lag eine leere Zimtschneckenpackung. Ich bekam ein ungutes Gefühl. Irgendwas war mit Mamas Blick. War sie krank? Oder gefeuert worden? Nein, ihre Augen sahen gut gelaunt aus. Hatten wir im Lotto gewonnen? Ich malte mir aus, wie Mama sagen würde, dass wir für ein Jahr nach Kalifornien ziehen, wir wären jetzt nämlich reich und könnten in einer Riesenvilla mit Swimmingpool wohnen und jeden Tag shoppen gehen. Aber das wäre wahrscheinlich so ziemlich das Letzte, wofür Mama ihren Lottogewinn ausgeben würde.
»Es geht um die Arbeit«, sagte Mama aufgeregt. »Die Reise wurde vorgezogen. Alles ist in trockenen Tüchern, plötzlich ging es ganz schnell.«
Ich sah sie an. Was für eine Reise?
»Mein Forschungsprojekt!«, rief sie und stopfte sich eine Zimtschnecke in den Mund. »Jetzt geht es endlich los!«
Und dann wiederholte sie, was sie mir bestimmt schon hundert Mal erzählt hatte, ohne dass es hängen geblieben war, nämlich dass sie eine Forschungsreise auf eine Insel im Pazifischen Ozean machen würde, um die Lebensweise der Einwohner dort zu studieren. Ihr »Familienverständnis«. Ich starrte auf Mamas Mund, während sie immer weiterredete und die Zimtschnecke mampfte.
»Das heißt, solange ich weg bin, wohnst du bei Papa.«
Mama legte den Kopf schräg und machte ein Gesicht, als fände sie es ärgerlich, dass sie wegmuss, aber ihre Augen leuchteten, wie sie es nur tun, wenn irgendetwas Großartiges bei ihrer blöden Arbeit passiert.
»Tut mir leid, ich weiß, das kommt jetzt alles ein bisschen plötzlich, aber das wird bestimmt schön, ein paar Monate bei Papa zu wohnen.«
Was das betraf, waren Mama und ich nicht ganz einer Meinung, aber die Sache ließ sich schlecht ändern. Das Familienleben auf einer Insel im Pazifik kann man nicht von einer Wohnung in Norwegen aus erforschen. An einem Dienstag in den Sommerferien bin ich deshalb in Papas gelbes Reihenhaus gezogen.
Abends schrieb ich in das grüne Buch:
Nachteile, wenn ich bei Papa wohne:
Papa redet nur über langweiligen Kram
Viel längerer Schulweg und total weit weg von allen, vor allem Jasmin!
Papa kann nicht kochen (Pro: viel Tiefkühlpizza)
Es wird absolut nichts passieren und ich werde mich zu Tode langweilen
Im letzten Punkt habe ich mich zum Glück geirrt. Es war zwar langweilig, aber ich bin nicht tot. Und jetzt habe ich Herzklopfen, weil morgen wieder ein Dienstag ist und etwas Neues beginnt. Ich habe mich vier Stunden lang vorbereitet, indem ich mir immer wieder Cora & Caitlins Video How to make an entrance – wie man einen coolen Auftritt hinlegt angesehen und damit vor dem Spiegel geübt habe. Jetzt liege ich unter der Bettdecke, die nach Papas Haus riecht, und versuche, an etwas Schönes zu denken. Das rät Mama mir immer, wenn ich mich nicht entspannen kann. Ich denke an Mama und an Leo und an eine Lidschatten-Palette, die ich mir wünsche, und daran, dass meine Schwester Jasmin endlich zurück ist und ich es kaum erwarten kann, sie morgen zu sehen.
Ich lese noch mal alles, was ich im Laufe des Sommers in mein grünes Buch geschrieben habe. Es geht sehr viel um Leo, voll peinlich alles, zum Glück liest das außer mir keiner.
