Innerlich bin ich aus Lakritze - Katja Ludwig - E-Book

Innerlich bin ich aus Lakritze E-Book

Katja Ludwig

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Beschreibung

»Ich heiße Lilou Rosinke, bin 12 Jahre alt und wirke auf den ersten Blick ziemlich gewöhnlich. Dabei bin ich das gar nicht. Die Sache ist, dass meine fünf Sinne vermischt sind. Eine Art Mischimaschi – wie eine gemischte Tüte Süßigkeiten. Manche Wörter, Buchstaben und Zahlen oder Stimmungen haben für mich eine bestimmte Farbe, einen bestimmten Geruch oder Geschmack. Ich selbst fühle mich preußischblau mit einem Hauch von Lakritze.« Lilou ist das ›Mischimaschi‹ in ihrem Kopf peinlich, darum weiß außer ihrer Mutter niemand davon. Doch als der grummelige Großvater bei ihnen einzieht und Lilou sich für ihre Mama auf die Suche nach einem Mann macht, der nach Mohnkuchen duftet, beginnt ein buntes Abenteuer im Großstadtdschungel. Und Lilou erkennt, dass sie auch nach außen zeigen kann, wie sie innerlich ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 134

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Katja Ludwig

Innerlich bin ich aus Lakritze

Atrium Verlag AG, Imprint WooW Books, Zürich 2023

Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten

Text und Illustrationen im Innenteil: Katja Ludwig

Katja Ludwig wird von der Literarischen Agentur charlotte Larat rights & audio Strasbourg vertreten.

© Cover: Ulrike Möltgen

Lektorat: Neele Bösche

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03967-009-3

 

www.WooW-Books.de

www.instagram.com/woowbooks_verlag

Salmiak und schwefelgelb

Ich muss nach vorne an die Tafel. Genau deshalb scheint auf meiner Zunge ein ekliger Salmiakdrops zu explodieren, einer, dessen widerlich salzig-klebrige Füllung sich in meinen Mund ergießt. Es ist nur so ein Gefühl, aber es ist sehr echt.

»Lilou, hast du nicht zugehört?« Frau Küppers schrille Stimme schneidet sich problemlos durch die Haarspraywolke, die sie immer umgibt.

Natürlich habe ich sie gehört. Aber mir ist an diesem Montagmorgen einfach alles zu viel. Nach so einer Nacht! Jetzt soll ich auch noch vorne an der Tafel etwas vorrechnen. Mit weißer Kreide bunte Zahlen schreiben.

Frau Küpper ist altmodisch. Sie liebt staubige Kreide auf finsteren, stumpfgrünen Tafeln. Und sie ist unsere neue Klassenlehrerin. Mein Hauptgewinn, weil es nämlich genau DIE Frau Küpper ist, die am Ende des letzten Schuljahrs nicht wollte, dass ich in die sechste Klasse versetzt werde. Sie fand mich noch nicht reif genug. So hat sie es jedenfalls versucht, meiner Mutter zu erklären. Aber meine Maman hat gesagt, dass es sich bei ihrer Tochter Lilou nicht um irgendeine Obst- oder Gemüsesorte handelt und dass sie darum mit einer Rückstufung von mir nicht einverstanden ist. Ich wurde also mit Ach und Krach versetzt. Und jetzt kommt es mir so vor, als ob Frau Küpper keine Gelegenheit auslässt, mir zu beweisen, wie falsch die Entscheidung war.

Wie immer bin ich total geblendet von Frau Küppers schwefelgelber Erscheinung. Sie trägt ein senfgelbes Wollkostüm, und ein greller Ring aus Haarspray umgibt ihre pechschwarze Wallefrisur. Wie der in Menschengestalt verwandelte Planet Saturn sieht sie aus, habe ich mal zu meiner Mutter gesagt. Und deshalb nennt meine Mutter sie seitdem: Madame Saturne. Das spricht man Madam Satürn aus, sie hat nämlich einen kleinen Französisch-Tick, meine Maman (Mamoh).

Ich versuche, noch schnell ein Kirschbonbon in den Mund zu stecken, davon habe ich immer welche in der Hosentasche. Sie neutralisieren den ekligen Salmiakgeschmack in meinem Mund, der jedes Mal auftaucht, wenn ich mich ärgere, wütend bin oder Angst habe. Innerlich bin ich nämlich aus Lakritze.

