Inmitten von allem der Fluss - Ernst Heimes - E-Book

Inmitten von allem der Fluss E-Book

Ernst Heimes

0,0

Beschreibung

Anfang des 20. Jahrhunderts beginnend, reicht dieser Generationenroman bis in unsere Zeit. Auf der Vorlage seiner eigenen Familiengeschichte erzählt Ernst Heimes mit Tiefe und Witz von Menschen während der vielen gesellschaftlichen, sozialen und politischen Umwälzungen in mehr als hundert Jahren. Er erzählt vom Aufwachsen in Zeiten des Krieges, von einer Kindheit in den 1950er und 1960er Jahren, von der Suche nach Herkunft und Heimat und der Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 481

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



© 2024 – e-book-AusgabeRHEIN-MOSEL-VERLAGZell/MoselBrandenburg 17, D-56856 Zell/MoselTel. 06542/5151 Fax 06542/61158Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-89801-947-7Ausstattung: Stefanie ThurKorrektorat: Theresa JahnenUmschlagbild: Heinz M. MüllerAutorenfoto: Gudrun Linde

Ernst Heimes

Inmitten von allem der Fluss

Roman

Rhein-Mosel-Verlag

Für meine Mutter(1933 – 2024)

Alles ist autobiografisch, auch das Erfundene.Claude Simon

1

Frühjahr 1956.

Schon wieder sitzt er im Keller, der alte Dores, in seinem selbstgewählten Asyl auf der Suche nach Ruhe.

»Dou Scheißkerl! Dou Dreckshund, dou dreckijer!«1 Das ewige Geschrei der Alten! Ihr Gezeter! Inzwischen ist es fast jeden Tag zu hören. Vor keiner, auch noch so üblen Beschimpfung scheut sie zurück. Lässt ihrer Tollwütigkeit freien Lauf. Schmeißt Gegenstände an die Wand, die zerscheppern und in tausend Teilen durch den Raum fliegen. Sie beißt, spuckt, schlägt wahllos um sich, greift ihn sofort an, wenn er mit mutlosen Worten beruhigend auf sie zugehen will. Stühle fliegen in die Zimmerecke, mit Wucht reißt sie den Tisch herum, dass dieser die Beine in die Höhe streckt, wie ein Tier in Totenstarre.

Wehe! Nur nicht in ihre Nähe geraten, wenn ein Tobsuchtsanfall sie heimsucht. Klingt dieser ab, dann ist sie noch stundenlang aggressiv, missstimmig, ja, gefährlich. Für sich selbst und für ihn. Seit sie aus der Andernacher Anstalt zurück ist, verlässt sie kaum noch das Haus, kaum noch die Wohnung im ersten Stock. Sie klettert ein paar Mal am Tag die Treppe hinunter ins Parterre. Dort ist das Klo, das sich die Hausbewohner teilen, dahinter das Badezimmer, in dem samstags der Badeofen geheizt wird.

Er verbringt ganze Tage im Keller, nur um sein wutschnaubendes Weib nicht ertragen zu müssen. Dort unten, im Vorraum zu den Lagerfässern, hat er sich notdürftig eingerichtet. Wegen der gleichbleibend niedrigen Kellertemperatur schmerzen ihm die Knochen. Da helfen auch noch so dicke Jacken nicht viel. Früher haben ihm lange Aufenthalte hier unten nichts ausgemacht, als er noch richtig arbeiten konnte und sich um seinen Wein mühen musste. Aber inzwischen ist er dreiundsiebzig und nichts an ihm ist mehr neu. Tagsüber verlässt er immer wieder sein Kellerdomizil und macht sich in dem kleinen Gartenstreifen, auf der zum Dorf hin gelegenen Seite des Weges, den die Einheimischen Neije Wäch nennen, zu schaffen. Ein winziges Stückchen Erde, das zum Haus gehört, das er sogar mit einem Zaun eingefasst hat. Er bepflanzt, hegt und pflegt es, erntet Gemüse, Salat, Tomaten, Beeren, seit er vor dreißig Jahren seinen Neubau bezogen hat.

Kühles, unentschlossen flimmerndes Sonnenlicht. Noch ist es früh im Jahr. Fliehende Wolken. Bauchige Wesen in zügiger Veränderung. Schieben sich dicht, so dicht aufeinander, um sich dann schnell wieder in andere, offenere Formen zu flüchten. Helles, kräftiges, verheißungsvolles Blau zwischen den bauchigen, den freundlichen Himmelsgespenstern des Mittags.

Der Junge weiß noch nichts von den Erscheinungen hoch in den Lüften, von Wolken, Regen, Sonnenglanz. Licht und Schatten. Die ersten Bilder vor seinen Augen sind hell, leuchtend, unscharf und von einem diffusen Flattern durchwoben. Schon hat er begonnen, die Welt zu begreifen. Das Lichterspiel auf den Fensterscheiben, die lebendigen Bewegungen über den Blumenmustern der Tapete und an der Zimmerdecke. Blitzende Spiegelungen funkelnd im Glas der Vitrine. Schatten, Konturen, die rautenförmig den Raum durchwandern.

Das Pochen, stetig gleichmäßiges, sanftes Pochen in seinem Ohr, wenn die Ohrmuschel flach auf dem Kopfkissen liegt. Der Rhythmus des Lebens, seines noch ganz jungen Lebens, wiegt ihn, lässt ihn ruhig sein in völligem Urvertrauen. Es verschwindet, dieses zarte Klopfen, sobald er das Köpfchen ein wenig dreht. Dann hört er deutlich andere Geräusche, gemächliches Anschwellen und Abschwellen. Er hört es nah, spürt es tief in sich drinnen, leises Strömen, behütendes Summen. Es verbindet ihn mit allem, was ihn umgibt. Noch frei von erlernten Vorstellungen, frei von Ängsten, existiert er ganz in einem alles umfassenden Vertrauen.

Das zurückhaltende Knarren der Holztür, die sich vorsichtig aufschiebt. Ein Geräusch, das er schon kennt. Es kündet vom Erscheinen seiner Mutter Johanna. Er spürt Freude, warmes Lodern im Bauch. Die Frau in der Tür wirft forschende Blicke in den Raum, in die Wiege. Lauscht, und hört den Atem des Jungen. Er spürt, dass sie näher kommt und vernimmt ihre Stimme. Sie ruft leise, singt seinen Namen: »Albert!« Vertrauter, wohltuender Klang. Wärmende Hände, die über seinen Kopf streichen, die sich um seinen Körper legen, ihn vorsichtig aus der Wiege heben, ihn nah an den Leib der Frau legen, die leise mit dem Kind spricht. Sein Mund findet schnell den zarten Ort auf ihrer Brust, der sein Verlangen nach Nahrung stillt, der Nähe spendet und Weichheit, bedingungslosen Schutz.

Johanna steht am großen Fenster des Eckzimmers, das Kind in ihrem Arm, genießt den Blick über die vom Tau benetzten Schieferdächer des Dorfes und hinüber nach Cochem, wo an den Berghängen die ersten Frühlingsboten grün schimmern. Obwohl der Junge noch viel zu klein ist, ihre Worte zu verstehen, spricht sie mit ihm und erzählt, dass der Mann da draußen auf der Straße sein Großvater sei.

»Opa«, sagt sie mit weicher Stimme. »Wo ist der Opa?«

Dieser macht sich nicht die Mühe zum Fenster hinaufzuschauen, um etwa seinem Enkel zu winken. Auch nicht, als der mit Armen und Beinen vergnügliche Babyhopser vollzieht. Seiner Schwiegertochter schenkt er ohnehin keine Beachtung. Der alte Dores wirkt abwesend, in sich gekehrt vielleicht. Er hat den Jackenkragen dicht um den Hals gelegt. Den gesenkten Blick richtet er in seinen Hut. Den hat er vom Kopf genommen, umgewendet und dreht ihn an der Krempe mit beiden Händen gedankenlos vor dem Bauch. So steht er lange da. Sogar noch, nachdem Johanna ihrem Kind die Windeln gewechselt, ein wenig mit ihm gespielt, ihm ein Lied gesungen und es zurück in die Wiege gelegt hat. Als sie wieder ans Fenster tritt, um die Übergardinen ein wenig vorzuziehen, sieht sie ihn noch immer unverändert vor seinem Gärtchen am Wegrand. Sie bemerkt zwei Passanten, einen Mann und eine Frau, die sich von der Brücke her nähern. Beide sind ihr unbekannt. Es werden Fremde sein, denkt sie. Fremde, das Wort Touristen ist noch ungebräuchlich. Als die zwei sich dem Alten nähern, stecken sie die Köpfe zusammen und tuscheln im Vorübergehen. Der Mann greift umständlich in die Innentasche seines Mantels, befördert ein Etui heraus und entnimmt ein paar Münzen. Die lässt er im Hut des Alten klimpern. Der alte Dores nickt, ist mit einem Mal aus seiner Erstarrung erwacht. Er wiegt den Hut auf und ab, als wolle er so das Gewicht der Münzen ermitteln, ihren Wert schätzen. Er deutet eine Verbeugung an: Dankeschön! Über sein Gesicht scheint sogar ein kleines Lächeln zu huschen. Aber da kann Johanna sich auch getäuscht haben.