Darauf freue ich mich in der Siebten:
In den Pausen nicht mehr spielen müssen
Jeden Tag Jasmin sehen
Ganz, ganz vielleicht mit Leo zusammenkommen
Als Siebener sind wir die Ältesten an der Schule
Jasmin und ich haben die Siebener immer bewundert und davon geträumt, so zu sein wie sie. Letztes Jahr waren es vor allem Iselin und ihre Freundinnen, die von allen angehimmelt wurden. Jetzt sind sie auf der weiterführenden Schule. Wäre Victoria noch in unserer Klasse, würde sie jetzt garantiert die Beliebteste werden. Denk an was Schönes, flüstere ich erneut unter der Decke und male mir aus, wie ich eine Art Iselin oder Victoria werde. Eine, zu der alle aufsehen, eine von den Beliebten. Wie wird man so jemand? Ich glaube, ich würde so ziemlich alles dafür tun.
Bevor ich das Licht ausknipse, füge ich der Liste noch einen Punkt hinzu, den vielleicht allerwichtigsten, wenn das mit Leo etwas werden soll.
Beliebt werden
Ich habe vorher noch nie bei Papa gewohnt. So richtig gewohnt, meine ich. Normalerweise fahre ich mittwochs nach der Schule mit dem Fahrrad zu ihm und übernachte jedes zweite Wochenende, weil Mama und Papa das vor Ewigkeiten mal vereinbart haben. Sie haben mich nie gefragt, was ich eigentlich davon halte.
Manchmal frage ich mich ernsthaft, ob Papa mitbekommen hat, dass ich inzwischen zwölfeinhalb bin und ein funktionierendes Gehirn besitze. Er fragt mich nur immer, was ich auf mein Pausenbrot möchte, als ob mich im Leben nichts anderes beschäftigt.
Gäbe es einen Wettbewerb, wer der langweiligste Mensch auf Erden ist, würde Papa den locker gewinnen. Er arbeitet irgendwas mit Straßen bei der Gemeinde, benutzt dauernd altmodischeWörter, kann nicht kochen und geht zu Besprechungen. In letzter Zeit hat er jeden Abend Besprechung.
Am ersten Tag nach meinem Einzug bei ihm hat Papa mich gefragt, ob ich Mama vermisse. Ich habe Nein gesagt, obwohl ich sie da schon so schrecklich vermisst habe, dass ich Herzstiche hatte. Ich wollte Papa nicht traurig machen, deshalb habe ich so getan, als würde ich mich mega freuen, bei ihm zu wohnen. Papa hat einen Berg Pfannkuchen gebacken und wollte, dass wir einen Film zusammen gucken. Aber an Tag zwei meinte er schon, dass er zu einer Besprechung müsste und ich mir eine Pizza machen soll, weil er spät nach Hause käme. Irgendwas Wichtiges mit irgendwelchen Straßen, worum er sich unbedingt kümmern müsse. Dasselbe an Tag drei und vier und inzwischen habe ich aufgehört zu zählen.
Heute Morgen bin ich mit einem Kribbeln im ganzen Körper aufgewacht. Ich habe mir noch mal das How to make an entrance-Video angeschaut. Um meine Ziele zu erreichen und beliebt zu werden, damit ich mit Leo zusammenkomme, ist ein guter erster Eindruck entscheidend. Cora & Caitlin erklären, wie man selbstbewusst läuft (walk with a purpose) und geben Ratschläge, wie man Aufmerksamkeit auf sich zieht und cool aussieht. Ich laufe ein paar Proberunden im Schlafanzug und filme mich, wie ich ganz lässig vom Kleiderschrank zum Schreibtisch gehe. Ich werfe meine Haare zurück und lächle zuckersüß in den Spiegel.
Seit der Sache mit Leo habe ich Leo nicht mehr gesehen, aber jetzt, während ich mich schminke, träume ich mich zurück zu dem Abend auf der Badeplattform.