»Was machst du da?«, keift Madame Saturne und lässt ihren Schwefelring wabern.

»Ich habe einen Frosch im Hals«, lüge ich mit möglichst krächzender Stimme. »Es ist ein Hustenbonbon.« Ein säuerlicher Geruch kitzelt in meiner Nase und vermischt sich aufs Ekligste mit den Salmiakresten auf meiner Zunge. Dann endlich spüre ich den wunderbaren Geschmack des Kirschbonbons, der alles andere wegspült.

Als ich die Bonbontüte wieder zurück in meine Hosentasche stopfen will, zerreißt sie, und die Bonbons kullern über den Fußboden. Eines landet genau vor Frau Küppers pechschwarz polierten Pumps.

»Hustenbonbon?«, sagt sie, als sie es aufhebt und das Einwickelpapier studiert. »Kirschbonbon ohne künstliche Farbstoffe«, liest sie vor. »Kommst du jetzt endlich an die Tafel, Fräulein Rosinke?«

Der Rest der Mathestunde ist der pure Albtraum. Meine Hände zittern, und ich schaffe es noch nicht mal, die Aufgabe korrekt an die Tafel zu schreiben, geschweige denn, sie zu lösen. Alle in der Klasse sind zu Salzsäulen erstarrt. Alle bis auf zwei, Frau Küppers Lieblinge: Rhea und Phoebe. Glücklicherweise sind aber auch sie zu doof und kriegen nicht das Richtige raus.

Endlich läutet die Schulklingel, und Frau Küpper beendet die Stunde.

»Ich werde wohl doch noch mal mit deiner Mutter reden müssen«, sagt sie so laut, dass alle es hören können. Vor lauter Salmiakgeschmack im Mund treibt es mir echte Tränen in die Augen. Dann fügt sie auch noch ganz von hintenrum hinzu: »Musst du eigentlich viel in diesem Laden aushelfen?«

DIESER Laden, sagt die blöde Kuh. Das ist unser Café, das café et gateau. Steht groß draußen dran. Als ob die Küpper das nicht wüsste, wo es doch fast gegenüber der Schule liegt. Sie hat übrigens auch gesagt, dass die Bezeichnung café et gateau kein korrektes Französisch wäre. Egal. Ich finde, es klingt schön.

Überhaupt soll die Küpper meine Maman bloß in Ruhe lassen, sie hat nämlich schon genug zu tun, vor allem jetzt.

Ich stopfe wütend meine Mathesachen in den Rucksack, als Onno auf mich zukommt und mir einen von meinen Kirschbonbons unter die Nase hält. »Den hast du verloren«, sagt er und lächelt schief.

Ein silbrig glitzernder Hauch samtig-süßer Lakritze kitzelt in meiner Nase.

»Kannste behalten«, entgegne ich schnippisch, ziehe die Nase geräuschvoll hoch und segele aus dem Klassenzimmer. Draußen auf dem Flur muss ich prompt niesen.

Café et gateau

Das Verlassen des Schulgeländes in der Hofpause ist nicht erlaubt, steht in der Schulordnung, die unten im Treppenhaus hängt. Das ist mir egal. Es ist große Hofpause, und obwohl es draußen Schnee regnet und keiner rauswill, renne ich rüber in unser Café.

Maman meint, dass café et gateau auf Französisch Kaffee und Kuchen heißt. Hier bin ich zu Hause. Im Servierzimmer, wie wir den Verkaufsraum nennen, dampft die Kaffeemaschine. Der Kuchen duftet. Das Radio dudelt leise. Madame Saturne ist weit weg. Ihr gelber Schwefelgeruch schafft es nicht bis über die Straße. Gäste sind gerade keine da, nur Winfried Hase, der Schuster von nebenan, sitzt wie immer an seinem Lieblingsplatz neben der Tür und schlürft seinen Kaffee. Von dort lässt er sowohl Siggi als auch Maman nicht aus den Augen. Heute hat er es einfach, denn nur Siggi ist zu sehen. Meine rosarote Siggi. Normalerweise kann er sich nicht entscheiden, wen er mit seinen Blicken verschlingen soll, ob Siggi oder Maman. Siggi ist Mamans Angestellte.

»Hallo, Lakritzschneckchen«, sagt sie zu mir.

»Ist Maman gar nicht da?«, frage ich.

Sie schüttelt den Kopf.