2

An einem grauen Tag in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre quengelte im Eckzimmer, auf dem gleichen Platz im Raum, ein Winzling in einem ausgemergelten Weidenkorb vor sich hin. Ein erbärmliches Häufchen Elend, das seine älteren Geschwister den Viereinhalbpfünder nannten. Veerenhalfponner klang es im moselfränkischen Dialekt, wenn von dem Kind die Rede war.

Es war zum Beginn des Winters 1927/28. Eine Kältewelle hielt ganz Europa mehr als zwei Wochen lang im eisigen Griff. In Nürnberg soll das Thermometer minus 25 Grad angezeigt haben, in Südnorwegen sogar minus 45 Grad Celsius. Aber Nürnberg und Südnorwegen waren weit weg. Hier im Tal der Mosel packte der Frost weniger streng zu. Manche glaubten, das läge am Schiefergestein der Berge, die bis in den Winter hinein die im Sommer aufgetankte Wärme abstrahlten. Andere bestritten dies, sagten, das könne nicht sein. Die Speicherkapazität des Moselschiefers könne zwar für milde Sommernächte sorgen, mehr aber nicht.

Das Eckzimmer des Viereinhalbpfünders wurde nicht beheizt. Zwar war der Weidenkorb reichlich mit Decken und Kissen ausgepolstert, sodass der Kleine darin mitunter völlig versank und seine Schwestern ihn erst einmal freilegen mussten, wenn sie ihn aufnehmen wollten. Doch die Kälte biss ihm ins Fleisch, sobald das kleine Gesicht oder eine seiner winzigen Hände eine Weile unbedeckt blieben. Die Kältewelle zog sich bis kurz vor Christtag dahin. Wochenlang folgte graues, nasskaltes Winterwetter, hierzulande usselich genannt.

Dreizehn Grad unter Null zeigte das Thermometer am Cochemer Rathaus, was der Ausscheller von Cond auf seinem Rundgang mit heiserer Stimme in die Straßen und Gassen rief.

Die Kälte stellte die Fenster und Türen des Neubaus, in dem sich das Eckzimmer mit dem Viereinhalbpfünder befand, auf eine erste harte Probe. Der alte Dores hatte das Haus im Frühjahr 1927 mit seiner Familie bezogen, war aus dem kleinen muffigen Gebäude aus rissigem Schiefer und Kieselgestein, Holz und Lehm in der Daljaas in den stolzen Neubau auf dem Neije Wäch gezogen. Hier roch alles frisch und unverbraucht, je nach Witterung manchmal sogar noch nach Zement und dem feuchten Hauch, den frisch gewonnene Bruchsteine, die Mosel-Grauwacke, ausdünsten können.

In den Weidenkorb hatte Agathe, die älteste Schwester, den nur viereinhalb Pfund leichten Bruder gebettet. Im gleichen Korb hatte sie selbst als Baby gelegen, bis ihr Bruder Dores, ältester Sohn des alten Dores nachgerückt war und ihr den Platz streitig gemacht hatte. Ihm folgten fünf weitere Geschwister. Zuletzt Franz, gerade mal anderthalb Jahre alt, als er den Korb zu Gunsten seines jüngeren Bruders räumen und damit den Ort des größten Wohlbehagens verlassen musste. Von da an irrte er tagsüber verloren durch das große Haus, verlief sich manchmal im angrenzenden Hof oder suchte im Kelterhaus Schutz vor Nässe und Kälte. Niemand suchte ihn. Alle Fürsorge der älteren Geschwister, hauptsächlich der Mädchen, galt dem kleinen Viereinhalbpfünder, der sich gar nicht so recht entwickeln wollte.

Aber auch Magdalena, ihre Mutter, bereitete den Geschwistern Kummer. Sie hatte sich nach der Geburt des Kerlchens noch nicht wieder aufgerappelt, sondern belagerte seit der Entbindung ihren Teil des Ehebetts, von Fieberschüben heimgesucht. Tränen schossen ihr in die Augen, wenn Agathe ihr den Viereinhalbpfünder brachte, um ihn zu stillen. Erinnerte sie der Kleine doch, mehr als Franz, an Barbara, ihre Tochter, die sie vor mehr als zehn Jahren verloren hatte.

An einem blaugrünen Maientag war Barbara in einer kleinen schwarzen Kiste, kaum Sarg zu nennen, über die Daljaas in den Kirchhofsweg zur Streckboa getragen worden. Unter einem fremdartigen Gewächs, das hoch und rund auf der Mitte des Friedhofs einen ovalen Schatten warf und, obwohl es nach Tod roch, Lebensbaum genannt wurde, legten zwei Männer in schwarzen Arbeitsanzügen die kleine Holzkiste mit Barbaras Leichnam in die Erde. Der Pastor sprach vom Reich Gottes und erklärte, dass jetzt, im dritten Kriegsjahr, eben mehr gestorben würde als sonst. Unsere tapferen Soldaten, aber auch die Zivilisten, hätten ihre Opfer zu bringen. Denn schließlich würde alles der großen vaterländischen Sache dienen, was den Schmerz über den Tod eines so jungen Lebens zwar nicht ausradieren, aber erträglicher machen könnte. Als Barbaras Vater, der alte Dores, die patriotischen Worte des Pastors vernahm, streckte er intuitiv das Rückgrat, richtete sich auf, und mit einem kaum wahrnehmbaren Ruck warf er den Kopf in den Nacken. Ein Reflex, der ihm während seiner Dienstzeit beim Militär in den ersten Jahren des Jahrhunderts antrainiert worden war und in besonderen Momenten heute noch überkam. So stand der alte Dores vor dem Grab seiner Jüngsten, den fein gezwirbelten Oberlippenbart gegen den üppig blauen Maihimmel und den Blick zur hoch aufstrebenden, zinnen- und zackenbekrönten Cochemer Reichsburg gerichtet. In die Erleichterung über den Tod der Tochter mischte sich kaum Trauer. Doch versuchte er, sich seine wirklichen Gefühle nicht anmerken zu lassen. Das Kind, dachte er, sei nun erlöst, und die Bürde dieser ewigen, Magdalenas Aufmerksamkeit auf sich ziehenden Mühsal von seinem Familienbetrieb genommen.

»Staub bist du, und zum Staube kehrst du zurück«, predigte der Pastor. Er ließ eine Schaufel Erde auf Barbaras kleinen Sarg niederprasseln. Im selben Augenblick spürte Magdalena einen Tritt und noch einen und danach viele energische Knuffe unter ihrer Bauchdecke.

»Der Herr aber wird dich auferwecken am jüngsten Tag«, sagte der Pastor und schlug mit der Hand das Kreuzzeichen über dem Grab.

Barbara war sieben Monate alt geworden. Ein knappes halbes Jahr nach der Beerdigung entband Magdalena einen gesunden, kräftigen Jungen, den die Eltern Vinzent nannten. Er wuchs schnell heran, war anspruchslos, folgsam und gelehrig. Als der alte Dores den munter plärrenden, neugeborenen Vinzent hinaus auf die Daljaas trug, um ihn der Herbstsonne entgegen zu recken und durch die Häuserschlucht der steil abfallenden Daljaas »Dä Vinz es do!« brüllte, dass alle Nachbarn ihn hören mussten, hatte er Barbara endgültig vergessen.

Anders seine Frau. Genau wie der elf Jahre später geborene Viereinhalbpfünder, war Barbara bei ihrer Geburt viel zu klein gewesen und hatte fast nichts gewogen. Dazu kam, dass Magdalenas Milcheinschuss auf sich warten ließ, und als er sich einstellte, entzündeten sich ihre Brüste binnen zwei Tagen dermaßen schmerzhaft, dass der alte Dores sich beknien ließ, den Arzt aus Cochem zu holen. Innerlich schimpfte er, weil er sein Geld zusammenhalten musste und hoffte, dass der Doktor sich mit zwei oder drei Litern Wein als Honorar begnügen würde. Also riss er sich zusammen ohne zu maulen, was ihm nicht oft gelang, und nahm die Fähre zum Cochemer Moselufer.

Der Arzt kam noch am gleichen Abend von Cochem nach Cond herüber. Er bat den Fährmann, auf ihn zu warten. Er müsse nur die Talstraße hinauf und beeile sich. Der Fährmann nickte, stopfte sich eine Pfeife und machte sich daran, die Angel auszuwerfen.

Der Arzt untersuchte Magdalena gründlich und murmelte, halb zu sich selbst, etwas von Mastadenitis, worauf der alte Dores ihn fragend anblickte. Eigentlich, erklärte der Arzt, müsse seine Frau dringend das Häppesje stillen, dessen Leben nur an einem seidenen Faden hinge.

»Dat Häppesje«, wiederholte der alte Dores erschrocken und senkte den Blick: »Jo, jo!«

Der Arzt hielt die Hand auf und nannte den Preis für seine Leistungen. Nein, Wein könne er nicht akzeptieren. Die Winzer wollten immer nur mit Wein bezahlen. Soviel könne er sein Lebtag nicht trinken. Also versprach der alte Dores widerwillig, ihm das Geld in der nächsten Woche in die Praxis zu bringen. »In Ordnung«, sagte der Arzt, stellte einen Becher mit Salbe sowie eine kleine Dose mit Tabletten auf den Küchentisch und erklärte dem alten Dores, wie die Medizin zu verwenden sei.