Die Sache mit Leo war so: Ich war abends allein mit dem Fahrrad zum Strand gefahren und raus zu der Badeplattform geschwommen, wo ich entspannt auf dem warmen Holz lag. Da kam plötzlich ein Junge auf dem Fahrrad an den Strand. Oder was heißt Junge, ich hab ihn natürlich gleich erkannt. Leo warf das Fahrrad hin, sprang vom Sprungbrett und kam auf mich zugeschwommen. Mir blieb fast das Herz stehen. Kein Mensch war da, nur ich auf der Badeplattform und Leo im Wasser. Er kam näher. Ich klapperte mit den Zähnen und hörte mein Herz pochen. Was würde er sagen, wenn er mich entdeckte? Worüber sollten wir reden? Kurz habe ich überlegt, unauffällig hinter der Plattform ins Wasser zu tauchen, um einem peinlichen Gespräch zu entgehen, aber ich saß fest. Er musste gesehen haben, dass jemand auf der Plattform war, und ich konnte nirgends unbemerkt hinschwimmen. Dann passierte es. Leo kam die Leiter hochgeklettert und stand einen Moment neben mir. Das Wasser tropfte von seinen roten Badeshorts. Ich hab mich wieder hingelegt, ohne einen Ton zu sagen, und gedacht, jetzt muss ich cool aussehen. Dann habe ich seine Stimme gehört.
»Hey, Inken«, sagte er und setzte sich neben mich. Ich konnte das kalte Wasser an seiner Haut spüren.
Ich setzte mich halb auf und versuchte, überrascht auszusehen, als hätte ich gar nicht gemerkt, dass jemand gekommen war, dabei hatte die Plattform heftig geschaukelt.
»Hi«, sagte ich kurz.
Ein Hi, wie man es auch zu seinem Nachbar oder der Kassiererin im Supermarkt sagt. Mein Herz hat wie wild gehämmert, aber ich habe mich ganz lässig aufgerichtet und versucht, genauso cool auszusehen wie Victoria. Leo lächelte mich an. Und so saßen wir einfach da in der Abendsonne, schwiegen und klapperten beide mit den Zähnen. Nach einer Weile fing Leo an, von seinen Sommerferien zu erzählen. Ich brauchte gar nichts zu sagen, er hat die ganze Zeit geredet. Wenn man die Zeit anhalten könnte, dann hätte ich es in diesem Augenblick getan. Auf der Badeplattform. An einem Dienstag in den Sommerferien. Aber auf einmal stand Leo auf und meinte, er müsste jetzt nach Hause, machte einen Kopfsprung ins Wasser, schwamm zurück zum Strand und fuhr weg.
Als ich zu Hause war, habe ich vier Seiten über Leo in mein grünes Buch geschrieben, und jetzt dauert es nur noch eine Stunde, bis ich ihn wiedersehe.
Als ich in die Küche komme, sitzt Papa am Tisch und hört Radio. Ein Mann redet sehr schnell über Wahlkampf und Politiker und bla, bla, bla. Papa hat die Nase in die Zeitung gesteckt. Ich hab ihm schon tausendmal gesagt, dass man die Zeitung auch online lesen kann, aber dann erklärt er mir nur immer, wie schön es ist, so wie er jetzt gerade eine Seite umzublättern. Laut Papa ist das nicht dasselbe wie Scrollen. Er ist sehr stolz, dass er dieses Wort gelernt hat: scrollen.
»Aufregender Tag heute, was, Inken?«, sagt er.
Es klingt, als hätte er den Satz einstudiert und nur auf mein Erscheinen gewartet, damit er ihn aufsagen kann.
»Es kommt mir vor, als wärst du gerade erst eingeschult worden. Und plötzlich bist du in der Siebten.«
Ich nicke.
»Die Zeit fliegt«, sagt Papa nachdenklich. »Nicht zu fassen, in einem Jahr kommst du schon auf die Weiterführende.«
Ich nicke wieder.
Wir frühstücken ohne ein weiteres Wort. Papa sind die einstudierten Sätze ausgegangen, er blättert in seiner Zeitung. Obwohl das Radio läuft, ist es seltsam still in diesem Haus. Viel stiller als bei Mama.
»Was hast du da im Gesicht?«, will Papa wissen, als er endlich von der Zeitung aufschaut.
»Schminke«, sage ich und werde plötzlich unsicher, ob man am ersten Schultag in der Siebten geschminkt sein sollte oder nicht. Ich weiß nicht mehr, ob die Mädchen vom letzten Jahr es waren. Iselin & Co. Sicherheitshalber schicke ich Jasmin unter dem Tisch eine Nachricht.