Unser Café ist so etwas Ähnliches wie eine Bäckerei, aber nicht ganz. Man kann sich drinnen hinsetzen und einfach nur einen Kaffee trinken, ohne etwas zu essen. Den Kuchen backt meine Maman, und die lecker belegten Schrippen, die man bei uns kaufen kann, schmiert sie auch selbst. Ganz oft helfe ich ihr dabei.

Jetzt schnappe ich mir einen leeren Servierteller aus der gläsernen Vitrine und mache mich daran, die halben Schrippen und Stullen zu dekorieren. Meine Spezialität sind Käse- und Wurstgesichter mit Olivenaugen, Tomatennasen, Paprikamündern und Schnittlauch- oder Petersilienhaaren.

»Was wird denn das?«, ruft Siggi erstaunt. »Du hast doch Pause! Willst du nicht was trinken?« Ihr Blick fällt auf den Teller. »Nur Pickelgesichter?«, wundert sie sich.

Pickelgesichter sind Schmalzstullen mit Gurkennasen. Die essen die Bauarbeiter am liebsten, neben den Untoten. Die Untoten sind Hackepeterbrötchen, aber die gibt’s immer nur mittwochs. »Zum Durchhalten, weil die Arbeitswoche erst zur Hälfte rum ist«, sagt Maman. Freitags ist dafür Veggie-Tag. »Da sind alle weltoffener, weil das Wochenende vor der Tür steht.«

»Haste wieder Mathe bei der ollen Küpper jehabt?« Wenn Siggi was aufs Gemüt schlägt, fängt sie an zu berlinern. »Komm, setz dir nach hinten, ick mach dir ’nen Kakao.«

Vorne im Servierzimmer sind die Tische für die Gäste und der hellgrüne Tresen mit der großen rosa Glasvitrine. Nach hinten raus ist unsere Backstube. Neben der Backstube liegt links die Speisekammer, und rechts ist noch ein Raum, ein kleines Hinterzimmer, das aber so etwas wie unsere gute Stube geworden ist. Die Wände sind bonbonrosa gestrichen, und an der Decke klebt weißer Stuck, wie die Reste einer Buttercremetorte. Dort mache ich nachmittags meine Schularbeiten. Oder ich zeichne. Am liebsten zeichne ich Pläne. Zum Beispiel Pläne von Wohnungen oder Häusern, in denen ich gerne wohnen würde, wenn wir mehr Geld hätten. Meistens bin ich aber vorne bei Maman oder Siggi in der Backstube.

Siggi ist eigentlich Studentin. Das muss sie aber schon recht lange sein, denn sie ist älter als Maman. Vielleicht gefällt es ihr auch so gut in unserem Laden, dass sie gar nicht mit ihrem Studium fertig werden will. Dann wäre sie nämlich Lehrerin. Und was das bedeutet, weiß ja jeder. Jeden Tag dreißig Kinder, die Hälfte davon Jungs. Und vielleicht so eine wie Frau Küpper als Kollegin.

Maman und ich haben natürlich auch noch eine andere Wohnung, eine, in der wir schlafen. Die haben wir uns zwar so gemütlich wie möglich gemacht, aber leider ist sie ziemlich klein und liegt an einer lauten Straße, in einer Gegend von Berlin, wo die Mieten nicht so teuer sind. Wir können uns keine andere leisten, sagt Maman, denn die Miete vom Laden ist schon so hoch. Jeden Abend fahren wir mit der S-Bahn und der Tram zum Ende der Bornholmer Straße. Dort liegt unsere Schlafwohnung.

In der Wohnung gibt es bloß zwei winzige Zimmer, eins für mich und eins für Maman. Jede von uns hat sich ihr Zimmer so eingerichtet, wie sie es mag. Wir sind nur zu zweit. Maman hat im Augenblick keinen Mann. Haustiere haben wir auch keine.

»Grübelste schon wieder?«, fragt mich Siggi und stellt mir klappernd eine Tasse Kakao vor die Nase. Im nächsten Moment klingelt die Türglocke, und sie schlurft seufzend wieder nach vorne ins Servierzimmer.