Der kleinen Barbara wurde Kuhmilch eingeflößt, gegen die sie sich wehrte. Sie war kaum dazu zu bewegen, die Milch zu schlucken. Und wenn sie doch ein wenig heruntergewürgt hatte, erbrach sie die Flüssigkeit umgehend. Erst in hohem Bogen, dann, als das Kind immer schwächer wurde, lief sie ihr wie Brei aus dem Mund. Magdalena achtete peinlich darauf, dass Barbara immer auf der Seite lag, umpolsterte sie, damit sie nicht auf dem Rücken zu liegen kam und an ihrem Erbrochenen erstickte. Morgens und abends rieb sie ihre Brüste mit der kühlenden Salbe ein, die der Cochemer Arzt verordnet hatte. Sie nahm Tabletten gegen das Fieber und bettete ihre Brustwarzen unter Schmerzen in Watte.

Der alte Dores schlug eines Tages mit der flachen Hand auf den Küchentisch, spürte unverhofft einen brennenden Schmerz in der Handfläche, was seinen Unmut noch steigerte. Es sei jetzt genug! Er sei der Meinung, dass Magdalena, da die Geburt des Mädchens doch schon Wochen, ja Monate zurück liege, endlich wieder in den Weinberg gehen könne. Die Arbeit würde sich nicht von allein machen. Es seien noch allerhand Reben aufzubinden, und in den Wingerten im Kern und unter der Brauselay wären sie noch nicht einmal geschnitten. Die Nachbarn würden schon reden! Sie wisse doch, bedrängte er seine Frau, dass er sich jetzt im Frühjahr um andere Dinge kümmern müsse, um die Felder auf dem Berg, den Garten in Kaas und vor allem um den Verkauf des Fuders Wein an private Käufer. Damit er nicht wieder, wie im vergangenen Jahr, seinen Wein für einen Appel und ein Ei an die Kellerei Ronmes verkaufen müsse.

Magdalena gehorchte. In dicke Pullover eingemummt und geschürzt querte sie am nächsten Tag auf wackligen Beinen die Daljaas, steuerte den gegenüber liegenden Schuppen am Abzweig zum Friedhofsweg an, der ebenso zum Haus gehörte, wie ein Holzverschlag mit dem Lokus dahinter. Sie griff nach einem Bündel Bast und band es sich um die Hüfte. Sie tat es in langsamen Bewegungen, wollte unbedingt vermeiden, dass die dicke, schwere Kleidung zu sehr an ihren Brüsten rieb.

Der alte Dores zog schimpfend mit einer Kuh, die er am Seil hinter sich her schleppte, die Daljaas herauf, blaffte etwas, das Magdalena galt, und verschwand mit der Kuh im Stall.

Die Frau ergriff die Deichsel des rappeligen Leiterwagens, in dem sie ihre beiden Ältesten, die schon fast dreijährige Agathe und den kleinen Dores, verstaut hatte. Warm eingemummt auch die Kinder in Wollpullover und Pluderhosen. Der Wingert unter der Brauselay lag weit vor dem Dorf. Magdalena zog mit der Karre die Daljaas hinunter zur Mosel und bei den Linden flussaufwärts bis unter die hohen Felsen der Lay. Es war nicht ungefährlich hier zu arbeiten. Immer wieder kam es vor, dass Gesteinsbrocken aus der hohen Felswand brachen und in die Weinberge hinabstürzten. Besonders nach ausgiebigen Regenfällen tat man gut daran, den Wingert erst einmal zu meiden. Magdalena parkte den Leiterwagen direkt vor der niedrigen Wingertsmauer am Nikeläsje, einem Bildstock mit der Figur des Heiligen Nikolaus. Das Bildnis stand um die Länge des Weinbergs in sicherer Distanz zur Felswand. Von dort richtete Nikolaus seit fast dreihundert Jahren seinen behütenden Blick auf den Fluss.

Zu allen Zeiten barg die Umschiffung der Brauselay auf der Mosel eine Gefahr für die Schiffer, besonders bei hohem Wasserstand. Im Jahr 1630 ertrank ein Fahrensmann namens Peter Selecus in der Nähe des Felsens in der Mosel. Mag sein, dass er die Stromschnellen vor der Brauselay unterschätzt hatte, die Gewalt über sein Schiff verlor und kenterte. Vielleicht wurde er durch die Strömung gegen einen Felsen getrieben und sein Schiff schlug leck. Genaues wusste man nicht. Von seinem Tod zeugte ein Basaltkreuz, das zu Füßen des Heiligenbildes wie in die Weinbergsmauer hineingewachsen zu sein schien. Ein in Stein gemeißeltes Gebet. Mit erhobener Hand warnte Nikeläsje, schützte und segnete all jene, die sich auf dem Wasser der Brauselay näherten.

Wenn er sich seit Jahrhunderten solche Sorgen um die Schiffer macht, dachte Magdalena, wird er wohl auch ein paar Stunden auf meine Kinder aufpassen können. Trotzdem erteilte sie der kleinen Agathe genaue Anweisungen, wie sie auf den noch kleineren Dores aufzupassen habe. Sie erhob drohend den Zeigefinger, als sie sagte, dass die Kinder der Mosel fernbleiben sollen. Außerdem könne Agathe jederzeit laut nach ihr rufen.

»Wenn ebbes es, dann reefs de.«

Die Kinder waren den Nachmittag über brav, gruben mit den Händen in der kühlen Erde und stapelten Schiefergestein zu kleinen Türmen auf. Begierig aß Agathe ihr Marmeladenbrot, und als Magdalena eine Pause einlegte, schlürfte Dores genüsslich den mitgebrachten Brei. Als es zu dämmern begann und in der Brauselay plötzlich polternde Steine zu hören waren, hatte Magdalena sämtliche Reben des Weinbergs in Form geschnitten und schon mit dem Aufbinden begonnen. Sie würde zwei weitere Nachmittage brauchen, um die Bindearbeiten, die ihr mehr Mühe machten als das Schneiden, zu beenden. Aber jetzt galten ihre Gedanken den Kindern. Sie sah, dass auf das Nikeläsje Verlass war. Dores war in den Leiterwagen gestiegen und auf der Seite eingeschlafen. Agathe lag mit Brust und Bauch an den Rücken ihres Bruders geschmiegt und summte ihm ins Ohr. Magdalena warf einen Blick auf die Steinfigur, nickte ihr zu und bekreuzigte sich. Nikeläsje hatte gute Arbeit geleistet. Doch jetzt nichts wie heim! Nach Barbara schauen, sie waschen und wickeln und hoffen, dass sie etwas Nahrung zu sich nehmen wird. Heiliger Nikolaus, bitte, hilf auch der kleinen Barbara! Als Magdalena das Dorf erreicht hatte und anhob, den Leiterwagen die Daljaas hinauf zu ziehen, schoss ihr der Schmerz, den sie am Nachmittag fast vergessen hatte, in die Brüste. Die kleine Barbara fand sie zerbrechlicher denn je und wimmernd im Weidenkorb, zu schwach um zu schreien.

Der Viereinhalbpfünder wurde auf den Namen Jakob getauft. Erst in einer Nottaufe, auf welche die Hebamme gedrängt hatte, als sie den winzigen Wurm nach seiner Geburt in Händen hielt, dann, später im Frühjahr, noch einmal in der Kirche mit allem drum und dran. Die Kindstaufe hatte in Cond obligatorisch bis zum dritten Tag nach der Entbindung zu erfolgen, worauf der Pastor auch penibel achtete. Schließlich starben in den 1920er Jahren immer noch zehn von einhundert Kindern im Laufe der ersten Lebensjahre. Nach seiner Ansicht hatte kein Menschenkind ungetauft vor Gottes Angesicht zu erscheinen, und dafür hatte er als Bediensteter Gottes zu sorgen. Da Jakob notgetauft war, bestand keine Eile, das Kind zum Taufbecken in die Kirche zu tragen. Der offizielle Taufakt wurde erst einmal auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben, dann für eine Weile ganz vergessen und schließlich im Frühjahr abgehalten, nachdem die Reben aufgebunden waren und der Austrieb der Knospen noch nicht begonnen hatte.

Jakobs Taufe stand ganz im Zeichen seines Paten. Der hieß Jockel. Seit dem Tag der Taufe allerdings wurde er in Cond nur noch Pesche genannt. Jockel war ein Cousin von Magdalena, der in ihrer Conder Familie bisher noch nie aufgetaucht und daher unbekannt war. Beim achten Kind war die Auswahl an geeignetem Personal für eine Patenschaft nicht mehr allzu groß, wenn man nicht doppelt besetzen wollte. So kam der Burgener Jockel zum Zuge. Magdalena erinnerte sich an den munteren Kerl aus ihrer Jugendzeit, dem sie seit ihrer Hochzeit mit dem alten Dores und ihrem Umzug vom weiter flussabwärts gelegenen Moselort Burgen nach Cond nur noch selten begegnet war. Aber sie hatte den Jockel als lustigen, allerdings auch sehr trinkfreudigen Kerl in guter Erinnerung. Er war der erste Mann, der sie zum Tanz aufgefordert hatte. Das war auf der Burgener Kirmes gewesen, als sie sechzehn war, oder siebzehn. Obwohl sie noch gar nicht tanzen konnte und sich zierte, nahm Jockel ihre Hand, umfasste mit großer Sicherheit ihre Taille und schwang sie mit einer solchen Leichtigkeit über die Bretter, dass sie zu fliegen glaubte. Nie hatte später jemand noch einmal so mit ihr getanzt. Wenn der alte Dores, der als Tänzer eigentlich auch eine gute Figur machte, sie in den ersten Jahren ihrer Ehe an Fastnacht oder am Kirmesmontag im Gasthaus Zum Rebstock durch den nach Bohnerwachs duftenden Saal schob, glitten ihre Gedanken zu Jockel.