»Du, Inken. Heute Abend muss ich leider wieder zu einer Besprechung«, sagt Papa entschuldigend. »Mit Vertretern vom Landkreis und dem Straßenbauamt. Es geht um ein Bauvorhaben, das …«
»Okay«, unterbreche ich ihn, denn ich wüsste nicht, was mich weniger interessiert, als mit wem Papa Besprechungen hat und warum. Außerdem schreibt Jasmin, dass sie sich nicht geschminkt hat, was zu einer längeren Diskussion darüber führt, ob Schminke am ersten Schultag ja oder nein.
Zwischendrin kommt eine Nachricht von Mama. Sie schickt ein Bild von sich an Bord eines Schiffs und schreibt, dass sie jetzt vom Festland ablegen. Auf der Insel gibt es kein WLAN und auch sonst keinen Empfang, deshalb kann sie nur ab und zu von einem Festnetztelefon anrufen. Ich antworte mit einem Daumenhoch und einem Emoji mit Sonnenbrille, dann widme ich mich wieder Jasmin und der Frage schminken oder nicht.
Papa steht auf. »Ich muss jetzt los.« Er holt eine langweilige graue Anzugjacke und eine Mappe mit Straßendokumenten. »Die Straßen bauen sich nicht von selbst. Viel Spaß in der Schule!«
Ich habe Jasmin überredet, mich bei Papa abzuholen, obwohl das ein ziemlicher Umweg für sie ist. Ist ja nur für eine Weile, habe ich ihr geschrieben und Jasmin, die beste Freundin der Welt, taucht um Viertel nach acht auf. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich zuletzt so gefreut habe wie in dem Moment, als ich die Tür öffne und sie lächelnd davorsteht.
»Ich hab dich so vermisst!«, rufe ich und falle ihr um den Hals.
»Mhm«, antwortet Jasmin.
Wir umarmen uns lange. Ihr glattes braunes Haar riecht nach Pflegebalsam. Während sie weg war, haben wir nur zweimal gefacetimt, deshalb macht uns das Wiedersehen fast ein bisschen verlegen, obwohl wir beste Freundinnen und Schwestern sind. Jasmin sieht anders aus. Ihre Haare sind richtig lang geworden, sie hat die Fingernägel helllila lackiert, neue Klamotten und: Sie hat sich auch geschminkt.
»Erzähl«, sage ich. »Wie war der Urlaub?«
Auf dem Weg zur Heiabakken-Schule erzählt Jasmin ohne Pause von ihrem Sommer in der Türkei und allem, was sie dort erlebt hat. Eine ganze Menge offenbar. Sie erzählt von ihrer Familie und lauter Leuten, von denen ich noch nie gehört habe. Vor allem redet sie von Sonya, einer Cousine, die zwei Jahre älter ist als wir.
»Wir waren ziemlich eng in den letzten Wochen«, sagt Jasmin und zeigt mir ein Foto auf ihrem Handy. Jasmin und Sonya lächeln Arm in Arm in die Kamera. Jasmin wischt weiter, ein Bild nach dem anderen ploppt auf. Die beiden am Strand, die beiden im Pool, die beiden beim Abendessen mit der Familie, die beiden mit ihrer Oma, Sonya mit Jasmins Familie. Sonya ist hübsch. Auf mehreren Bildern sieht Jasmin sie bewundernd an.
»Wir sind ja nur Cousinen, aber diesen Sommer waren wir wie Schwestern.« Jasmin wischt mit einem Lächeln um die Lippen weiter. Es sieht aus, als träume sie sich zurück in die Sommerferien und zu dieser Cousine, die mir langsam ein bisschen auf die Nerven geht. Ich freue mich für Jasmin, klar, aber Jasmin und ich, wir sind Schwestern. Das haben wir vor Ewigkeiten vereinbart.
Während Jasmin ihr Handy anlächelt, bekommt sie plötzlich eine Nachricht.