Süßer Sonntag

Bis gestern Abend war meine Welt noch in Ordnung. Es war Sonntag, und ich liebe den Sonntag. Wir schlafen aus und trödeln in den Tag. Sobald ich aufwache, klettere ich zu Maman ins Bett, und wir gucken uns irgendwelche uralten, schnulzigen Serien an. Frühstück im Bett mit den Gilmore Girls oder so. Nachmittags ziehen wir uns an und fahren mit Rädern oder Inlineskates zum Laden. Sonntags ist das Café zu, denn an diesem Tag verwandeln wir die Backstube in das Nuss- und Mandelkernforschungszentrum Rosinke mit Rosinke und machen Experimente: Maman ist immer auf der Suche nach neuen Kuchenrezepten. Sonntags probieren wir sie aus.

Da Maman viel Wert auf meine Meinung legt, bin ich die Vorkosterin. Ich habe nämlich den Geruchssinn eines Hundes. Von meinen fünf Sinnen sind Geruchs- und Geschmackssinn am besten ausgeprägt. Überhaupt sind meine Sinne insgesamt ziemlich gut, vor allem aber eng miteinander verwoben und dadurch irgendwie alle eins. Es ist schwer zu erklären, aber was ich zu verbergen versuche – wie man ja vielleicht schon gemerkt hat –, ist, dass ich sozusagen mehrsinnig bin. Ich schmecke, rieche und sehe mehr als andere, weil sich meine fünf Sinne vermischen, und zwar zu einem einzigen Mischimaschi. Mit einer Art großem Gesamtgefühl kann ich sogar Zahlen, Buchstaben, Wörter und eben auch Gefühle schmecken und riechen.

Aber egal, wir essen jedenfalls wegen dem ganzen Backen sonntags fast nur Zuckerzeugs: Teigreste, Kuchenkrümel und verunglückte Torten. Abends dann, auf dem Weg in die Schlafwohnung, holen wir uns meistens einen Döner bei Cem an der Ecke. Nach so viel Süßkram braucht man das, sagt Maman.

Genauso war es auch an diesem Sonntag. Am Abend waren die Regale mit beruhigenden Schwarz-Weiß-Keksen und rosa Löffelbiskuits gefüllt. In der Glasvitrine stand eine mit Himbeeren und Lychees garnierte Käsetorte, die im schönsten Maigrün vor sich hin duftete, daneben ein stattlicher Marmorkuchen mit Guss, der seinen Namen echt verdient hatte, und ganz unten eine glänzend-glatte Zitronentarte mit Pistazienstreuseln. Ich war mir sicher, dass alles spätestens am Montag nach der Mittagszeit verkauft sein würde. Es war ganz schön spät geworden, und wir räumten schnell auf, um nach Hause in unsere Betten zu kommen. Ich hatte meine Mathehausaufgaben noch nicht gemacht, aber das erzählte ich Maman nicht. Ich nahm mir vor, am nächsten Morgen einfach zehn Minuten früher aufzustehen.

Wir waren gerade dabei, unsere Jacken anzuziehen, als Mamans Handy klingelte. Sie meldete sich und wurde plötzlich sehr still.

»Ja, ja. Das ist mein Vater«, sagte sie. »Okay, wir kommen sofort. Wo ist er denn?«

Es ist so, dass ich meinen Großvater nicht mag. Wegen der Sache mit Maman. Andererseits kenne ich meinen Großvater aber auch gar nicht. Maman hat mir mal die ganze Geschichte erzählt: dass sie sich mit ihren Eltern vor langer Zeit ziemlich gestritten hat. Und dass der Streit bis heute anhält. Damals, als Maman ihr Studium abgebrochen hat, um lieber in der Welt herumzureisen, waren ihre Eltern nämlich stinksauer. Sie haben ihr das Studiengeld gestrichen und nicht mehr mit ihr geredet. Dafür war Maman fast überall auf der Welt. In Südfrankreich hat sie sich dann in meinen Vater verliebt. Er ist Franzose. Sie ist ihm nach Paris gefolgt und hat rausgekriegt, dass er dort schon eine Familie hat, eine Frau und Kinder. Ich weiß nicht viel über meinen Vater, aber wenn ich nur an ihn denke, kriege ich gleich wieder einen ekligen Salmiakgeschmack in den Mund. Siggis Kakao hilft da auch nicht viel. Maman war damals schon schwanger mit mir und ist dann alleine nach Berlin zurückgekehrt. Vielleicht wegen ihrer Eltern, doch die haben ihr kein bisschen geholfen. Noch nicht mal, als ich schließlich auf der Welt war. Warum sie sich nicht einfach irgendwann wieder vertragen haben, weiß ich nicht. Aber Maman und ich kommen auch sehr gut alleine klar.