Der kam heute mit dem Fahrrad aus dem achtzehn Kilometer entfernten Moselkern angereist. Den halben Vormittag hatte der Anstreichergeselle noch pinselschwingend auf einem wackligen Holzgerüst vor einer Hausfassade zubringen müssen. Sein Meister, dessen einziger Angestellter er war, hatte es abgelehnt, ihm ein paar Stunden Urlaub zu genehmigen. Beim ersten Glockenschlag des Mittags aber reinigte Jockel schnell sein Werkzeug, wusch sich notdürftig, wechselte die Arbeitskleidung gegen einen mitgebrachten Anzug und ein frisches Hemd. Bevor er seinen Drahtesel bestieg, für den er lange gespart hatte und der ihm, dem Junggesellen, eine, wie er selbst sagte, unheimliche Beweglichkeit ermöglichte, nahm er den letzten Schluck aus einer Weinflasche, die er vor Arbeitsbeginn entkorkt hatte. Unterwegs nach Cond legte er in Karden und Klotten einen Stopp ein, um in den Weinschänken am Moselufer seinen großen Durst zu stillen. Die ganze Fahrt über war er gespannt und freute sich, auf die Fähre verzichten und stattdessen über die neu errichtete Moselbrücke nach Cond zu gelangen. Zwar würde er den Brückenzoll in Kauf nehmen müssen, aber die Pont transportierte ihn schließlich auch nicht umsonst. Alle Welt hatte von der Eröffnung der Skagerrak-Brücke vor gut einem Jahr gesprochen. Sogar eine Fotografie, ein Schnappschuss von der Einweihung, machte die Runde.

In der Zeitung war zu lesen gewesen, dass sich trotz kalten Schmuddelwetters mit Schneeregen eine für hiesige Verhältnisse beachtliche Menschenmenge zur Einweihung am Cochemer Brückenkopf eingefunden hatte, um den Eröffnungsworten des Oberpräsidenten der Rheinprovinz, Dr. Johannes Fuchs, zu lauschen.

Unter den Besuchern waren auch der alte Dores samt Ehefrau. Kaum jemand, der nicht wegen einer Wintergrippe gerade das Bett hüten musste oder wegen einer anderen Gebrechlichkeit den Fuß nicht vor die Tür setzen konnte, ließ sich von der scheußlichen Witterung, diesem Sauwetter, davon abhalten, der Feierlichkeit im besten Sonntagsstaat beizuwohnen. Mantelkragen hochgestellt, Hut tief ins Gesicht gedrückt, fertig, und wer einen Regenschirm hatte, spannte diesen, zum Ärger von hinter ihm stehenden Besuchern, auch noch auf.

Was hier unten im Tal als feiner Nieselregen ankam, fiel in der oberen Hälfte der umliegenden Weinberge als Schnee. Im Anschluss an die offiziellen Reden, Weihungen und Segenswünsche sollte das Ereignis der Brückeneinweihung in den Gastwirtschaften von Cochem und Cond trefflich begossen werden. Und so geschah es dann auch.

Die Firma Ronmes, ansässig auf der Conder Moselseite, hatte zur Feier des Tages ein Fass Wein spendiert, aus dem am Conder Brückenkopf mit Unterstützung der Freiwilligen Feuerwehr ausgeschenkt wurde. Das Wetter wurde nicht mehr gemütlicher, und es waren mehrheitlich die Frauen, die schnell wieder dem heimischen Herd zustrebten. Für viele Conder Männer aber erschien bald ein Silberstreif am nahen Horizont, der sich vor ihnen mit jedem getrunkenen Glas aus dem Ronmes-Fass deutlicher abzeichnete. So erging es auch dem alten Dores. Der hätte zwar gern im Hotel Germania, in der Nähe des Oberpräsidenten und der anderen Honoratioren Platz genommen, aber sein Geldbeutel erlaubte ihm das leider nicht. Der Umzug aus der Daljaas in sein neues Haus, für das er sich bis über sämtliche Ohren verschuldet hatte, stand in wenigen Wochen bevor. Doch nach Beendigung des offiziellen Teils der Feierlichkeit sofort über die Brücke nach Cond zu laufen, und sich mit anderen Habenichtsen über den Ronmes-Wein herzumachen, war ihm zuwider. Also hakte er seine Frau unter und zog mit ihr, Arm in Arm, hier und da grüßend den Hut ziehend, stolz in Richtung Germania. Jeder, der sie sah, musste glauben, sie gehörten zu den geladenen Gästen, die sich dort versammelten. Kurz vor der breiten Treppe, die zur Terrasse und dem Portal des nobelsten Hotels der Stadt führte, verschwanden die beiden durch einen niedrigen Durchschlupf, das sogenannte Fuchsloch, der seitlich der Germania unter Nachbarhäusern hindurch in die Innenstadt führte. Dann taten sie etwas, was an diesem Tag sonst niemandem eingefallen wäre. Statt über die neue Brücke ans Conder Ufer zu gelangen, winkten sie einige hundert Meter weiter flussaufwärts den Fährmann herbei und ließen sich übersetzen. Zu Hause wärmte der alte Dores sich auf und ließ ein, zwei Stunden verstreichen. Dann streifte er den Mantel über, setzte den Hut auf, verließ das Haus und bemühte am Moselufer erneut den Fährmann, ihn überzusetzen. Wenig später genoss er es, ohne Hast über die ­Skagerrak-Brücke dem Conder Brückenkopf entgegenzuschreiten. Jeder dort musste annehmen, er habe noch bei den Honoratioren gesessen. Endsprechende, laut geäußerte Vermutungen dementierte er nicht, sondern beantwortete sie mit gönnerhaftem Lächeln und einem Pokal in der Hand, den er zuprostend in die Runde hob.

Das war am 23. Januar 1927 gewesen, ein Datum für die Geschichtsbücher der Stadt. Niemand ahnte, dass genau siebzehn Jahre später das Brückenbauwerk zusammen mit großen Teilen der Cochemer Altstadt und einigen Conder Häusern durch britische Sprengbomben, die eigentlich das Portal des Kaiser-Wilhelm-Tunnels, des damals längsten Eisenbahntunnels Deutschlands, treffen sollten, wieder zerstört werden würde. Nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte es vier Jahre, doppelt so lang wie die ursprüngliche Bauzeit, bis die Skagerrak-Brücke wiederaufgebaut war und am 29. September 1949 zum zweiten Mal eingeweiht werden konnte.

Skagerrak-Brücke. Wer mag nur auf den Gedanken gekommen sein, diese schöne, steinerne Bogenbrücke über die meist still dahinfließende Mosel nach einer der schrecklichsten Seeschlachten des Ersten Weltkrieges, nach einem der größten Massenmorde aller Zeiten auf dem offenen Meer zu benennen?

Waren sich die Namensgeber, als sie die Bezeichnung für die Brücke ausheckten, darüber im Klaren, dass im Frühsommer 1916 in der Schlacht vor dem Skagerrak an nur zwei Tagen 8645 junge Männer, Briten wie Deutsche, von der durch mörderische Waffen aufgebrachten Nordsee verschlungen wurden? Hatten sie nur eine Sekunde lang gezögert und versucht, sich die Todesangst vorzustellen, welche die Seeleute erlitten, wenn sie, vom Feind getroffen, in ihren grauen Stahlkolossen in die Tiefe gerissen wurden?

Sie seien für ihr Vaterland gefallen, hieß es. Ist es nicht seltsam, dass auch bei auf See getöteten Soldaten von Gefallenen gesprochen wird, statt von Gesunkenen oder Ertrunkenen?

Fragen, die Jockel sich nicht stellte. Er genoss die Fahrt über die Brücke und den Wind, den er in den Haaren spürte.

Flottenchef und Vizeadmiral Reinhard Scheer, der im Frühjahr 1916 bei Kaiser Wilhelm die Genehmigung für eine offensive Seekriegsführung erreichen konnte, überlebte die eigens mit angerichtete Hölle im Skagerrak auf einem Linienschiff, das den Namen Friedrich der Große trug. Von da aus – vermutlich aus einigermaßen sicherer Distanz – kommandierte er das entsetzliche Flottenspektakel. Während tausende Ersoffene in ihren Schiffen schon seit fünf oder sechs Tagen auf dem Grund der Nordsee oder irgendwo im offenen Meer trieben, wurde Reinhard Scheer zum Admiral befördert. Das Angebot Kaiser Wilhelm des Zweiten ihn in den Adelsstand zu erheben, lehnte er großmütig ab. Aus der Seeschlacht vor dem Skagerrak ging keiner der beiden Gegner als eindeutiger Sieger hervor, weder die Grand Fleet der Royal Navy, noch die deutsche Hochseeflotte. Propagandistisch wurde die Skagerrak-Schlacht jedoch als deutscher Sieg über England gefeiert.