»Wo wir gerade von ihr sprechen …« Sie hält mir das Display vor die Nase, damit ich all die Herzen und Smileys sehen kann, die Sonya ihr geschickt hat. Während wir einen der Hügel auf dem Weg zur Schule hochlaufen, schreibt Jasmin weiter mit Sonya, und ich weiß nicht richtig, was ich sagen soll.
Als wir an der weiterführenden Schule vorbeikommen, unterhalten sich die Schüler in Grüppchen und schauen dabei auf ihre Handys. Ein paar Mädchen lachen laut. Jasmin steckt ihr Handy weg und wir starren wie gebannt auf den Schulhof.
Iselin & Co stehen beisammen und schauen sich schüchtern um, ganz anders als letztes Jahr. Und dann passiert das Unglaubliche: Iselin winkt uns zu! Ein rasches, vorsichtiges Winken.
»Weiß sie, wer wir sind?«, frage ich Jasmin verdutzt.
Jasmins Mund steht offen. Ich hebezögerlichdie Hand und winke zurück. Iselin lächelt, dann wendet sie sich den anderen in ihrer Gruppe zu, die jetzt zu den Jüngsten auf der Weiterführenden gehören.
»Oh mein Gott!«, sage ich zu Jasmin. »Sie weiß echt, wer wir sind!«
Beim Weitergehen halte ich eifrig nach Leo Ausschau. Und dann entdecke ich ihn ein Stück weiter den Hügel rauf auf dem Fahrrad. Die braunen Haare unter der Cap, sein Rücken unter dem dunkelblauen T-Shirt. Er ist über den Lenker gebeugt, tritt wie ein Irrer in die Pedale.
Es ist, als hätte Iselins Winken und ihr Lächeln Jasmin und mir neues Selbstvertrauen verliehen. Achtung, hier kommen wir!
»Hiiiii, Leo«, sagen wir im Chor, als wir an ihm vorbeilaufen.
Wir sind zu Fuß tatsächlich schneller als er auf dem Fahrrad. Ich höre, wie es knarzt, als er in den zweiten Gang schaltet, und dann taucht er neben uns auf.
»Hey«, sagt Leo und lächelt mich an.
Es ist dasselbe Lächeln wie auf der Badeplattform und geht mir durch und durch. Hat er so früher nicht immer Victoria angelächelt? Das muss doch etwas bedeuten. Er schaut mir in die Augen, schaltet erneut und sagt noch mal Hey. Mir fällt nichts Besseres ein, als mein Hi zu wiederholen. Und auf einmal merke ich, dass ich knallrot bin und schweißgebadet und dass alles, was ich zu Hause vor dem Spiegel geübt habe, wie weggeblasen ist. Statt meine Haare zurückzuwerfen und zuckersüß zu lächeln, stammle ich ein Hi und noch ein Hi, als hätte ich in meinem Leben nur dieses eine Wort gelernt.
»Bis gleich«, sagt Leo und strampelt weiter den Hang rauf. Ich sehe seinem Rücken nach, bis er verschwindet, und denke mir, dass ich noch stark an mir arbeiten muss, wenn ich so werden will wie Victoria oder Iselin.
Der Schulhof ist wie ein großer brodelnder Kochtopf. Denk an etwas Schönes, sage ich mir und rufe mir ins Gedächtnis, wie Iselin & Co letztes Jahr das Schulgelände betreten haben. Jetzt sind wir die Ältesten. Ich gehe alle Punkte aus How to make an entrance durch, kontrolliere, dass die Sonnenbrille richtig im Haar sitzt, werfe meine Schultertasche zurück und versuche, zum Schulgebäude zu schreiten wie ein Model über den Catwalk. Bei den Bänken, wo Iselin & Co letztes Jahr immer standen, nehmen Jasmin und ich Aufstellung, atmen durch und versuchen, cool auszusehen, dann holen wir unsere Handys hervor und tippen wie wild darauf herum, während wir darauf warten, dass es zur ersten Stunde klingelt.