Jedenfalls umweht meine Mutter deshalb und trotz alledem noch immer ein Hauch Französisch. Und als eine Maman habe ich sie eben am liebsten, auch wenn ich eigentlich kein Französisch kann. Sie redet nicht viel über meinen Vater und über meine Großeltern. Meine Großmutter ist inzwischen schon tot, und den Großvater habe ich das letzte Mal auf ihrer Beerdigung gesehen. Da war ich fünf. Zu meiner Einschulung ist er nicht gekommen, obwohl wir ihm eine Einladungskarte geschickt hatten.

Maman sah mich an und ließ das Telefon sinken. »Tja, meine Süße, wir haben gleich noch ein Date. Mit deinem Großvater. Im Krankenhaus.«

Eine grelle Nacht

Wir brauchten eine ganze Weile, bis wir das Krankenhaus fanden, es liegt in einem dunklen Park, und vom Himmel schüttete es wie aus Kübeln. Ich spürte, wie angespannt und wütend Maman war, denn das duftige Cremegelb, das sie sonst fast immer umgibt, schmeckte ranzig in meinem Mund. Auf dem Weg sagte sie kein Wort und latschte in jede Pfütze, ohne es zu merken.

Ich war vorher noch nie in einem Krankenhaus. Krankenhaus ist ein metallisches Wort, scharf wie das Kirschwasser, das ich einmal heimlich in der Backstube probiert habe, weil ich dachte, es schmeckt so ähnlich wie Kirschsaft.

Innen drin war alles taghell, von den Neonröhren an der Decke, vor allem aber war es laut und schrill wie bei unserer Nachbarin Hedi Holle von gegenüber. Frau Holle hat drei grässliche Nymphensittiche und einen Mann, der trinkt. Der Warteraum der Rettungsstelle war voller Leute, die Fenster beschlagen von ihrem Atem und dem Dampf der regennassen Klamotten. Es roch schmutzig und beißend scharf – eben wie das Kirschwasser, das Schnaps ist, wie mir inzwischen klar geworden ist.

»Ich weiß eigentlich gar nicht genau, wie mein Großvater aussieht«, sagte ich, und Maman zuckte mit den Schultern. Ich glaube, ihr ging es ähnlich. Sie ließ ihren Blick schweifen. Auf den Gängen waren überall Tragen, auf denen die Leute lagen. Eine uralte Frau schrie nach ihrer Mutter. Echt gruselig.

Ich fühlte mich absolut unterirdisch und grau. Krankenschwestern, die man an ihrer blauen Kleidung erkennen konnte, schwirrten umher. Neben mir übergab sich ein Mann auf den Fußboden. Die Krankenschwester mit dem Brechbeutel war nicht schnell genug gewesen.

Erst die vierte Krankenschwester, die an uns vorbeihuschen wollte, reagierte auf Mamans Frage: »Wo ist denn Herr Karl Rosinke? Ich bin die Tochter.«

Die Krankenschwester blieb stehen und starrte – natürlich – mich an.

Ich habe zwei verschiedenfarbige Augen. Eines ist grünbraun und das andere graublau. Fremde starren mich an, wenn ihnen das mit meinen Augen auffällt. Und die Leute, die mich kennen, finden es süß und … starren auch. Es nervt, dauernd angeglotzt zu werden. Darum halte ich lieber immer ein bisschen Abstand zu anderen. Im Sommer trage ich gern Sonnenbrillen. Der Rest von mir sieht glücklicherweise ziemlich unscheinbar aus: Ich habe mittellanges, mittelbraunes, etwas welliges Haar, bin weder die Größte noch die Kleinste, weder die Dickste noch die Dünnste in der Klasse. Wenn du unscheinbar bist, lassen dich die meisten Menschen in Ruhe, außer sie sind selbst so megaauffällige Leute wie Frau Küpper. Die wittern dich, weil sie sich gerne die Unscheinbaren herauspicken.

Aber da ist ja eben noch etwas anderes komisch an mir. Etwas, was man im Gegensatz zu den Augen nicht sieht, aber vielleicht als meine Schüchternheit spürt: das Mischimaschi.

»Können Sie mir bitte sagen, wo Herr Rosinke ist?«, wiederholte Maman ziemlich gereizt.