Doch von all dem hatte Jockel nie etwas gehört, nie etwas gelesen, und es hätte ihn auch nicht weiter interessiert. So machte er sich keine Gedanken über den Namen der Brücke, und mit dem Wort Skagerrak wusste er, wie die meisten, nichts anzufangen. Doch das neue Bauwerk über die Mosel zu sehen, es zu betreten, zu befahren, genau auf der Mitte an der höchsten Stelle über dem Wasser anzuhalten und sich weit übers Geländer zu lehnen, von da aus in die Tiefe zu blicken, hinunter zu spucken, der Spucke hinterher zu gucken, wie sie vom Wind erfasst einen Bogen beschrieb, und sich mit einem winzigen Platschen mit dem Flusswasser vermischte, das war etwas ganz anderes, das interessierte ihn.

Auf der Conder Brückenseite bog er nach rechts direkt auf den holprigen Neije Wäch ein, bugsierte das Fahrrad zum einzigen Haus, das dort über dem Dorf mitten in den Weinbergen stand. Der Nachmittag war längst angebrochen.

Es stellte sich schnell heraus, dass es mit der Lustigkeit des Cousins, an die Magdalena sich so gern erinnerte, nicht mehr weit her war. Ganz im Gegensatz zu dessen Trinkfreudigkeit. Der Cousin stieg vor dem neuen Haus des alten Dores vom Fahrrad. Da er niemanden sah, nahm er tief Luft, steckte ein paar Finger in den Mund und ließ die Luft mit hohem Druck entweichen. Nach mehreren gescheiterten Versuchen gelang ihm ein schriller Pfiff.

»Heij es dat Pesche!«, lallte er, was heißen sollte, dass der Pätt, das Pättchen, der Pate angekommen war. Als sich nichts rührte, rief er das gleiche noch einmal, warf dabei beide Arme in die Höhe, um sich auch optisch bemerkbar zu machen, was ihm jedoch augenblicklich zum Verhängnis wurde. Er verlor das Gleichgewicht und fiel um. Sein Fahrrad mit ihm. Dabei verhaspelten sich seine Beine mit dem Gestänge des Drahtesels dermaßen, dass er nicht sofort wieder zum Stehen kam. Er jammerte und fluchte, und je mehr er versuchte, sich aus seiner verzwickten Lage zu befreien, umso mehr verhedderte er sich. Bis er unvermutet eine Hand an seinem Oberarm spürte, die ihm aufhalf.

»Dou bes also datt Pättche von unserem Jakob«, sagte der alte Dores. Er musste schmunzeln, als er in Jockels verzweifeltes Gesicht blickte, halb mitleidig, halb belustigt.

Jockel schlug sich ärgerlich den Staub aus dem Anzug und antwortete »Jo! Un wer bes dou?«

Der alte Dores, schon ganz in Schale, mit Schlips und Weste, weißem Hemd und dunklem Anzug, stellte sich als der Vater des Täuflings und Magdalenas Ehemann vor. Ihm entging nicht, dass der Cousin seiner Frau heute bereits ordentlich zur Flasche gelangt hatte und wie man sagte, nicht mehr allein war. Trotzdem schenkte er dem Pesche Jockel ein, als dieser sich am Küchentisch von den Strapazen der Tour und dem Sturz vor dem Haus erholte und nach einem Willkommenstrunk verlangte.

Das Taufkleid für den kleinen Jakob war ein Erbstück aus Magdalenas Familie. Sie selbst hatte es bereits bei ihrer Taufe getragen. Danach ihre sieben Kinder. Jetzt war Jakob an der Reihe. Eigentlich war es mehr ein Schleier als ein Kleid, und der inzwischen zwölfjährige Dores sprach in boshaftem Ton von einer alten Schlafzimmergardine. Damit hatte er nicht einmal Unrecht. Aber Magdalena wollte davon nichts wissen und verbot ihrem Jungen den Mund. Die Farbe des Stoffes wird vermutlich einmal weiß gewesen sein. Davon war freilich nichts mehr zu erkennen. Das fadenscheinige Gewebe wirkte graubraun, obwohl frisch gewaschen, gebleicht und gebügelt.

Es entsprach gutem Brauch, zur Taufe in einer Art Prozession zur Kirche zu gehen. Die Glocken läuteten. Vornweg gingen die Eltern, dahinter der Pate mit dem Täufling auf dem Arm. Dann kamen die Geschwister und die Nachbarn. Der Taufgang des kleinen Jakob aber musste modifiziert werden, denn Magdalena weigerte sich, ihrem betrunkenen Cousin das Kind anzuvertrauen.

»Ämol lässt en et noch falle«, fürchtete sie.

Die Nachbarn fehlten, weil es auf dem Neije Wäch noch keine Nachbarn gab. Aber die frühere Nachbarschaft aus der Daljaas machte sich auf den Weg, und man traf sich vor der Kirche.

Magdalena bestimmte Agathe, ihre Älteste, das Kind zu tragen, die diesen Auftrag mit Stolz erfüllte. Hinter Agathe trottete der Pesche Jockel in der Prozession. Ihm hatte man immerhin das Taufkleid anvertraut, das er auf ausgestreckten Armen vor sich hertrug wie eine kostbare Reliquie. Vermutlich war ihm nicht einmal bewusst, dass man ihn in seiner Rolle beschnitten hatte, denn er mühte sich erkennbar, das Kleid ohne ernste Zwischenfälle zur Kirche zu tragen.

Natürlich gab es nach der kirchlichen Feier den obligatorischen Streuselkuchen, frisch aus dem Ofen mit Kirschen und Äpfeln und eine Kanne Bohnenkaffee, der teuer und damit selten war. Nur Pesche Jockel verzichtete und verlangte nach Wein und Heffe. Der alte Dores schenkte ein, wie gewünscht. Pesche Jockel stürzte den Hefeschnaps hinunter. Der alte Dores schenkte nach, bevor er sich selbst einen genehmigte, denn auf einem Bein und so weiter. Das kennt man ja.

Der neu gekürte Patenonkel verließ das Haus des Täuflings und seiner Familie erst wieder am übernächsten Tag. Den ganzen Sonntag über habe er sich bei ihnen durchgefressen, warf der alte Dores seiner Frau Magdalena vor, die in Erinnerung an frühere Zeiten ihrem Cousin zu den Malzeiten gehörig aufgetischt hatte. Am Montagmorgen war er in aller Herrgottsfrühe aufgestanden, auf sein Fahrrad gestiegen und fast für immer verschwunden. Seine Cousine Magdalena und der alte Dores jedenfalls sahen ihn nie wieder.

Mit dem Tag der kirchlichen Taufe legte Jakob auch seinen Kosenamen Viereinhalbpfünder ab. Nicht nur, weil er inzwischen ganz passabel an Gewicht zugelegt hatte. Magdalena hatte darauf bestanden, dass der Junge künftig bei seinem richtigen Namen genannt würde, und der war Jakob. Alle hielten sich an den Wunsch der Mutter. Nur Dores, der kleine Quertreiber, frotzelte und spottete über seinen Bruder. Dem war’s zwar noch egal, aber die Mädchen ärgerten sich über Dores’ Häme und seine Unfolgsamkeit.

In die Zuständigkeit seiner drei älteren Schwestern fiel künftig Jakobs Beaufsichtigung. Besonders die inzwischen vierzehnjährige Agathe hatte für ihn zu sorgen. Während Gerda und Betti mit ihren sieben und sechs Jahren sich danach drängten, auch Verantwortung für den Kleinsten übernehmen zu dürfen, weil er ihnen doch so hilflos und schnuckelig erschien, wurde ihnen meistens Franz zur Betreuung zugewiesen, was allerdings nicht leichter war, da sich der Junge im Neubau seines Vaters immer wieder verlief, sobald er aus den Augen gelassen wurde.

Neuerdings verließ er in unbeobachteten Momenten das inmitten von Weinbergen gelegene Anwesen. Immer schien der Junge auf der Flucht zu sein. Als Gerda angerannt kam und aufgeregt den Verlust ihres Bruders, auf den sie aufzupassen hatte, meldete, erhielt sie von Dores erst eine hinter die Löffel. Gerda trat den älteren Bruder postwendend vors Schienbein und streckte ihm schreiend die Zunge heraus. Dann setzten sich alle verfügbaren Familienmitglieder in Bewegung, Franz zu suchen. Der alte Dores, der unterwegs war, beschimpfte bei seiner Rückkehr Frau und Kinder, als er vom Verlust des Jungen und von der Suchaktion seiner Familie erfuhr. Er fürchtete vor allem das Gerede im Dorf, und dass manch einer ihm nicht zutrauen könnte, seine Verhältnisse in Ordnung zu halten.