König Harald erwartet uns im Flur vor dem Klassenzimmer. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich freuen würde, ihn wiederzusehen, aber er begrüßt uns mit einem Lächeln und den Worten, er hätte uns in den Ferien ganz schön vermisst. Den Spitznamen König Harald haben nicht wir ihm gegeben, den hat er sich selbst ausgedacht. Keine Ahnung, warum er sich nennt wie der König von Norwegen. Der ist nämlich mindestens neunzig und Harald ist gerade mal um die dreißig, trägt modische Hosen und schicke Hemden. Irgendwie will er gleichzeitig jung und alt sein.
Harald startet mit einem YouTube-Video von einer amerikanischen Klasse, in der jeder einen persönlichen Handshake mit dem Lehrer hat. Das sieht schon cool aus.
»Ich hab mir gedacht, so eine Klasse könnten wir auch sein«, ruft Harald, um die übertrieben laute Musik zu übertönen, und tanzt herum, oder besser gesagt: fuchtelt mit den Armen und hüpft auf und ab. Es tut schon beim Zusehen weh, weil Harald so ungefähr das komplette Gegenteil von dem coolen amerikanischen Lehrer ist. Trotzdem macht er ewig weiter, wahrscheinlich glaubt er, wir lachen, weil wir es lustig finden, dabei ist es einfach nur peinlich. Als er endlich die Musik ausschaltet, hat sein blaues Hemd Schweißflecken unter den Achseln. Er wischt sich über die Stirn und lässt den Blick durch die Klasse schweifen, deren König er ist.
»Dieses Schuljahr wird richtig spannend, Leute«, sagt er atemlos und voller Begeisterung. »Wir beschäftigen unsnämlichmit zwei großen Themen: erstens mit dem Thema Wahlkampf und zweitens mit dem Thema Netikette, also dem höflichen und respektvollen Miteinander im Internet!«
Seine Ankündigung klingt, als hätten wir schon den ganzen Sommer darauf gebrannt.
»Aber zuallererst und am allerwichtigsten: Wir haben eine neue Schülerin!«
Ich schaue mich um. Hä, neue Schülerin? Vorne bei der Tafel in der ersten Reihe, direkt neben Leo, sehe ich einen Hinterkopf mit langen braunen Zottelhaaren, die aussehen wie ein sehr schlampig gewebter Teppich. Harald zeigt auf den Zottelkopf und ein Mädchen mit Grübchen dreht sich um und schaut in die Runde.
»Das ist Alba. Heißt sie bitte herzlich willkommen. Alba, magst du uns ein bisschen von dir erzählen?«
»Sehr gern, Harald«, sagt sie wie eine Erwachsene, die gleich Vertretungsstunde halten wird. Wir duzen zwar alle Lehrer, aber so wie sie es sagt, klingt es trotzdem komisch. Alba geht vor, stellt sich neben Harald, holt Luft und legt los. Ihre Worte klingen wie einstudiert, genau wie bei Papa, aber sie hat wesentlich mehr auf dem Herzen als er. Ein unfassbarer Redeschwall kommt aus ihrem Mund und besonders das Wörtchen »engagiert« hat es ihr offensichtlich angetan. Klimakampf, Tierschutz, Anti-Mobbing, Hass im Internet. Alba ist engagiert. Sie ist bei den Umweltheld*innen und schreibt häufig für die Aftenposten Junior, war vorher auf der Waldorfschule und spielt Geige. Leidenschaftlich. Sie spricht laut und deutlich. Alba ist in den Sommerferien hergezogen. Jasmin dreht sich zu mir um und wir verdrehen beide die Augen. Ach du Kacke. Fräulein Engagiert.
Harald wirkt schwer beeindruckt, als Alba endlich fertig ist und auf ihren Platz zurückkehrt. Ich sehe, wie sie Leo zulächelt, und was noch schlimmer ist: Er lächelt zurück.
»Was für ein Engagement!«, strahlt Harald. »Wir freuen uns darauf, dich besser kennenzulernen, Alba! Jemanden wie dich kann diese Klasse gut gebrauchen.«
Harald dreht sich zur Tafel und schreibt ein Wort darauf. Wohlfühlagent*innen. Ein Murmeln geht durch die Klasse.