Magdalena war auf der Schwelle der Haustür stehen geblieben, rief von da aus mit schwacher Stimme in alle Richtungen nach ihrem Jungen, während die Schwestern, Dores und Vinzent rannten, ihren kleinen Bruder zu suchen. Im Nu hatten sie nach Franz schreiend das halbe Dorf durchpflügt, jede Rumpelecke untersucht, jede Brandgasse und alle möglichen Winkel durchkämmt. Sie hatten Leute angesprochen und gefragt, ob sie den Kleinen gesehen hätten. Manch einer, der gerade nichts Besseres zu tun und sich der Suche nach Franz angeschlossen hatte, gab irgendwann resigniert wieder auf. Andere redeten nur schlau daher. Als jemand darauf verwies, dass die Mosel hoch sei und die Kinder die Ufer absuchen sollten, versetzte die Vorstellung, dass der Bruder ertrunken sein könnte, Dores und Vinzent in schiere Panik.

Gerda war verzweifelt. Sie und Betti hätten auf Franz aufpassen müssen. Aber Betti war die jüngere, und Gerda, mit ihren sieben Jahren, die Verantwortliche. Vor Angst und von Schuldgefühlen aufgewühlt, tat sie intuitiv das Richtige. Erst war sie kopflos und unter Tränen über die gesamte Länge des Dorfes, von der Moselbrücke bis zur Daljaas über den Neije Wäch hin und her gerannt, bis sie vor Erschöpfung auf halber Strecke anhalten und verschnaufen musste. Sie stand direkt vor dem Wegkreuz aus Basalt, das den Zugang zu den Weinbergen markierte. Gerda stützte sich mit beiden Händen an den hohen, schwarzen Stein, um wieder zu Atem zu kommen. Direkt vor ihren Augen standen in den Stein gemeißelte und mit bröckelnder Farbe nur noch schwach hervorgehobene Buchstaben. Gerda ging erst in die zweite Volksschulklasse. Aber die Buchstaben kannte sie schon alle. Allmählich entschlüsselte sie die Schrift. DIE IHR SEI GOT ALEIN, stand da. Intuitiv schlug sie ein Kreuzzeichen über der Brust: »Lieber, lieber Gott, bitte lass uns dat Fränzje wiederfinden!« Dann rieb sie sich die Tränen aus den Augen, und statt wie ihre Geschwister hinunter ins Dorf zu laufen, stieg sie den Pfad hinauf. Der begann gleich neben dem Steinkreuz und führte stracks steil hinauf in die Weinberge. Im Hochkraxeln zählte Gerda die Rebzeilen, die sie hinter sich ließ, grummelte die Zahlen bis elf halblaut vor sich hin. Bis zehn hatte sie in der Schule zählen gelernt. Elfhatte sie sich selbst beigebracht. Also zählte sie bis elf, zwei Mal und noch einmal bis neun. Dann hörte sie ein Geräusch wie ein Juchzen, das munter, fast fröhlich klang und sah auch gleich seinen Verursacher.

»Danke, lieber Gott!«, rief sie, »Danke, danke, danke!« Ach, sie rief nicht, Gerda schrie vor Erleichterung aus voller Brust: »Danke, danke, danke, dä Franz es widder do! Danke, ech hon dat Fränzje jefunn!« Dieser saß in der dritten oder vierten Reihe neben dem Wingertspfad auf dem Boden. Ganz offensichtlich hatte er mit seinen Händen in der Erde gewühlt, und wie sein Gesicht rund um den Mund beschaffen war, auch versucht, die feuchte Erde zu kosten, angereichert mit salzigem Rotz, der ihm in kleinen Rinnsalen aus der Nase troff. Seiner Schwester schenkte er ein zufriedenes Lächeln, streckte ihr die Arme entgegen und plapperte: »Heim, heim gehen. Mama, heim.«

Zu Hause drückte Magdalena den Wiedergefundenen an sich, stellte den Wasserkessel auf den Herd und Franz auf den Küchentisch. Sie zog das Kind aus, wusch es gründlich und steckte es in Kleider aus Wolle. Draußen im Hausflur hörte sie das Wimmern und die bangen Rufe von Gerda und Betti. Der alte Dores war nach Hause gekommen. Sein Ältester hatte ihn draußen im Hof abgefangen und beflissen informiert, was vorgefallen war. Zum Dank erntete er eine Ohrfeige.

Der alte Dores hatte den Hosengürtel abgeschnallt, den Mädchen befohlen, die Röcke über das Gesäß zu heben und sich nebeneinander über die untersten Stufen der Haustreppe zu beugen.

Nachdem Jakob die ersten Lebensmonate gekränkelt und Magdalena sich kummervoll um sein Überleben gesorgt hatte, entwickelte er sich bald schneller, als irgendjemand in der Familie es zu hoffen gewagt hatte. Nicht allzeit fröhlich und gut gelaunt, wie sein Bruder Franz, schaute er in die Welt. Aus seinen strahlenden, blauen Augen blickte er mehr mit Skepsis und Zurückhaltung ins Leben. Vom Übermut und der Leichtigkeit, mit denen sein Bruder gesegnet war und durch den Tag lief, hatte er kaum etwas. Nur wenn seine Mutter ihn in den Arm nahm, flog ein kleines Lächeln über sein schmales Gesicht, und seinem Mund entfuhr ein wohliges Babygrunzen.

3

Im Hochsommer des Jahres 1928 rollte ein fahrender Fotograf aus dem Ruhrgebiet auf seinem Motorrad über die Skagerrak-Brücke in das Dorf Cond. Auf dem Sozius hatte er in abenteuerlicher Weise seine Siebensachen hoch aufgetürmt. Dazu gehörte auch eine Fotoausrüstung mit Stativ und Kasten und allem, was er zum Fotografieren brauchte. Gemächlich knatterte er über das holprige Kopfsteinpflaster der Dorfstraße, das eine schnellere Fahrt mit einem Motorrad ohnehin nicht erlaubte. In der Daljaas machte er Halt, schaltete den Motor aus und schob das Gefährt durch eine Toreinfahrt in den Hof des Gasthauses Zur guten Quelle. Dort mietete er ein Zimmer mit Frühstück für zwei bis drei Nächte, je nachdem, wie gut das Geschäft laufen würde. Noch am gleichen Tag begann er, seine Dienste anzubieten. Niemand, außer vielleicht ein Mitglied der Familie Ronmes, hatte in Cond einen eigenen Fotoapparat. Deshalb war ein Fotograf ein willkommener Gast. Jeder, der es sich einigermaßen leisten konnte, wollte Erinnerungen auf Fotopapier für künftige Gelegenheiten schaffen und kratzte die letzten Reichspfennige zusammen, um sie dem Fotografen zu geben. Auch der alte Dores, obwohl er es sich eigentlich nicht hätte leisten dürfen, denn sein Neubau war um ein Vielfaches teurer geworden, als der Bauunternehmer vorausberechnet hatte, entschied, drei Fotografien anfertigen zu lassen. Auf einer sollte er selbst vor eben jenem Neubau zu sehen sein, mit geschwellter Brust vor seinem neuen Besitz, der, gemessen an den meisten älteren Winzerhäusern des Dorfes, durchaus stattlich zu nennen war. Dass es sich tatsächlich nicht wirklich um seinen Besitz, sondern vielmehr um den seiner Bank handelte, minderte seinen Stolz nicht. Vielmehr fühlte sich der alte Dores hereingelegt. Von seiner Bank, und von diesem Weimarer Staat sowieso, dem er zutiefst misstraute.

Hatten die beiden Conder, Gerhard Wolfund Leo Schlösser, die der alte Dores gut kannte und mit denen er sich gern maß, noch ein gutes Geschäft gemacht, als sie nur wenige Jahre vor ihm ihre Häuser in Cond bauten, gerade rechtzeitig, bevor die Hyperinflation in rasender Geschwindigkeit sämtliche Geldwerte vernichtete, hatte er nun, nach der Einführung der harten, beständigen Reichsmark, das Nachsehen. Seine ohnehin nur geringen Ersparnisse waren der Geldentwertung zum Opfer gefallen. Während Wolf und Schlösser ihr Erspartes rechtzeitig in den Sachwert ihrer Häuser zu verwandeln wussten, musste er sich teures Geld leihen, das ihn nun über viele Jahre in die Schuldenklemme zwingen würde. Aber wer hatte auch mit einer solchen Finanzkatastrophe gerechnet! Aus den Städten waren Berichte über einst wohlhabende Bürger des ehemaligen Mittelstandes zu hören, die jetzt gleich neben den Kriegskrüppeln des Weltkrieges bettelnd an Straßenkreuzungen standen, weil sie all ihr Geld verloren hatten. Andere, die Mark und Pfennig rechtzeitig investiert hatten, erhielten es durch Mieteinnahmen oder Verkäufe von Immobilien hundertfach zurück.

Der alte Dores hatte klare Vorstellungen von dem, was er später auf der Fotografie zu sehen gedachte. Er wies den Fotografen an, ihn vor seinem Wohnhaus abzulichten. Dabei sollte dieser sicherstellen, dass die hervorgehobenen Initialen seines Vor- und Nachnamens, die er außen auf dem Erker im ersten Stock unterhalb der Fenster mittig hatte anbringen lassen, gut zu sehen seien. Kein anderes Haus in Cond hatte einen derart imposanten Vorbau aufzuweisen, schon gar nicht einen mit der Signatur seines Erbauers. Niemand sonst in Cond, dachte der alte Dores, hatte das Temperament, sein Monogramm wie in ein Denkmal meißeln zu lassen. Seines hingegen war weit über den Ort hinaus sichtbar. Auch von vorbeifahrenden Schiffen aus waren die beiden Buchstaben ganz bestimmt noch zu erkennen, ebenso von der jenseitigen Uferpromenade. Vorausgesetzt, man gab sich etwas Mühe und schaute richtig hin.

Obwohl es ein gewöhnlicher Werktag war, hatte der alte Dores sich fein herausgeputzt und ging, ganz nach den Empfehlungen des Fotografen, im Sonntagsstaat in Aufstellung. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, mit hochgerecktem Kinn wartete er unbeweglich auf das Auslösen der Kamera.

Eine zweite Fotografie sollte das Wohnhaus von der Hofseite zeigen, mit dem großzügigen Treppenaufstieg zum Hauseingang und seiner Frau Magdalena auf einer der oberen Treppenstufen als gute Seele ihres modernen Zuhauses. Gern hätte der alte Dores das Gebäude auch von der Rückseite ablichten lassen. Dort wäre ein kleiner Hof mit Platz für Haushaltsarbeiten, mit Wäschedrähten und einem gezimmerten Holzschuppen zu sehen gewesen. Darüber die terrassenförmig angelegten, zu den Weinbergen aufsteigenden Gartenbeete. Doch die Weinberge standen voll im sommerlichen Saft, und ihr dichtes Blattwerk, in dem der Fotograf sich für die Aufnahme hätte positionieren müssen, versperrten die Sicht auf das Objekt. Also entschied der alte Dores, auf eine weitere Abbildung seines Refugiums zu verzichten und stattdessen die Kamera in einen seiner besten Weinberge richten zu lassen. Dieser zog sich, nicht weit vom Haus entfernt, über einer wuchtigen Wingertsmauer direkt am Neije Wäch beginnend, in den zum Gipfel hin immer steiler aufragenden Conder Rosenberg hinauf. Der Fotograf allerdings empfahl, auch auf dieser Aufnahme eine oder mehrere Personen im Vordergrund zu zeigen, weil das spätere Bild dann, wie er sich ausdrückte, eine interessantere Dynamik erhielte und außerdem – mit Verlaub! – doch einfach mehr Anlass biete, es zu betrachten. Also winkte der alte Dores seine Tochter Agathe herbei. Die hatte eben ihren Bruder Jakob für eine Spazierfahrt fertig gemacht und in den Kinderwagen gesetzt. Agathe, außer sich vor Freude, fotografiert zu werden, lief ins Haus und rief nach hinten, dass sie ihre neuen Strümpfe anziehen wolle und die roten Schnallenschuhe dazu. Und noch während der alte Dores Luft holte, um zu rufen, dass es gut genug sei, was sie am Leib trage und sie sich herbei machen solle, hatte der Fotograf schon beruhigend die Hand auf Dores Schulter gelegt und mit viel Verständnis gesagt, er solle sie doch lassen. Sie sei doch ein junges Mädchen und außerdem seine Tochter, und es käme doch wirklich nicht auf ein paar Minuten an.

Da hatte er recht. Das sah sofort auch der alte Dores ein, der den Fotografen, je länger er mit ihm zu tun hatte, zu respektieren begann. Erst war er ihm wie ein fliegender Händler vorgekommen, einem Volk, wie er es nannte, zugehörig, das er von oben herab betrachtete. Menschen, denen gegenüber er, sesshaft und besitzend, sich für etwas Besseres hielt. Aber er spürte bei dem Mann eine Sensibilität, die ihm fremd war und ein fotografisches Geschick, das ihn beeindruckte. So ganz anders als er selbst war dieser Mann und schien dennoch ein ganzer Kerl zu sein. Also nutzte er die Zeit, und während Agathe sich umzog, lud er ihn zur Besichtigung seines neuen Kelterhauses und des Weinkellers ein. Interessiert lauschte der Fotograf den Ausführungen des alten Dores, als dieser ihm die Verarbeitung der Trauben im Herbst und den Keltervorgang erklärte. Der Fotograf, einigermaßen beeindruckt, fragte, ob er die Kelter fotografieren dürfe, natürlich ohne Berechnung, und die Fotos seien für den eigenen Gebrauch. Stolz willigte der alte Dores sofort ein. Als die Aufnahme im Kasten war, schritten die beiden über den Hof und tauchten unter der niedrigen Schwelle der Kellertür hindurch in das Herzstück seines Hauses ein, den Weinkeller.

Dores genoss die bewundernden Blicke des Fotografen, als er einen dünnen, elastischen Schlauch, der über eines der Holzfässer gelegt war, wie in einer Zeremonie mit einem Ende in das Spundloch des Fasses einsinken ließ, während er am anderen Ende mit den Lippen den Wein ansaugte. Sodann verrichtete er mit dem Schlauch eine Bewegung, auf und ab, und füllte routiniert zwei Weingläser. Wortlos überreichte er eines dem Fotografen während er das andere Glas schwenkend zur Nase führte und roch, dann gegen die funzelige Glühbirne richtete, die den Kellerraum spärlich beleuchtete, um die Farbe des Weins zu prüfen, dann wieder zur Nase und endlich zu den Lippen, mit denen er den Wein schlürfend einsog. Der Fotograf tat es ihm nach, verwechselte allerdings die Reihenfolge, trank zuerst, roch und blickte dann durch das halb geleerte Glas in die Glühbirne. Beim zweiten Glas verzichtete auch der alte Dores darauf, die Farbe des Weins zu prüfen und ab dem dritten oder vierten tranken beide ohne jede vorherige Überprüfung von Farbe und Duft.

Der Fotograf nannte sich Erich, bot dem alten Dores das Du an und verschwieg ihm aus taktischen Überlegungen seine kommunistische Überzeugung. Anlässe zu einer politischen Debatte hätte es schon einige gegeben, und dass der alte Dores eher dem entgegengesetzten, wahrscheinlich dem nationalistischen Lager zuzurechnen war, hatte er schnell erkannt. Doch wollte er weder seine neu gewonnene Bekanntschaft gefährden, noch dessen Gastfreundschaft missachten. Er dachte an die Zeit des Ruhrkampfes vor fünf Jahren, als er, der Kommunist, mit national gesinnten Kräften gemeinsame Sabotage- und Sprengstoffanschläge gegen die feindlichen französischen Besatzer verübt hatte und daran, wie sie in der Zeit davor alle Hand in Hand, auch im passiven Widerstand gegen den Feind, gestanden hatten. Außerdem war der alte Dores sein Kunde. Geschäftsverhältnisse verboten politische Auseinandersetzungen per se. Ja, und dann war da der köstliche Wein, der mit jedem Glas die Wege zur Freundschaft ebnete und ideologische Unterschiede dahinschmelzen ließ, wie die Sonne einen Klumpen Butter.

Vor dem Haus lief Agathe mit dem Kinderwagen auf und ab. Schon den halben Nachmittag. Inzwischen hatte sie nicht nur Strümpfe und Schuhe gewechselt, sondern auch etliche Male ihre langen Haare zu Zöpfen geflochten, diese wieder geöffnet, mit einer Haarbürste durchkämmt, um sie wieder neu zu ordnen und zu flechten. Sie hatte auch den Jakob frisch eingekleidet und ihm für das Foto ein helles leichtes Jäckchen übergezogen. Jakob war das egal. Was ihn aber brennend zu interessieren schien, war die Apparatur, die der Fotograf zu guter Letzt vor ihm und seiner Schwester aufbaute, nachdem dieser am Spätnachmittag zusammen mit seinem Vater aus dem Keller heraufgestiegen war. Die Sonne hatte sich hinter Wolken verzogen, und Agathe, die Sorge hatte, dass es schon zu düster zum Fotografieren sein könnte, wurde von Erich belehrt, dass es kein besseres Wetter zum Fotografieren gebe, als das jetzige. Agathe war glücklich und stellte sich mit dem Kinderwagen in Pose, während der Fotograf das Stativ aufbaute und den Fotoapparat darauf schraubte. Der kleine Jakob hingegen jackelte und wackelte aufgeregt in seiner Kinderkarre, als wolle er mit aller Gewalt begreifen, was hier gerade passierte. Tatsächlich dauerte es eine Weile, bis der Fotograf soweit war. Als dieser endlich den Apparat auslöste, posierte Agathe ganz entspannt, lächelnd, die rechte Hand am Griff des Kinderwagens, in dem ihr kleiner Bruder überschwänglich, aufgeregt mit den Armen ruderte.

Die Fotografien wurden sechs Wochen später mit der Post zugestellt. Jedes Motiv in drei Exemplaren im Postkartenformat. Als der alte Dores das Kuvert am Küchentisch öffnete, war die halbe Familie um ihn versammelt. Agathe war begeistert, als der Vater ihr das Bild von ihr und Jakob im Kinderwagen zuschob. Es war ohne Frage das Schönste, unverstellt und natürlich und Agathe mit ihrem gewinnendsten Lächeln. Das Foto mit dem alten Dores vor seinem Haus war nicht wirklich schön zu nennen, obwohl seine Qualität brillant und alles gut getroffen war. Es wirkte vergleichsweise starr, was ihm aber, wie er selbst fand, eine gewisse Bedeutung und Gewichtigkeit verlieh. Damit war der alte Dores sehr zufrieden. Auch das dritte Bild war von einwandfreier Beschaffenheit und Tiefenschärfe. Im Vordergrund der Hof mit den Begrenzungsmauern zum Neije Wäch, dahinter das Kelterhaus, links der Treppenaufgang, Magdalena vor der Haustür. Ihre kleine stämmige Gestalt, die Arme wie von müden Schultern getragen, die Hände vor der Kittelschürze gekreuzt. Ihr Gesicht ließ sich nicht leicht erkennen, trotz der guten Bildqualität. Zu groß war wohl die Entfernung zum Aufnahmestandort. Magdalena wirkte sehr ernst. Überhaupt nicht fröhlich, und ihre Augen erweckten den Eindruck von dunklen Höhlen. Magdalena nahm die Fotografie in die Hand, und während sie nur einen kurzen Blick darauf warf, um es gleich wieder zur Seite zu legen, schob sich eine Bitternis in ihre Mundwinkel. Eine Regung, die Agathe als einzige bemerkte. Sie reichte der Mutter das Bild von sich und dem kleinen Jakob.

»Mama, guck emol hei dat!«

Magdalena nahm das Bild in die Hand und ließ ihren Blick eine Weile darauf wandern. Ihre Mundwinkel hoben sich zu einem kleinen Lächeln.

»Jo, dat es schön, Agathe.«

Guten Tach Dores, schrieb Erich auf der beiliegenden Postkarte, die laut Aufdruck ein Hochofenwerk bei Dortmund zeigte. Gern erinnere ich mich an die Tage bei Euch an der Mosel, vor allem an Deinen vorzüglichen Wein.

»Jo, dä Erich«, grummelte der alte Dores und wendete einige Male die Postkarte in den Händen, so als müsse noch eine dritte Seite zum Vorschein kommen. Sein staunender Blick verweilte auf der Abbildung mit den dampfenden Hochöfen. Dabei schüttelte er den Kopf, als wolle er nicht glauben, dass es so etwas gibt.

»Un do wonnen och Leit?«, fragte Agathe ungläubig.

»Dat es et jo, dat do Leit wonne, medde en dem janze Qualm«, gab der Vater zur Antwort. Und in einer Redseligkeit, die weder seine Frau noch seine Kinder von ihm gewohnt waren, erzählte der alte Dores wie er den Erich verabschiedet hatte, kurz bevor dieser Cond verließ.

Mit vollgepacktem Motorrad war Erich vor dem Haus vorgefahren und hatte fünf Flaschen Wein zu kaufen verlangt. Diese ließ er sich mit Strohhüllen umpolstern und in Kartons verpacken. Mit Riemen schnallte er sie auf den Tank, den einzigen noch freien Platz auf seinem Fahrzeug. Er zahlte dem alten Dores mehr, als dieser verlangte, wünschte ihm viel Glück und knatterte mit der linken Hand zum Abschied winkend über den staubigen Neije Wäch in Richtung Skagerrak-Brücke im Zickzackkurs schwankend davon.

»Oje!«, rief der alte Dores hinter ihm her. »Weile schlieh net noch de Kabelz!«

4

Frühsommer 1956.

Die Mutter schuckelt ihren Jungen über der Schulter, nachdem dieser sich an ihrer Brust satt getrunken hat.

»Bäuerchen machen«, sagt sie. Das Wort Bäuerchen klingt so melodisch, fasst wie ein kleines Lied. Sie wechselt die Windeln, trocknet, pudert und cremt seine Haut, packt ihn in warme Sachen. Dabei spricht und singt sie unablässig mit dem Kind, das ihr die Fürsorge mit fröhlichen Babylauten und munterem Gezappel dankt. Sie trägt den Jungen aus dem Raum durch das Wohnzimmer in die Küche. Das Wohnzimmer, an Wochentagen unbeheizt, abweisend und zwecklos, durchschreitet sie mit schnellen Schritten. Sie könnte auch durch den Hausflur in die Küche gelangen. Doch möchte sie es vermeiden, dem alten Dores, ihrem Schwiegervater, über den Weg zu laufen, der mit seiner zweiten Ehefrau Gertrud die Wohnung im ersten Stock des Hauses über ihr bewohnt. In der Küche atmet der Junge die Aromen von heißer Suppe, Kartoffeln, Gemüse und brennendem Holz. Gerüche, die er schon gut kennt. Die Luft ist durchdrungen von Knistern und Behaglichkeit. Das Kind horcht auf, als draußen die Haustür geöffnet wird, hört jemanden eintreten und wie sich die Haustür leise wieder schließt. Schritte bis zur Küchentür, die sich öffnet, ohne Anklopfen.

»Mahlzeit«, klingt es aus dem Mund des Mannes, der eintritt. Er umarmt seine Frau und küsst sie. Als er sich dem Jungen zuwendet, die Lippen erneut zu einem kleinen Kuss schürzt, nimmt das Kind, mehr noch als das Gesicht des Vaters, dessen Geruch wahr, den er täglich aus der Weinkellerei, in der er arbeitet, mit nach Hause bringt.

5

Der Grund dafür, dass ich den Vornamen meines Patenonkels Albert geerbt habe, liegt am Zeitpunkt meiner Geburt, der mitten in die 1950er Jahre fiel. Damals galt es scheinbar als modern, ein und denselben Namen in der Familie weiterzugeben. Auch mein Bruder Winfried ist dieser schicksalhaften Namensgebung nicht entgangen.

Mitunter verstört es mich, schreibend die Lückenhaftigkeit meines Wissens über die eigene Herkunft zu erfahren. Schon beim Versuch, mir vorzustellen, wie einige meiner Vorfahren ihren Alltag verbracht, wie dörfliche, regionale oder weltpolitische Ereignisse ihr Handeln beeinflusst und ihren Lebenslauf geprägt haben könnten, ist es, als blicke ich auf eine riesige graue Fläche, wie aus Schiefer oder Basalt, die nur wenig Kontur aufweist.

So rätsele ich, ob mein Großvater väterlicherseits als Soldat am Ersten Weltkrieg teilgenommen hat. Geboren im Februar 1883, gehörte er 1914, einunddreißigjährig, zu den wehrtüchtigen Männern und hätte in diesem oder einem der nächsten Kriegsjahre eingezogen werden müssen. Da dürfte ihm auch der Umstand nicht geholfen haben, dass er sich auf den Tag genau ein Jahr bevor Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärte, am 29. Juli 1913, mit Magdalena Castor verheiratet hatte und im Frühjahr, ehe das große Schlachten begann, Vater einer fidelen Tochter geworden war. Familie war kein Grund, nicht in den Krieg ziehen zu müssen. Vielleicht galt der Land- und Weinbaubetrieb meines Großvaters, so bescheiden er auch war, als kriegswichtig und unverzichtbar für Volk und Vaterland und der Großvater wurde freigestellt. In diese Richtung gehen meine Vermutungen, doch Gewissheit habe ich nicht. In allen Kriegsjahren, außer dem letzten, gebar meine Großmutter Magdalena ein Kind. Dieser Umstand könnte meine Annahme stützen, dass er nicht aktiv am Ersten Weltkrieg teilnehmen musste. Belege aus der Familie existieren nicht, auch keine Anhaltspunkte, keine Überlieferungen, keine Erzählungen. Sicher lagern Listen in Archiven, die Klarheit schaffen könnten. Diese gelte es zu finden, einzusehen und auszuwerten.

In den Jahren 1903 bis 1905, also ein Jahrzehnt vor dem ersten großen Massenmorden des vergangenen Jahrhunderts, diente der Großvater seinem Vaterland. Soviel ist sicher. Jene zwei Jahre seiner Militärzeit verbrachte er in der 10. Kompanie des 6. Rheinischen Infanterie-Regiments Nr. 68 in Koblenz, dessen Kommandeur den klangvollen Namen Vincentius de Paula von Brixen trug.

Ein echt preußisches Erinnerungsfoto zeugt davon, überbordend mit optischem Tschingderassassa und der Aufschrift Zum Andenken an meine Dienstzeit auf dem Passepartout. Es hat heute im Gästezimmer meines Hauses einen Platz gefunden, und unsere Gäste, die das Zimmer bewohnen, müssen seinen Anblick ertragen.

Wir dienten an des Rheines Strand zwei Jahre treu dem Vaterland, heißt es darauf. Zu lesen ist auch der Spruch: Wo Rhein und Mosel sich vereinen zu einem breiten Strom, da dienten wir zwei Jahre als treuer deutscher Sohn. Schon als Kind stolperte ich über diesen Reim. Müsste es nicht heißen, … da dienten wir zwei Jahre als treue deutsche Söhne? Aber so genau nahm man es mit dem Deutschen scheinbar auch wieder nicht, zumindest nicht mit der deutschen Sprache. Reim dich oder ich fress dich!

Dennoch: Ein Monument von einem Bild! Mit Haut und Haar scheint sich der Großvater darauf, wie auch die meisten seiner abgebildeten Kameraden und Vorgesetzten, dem Leitspruch verpflichtet zu fühlen, der in das aufwendig gestaltete Passepartout in goldenen, martialischen Lettern eingraviert ist: Mit Gott, für Kaiser, König und Vaterland.